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3. Physikalisch-chemische Grundlagen
3.1 Thermodynamik der Komplexbildung
Viele chemische Reaktionen laufen in Richtung eines Gleichgewichtszustandes ab. In diesem
Zustand liegen Edukte und Produkte nebeneinander vor und die Stoffmengen der Edukte und
Produkte ändern sich nicht mehr. Die Umsatzvariable ξ ist ein Maß für den Ablauf einer
Reaktion in homogener Phase.
Für die Änderung der Freien Enthalpie in homogener Phase unter Berücksichtigung der
Umsatzvariable ξ gilt die Gleichung (3.1):
dG = Vdp − SdT + ∑ νi µ i dξ
(3.1)
i
G
V
p
S
T
µi
νi
ξ
Freie Enthalpie
Volumen
Druck
Entropie
Temperatur
Chemisches Potential des Stoffes i
stöchiometrischer Koeffizient des Stoffes i
Umsatzvariable
Gleichung (3.1) wird partiell abgeleitet nach der Umsatzvariable bei konstantem Druck und
konstanter Temperatur und liefert folgende Gleichung (3.2):
 ∂G 
∆G p ,T =   = ∑νi µ i
 ∂ξ  p ,T
i
(3.2)
Befindet sich eine chemische Reaktion im Gleichgewicht, ändern sich die Stoffmengen des
Eduktes und des Produktes nicht mehr. Die Summe der Produkte aus den stöchiometrischen
Koeffizienten und den chemischen Potentialen ist gleich Null. Daher gilt im chemischen
Gleichgewicht (3.3):
∆G p ,T = ∑νi µi = 0
(3.3)
i
Chemische Reaktionen spielen sich im allgemeinen in realen Mischphasen ab. In Gleichung
(3.2) wird der Ansatz für die Konzentrationsabhängigkeit für das chemische Potential von
realen Mischungen eingesetzt und man erhält (3.4).
22
∆G p ,T = ∑νi µ i = ∑νi ( µ 0i + RT ln x i fi ) = ∆G Θ + RT ln ∏ ( x i fi ) νi = 0
i
R
µ0i
xi
fi
∆GΘ
i
(3.4)
i
Gaskonstante
Chemisches Potential der reinen Komponente i
Stoffmengenverhältnis des Stoffes i
Aktivitätskoeffizient des Stoffes i
Freie Standardreaktionsenthalpie bei konstantem p und T
Für die Freie Standardreaktionsenthalpie ∆GΘ im chemischen Gleichgewicht folgt (3.5):
∆G Θ = − RT ln ∏ ( x i fi ) νi = − RT ln K
(3.5)
i
K
Massenwirkungskonstante bei konstantem p und T
Für eine chemische Reaktion, die bei konst. Temperatur T abläuft, setzt sich die Änderung der
freien Enthalpie ∆G aus der Reaktionsenthalpie ∆H und dem Produkt aus Reaktionsentropie
∆S und Temperatur T, Gleichung (3.6), zusammen:
∆G = ∆H − T∆S
(3.6)
Unter Standardbedingungen folgt daraus für die Freie Standardreaktionsenthalpie ∆GΘ(3.7):
∆G Θ = ∆ΗΘ − T∆SΘ
∆HΘ
∆SΘ
(3.7)
Standardreaktionsenthalpie
Standardreaktionsentropie
Unter Berücksichtigung von Gleichung (3.5), ergibt sich folgende Gleichung (3.8):
ln K = −
1
∆Ηθ − T∆Sθ )
(
RT
(3.8)
Komplexbildungsreaktionen sind Gleichgewichtsreaktionen. Reagiert ein Ligand L mit einem
Gastmolekül Gm, bildet sich ein Gast-Ligand-Komplex GmL:
L + Gm ⇔ GmL
K=
[GmL]
[ L][Gm]
(3.9)
[L]
Konzentration des Liganden L im Gleichgewicht
[Gm] Konzentration des Gastmoleküls Gm im Gleichgewicht
[GmL] Konzentration des gebildeten Gast-Ligand-Komplexes GmL im Gleichgewicht
23
Die Gleichgewichtskonstante K für die Komplexierungsreaktion in Gleichung (3.9) ist ein Maß
für die Stabilität des gebildeten Komplexes.
Bei niedrigen Konzentrationen der einzelnen Spezies kann die Konzentration zur Bestimmung
der Gleichgewichtskonstanten eingesetzt werden [77 ]. Bei höheren Konzentrationen müssen
die Aktivitätskoeffizienten
fi
berücksichtigt werden. Aus Gleichung (3.9) folgt die
thermodynamische Gleichgewichtskonstante Kth (3.10):
K th = K ⋅
fGmL
f
Gm
⋅
(3.10)
f
L
Die Aktivitätskoeffizienten
fi
können näherungsweise nach der erweiterten Debye-Hückel
Theorie berechnet werden [78 ] aus Gleichung (3.11):
ln f = − z2i ⋅ A I
(3.11)
i
mit:
 e2   2 N A 1/2
A =
  2 
 4ε rε0 kT   π 
zi
I
e
εr
ε0
k
NA
Ladungszahl von Kation, bzw. Anion
Ionenstärke
Elementarladung
relative Dielektrizitätskonstante des Mediums
elektrische Feldkonstante
Boltzmann-Konstante
Avogadro-Konstante
3/ 2
Berücksichtigt man alle bei der Komplexbildung ablaufenden Reaktionen, wie die Prozesse der
Solvatation und Desolvatation, sehen diese folgendermaßen aus:
a) Desolvatation des solvatisierten Gastmoleküls Gm
Gmaq. ⇔ Gm + xH2O
b) Desolvatation des solvatisierten Wirtmoleküls L
Laq. ⇔ L + yH2O
c) Bildung des Komplexes aus dem desolvatisierten Wirtmolekül L und dem desolvatisierten
Gastmolekül Gm
Gm + L. ⇔ GmL
24
d) Solvatation des entstandenen Wirt-Gast-Komplexes GmL
GmL + zH2O. ⇔ (GmL)aq
Unter Berücksichtigung der Desolvatations- und Solvatationsvorgänge in Lösung bei der
Komplexierungsreaktion ist die Gleichgewichtskonstante K' für die Gesamtreaktion wie folgt
definiert (3.12):
x
y
H 2 O] [ H 2 O]
[
K' =
⋅
= K Gm ⋅ Ksol.
z
[Gm]aq . [ L] aq .
H
O
[
]
2
1442443 1442443
[GmL]aq .
KGm
(3.12)
K sol.
Die Gleichgewichtskonstante K' für die betrachtete Komplexierungsreaktion besteht aus dem
Produkt zweier Konstanten. Die Konstante KGm beschreibt die Wechselwirkungen zwischen
Ligand und Gastmolekül und die Konstante Ksol. enthält die Einflüsse des Lösemittels.
Die ermittelte Komplexstabilitätskonstante KGm gilt nur in dem verwendeten Lösemittel und bei
der Temperatur, bei der die Reaktion durchgeführt wird. Beim Vergleich mit Literaturdaten
muß dies berücksichtigt werden.
3.2 Titrationskalorimetrie
Bei einer kalorimetrischen Titration werden die bei physikalischen und chemischen Vorgängen
auftretenden Wärmeeffekte gemessen. Die direkt zugängliche Meßgröße ist die Temperatur,
deren Änderungen hier in Wärmemengen umgerechnet wird. Bei der kontinuierlichen Titration
wird
die
Temperaturänderung
als
Thermogramm
aufgezeichnet.
Man
kann
mit
kalorimetrischen Titrationen Reaktionsenthalpien und Komplexbildungskonstanten ermitteln
[79 ,80 ,81 ]. In Abb. 3.1 ist beispielhaft ein Thermogramm für die Reaktion von 1,6Diaminohexan mit Cucurbituril in 50% Ameisensäure aufgezeigt.
25
.
T
1
c
0.8
0.6
b
0.4
0.2
a
00
1
2
3
4
5
6
7
8
t [min]
Abb. 3.1: Thermogramm der kalorimetrischen Titration von 1,6-Diaminohexan (3·10-3 mol/l)
mit Cucurbituril (0,05 mol/l) in 50% Ameisensäure bei 25 °C
Das Thermogramm in Abb. 3.1 kann in drei Abschnitte eingeteilt werden:
a) Abschnitt a zeigt den Temperaturverlauf vor Beginn der Titration. Der Temperaturanstieg
ist auf die nicht-chemischen Effekte, wie Rührwärme, Wärmeleitung und Verdampfung
zurückzuführen.
b) Abschnitt b zeigt den Temperaturanstieg, der während der Komplexierungsreaktion bei der
Titration auftritt. Zusätzlich wird der Temperaturanstieg durch den Verdünnungseffekt von
Titrator und Titrand und die unter a) aufgeführten Effekte beeinflußt.
c) Abschnitt c zeigt den Temperaturverlauf nach beendeter Titration. Die nicht-chemischen
Effekte sind hier wieder ausschlaggebend.
Bei einem isobar-isothermen Vorgang, bei dem nur reversible Volumenarbeit geleistet werden
darf, setzt sich die Wärme Qt aus den Änderungen der Stoffmenge ∆nr,t und der
Reaktionsenthalpie hT,p,r wie folgt zusammen (3.13):
n
Q t = ∑ ∆ n r ,t h T ,p ,r
r =1
mit
 ∂H 
h T ,p ,r = 

 ∂ξr T,p
Qt
r
Wärme zu einem Zeitpunkt t bei der Titration
Anzahl der stattfindenen Reaktionen
(3.13)
26
∆nr,t
Stoffmenge des in der Reaktion r gebildeten Produktes zu einem beliebigen
Zeitpunkt t
molare Reaktionsenthalpie bei konstantem p und T
molare Enthalpie
Umsatzvariable
hT,p,r
H
ξr
Die Standardreaktionsenthalpie ∆Hé ist gegeben durch (3.14):
∆ΗΘ = Σ ∑ hT , p , r ∆ξr = Σ ∑ hT , p , r νi , r ∆n i , r
r i
i
r
(3.14)
r i
Index für Stoff i
Index für Reaktion r
Für die Bildung von 1:1 Komplexen vereinfacht sich die Gleichung (3.13) für die Wärme Qt zu
(3.15):
Q t = ∆n t ∆ H
∆H
Θ
Θ
(3.15)
molare Reaktionsenthalpie bei Standardbedingungen
Für die Komplexierung eines Gastmoleküls Gm durch einen Liganden L setzt sich die
Gesamtkonzentration für Gm und L zusammen aus:
c Gm = [Gm] + [GmL]
(3.16)
c L = [ L] + [GmL]
(3.17)
[GmL] Konzentration des gebildeten Komplexes zu einem beliebigen Zeitpunkt t der
Titration
[Gm] Konzentration des Gastes Gm zum Zeitpunkt t
[L]
Konzentration des Liganden L zum Zeitpunkt t
cGm
Gesamtkonzentration des Gastes Gm im Reaktionsgefäß
cL
Gesamtkonzentration des Liganden L im Reaktionsgefäß
Eingesetzt in das Massenwirkungsgesetz für Komplexierungsreaktionen ergibt sich für die
Gleichgewichtskonstante K (3.18):
K=
[GmL]
[GmL]
=
[Gm][ L] ( c Gm − [GmL])( c L − [GmL])
(3.18)
Wird die Gleichung (3.18) aufgelöst nach der Konzentration des Komplexes [GmL] erhält man
als Lösung aus der quadratischen Gleichung (3.19):
27

1

1 2
 c Gm + c L + 
 c Gm + c L + 


K
K
[GmL] =
±
− c Gm c L
2
4
(3.19)
Die Gleichung enthält bis auf die Gleichgewichtskonstante K nur bekannte Variablen. Aus der
Konzentration des gebildeten Komplexes wird die Stoffmenge des gebildeten Komplexes
berechnet aus (3.20):
∆n t = [GmL] ⋅ V
V
(3.20)
Gesamtvolumen von Titrator und Titrand im Reaktionsgefäß zum Zeitpunkt t
Die Anpassung der Gleichung (3.15) an die gemessenen Daten erfolgt über die
Fehlerquadratsumme U über m Datenpunkte in Gleichung (3.21):
(
Θ
U K,∆Η
) = ∑(Q − ∆n ∆Η )
m
Θ
t =1
t
2
(3.21)
t
Es werden die Minima der Funktion gesucht, d.h. die partiellen Ableitungen werden gleich Null
gesetzt:
(
∂U K,∆ H
∂∆ H
(
Θ
Θ
∂U K, ∆ H
Θ
∂K
)=
)=
m
m
t =1
t =1
∑ Q t ∆n t − ∑ ∆n t 2 ∆ΗΘ = 0
m
(3.22)
m
∂∑ ∆n t ∆Η
t =1
∂K
∑(Qt − ∆n t ∆ΗΘ ).
t =1
Θ
=0
(3.23)
Da nur Gleichung (3.22) geschlossen lösbar ist, beschränkt man sich auf diese. Man gibt nun
für die Gleichgewichtskonstante K einen Wert vor und berechnet aus den Gleichungen (3.19)
und (3.20) die Stoffmenge des gebildeten Komplexes ∆nt. Da sich die Ionenstärke während der
Titration ändert, müssen die Aktivitätskoeffizienten fi für jeden Datenpunkt mit Hilfe der
Debye-Hückel-Gleichung (2.11) korrigiert werden:
Θ
Aus Gleichung (3.22) wird die molare Reaktionsenthalpie ∆ H berechnet nach (3.24),
m
Θ
∆Η =
∑ Q t ∆n t
t =1
m
∑ ∆nt
t =1
(3.24)
2
28
wobei für Qt die ermittelte Wärme und für ∆nt der berechnete Wert, aus der vorgegebenen
Gleichgewichtskonstante K, eingesetzt wird. Eine Iteration über einen bestimmten Bereich von
K ermöglicht es dann, die kleinste Fehlerquadratsumme als Minimum zu ermitteln. Im
folgenden Diagramm (Abb. 3.2) ist dies schematisch dargestellt:
0
1
2
3
4
5
6
lg K
Abb. 3.2: Logarithmische Auftragung der Fehlerquadratsumme in willkürlichen Einheiten
gegen den dekadischen Logarithmus der Stabilitätskonstante der Ausgleichsrechnung bezogen
auf die kalorimetrische Titration von Cucurbituril zu 1,6-Hexandiamin in 50 %iger wäßriger
Ameisensäure bei 25 °C
Die Berechnung der Gleichgewichtskonstante und der Reaktionsenthalpie aus dem
Thermogramm ist nur innerhalb bestimmter Grenzen möglich [82 ]. Die Thermogramme
müssen eine Krümmung aufweisen, was nur bis zu einer Gleichgewichtskonstante von
lg K<5,5 und bei einer Temperaturänderung von mindestens 0,005 °C gewährleistet ist [83 ].
29
3.3 Kalorimetrische Endpunkttitration
Eine Möglichkeit unbekannte Komplexzusammensetzungen LxGmy zu bestimmen, bietet die
kalorimetrische Endpunkttitration [84 ]. Dazu wird eine definierte Gastlösung zu einer
Ligandlösung mit bekannter Konzentration titriert. Die bei der Titration freiwerdende Wärme
setzt sich nach Gleichung (3.15) aus den Änderungen der Stoffmenge und der
Reaktionsenthalpie
zusammen.
Stoffmengenänderungen
mehr
Am
statt
Äquivalenzpunkt
und
der
der
Komplex
Reaktion
liegt
finden
keine
entsprechend
seiner
Zusammensetzung vor. Die Stoffmenge nLges der vorgelegten Ligandlösung ist bekannt. Die
Stoffmenge des Gastes zum Zeitpunkt des Äquivalenzpunktes (Äp) nGmÄp kann aus dem
Thermogramm ermittelt werden. Mittels der Titrationszeit bis zum Äquivalenzpunkt wird über
das zutitrierte Volumen die Stoffmenge des Gastes beim Äquivalenzpunkt berechnet.
nLges/nGmÄp= xL/yGm
(3.25)
Über das Verhältnis der Stoffmengen nLges/nGmÄp wird die Zusammensetzung von Ligand zu
Gast im Komplex beschrieben.
30
[77 ]
R. Haase
Thermodynamik der Mischphasen,
Springer Verlag, Berlin (1956).
[78 ]
R. A. Robinson, R. H. Stokes,
Electrolyte Solutions,
Butterworths, London (1959), 229.
[79 ]
a) J.J. Christensen, J. Ruckman, D.J. Eatough, R.M. Izatt,
Thermochim. Acta, 3 (1972) 203.
[80 ]
J. J. Christensen, D. J. Eatough, R.M. Izatt,
Thermochim. Acta, 3 (1972) 219.
[81 ]
J. J. Christensen, D. J. Eatough, R. M. Izatt,
Thermochim. Acta, 3 (1972) 233.
[82 ]
H.-J. Buschmann
Inorg. Chim. Acta 195 (1992), 51-60.
[83 ]
K. Jansen
Diplomarbeit, Gerhard-Mercator-Universität-GH Duisburg (1997).
[84 ]
D. J. Eatough, J. J. Christensen, R. M. Izatt,
Experiments in Thermodynamic Titrimetry and Titration Calorimetry,
Brigham Young University Publications, Provo, UT (1973).
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