21 3. Physikalisch-chemische Grundlagen 3.1 Thermodynamik der Komplexbildung Viele chemische Reaktionen laufen in Richtung eines Gleichgewichtszustandes ab. In diesem Zustand liegen Edukte und Produkte nebeneinander vor und die Stoffmengen der Edukte und Produkte ändern sich nicht mehr. Die Umsatzvariable ξ ist ein Maß für den Ablauf einer Reaktion in homogener Phase. Für die Änderung der Freien Enthalpie in homogener Phase unter Berücksichtigung der Umsatzvariable ξ gilt die Gleichung (3.1): dG = Vdp − SdT + ∑ νi µ i dξ (3.1) i G V p S T µi νi ξ Freie Enthalpie Volumen Druck Entropie Temperatur Chemisches Potential des Stoffes i stöchiometrischer Koeffizient des Stoffes i Umsatzvariable Gleichung (3.1) wird partiell abgeleitet nach der Umsatzvariable bei konstantem Druck und konstanter Temperatur und liefert folgende Gleichung (3.2): ∂G ∆G p ,T = = ∑νi µ i ∂ξ p ,T i (3.2) Befindet sich eine chemische Reaktion im Gleichgewicht, ändern sich die Stoffmengen des Eduktes und des Produktes nicht mehr. Die Summe der Produkte aus den stöchiometrischen Koeffizienten und den chemischen Potentialen ist gleich Null. Daher gilt im chemischen Gleichgewicht (3.3): ∆G p ,T = ∑νi µi = 0 (3.3) i Chemische Reaktionen spielen sich im allgemeinen in realen Mischphasen ab. In Gleichung (3.2) wird der Ansatz für die Konzentrationsabhängigkeit für das chemische Potential von realen Mischungen eingesetzt und man erhält (3.4). 22 ∆G p ,T = ∑νi µ i = ∑νi ( µ 0i + RT ln x i fi ) = ∆G Θ + RT ln ∏ ( x i fi ) νi = 0 i R µ0i xi fi ∆GΘ i (3.4) i Gaskonstante Chemisches Potential der reinen Komponente i Stoffmengenverhältnis des Stoffes i Aktivitätskoeffizient des Stoffes i Freie Standardreaktionsenthalpie bei konstantem p und T Für die Freie Standardreaktionsenthalpie ∆GΘ im chemischen Gleichgewicht folgt (3.5): ∆G Θ = − RT ln ∏ ( x i fi ) νi = − RT ln K (3.5) i K Massenwirkungskonstante bei konstantem p und T Für eine chemische Reaktion, die bei konst. Temperatur T abläuft, setzt sich die Änderung der freien Enthalpie ∆G aus der Reaktionsenthalpie ∆H und dem Produkt aus Reaktionsentropie ∆S und Temperatur T, Gleichung (3.6), zusammen: ∆G = ∆H − T∆S (3.6) Unter Standardbedingungen folgt daraus für die Freie Standardreaktionsenthalpie ∆GΘ(3.7): ∆G Θ = ∆ΗΘ − T∆SΘ ∆HΘ ∆SΘ (3.7) Standardreaktionsenthalpie Standardreaktionsentropie Unter Berücksichtigung von Gleichung (3.5), ergibt sich folgende Gleichung (3.8): ln K = − 1 ∆Ηθ − T∆Sθ ) ( RT (3.8) Komplexbildungsreaktionen sind Gleichgewichtsreaktionen. Reagiert ein Ligand L mit einem Gastmolekül Gm, bildet sich ein Gast-Ligand-Komplex GmL: L + Gm ⇔ GmL K= [GmL] [ L][Gm] (3.9) [L] Konzentration des Liganden L im Gleichgewicht [Gm] Konzentration des Gastmoleküls Gm im Gleichgewicht [GmL] Konzentration des gebildeten Gast-Ligand-Komplexes GmL im Gleichgewicht 23 Die Gleichgewichtskonstante K für die Komplexierungsreaktion in Gleichung (3.9) ist ein Maß für die Stabilität des gebildeten Komplexes. Bei niedrigen Konzentrationen der einzelnen Spezies kann die Konzentration zur Bestimmung der Gleichgewichtskonstanten eingesetzt werden [77 ]. Bei höheren Konzentrationen müssen die Aktivitätskoeffizienten fi berücksichtigt werden. Aus Gleichung (3.9) folgt die thermodynamische Gleichgewichtskonstante Kth (3.10): K th = K ⋅ fGmL f Gm ⋅ (3.10) f L Die Aktivitätskoeffizienten fi können näherungsweise nach der erweiterten Debye-Hückel Theorie berechnet werden [78 ] aus Gleichung (3.11): ln f = − z2i ⋅ A I (3.11) i mit: e2 2 N A 1/2 A = 2 4ε rε0 kT π zi I e εr ε0 k NA Ladungszahl von Kation, bzw. Anion Ionenstärke Elementarladung relative Dielektrizitätskonstante des Mediums elektrische Feldkonstante Boltzmann-Konstante Avogadro-Konstante 3/ 2 Berücksichtigt man alle bei der Komplexbildung ablaufenden Reaktionen, wie die Prozesse der Solvatation und Desolvatation, sehen diese folgendermaßen aus: a) Desolvatation des solvatisierten Gastmoleküls Gm Gmaq. ⇔ Gm + xH2O b) Desolvatation des solvatisierten Wirtmoleküls L Laq. ⇔ L + yH2O c) Bildung des Komplexes aus dem desolvatisierten Wirtmolekül L und dem desolvatisierten Gastmolekül Gm Gm + L. ⇔ GmL 24 d) Solvatation des entstandenen Wirt-Gast-Komplexes GmL GmL + zH2O. ⇔ (GmL)aq Unter Berücksichtigung der Desolvatations- und Solvatationsvorgänge in Lösung bei der Komplexierungsreaktion ist die Gleichgewichtskonstante K' für die Gesamtreaktion wie folgt definiert (3.12): x y H 2 O] [ H 2 O] [ K' = ⋅ = K Gm ⋅ Ksol. z [Gm]aq . [ L] aq . H O [ ] 2 1442443 1442443 [GmL]aq . KGm (3.12) K sol. Die Gleichgewichtskonstante K' für die betrachtete Komplexierungsreaktion besteht aus dem Produkt zweier Konstanten. Die Konstante KGm beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Ligand und Gastmolekül und die Konstante Ksol. enthält die Einflüsse des Lösemittels. Die ermittelte Komplexstabilitätskonstante KGm gilt nur in dem verwendeten Lösemittel und bei der Temperatur, bei der die Reaktion durchgeführt wird. Beim Vergleich mit Literaturdaten muß dies berücksichtigt werden. 3.2 Titrationskalorimetrie Bei einer kalorimetrischen Titration werden die bei physikalischen und chemischen Vorgängen auftretenden Wärmeeffekte gemessen. Die direkt zugängliche Meßgröße ist die Temperatur, deren Änderungen hier in Wärmemengen umgerechnet wird. Bei der kontinuierlichen Titration wird die Temperaturänderung als Thermogramm aufgezeichnet. Man kann mit kalorimetrischen Titrationen Reaktionsenthalpien und Komplexbildungskonstanten ermitteln [79 ,80 ,81 ]. In Abb. 3.1 ist beispielhaft ein Thermogramm für die Reaktion von 1,6Diaminohexan mit Cucurbituril in 50% Ameisensäure aufgezeigt. 25 . T 1 c 0.8 0.6 b 0.4 0.2 a 00 1 2 3 4 5 6 7 8 t [min] Abb. 3.1: Thermogramm der kalorimetrischen Titration von 1,6-Diaminohexan (3·10-3 mol/l) mit Cucurbituril (0,05 mol/l) in 50% Ameisensäure bei 25 °C Das Thermogramm in Abb. 3.1 kann in drei Abschnitte eingeteilt werden: a) Abschnitt a zeigt den Temperaturverlauf vor Beginn der Titration. Der Temperaturanstieg ist auf die nicht-chemischen Effekte, wie Rührwärme, Wärmeleitung und Verdampfung zurückzuführen. b) Abschnitt b zeigt den Temperaturanstieg, der während der Komplexierungsreaktion bei der Titration auftritt. Zusätzlich wird der Temperaturanstieg durch den Verdünnungseffekt von Titrator und Titrand und die unter a) aufgeführten Effekte beeinflußt. c) Abschnitt c zeigt den Temperaturverlauf nach beendeter Titration. Die nicht-chemischen Effekte sind hier wieder ausschlaggebend. Bei einem isobar-isothermen Vorgang, bei dem nur reversible Volumenarbeit geleistet werden darf, setzt sich die Wärme Qt aus den Änderungen der Stoffmenge ∆nr,t und der Reaktionsenthalpie hT,p,r wie folgt zusammen (3.13): n Q t = ∑ ∆ n r ,t h T ,p ,r r =1 mit ∂H h T ,p ,r = ∂ξr T,p Qt r Wärme zu einem Zeitpunkt t bei der Titration Anzahl der stattfindenen Reaktionen (3.13) 26 ∆nr,t Stoffmenge des in der Reaktion r gebildeten Produktes zu einem beliebigen Zeitpunkt t molare Reaktionsenthalpie bei konstantem p und T molare Enthalpie Umsatzvariable hT,p,r H ξr Die Standardreaktionsenthalpie ∆Hé ist gegeben durch (3.14): ∆ΗΘ = Σ ∑ hT , p , r ∆ξr = Σ ∑ hT , p , r νi , r ∆n i , r r i i r (3.14) r i Index für Stoff i Index für Reaktion r Für die Bildung von 1:1 Komplexen vereinfacht sich die Gleichung (3.13) für die Wärme Qt zu (3.15): Q t = ∆n t ∆ H ∆H Θ Θ (3.15) molare Reaktionsenthalpie bei Standardbedingungen Für die Komplexierung eines Gastmoleküls Gm durch einen Liganden L setzt sich die Gesamtkonzentration für Gm und L zusammen aus: c Gm = [Gm] + [GmL] (3.16) c L = [ L] + [GmL] (3.17) [GmL] Konzentration des gebildeten Komplexes zu einem beliebigen Zeitpunkt t der Titration [Gm] Konzentration des Gastes Gm zum Zeitpunkt t [L] Konzentration des Liganden L zum Zeitpunkt t cGm Gesamtkonzentration des Gastes Gm im Reaktionsgefäß cL Gesamtkonzentration des Liganden L im Reaktionsgefäß Eingesetzt in das Massenwirkungsgesetz für Komplexierungsreaktionen ergibt sich für die Gleichgewichtskonstante K (3.18): K= [GmL] [GmL] = [Gm][ L] ( c Gm − [GmL])( c L − [GmL]) (3.18) Wird die Gleichung (3.18) aufgelöst nach der Konzentration des Komplexes [GmL] erhält man als Lösung aus der quadratischen Gleichung (3.19): 27 1 1 2 c Gm + c L + c Gm + c L + K K [GmL] = ± − c Gm c L 2 4 (3.19) Die Gleichung enthält bis auf die Gleichgewichtskonstante K nur bekannte Variablen. Aus der Konzentration des gebildeten Komplexes wird die Stoffmenge des gebildeten Komplexes berechnet aus (3.20): ∆n t = [GmL] ⋅ V V (3.20) Gesamtvolumen von Titrator und Titrand im Reaktionsgefäß zum Zeitpunkt t Die Anpassung der Gleichung (3.15) an die gemessenen Daten erfolgt über die Fehlerquadratsumme U über m Datenpunkte in Gleichung (3.21): ( Θ U K,∆Η ) = ∑(Q − ∆n ∆Η ) m Θ t =1 t 2 (3.21) t Es werden die Minima der Funktion gesucht, d.h. die partiellen Ableitungen werden gleich Null gesetzt: ( ∂U K,∆ H ∂∆ H ( Θ Θ ∂U K, ∆ H Θ ∂K )= )= m m t =1 t =1 ∑ Q t ∆n t − ∑ ∆n t 2 ∆ΗΘ = 0 m (3.22) m ∂∑ ∆n t ∆Η t =1 ∂K ∑(Qt − ∆n t ∆ΗΘ ). t =1 Θ =0 (3.23) Da nur Gleichung (3.22) geschlossen lösbar ist, beschränkt man sich auf diese. Man gibt nun für die Gleichgewichtskonstante K einen Wert vor und berechnet aus den Gleichungen (3.19) und (3.20) die Stoffmenge des gebildeten Komplexes ∆nt. Da sich die Ionenstärke während der Titration ändert, müssen die Aktivitätskoeffizienten fi für jeden Datenpunkt mit Hilfe der Debye-Hückel-Gleichung (2.11) korrigiert werden: Θ Aus Gleichung (3.22) wird die molare Reaktionsenthalpie ∆ H berechnet nach (3.24), m Θ ∆Η = ∑ Q t ∆n t t =1 m ∑ ∆nt t =1 (3.24) 2 28 wobei für Qt die ermittelte Wärme und für ∆nt der berechnete Wert, aus der vorgegebenen Gleichgewichtskonstante K, eingesetzt wird. Eine Iteration über einen bestimmten Bereich von K ermöglicht es dann, die kleinste Fehlerquadratsumme als Minimum zu ermitteln. Im folgenden Diagramm (Abb. 3.2) ist dies schematisch dargestellt: 0 1 2 3 4 5 6 lg K Abb. 3.2: Logarithmische Auftragung der Fehlerquadratsumme in willkürlichen Einheiten gegen den dekadischen Logarithmus der Stabilitätskonstante der Ausgleichsrechnung bezogen auf die kalorimetrische Titration von Cucurbituril zu 1,6-Hexandiamin in 50 %iger wäßriger Ameisensäure bei 25 °C Die Berechnung der Gleichgewichtskonstante und der Reaktionsenthalpie aus dem Thermogramm ist nur innerhalb bestimmter Grenzen möglich [82 ]. Die Thermogramme müssen eine Krümmung aufweisen, was nur bis zu einer Gleichgewichtskonstante von lg K<5,5 und bei einer Temperaturänderung von mindestens 0,005 °C gewährleistet ist [83 ]. 29 3.3 Kalorimetrische Endpunkttitration Eine Möglichkeit unbekannte Komplexzusammensetzungen LxGmy zu bestimmen, bietet die kalorimetrische Endpunkttitration [84 ]. Dazu wird eine definierte Gastlösung zu einer Ligandlösung mit bekannter Konzentration titriert. Die bei der Titration freiwerdende Wärme setzt sich nach Gleichung (3.15) aus den Änderungen der Stoffmenge und der Reaktionsenthalpie zusammen. Stoffmengenänderungen mehr Am statt Äquivalenzpunkt und der der Komplex Reaktion liegt finden keine entsprechend seiner Zusammensetzung vor. Die Stoffmenge nLges der vorgelegten Ligandlösung ist bekannt. Die Stoffmenge des Gastes zum Zeitpunkt des Äquivalenzpunktes (Äp) nGmÄp kann aus dem Thermogramm ermittelt werden. Mittels der Titrationszeit bis zum Äquivalenzpunkt wird über das zutitrierte Volumen die Stoffmenge des Gastes beim Äquivalenzpunkt berechnet. nLges/nGmÄp= xL/yGm (3.25) Über das Verhältnis der Stoffmengen nLges/nGmÄp wird die Zusammensetzung von Ligand zu Gast im Komplex beschrieben. 30 [77 ] R. Haase Thermodynamik der Mischphasen, Springer Verlag, Berlin (1956). [78 ] R. A. Robinson, R. H. Stokes, Electrolyte Solutions, Butterworths, London (1959), 229. [79 ] a) J.J. Christensen, J. Ruckman, D.J. Eatough, R.M. Izatt, Thermochim. Acta, 3 (1972) 203. [80 ] J. J. Christensen, D. J. Eatough, R.M. Izatt, Thermochim. Acta, 3 (1972) 219. [81 ] J. J. Christensen, D. J. Eatough, R. M. Izatt, Thermochim. Acta, 3 (1972) 233. [82 ] H.-J. Buschmann Inorg. Chim. Acta 195 (1992), 51-60. [83 ] K. Jansen Diplomarbeit, Gerhard-Mercator-Universität-GH Duisburg (1997). [84 ] D. J. Eatough, J. J. Christensen, R. M. Izatt, Experiments in Thermodynamic Titrimetry and Titration Calorimetry, Brigham Young University Publications, Provo, UT (1973).