1. Was ist SOZIOLOGIE?

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HPSV – Soziale Umwelten
1.
Was ist SOZIOLOGIE?
Soziologie ist die Wissenschaft vom Sozialen, d.h. den verschiedenen
Formen der Vergemeinschaftung (z.B. Familie, Verwandtschaft/Sippe,
Nachbarschaft, soziale Gruppe) und der Vergesellschaftung (Organisation,
Gesellschaft, Staat) der Menschen; sie fragt nach den Strukturen des
sozialen Handelns und der sozialen Gebilde und welchem sozialen Wandel
diese unterliegen.
Der Begriff Soziologie ist ein Kunstwort, das sich aus lateinisch socius (der
Gefährte, im wörtlichen Sinne Mitmensch) und griechisch logos (Wort,
Wahrheit, Lehre, Wissenschaft) zusammengesetzt. Der Begriff ersetzte nach
und nach ältere Bezeichnungen, z.B. physique sociale („soziale Physik“),
die davon ausging, das Soziale ließe sich in Analogie zu der großen
Vorbildwissenschaft Physik untersuchen: exakt und mit der Möglichkeit der
Prognose und Planung einzelner (sozialer) Elemente, Zustände und
Verhaltensweisen.
Quelle: Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie. UTB
1.1
Die Entwicklung einer soziologischen Theorie
Soziologie ist eine bestimmte Art von theoretischer Betrachtung - und zwar,
anders als die meisten anderen Sozialwissenschaften versucht die soziologische Theorie, die ganze Gesellschaft im Auge zu behalten, nicht nur die
Wirtschaft (wie die Ökonomie), nicht nur das Recht (wie die Rechtswissenschaft), nicht nur die Bildung (wie die Pädagogik), nicht nur den
einzelnen Menschen (wie die Psychologie).
Ein Soziologe muss fähig sein, sich von persönlichen Denkweisen loszureißen und Dinge mit anderen Augen zu sehen. Viele Ereignisse, die
anscheinend nur Individuen betreffen, können zu öffentlichen Anliegen
werden. Es ist die Aufgabe der Soziologie, die Zusammenhänge zwischen
dem, was die Gesellschaft aus uns macht, und was wir selbst aus uns
machen, zu unterscheiden.
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
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(Günter Wiswede: Soziologie, 1991. S.29)
Die Grafik verdeutlicht einerseits die Abgrenzung der Soziologie und ihrem
eigentlichen Tätigkeitsfeld im Unterschied zur Psychologie. Die Sozialpsychologie repräsentiert den gemeinsamen Kernbereich beider Wissenschaftsdisziplinen. Die sozialen Kontexte unseres Lebens sind nicht einfache
Anhäufungen von Ereignissen und Handlungen, sondern werden in jedem
Moment neu erschaffen. Dabei sind beabsichtigte und nicht beabsichtigte
Konsequenzen möglich. Man muss als Soziologe zwischen dem was jemand
beabsichtigt und der Konsequenz der Handlung unterschieden.
Außerdem gibt es weitere Disziplinen, die an die Soziologie angrenzen,
bzw. mit ihr gemeinsame Bereiche haben, wie folgende Grafik zeigt.
(Günter Wiswede: Soziologie, 1991. S.30)
Die Soziologie berührt sich mit der Anthropologie vor allem dort, wo es um
spezifische Lebens- und Äußerungsformen des Menschen in einer von ihm
selbst geschaffenen Umwelt geht.
Die Verbindung zur Ökonomie zeigt vielgestaltig, was z.B. Themen wie
gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Konflikte zwischen Interessensgruppen, Gruppenbeziehungen in Organisationen usw. zeigt.
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
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1.2.
Ein Streifzug durch die Geschichte der Soziologie
Im 17./18. Jahrhundert kam – bedingt durch den Erfolg der Naturwissenschaften zunehmende Zweifel auf, dass die Natur eine göttliche Ordnung sei - später auch
der Zweifel darüber, dass Gesellschaft eine göttliche Ordnung sei. Man meinte, die
Grundlagen der Gesellschaft seien nicht von Gott gegeben, sondern aus der Natur
des Menschen abzuleiten. So kam es zur Forderung nach Freiheit und Gleichheit.
Die Französische Revolution 1789, die industrielle Revolution führten zu
einer Verdrängung der Religion als Instanz der Weltdeutung. In dieser
Situation entsteht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das dringende Bedürfnis,
Mittel und Wege zu finden, um hinreichende und gesicherte Informationen darüber zu erhalten, wie ein so komplexes soziales System funktioniert und wie
es zu steuern ist.
Auguste Comte (1798 – 1857): Er prägte das Wort Soziologie. Soziologie
(lat. Socius = „Genosse“ und griech. Logos „ Lehre“) könne ein Wissen von
der Gesellschaft zutage fördern, welches auf wissenschaftlichem Beweismaterial beruht. Er versteht darunter eine Art „sozialer Physik“, deren Ziel die
Organisation der menschlichen Gesellschaft und die Beschleunigung des
Fortschritts ist. Er meint, dass das bereits vorhandene Wissen über die
menschliche Gesellschaft erweitert werden müsse, um eine rationale Steuerung
der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Lösung dieser Aufgabe wird dadurch
erreicht, indem soziale Systeme in ihrem Gefüge erfasst, sowie Ursachen ihrer
Entstehung und die Bedingungen ihrer Veränderungen kennen gelernt werden sollen.
Comte ging es um den Zusammenhang von gesellschaftlicher Entwicklung
und der Entwicklung des menschlichen Wissens. In diesem Sinn war er der
erste Wissens-Soziologe. Comte war insofern der erste Soziologe, als er für
das Verständnis von Gesellschaft eine neue Wissenschaft, eben die
Soziologie, forderte, da weder die philosophische Abstraktion noch die
Gleichsetzung der Gesellschaft mit der Natur (Naturrechtsidee, OrganismusModelle) diese Aufgabe erfüllen könnten.
Emile Durkheim (1858 – 1917): Um wissenschaftlichen Status zu erlangen, muss die Soziologie soziale Tatsachen untersuchen und zwar mit der
gleichen Objektivität wie die Wissenschaft die Natur untersucht. Seine Analyse des sozialen Wandels gründet er auf die Analyse der Arbeitsteilung.
Dieser Wandel vollzieht sich rasch und tief greifend und daher kommt es zu
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Anomie (= Gefühl der Ziellosigkeit). Er sieht die Soziologie als Moralwissenschaft, nicht jedoch als moralische Instanz
Karl Marx (1818 – 1883): Sein Standpunkt beruht auf der materialistischen
Geschichtsauffassung. Sozialer Wandel wird durch wirtschaftliche Einflüsse
hervorgerufen. Wichtigste Veränderung der Moderne ist die Entwicklung
des Kapitalismus. Aus heutiger Sicht spricht viel dafür, Karl Marx als den
ersten richtigen Soziologen anzusehen, auch wenn er selber sich nicht als
Soziologen bezeichnet hat oder hätte. Nach seiner Dissertation 1841 arbeitete er zunächst als politischer Journalist (Köln, Brüssel, Paris).
1844
erschien das Kommunistische Manifest und 1867 der erste Band des
Werkes „Das Kapital“
Marx hat einige wesentliche Neuerungen in die Sozialtheorie / Sozialphilosophie eingebracht, die für die Soziologie heute noch maßgeblich sind:
- Eine systematische Perspektive auf die „wirklichen“ Akteure der
Gesellschaft, auf die handelnden Menschen, auf die „Verkehrsformen“ oder
„Produktionsverhältnisse“
- Damit kam es auch zu einer deutlichen Abkehr von einer theoretischen
Spekulation, hin zur empirischen Absicherung.
- Er sieht die Arbeit als Basis von Gesellschaft.
Der Mensch ist das Subjekt der Geschichte. „Der Mensch macht seine
Geschichte selbst...... es kommt darauf an, sie zu verändern".
Comte als erster Soziologe vom Anspruch her - Marx als erster Soziologe
von der Analyse her - Durkheim als erster Soziologe vom Anspruch, von
der Analyse und vom Status her: Durkheim war einer der ersten SoziologieProfessoren überhaupt (1896). Für ihn müssen soziale Organisationsformen
und Moral übereinstimmen, damit gesellschaftliche Ordnung möglich ist.
Die einfachen (segmentären) Gesellschaften wurden durch „mechanische
Solidarität“ zusammengehalten, d.h. durch ein undifferenziertes, religiöses
Wertsystem („Kollektivbewusstsein“), durch unmittelbare Bindungen, Verwandtschaftsbindungen als Basis.
Max Weber (1864 – 1920): Er war von Marx beeinflusst, lehnte aber die
Ansicht der materialistischen Konzeption der Geschichte ab. Ideen und
Werte haben ebenso großen Einfluss auf soziale Veränderung. Er gilt vielen
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als der eigentliche Begründer der modernen Soziologie, jedenfalls als eine
ihrer wichtigsten Figuren überhaupt. Als einer der Letzten war er noch
Universalgelehrter, d.h. Historiker, Rechtskundiger, Ökonom, Politologe,
Soziologe. Außerdem starke politische Interessen. Er stammte aus dem
wohlhabenden, politisch aktiven Bildungsbürgertum. Weber studierte Jura,
promovierte in Handelsrecht, habilitierte sich für Römisches Recht.
Michel Foucault beschäftigte sich mit der Entwicklung von Gefängnissen,
Krankenhäusern, Schulen und anderen großen Organisationen, Sexualität
und das Selbst.
Jürgen Habermas wurde von Karl Marx und Max Weber beeinflusst und
meint, dass die kapitalistischen Gesellschaften die soziale Ordnung zerstören auf der sie beruhen.
All die genannten Soziologen sind bestrebt, den Fragen nach Wesen und
Entwicklung menschlicher Gesellschaften mit den Methoden wissenschaftlicher
Forschung beizukommen. Auf diese Weise entsteht eine Wissenschaft von der
Gesellschaft, die als Erfahrungswissenschaft auf Beobachtung, Vergleich und
kontrolliertem Experiment aufbaut und sich bemüht, die Dinge so zu sehen wie sie
sind, nicht wie sie sein sollen. Für Lehrer/innen ist daher die Soziologie nicht
Selbstzweck, sondern sie erwarten eher einen praktischen Nutzen von dieser
Wissenschaft.
1.3.
-
Was kann uns die Soziologie in unserem Leben nützen?
Gewahr – werden kultureller Unterscheide: kann helfen erfolgreiche
Strategien für das Zusammenleben zu entwickeln
-
Bewertung der Auswirkung von Planungsstrategien: Sie hilft aufzuzeigen, dass auch „gut gemeinte“ Absichten ins Gegenteil umschlagen
können.
-
Selbsterkenntnis: Menschengruppen die lernen sich selbst besser zu
verstehen sind auch in der Lage Veränderungen herbeizuführen.
-
Die Rolle der Soziologie in der Gesellschaft: Soziologen befassen sich
ebenso mit praktischen Angelegenheiten (Industrie, Stadtplanung,
Personalentwicklung, usw.).
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Richard BEHRENDT (1969, 17f) nennt allgemein drei Gründe, die den Nutzen der
Soziologie für unsere Zeit charakterisieren:
„ l. Einzelerlebnisse und einzelne Beobachtungen werden nicht isoliert
gesehen, sondern sie werden in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang
gebracht.
2. Werte und Verhaltensweisen der eigenen Umwelt und der Zeit werden besser
erkannt; dadurch wird die Urteilsfähigkeit über das soziale Leben der Gegenwart
gefördert.
3. Die Soziologie führt zu einer kritischen und objektiven Durchleuchtung und
Betrachtung der Gesellschaft."
1.4.
Sinn und Nutzen der Soziologie
• Sie ersetzt den naiven Blick auf die komplizierte gesellschaftliche Wirklichkeit durch eine wissenschaftlich geschulte Sichtweise, die der Kompliziertheit angemessen ist.
• Sie ermöglicht den Menschen einen wissenschaftlich gebildeten Blick für
das Wissen um ihre realistischen Möglichkeiten in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht, sowie um Schwierigkeiten und Grenzen.
• Sie ist ein Instrument bei der Entwicklung aufgeklärter Konzepte menschenwürdiger Gesellschaftsordnungen, die es ermöglichen, individuelle
Selbstverwirklichung und soziale Ordnung miteinander zu verbinden.
Als „analytische Wissenschaft der sozialen Tatbestände und Verhaltensweisen", wie Helmut SCHELSKY die Soziologie bestimmt, kann sie als
unmittelbare Wirklichkeits- oder Gegenwartswissenschaft aufgefasst werden
und den LehrerInnen somit ein aktuelles Bild der Gesellschaft liefern. „Auf
diese Art kann die Soziologie der Pädagogik Grundlagen liefern, die aber
nicht im Sinne einer folgerichtigen Abhängigkeit das pädagogische Handeln
bestimmen, sondern die eher als Orientierungshilfen zu verstehen sind.", (Josef
KURZREITER (1971, S.14) ein.
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Die Frage, was Soziologie ist, findet je nach vorherrschendem Gesichtspunkt
verschiedene Antworten, wie nachstehende Definitionen belegen:
Max WEBER: „Soziologie soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales
Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln' soll dabei ein menschliches Verhalten heißen, wenn und insofern, als der oder die Handelnden mit ihm einen
subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales' Handeln aber soll ein Handeln heißen,
welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das
Verhalten anderer bezogen wird und daran es in seinem Ablauf orientiert ist."
Soziales Handeln ist an sich ein neutraler Begriff. Im Alltagsverständnis meint
man damit ein altruistisches, fürsorgliches Handeln. Im soziologischen Sinne
meint es ein Handeln, das auf andere bezogen ist und das sowohl positive als auch
negative Konsequenzen haben kann.
Max Weber: „Soziales Handeln (einschließlich des Unterlassens oder Duldens)
kann orientiert werden am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig
erwarteten Verhalten anderer (Rache für frühe Angriffe, Abwehr gegenwärtigen
Angriffs, Verteidigungsmaßregeln gegen künftige Angriffe).
Die „anderen“ können Einzelne und Bekannte oder unbestimmt viele und ganz
Unbekannte sein … Nicht jede Art von Handeln – auch von äußerlichem Handeln
– ist „soziales Handeln“ im hier festgehaltenen Wortsinn. Äußeres Handeln dann
nicht, wenn es sich lediglich an den Erwartungen des Verhaltens sachlicher
Objekte orientiert. Das innere Sichverhalten ist soziales Handeln nur dann, wenn
es sich am Verhalten anderer orientiert.“
(Max Weber: Soziologische Grundbegriffe, 1984, S.41)
Georg SIMMEL: Er sieht in der Soziologie die Wissenschaft, die sich mit den
zwischenmenschlichen Beziehungen als dem Hauptgegenstand ihrer Analyse
befasst. Er sucht nach Typen von Beziehungsformen, die identifizierbar sind,
abgesehen von der Bedeutung, die ihnen die handelnden Menschen beilegen.
Jakob WÖSSNER: Soziologie „ist die Wissenschaft vom sozialen Handeln,
insoweit dieses durch Gruppen und Institutionen in einer konkreten Gesell-schaft
und Kultur mit Hilfe sozialer Prozesse geprägt ist."
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Lothar BÖHNISCH (1996, 25): „Die Soziologie ist die Wissenschaft von der
Gesellschaft und den sich historisch immer wieder neu formierenden sozialen
Beziehungen und sozialen Gebilden. Sie ist in diesem Zusammenhang genauso
Wissenschaft vom Menschen in seiner Gesellschaftlichkeit, seinem gesellschaftlichen Zusammenleben und seiner Auseinandersetzung mit den jeweiligen
gesellschaftlichen Bedingungen. Als kritische Sozialwissenschaft beleuchtet die
Soziologie nicht nur die funktionalen Anpassungs- und Formungsprozesse im
Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, sondern untersucht ebenso die
vielschichtigen Abhängigkeiten und Auslieferungen des Subjekts sowie seinen
widerständigen Eigensinn und seine Praxis gegenüber der Gesellschaft."
Er führt weiters aus: „Die Soziologie, so können wir verallgemeinern, hat mit
Zusammenhängen, Kontexten zu tun, die den Menschen beeinflussen, in ihm
wirken und ihm sein soziales Wesen und seine soziale Gestalt geben, die aber
gleichzeitig - außerhalb und unabhängig vom Menschen - eine eigenständige
gesellschaftliche Existenz führen. Der Mensch wächst in sie hinein, er kann sie
kaum verändern - die Rolle, die Bürokratie, die Generation -, er kann sich nur
in ihnen und zu ihnen verhalten. Verändert werden können diese Strukturen und
Systeme aber nur durch den gesellschaftlichen Wandel, zu dem die Einzelnen und
die Gruppen vieles dazu tun können, der aber historischen Bedingungen
unterliegt." (ebd., 27)
1.5.
Funktionen der Soziologie
Theoretische Funktion
Diese liegt im Bestreben der Soziologie, zwischen den methodisch aufbereiteten Informationen Zusammenhänge nachzuweisen und zu erklären. Dadurch soll
die Möglichkeit geboten werden, hinsichtlich künftig zu erwartender oder bewusst
angestrebter sozialer Bedingungszusammenhänge Prognosen darüber aufzustellen,
welche Ereignisse beim Einsatz welcher Mittel zu erwarten sind.
Informationsfunktion („Was ist der Fall?“)
Sie dient dem Bedürfnis nach systematischer Information über die Möglichkeiten zur Lenkung gesellschaftlicher Prozesse.
Kritische Funktion („Was ist falsch, was ungerecht?“)
Soziologie kann als das kritische Bewusstsein einer Gesellschaft verstanden
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werden. Dieses äußert sich in dem Willen, sich selbst, die Gesellschaftsstruktur
und die Bedingungen ihrer Verwirklichung kennen zu lernen.
Orientierungsfunktion („Was ist zu tun?“)
Stabilisierungsfunktion („Was hält einen Zustand aufrecht?“)
1.6
Was ist Pädagogische Soziologie?
Der Begriff findet sich erstmals im Schrifttum von Otto WILLMANN im Jahre
1903. Er meint damit etwa das, was wir heute unter „Sozialkunde“ verstehen.
Im heutigen Sinn verwendet zuerst Emile DURKHEIM den Begriff „Pädagogische
Soziologie“.
Ihre Entstehung verdankt diese humanwissenschaftliche Disziplin der sich allmählich durchsetzenden Erkenntnis, dass Erziehung nicht losgelöst von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgen könne und dass Erziehungsprozesse
stets auch ihre sozialen Komponenten haben. Der Zusammenhang von Erziehung
und Gesellschaft kommt in der Auffassung zum Ausdruck:
Der Mensch ist sowohl Produkt als auch Schöpfer der Gesellschaft (Emile
DURKHEIM).
Als Gegenstand der Pädagogischen Soziologie kann demnach die Gesamtheit
zwischenmenschlicher Beziehungen sowie deren Ergebnisse verstanden werden,
sofern diese als auf Erziehung wirkende bzw. durch Erziehung bewirkte anzusehen
sind. Dabei ist sowohl an die sozialen Bedingungen für die Bildungseinrichtungen einer Gesellschaft und deren Nutzungsmöglichkeiten (makrosoziologischer Aspekt) als auch an die in kleinen Gruppen ablaufenden Prozesse (mikrosoziologischer Aspekt) zu denken.
„Die Pädagogische Soziologie selbst kann keine Normen aufstellen, in der
Darstellung der Konsequenzen, die sich aus der Realität ergeben, findet sie - wie
auch die übrige soziologische Forschung - ihre Grenzen. Auf diese Weise will sie
nicht dem Selbstzweck dienen und unter Ausnützung eines umfangreichen
Methodenkataloges vom Menschen wegführen, sondern sie will den Blick des
Lehrers besonders auf die Betrachtung der sozialen Person des Schülers
richten. So kann sie zu einer umfassenderen Kenntnis des Menschen beitragen“.
(Josef KURZREITER 1971, 18)
Als wichtigste Inhalte einer Pädagogischen Soziologie können daher festgehalten
werden:
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•
Analyse von Zielen und Normen; Erforschung ihrer gesellschaftlichen
Bedingtheit.
•
Analyse der Bildungsinstitutionen und Bildungswege, mit deren Hilfe diese
Zielsetzungen erreicht werden
•
Stellung der Schule und Rolle des/der Lehrers/in in der Gesellschaft.
•
Vermittlung von Forschungsmethoden und -ergebnissen aus der Mikrosoziologie (Kleingruppen wie: Familie, Gleichaltrige, Schulklasse, Spielgruppe
usw.) und den Großgebilden (Stadt, Land, Gemeinde)
Daneben gibt es eine Reihe von speziellen Soziologien (z.B. Soziologie der Politik, der
Kunst, Familie, Jugend, Freizeit, Kommunikation usw.).
Einführung in Methoden der Empirischen Sozialforschung. (Vgl. dazu die
Ausführungen im Lehrplan der Pädagogischen Akademien 1987, 152ff)
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
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2.
Die „SOZIALWERDUNG" des Menschen
Mit dem Wort „Sozialwerdung" ist keinesfalls in Frage gestellt, ob der Mensch ein
soziales Wesen sei oder dies erst werden müsse. „Sozialwerdung" bezieht sich
vielmehr auf die von der anthropologischen Forschung festgestellte Sondernatur
des Menschen, die diesen insbesondere vom Tier unterscheidet. Er ist nicht nur
ein „Naturwesen", sondern auch ein „Kulturwesen".
Dies bedeutet, dass er Natur „bearbeiten" und dadurch „veredeln", d.h. in Kultur
umwandeln kann. Die Fähigkeit, Kultur zu schaffen, beinhaltet auch die Fähigkeit,
Kultur in sich aufzunehmen. Soweit es sich dabei um die Übernahme von sozialen
Normen und Werten handelt, die durch Internalisierung (Verinnerlichung)
gleichsam zu einem Teil der Persönlichkeit werden, kann man von Sozialwerdung
sprechen. Die Frage ist, wie dieser Prozess der Sozialwerdung vor sich geht.
2.1
Der Begriff der Sozialisation
Diese Frage beschäftigt seit Jahrhunderten die Philosophen. Erst in den letzten
Jahrzehnten ist es gelungen, die Erforschung des Vorganges der Sozialisation auf
eine erfahrungswissenschaftliche Grundlage zu stellen. Für das Wort Sozialwerdung verwendet man nun den Begriff „Sozialisation", der um die Jahrhundertwende
von Emile DURKHEIM geprägt wird. Erziehung besteht nach ihm in einer
„systematischen Sozialisation".
„In jedem von uns, so kann man sagen, bestehen zwei Seinsweisen, die, obwohl sie auf dem Wege der Abstraktion unterscheidbar sind, sich doch nicht
trennen lassen. Die eine setzt sich aus all den geistigen Zuständen zusammen,
die sich nur auf uns selbst und die Ereignisse unseres persönlichen Lebens
beziehen. Sie könnte man als das individuelle Sein bezeichnen. Die andere ist ein
System von Ideen, Gefühlen und Praktiken, die in uns nicht unsere Persönlichkeit, sondern die Gruppe oder verschiedene Gruppen, denen wir angehören, ausdrücken; dies sind religiöse Überzeugungen, sittliche Überzeugungen und
Praktiken, nationale oder berufliche Traditionen, kollektive Meinungen jeglicher Art. Ihre Gesamtheit bildet das soziale Sein. Dieses Sein in jedem von uns
zu erzeugen, ist das Ziel der Erziehung.“
Die als Sozialisation verstandene Erziehung definiert Emile DURKHEIM
folgendermaßen:
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„Erziehung ist die Einwirkung, welche die Erwachsenengeneration auf jene
ausübt, die für das soziale Leben noch nicht reif sind. Ihr Ziel ist es, im Kinde
gewisse physische, intellektuelle und sittliche Zustände zu schaffen und zu entwickeln, die sowohl die politische Gesellschaft in ihrer Einheit als auch das
spezielle Milieu, zu dem es in besonderer Weise bestimmt ist, von ihm
verlangen.“ (Emile DURKHEIM, 30/83)
Weitere Definitionen von „Sozialisation":
„Sozialisation ist der Vorgang, durch den jedes Mitglied einer Gesellschaft
(oder Gruppe) während seines Herartwachsens mit Verhaltensmustern ausgestattet wird, die es ihm erlauben, sich in dieser Gesellschaft (oder Gruppe) als
Erwachsener konventions- und normengerecht zu benehmen" (Othmar
SCHOECK)
Klaus HURRELMANN (2002, S. 11) beschreibt jetzt Sozialisation als
"produktive Verarbeitung der Realität". Den Stand der wissenschaftlichen Diskussion fasst er wie folgt zusammen (a.a.O. S. 15)
Sozialisation wird jetzt verstanden „als der Prozess der Entstehung und
Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der
gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrang hat
dabei die Frage, wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich
handlungsfähigen Subjekt bildet."
2.2
Verwendungsbereiche des Begriffes Sozialisation
Systematisiert man den Gebrauch des Begriffes Sozialisation, so lassen sich
im Anschluss an Klaus HURRELMANN (1976, S. 15 f.) drei Verwendungsbereiche benennen. Danach bezeichnet Sozialisation
•
alle gesellschaftlichen Maßnahmen, die direkt oder indirekt auf die
Ausbildung der Persönlichkeitsstruktur der Mitglieder der Gesellschaft
Einfluss nehmen - Erziehung im weitesten Sinne;
•
die
Persönlichkeitsentwicklung
selbst,
so
weit
sie
durch
Umwelteinflüsse bestimmt wird;
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•
den Prozess der Vermittlung von gesellschaftlichen Normen und
Handlungsmustern, in dessen Verlauf das Mitglied der Gesellschaft erst zu
einem handlungsfähigen menschlichen Subjekt wird.
Sozialisation lässt sich also verstehen als
•
Erziehung im weitesten Sinne des Wortes,
•
Gegenposition zum psychologischen Entwicklungsbegriff,
•
Vergesellschaftung.
2.3
Sieben Thesen zur Sozialisation
Den aktuellen Stand der Theoriebildung fasst HURRELMANN (a.a.O. S.
24 ff.) in den folgenden sieben Thesen zusammen:
•
Erste These:
Sozialisation vollzieht sich in einem Wechselspiel von Anlage und Umwelt.
•
Zweite These:
Sozialisation ist der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in wechselseitiger Abhängigkeit von körperlichen und psychischen Grundstrukturen
(„innere Realität“) und den sozialen und physikalischen Umweltbedingungen („äußere Realität“).
•
Dritte These:
Sozialisation ist der Prozess der dynamischen und »produktiven«
Verarbeitung der inneren und äußeren Realität.
•
Vierte These:
Eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung setzt eine den individuellen
Anlagen angemessene soziale und materielle Umwelt voraus. Die
wichtigsten Vermittler hierfür sind Familien, Kindergärten und Schulen als
Sozialisationsinstanzen.
•
Fünfte These:
Auch andere soziale Organisationen und Systeme haben Einfluss auf die
Persönlichkeitsbildung, in erster Linie solche, die Funktionen für Arbeit,
Freizeit, Unterhaltung und soziale Kontrolle erbringen.
•
Sechste These:
Die Persönlichkeitsentwicklung besteht lebenslang aus einer nach Lebensphasen spezifischen Bewältigung von Entwicklungsaufgaben.
•
Siebte These:
Ein reflektiertes Selbstbild und die Entwicklung einer Ich-Identität sind
Voraussetzungen für ein autonom handlungsfähiges Subjekt und eine
gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Lässt sich Identität nicht herstellen,
kommt es zu Störungen der Entwicklung im körperlichen, seelischen und
sozialen Bereich.
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
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Der Begriff der Sozialisation ist (im Gegensatz zu Emile DURKHEIM) von
dem der Erziehung deutlich abzuheben. Erziehung meint ein aktives und
bewusstes Handeln mit der Absicht, kulturelle Erfahrungen zu vermitteln.
Sozialisation umfasst mehr und bezieht sich auf die Gesamtheit jener
Lernprozesse, in welchen Individuen „Soziales" (Normen, Werte) zum Teil
ihrer Persönlichkeit machen. Es spielt dabei keine Rolle, ob Lernprozesse
beabsichtigt sind oder nicht. Dies erklärt die Kritik von Gerhard
WURZBACHER, der Begriff Sozialisation erwecke „anpassungsmechanistische
Vorstellungen“. Er schlägt daher eine Einschränkung des Begriffs der
Sozialisation
und
zugleich
eine
Ergänzung
durch
die
Begriffe
Enkulturation und Personalisation vor.
Sozialisation ist „der Vorgang der Führung, Betreuung und Prägung des
Menschen durch die Verhaltenserwartungen und Verhaltenskontrollen seiner
Beziehungspartner."
Enkulturation ist „eine gruppen- wie personenspezifische Aneignung und
Verinnerlichung von Erfahrungen, ‚Gütern', Maßstäben und Symbolen der
Kultur zur Erhaltung, Entfaltung und Sinndeutung der eigenen wie der Gruppenexistenz. Hierbei stehen sich die Kultur in ihrer zwingenden Breite und
Herausforderung und die Person in angeregter, folgender und lernender
Aktivität gegenüber.“
Personalisation wird verstanden „als Selbstformung und -Steuerung der
eigenen Triebstrukturen wie als sinngebende, koordinierende und verantwortlich gestaltende Rückwirkung des Individuums auf die Faktoren der
Gesellschaft und Kultur.“ (Gerhard WURZBACHER 12 ff)
Erläuterung: Der Sozialisationsbegriff verweist auf Wirkungszusammenhänge
innerhalb der Gesellschaft. Sie tritt über die verschiedenen sozialen Gebilde,
über deren Rollen und Rollenträger dominant, fordernd, belohnend und
strafend mit nahezu unvermeidlichem Anpassungszwang der Person gegenüber. Sie zwingt den einzelnen, sich funktional dem jeweiligen Wirkungsganzen ein- und unterzuordnen, eine gewisse Position anzunehmen und auch
seinerseits Rollenträger und Rollenpartner zu werden. Es liegt im Interesse der
Ziel- und Wertverwirklichung sowie der Selbsterhaltung sozialer Gebilde, Einund Unterordnungsforderungen zu stellen. Würde dies nicht geschehen, so
bestünde die Gefahr, dass sie früher oder später auseinander brechen. Dies will
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
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aber nicht heißen, dass sich der Mensch nur in funktionaler Gliedhaftigkeit
innerhalb eines übergeordneten Organismus der Gruppe und Gesellschaft
befände. Der soziale Begriff „Mit-Glied" beinhaltet nur eine teilfunktionale
Zugehörigkeit. Damit ist auf die Notwendigkeit einer Entwicklung der
Fähigkeit zur Rollendistanz verwiesen.
Vom Begriff der Sozialisation unterscheidet Gerhard WURZBACHER den Begriff
der Enkulturation dadurch, dass er jene als „soziale Prägung", diese als
„kulturelle Bildung" versteht. Durch diese Interpretation rückt Enkulturation
sehr nahe an den Begriff der Bildung, sofern er aus kulturpädagogischer Sicht
bestimmt wird. Enkulturation bezeichnet den Vorgang der Einführung des Individuums in die umgebende Kultur. Gemeint ist das Aufnehmen und Aneignen des
Wert- und Normensystems, der Maßstäbe und Symbole, die handlungsorientierend sind. Neben den grundlegenden Erziehungspraktiken (Nahrungsangebot,
Pflege, Reinlichkeitsgewöhnung) gehören hierher alle kulturell geprägten Formen der
Fürsorge, insbesondere der Spracherwerb. Hinzu kommen die übernommenen
Sitten und Gebräuche, die religiösen Riten, die Fertigkeiten und Ideen. Bildungsinteresse, Berufsauffassung und Weltsicht werden geprägt.
Der Begriff „Personalisation“ rückt die Selbstwerdung des Individuums ins
Blickfeld. Personwerdung bedeutet nicht nur, dass man lernt bestimmte Rollen
auszufüllen, sondern dass man lernt, verschiedene Rollen in die eigene Person
zu integrieren und dabei die Autonomie des Selbst zu entwickeln. Erst damit
gewinnt das Individuum als moralische Persönlichkeit Gestalt.
2.4.
Phasen der Sozialisation
Sozialisation, verstanden als „zweite, soziokulturelle Geburt", erfolgt in mehreren
Schritten. Diese sind zeitlich nicht klar voneinander abgrenzbar und überlagern
einander zum Teil. Sie können wegen inhaltlicher Unterschiede jedoch begrifflich
auseinander gehalten werden. Dieter CLAESSENS nennt drei Abschnitte des
Sozialisationsvorganges:
2.4.1 Soziabilisierung
Der Säugling entwickelt aufgrund einer gleich bleibenden, nicht abreißenden
gefühlsmäßigen Zuwendung ein und derselben Person (Bezugsperson, in der Regel
die Mutter) schon sehr früh erste Erwartungshaltungen. Dadurch wird sein
Vertrauen in die Umwelt grundgelegt („Emotionale Fundierung"). Gemeinsam mit
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
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diesem „sozialen Optimismus" entwickelt der Säugling seine ersten konstanten
Objektbeziehungen, welche als Grundlage für spätere Wahrnehmungs-, Lernund Denkprozesse größte Bedeutung haben. Diese Prozesse sind die Voraussetzung
dafür, dass das Kind soziabel (gesellig) wird. Eine Störung dieser Prozesse führt zu
meist irreparablen Schäden in der individuellen Entwicklung (z.B. Hospitalismus).
2.4.2. Enkulturation
Diese Phase überlagert zum Teil die der Soziabilisierung und stellt eine
kulturspezifische Beeinflussung des Säuglings dar. Die Bezugspersonen (Mutter,
Vater) orientieren sich in all ihren Verhaltensweisen an den Normen ihrer
Gesellschaft (Subkultur). Dies bedeutet, dass dadurch die Emotionalität, die
Denkweise, die Sprache, die Moral, die Weltanschauung und das daraus resultierende Verhalten in einem ganz bestimmten Sinne geprägt werden. Das Kind
wiederum lernt diese Normen, Werte usw. kennen und übernimmt sie. Dadurch
erfolgt zwar keine endgültige Formung der Persönlichkeit, jedoch kommt es zu
einer ,3asisprägung", zur Ausbildung der „Grundpersönlichkeit.
2.4.3 Sekundäre soziale Fixierung
Mit der Übernahme von Rollen werden an den Heranwachsenden Erwartungen
herangetragen, die er erfüllen soll. Durch Verwirklichung dieser Erwartungen
werden sie allmählich zu Erwartungen gegenüber sich selbst (siehe „soziale
Kontrolle"). Wenn Kinder Erwartungen ihrer Umwelt schließlich als ihre
eigenen akzeptieren und sich mit ihnen identifizieren, tritt das ein, was als
„sekundäre soziale Fixierung" bezeichnet wird. Diese Prozesse laufen nicht mehr,
zumindest nicht ausschließlich, in der Familie ab, sondern hier handlungsorientierend sind. Neben den grundlegenden Erziehungspraktiken (Nahrungsangebot, Pflege, Reinlichkeitsgewöhnung) gehören hierher alle kulturell geprägten
Formen der Fürsorge, insbesondere der Spracherwerb. Hinzu kommen die
übernommenen Sitten und Gebräuche, die religiösen Riten, die Fertigkeiten und
Ideen. Bildungsinteresse, Berufsauffassung und Weltsicht werden geprägt.
Der Begriff „personalisation" rückt die Selbstwerdung des Individuums ins
Blickfeld. Personwerdung bedeutet nicht nur, dass man lernt bestimmte Rollen
auszufüllen, sondern dass man lernt, verschiedene Rollen in die eigene Person
zu integrieren und dabei die Autonomie des Selbst zu entwickeln. Erst damit
gewinnt das Individuum als moralische Persönlichkeit Gestalt.
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2.5
Sozialisationsumwelten
Wird Sozialisation als ein lebenslanger Prozess gesehen, dann sind dessen
Verlauf und Ergebnis wesentlich aus den strukturellen und situativen Bedingungen jener Handlungsfelder zu bestimmen, in denen der Mensch lebt.
Unter diesen Handlungsfeldern oder Sozialisationsumwelten gibt es in
differenzierten Gesellschaften solche, die mehr oder weniger unbewusst
und ungewollt Sozialisationswirkungen hervorrufen. Andere wieder sollen
ausdrücklich der Sozialisation als einer gesellschaftlichen Funktion dienen.
Letztere können als Bildungssystem zusammengefasst werden. Zu den
anderen zählen beispielsweise die grundlegend prägende Familie, die informellen Gruppen der Gleichaltrigen und die Berufswelt.
2.5.1 Familie
Trotz der Unterschiedlichkeit, die für das Zusammenleben von Menschen in
den verschiedenen Gesellschaften festzustellen ist, können einige Merkmale
festgehalten werden, die für alle Gesellschaften gelten. Im traditionellen
Sinn gilt:
•
Die Familie ist eine Kleingruppe, deren Mitglieder nach Geschlecht
und Alter verschieden sind und der mindestens zwei Generationen
angehören.
•
Die Mitglieder einer Familie bleiben über Jahrzehnte hin dieselben.
•
Die Familie als Kleingruppe zeichnet sich durch eine besonders hohe
Anzahl an Interaktionen aus (Wohnen, Essen, Schlafen usw.).
•
Die Familienmitglieder verfolgen gemeinsam bestimmte Zwecke
und Ziele (:Haushaltsführung, Kindererziehung, Erwerb des Lebensunterhalts, Befriedigung von Bedürfnissen).
Gemessen an der durch diese Merkmale bestimmbaren „Normalfamilie“
gibt es heute viele „gestörte" Familien, die durch den Ausfall einzelner Mitglieder unvollständig sind, deren Mitgliederstand wechselt (Scheidung und
Wiederverehelichung) oder deren gemeinsamer Haushalt zumindest zeitweise aufgehoben ist (getrennt lebende Eltern, Heimunterbringung der
Kinder).
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
17
HPSV – Soziale Umwelten
Im „Normalfall" hat die Familie folgende Funktionen zu erfüllen:
•
Gewährung eines überschaubaren, vertrauten Lebensraumes, in
welchem wegen der Beständigkeit der Partner langfristige emotionale
Bindungen möglich sind.
•
Befriedigung elementarer Bedürfnisse.
•
Förderung der nachwachsenden Generation durch Hilfe bei der Rollenübernahme und Selbstfindung.
Diese Funktionen werden aber nicht ausschließlich von der Familie erfüllt. Die
Familie hat als Folge der gesellschaftlichen Entwicklung Teile dieser Funktionen
an außerfamiliäre Einrichtungen abgegeben (z.B. an Kindergarten, Schule,
Fürsorge, Sozialversicherung, Krankenhäuser usw.).
Die Familie hat sich aber auch hinsichtlich ihrer Struktur verändert. Als typische
Form der Familie in unserer Gesellschaft gilt die Kernfamilie (oder Kleinfamilie).
Sie besteht aus dem Elternpaar und den unverheirateten Kindern.
Historisch gesehen entsteht sie - nach Emile DURKHEIM - durch
„Kontraktion“ der vorindustriellen Großfamilie zur industriellen Kleinfamilie.
Mit der Industrialisierung verlagert sich die Produktion aus der Familie in die
Fabrik. Diese Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung löst die häusliche
Produktionsgemeinschaft
auf.
Damit
entfällt
die
Notwendigkeit
des
Zusammenlebens möglichst vieler Personen.
Ein Kennzeichen des modernen Arbeitsmarktes ist die Forderung nach einem berufsbedingten Wohnortswechsel. Auch dadurch wird die Kontraktionstendenz verstärkt.
Die Folge der Verlagerung sachbezogener Funktionen in den außerfamiliären
Raum (Funktionsverlust der Familie) ist eine Verminderung von Möglichkeiten für
den Heranwachsenden, über soziales Lernen (z.B. durch Nachahmung oder durch
Lernen am Modell) Verhaltensmuster innerhalb der Familie zu erwerben. Man
bezeichnet dies als Sozialisationsschwäche der Kernfamilie. Bei den familiären
Interaktionen stehen daher notwendig gefühlsmäßige Beziehungen anteilsmäßig im
Vordergrund. Dies hat zwar manche positiven Seiten, macht aber die Familie
krisenanfälliger. Schon einfache Gefühls- und Stimmungsschwankungen können
das Gleichgewicht erschüttern und wirken sich stark auf die Beziehungen der
Familienmitglieder untereinander aus.
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
18
HPSV – Soziale Umwelten
Nach außen hin bewirkt die Intimisierung des Familienlebens eine Abnahme der
Bereitschaft zur Teilnahme am öffentlichen („politischen") Leben und zum öffentlichen
Engagement.
Heute gibt es vermehrt Diskussionen über die Krise von Ehe und Familie. Immer
häufiger lassen sich Ehepartner wieder scheiden. Derzeit wird in Österreich
jede dritte Ehe geschieden, wobei es starke regionale Unterschiede gibt (in Tirol
unter 10%, in Wien über 50%). Weil dabei immer häufiger Kinder betroffen sind,
gibt es eine wachsende Zahl an unvollständigen Familien, Stieffamilien, Alleinerziehenden und „Scheidungswaisen“.
mmer mehr Menschen ziehen es vor, alleine zu wohnen. Die Symptome des
Wandels - weniger Kinder, weniger Ehen, mehr Scheidungen, mehr Singles - werden
im Lauf der letzten zwanzig Jahre in Untersuchungen immer wieder aufs Neue erörtert. Sie sind auch Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden, und ihre
Interpretation ist inzwischen Allgemeingut kulturkritischer Zeitgeistbetrachtungen: Abkehr von Ehe und Elternschaft, Zerfall der Kernfamilie, Dauerkrise der
Paarbeziehungen usw.
Günter BURKART und Martin KOHLI
beschreiben die Krise der Familie
folgendermaßen:
„Wir scheinen auf dem Weg in eine „postmoderne Gesellschaft von Einzelgängern", in eine individualisierte „Risikogesellschaft", die voll-mobile SingleGesellschqft, in der swinging singles und die „ Verhandlungsfamilie auf Zeit" also die Familie, in der nichts mehr selbstverständlich ist - die Herrschaft
übernommen hat."
Und trotzdem scheint nach ihrer Ansicht das alte Familienideal noch nicht
nur der historischen Betrachtung zu dienen. Wie sieht nun der neue Trend zur alten,
modernen Familie aus?
Die Zeitungen berichten heute über die „Nesthocker-Generation", über den
angeblichen Trend der Jugendlichen, im familiären Nest zu verbleiben, und vom
Trend zum „cocooning", sich in der Freizeit ganz in die eigenen vier Wände mit
Videorecorder und Kartoffelchips zurückzuziehen. Gleichzeitig wird deutlicher
denn je die häusliche Idylle als Mythos beschrieben und ihre Brüchigkeit
aufgedeckt. (Hotel MAMA)
Folgendes scheint sich aber abzuzeichnen:
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
19
HPSV – Soziale Umwelten
Die allgemeine Öffnung zu größerer Toleranz gegenüber neuen Lebensformen ist
nicht mehr aufzuhalten. In dieser Hinsicht geschieht zu Beginn der Postmoderne in
Bezug auf die Familie der eigentliche Modernisierungsschub.
Heute zeigt sich,
•
dass die „lebenslange Ehe“ durch „zeitlich begrenzte Ehen“ abgelöst wird,
•
dass immer mehr Menschen als „Singles“ allein leben, als Alleinerziehende
oder als Paare ohne Kinder (z.B. auch ungewollte Kinderlosigkeit),
•
dass viele Formen des Zusammenlebens möglich geworden sind und zunehmend toleriert werden: Ehe ohne Trauschein, mit Kindern, mit denen
man nicht verwandt ist, gleichgeschlechtliche Paare mit und ohne Kinder,
aber auch neue Wohnformen mit „alten" Zweierbeziehungen.
Eine Definition von Familie ist heute schwieriger denn je. Als gemeinsamer
Nenner bleibt die bewusste Verantwortung einer älteren Generation für eine
jüngere. Das postmoderne Denken und Leben ist von einer Pluralität
bestimmt, wobei Verbindlichkeiten und Normen immer weniger gelten.
Daher werden die gegenwärtigen Veränderungen im familialen Zusammenleben
auch sehr unterschiedlich beurteilt.
Im Einzelnen können folgende Tendenzen in der Familienstruktur aufgezeigt werden:
•
Nachlassen der Kontrolle, die die Familie über ihre Mitglieder ausübt.
•
Das Nachlassen, der Verlust oder die Umverteilung von Funktionen, die
früher von der Familie erfüllt worden sind, auf andere Institutionen; so ist
die Familie großteils keine ökonomische Einheit im Sinne der Güterproduktion mehr, sondern nur noch eine Konsumeinheit.
•
Wachsende Bedeutung der Familie als einem Zentrum der Bildung von
„Werten“ und „Gefühlen“.
•
Wachsende Betonung der Sozialisationsfunktion hinsichtlich des Kindes
•
Veränderung des Status der Ehefrau in Richtung „Gleichheit“ mit dem Mann.
•
Abnahme der Geburtenrate.
•
Zunahme der Scheidungsrate (in Städten höher als in ländlichen Gebieten).
•
Änderung der Familiensitten (z.B. Einstellung gegenüber der Scheidung,
Geburtenkontrolle, usw.).
•
Wachsendes „öffentliches Interesse“ an der Familie.
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
20
HPSV – Soziale Umwelten
2.5.2. Schule
Schule wird in einer Gesellschaft dann notwendig, wenn die vorhandenen sozialen
Gebilde (Familie, Stamm, sonstige Untergliederungen einer Gesellschaft) nicht mehr
in der Lage sind, die bereits erworbenen Erfahrungen zu tradieren, das erforderliche Kulturniveau zu reproduzieren. Auf die Bedeutung von Schule als
Sozialisationsinstanz wird im dritten Semester näher eingegangen
2.5.3. Altersgruppen
Die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht und der eigenen Geschlechterrolle erfolgt ganz wesentlich über die Vorbildwirkung der
gleichgeschlechtlichen Bezugsperson und von anderen Personen des
gleichen Geschlechts, die als Modelle zur Verfügung stehen. Da in
unserer Gesellschaft die Erziehung von Kindern ein (noch immer) stark
von Frauen dominierter Bereich ist (vgl. Tagesmütter", Kinder„Schwester“, Kindergarten„tante“ usw.), bekommen die Kinder beiderlei
Geschlechts wesentlich mehr differenzierte Informationen über die
weibliche als über die männliche Rolle. Dies könnte einer der Gründe für
die in Untersuchungen immer wieder feststellbare Tatsache sein, dass für
die Kinder offenbar die männliche Rolle enger und stereotyper definiert
ist. Ein wichtiges Merkmal zur Charakterisierung eines Menschen ist seine
Geschlechtszugehörigkeit. Diese wird in amtlichen Dokumenten festgehalten, geht in die soziale Anrede ein und beeinflusst das menschliche
Leben von Anfang an in vielerlei Hinsicht.
Bereits vor dem Schuleintritt lernen die Kinder nicht nur, dass es Frauen
und Männer gibt, sondern sie bekommen auch viele weiteren Informationen
bezüglich der Unterschiede zwischen diesen zwei Kategorien von
Menschen, d.h. sie erwerben u.a. auch Wissen über Geschlechterrollen.
Darunter versteht man Verhaltensweisen, Einstellungen und psychologische
Charakteristika (wie z.B. Fähigkeiten und Interessen), die für Personen des
weiblichen bzw. männlichen Geschlechts gesellschaftlich als angemessen
betrachtet, erwartet oder vorgeschrieben werden.
In jeder Kultur haben die meisten Erwachsenen recht enge und
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
stereotype
21
HPSV – Soziale Umwelten
Vorstellungen darüber, wie sich Frauen und Männer zu verhalten haben
(„Geschlechtsrollenstereotypen"). WILLIAMS & BEST können auf Grund
ihrer Untersuchungen zeigen, dass in praktisch allen Kulturen dieser Erde
derzeit folgende Eigenschaften stereotyp einem Geschlecht zugeordnet
werden:
•
Schwachheit, Zartheit, Verständnis und Güte den Frauen,
•
Aggression, Kraft, Grobheit und Grausamkeit den Männern.
Diese Geschlechtsrollenstereotypen finden sich in Ansätzen bereits im
Kindergartenalter. Kinder sind bereits vor dem Schuleintritt bemüht, sich
entsprechend den gängigen Stereotypen für Mädchen oder Knaben, Frauen
oder Männer zu verhalten. Die Kinder scheinen - ähnlich wie beim
Spracherwerb - ständig auf der Suche nach Regeln zu sein, an denen sie
sich orientieren können. Wie auch beim Erlernen der Grammatik, werden
zuerst die Regeln und dann erst die Ausnahmen gelernt. Daher tendieren
die Kinder in diesem Alter oft zu einem recht engen und rigiden Interpretieren dessen, was für ein Mädchen bzw. für einen Buben als angemessen zu betrachten ist. Damit schaffen die Kinder selbst Druck zur
Anpassung an ein als geschlechtstypisch erachtetes Verhalten, oft gegen
die erklärten Intentionen von Eltern und Erziehern.
Der Jugendliche findet seinen Weg aus der Familie in die Gesellschaft nicht nur über
Schule und Beruf, sondern auch über die Gruppe der Gleichaltrigen („peers"). Auf
die Bedeutung der peers wird im Fach Pädagogische Psychologie näher
eingegangen
2.5.4 Beruf
In Zeiten zunehmender Globalisierung und unter dem Eindruck negativer
Auswirkungen des „Turbokapitalismus“ sind berufliche Sozialisationsprozesse besonders kritisch zu betrachten. Diese Prozesse können nämlich
nicht losgelöst von der vor oder außerhalb der Berufswelt erfolgten
Sozialisation betrachtet werden.
Auf die Ergebnisse der gesamten Sozialisation der Jugendlichen bauen
Berufsfindung, Berufsorientierung und Berufswechsel auf. Elternhaus,
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
22
HPSV – Soziale Umwelten
Schule, Gleichaltrige und überhaupt die gesamte Wohnumgebung
vermitteln dem Jugendlichen nicht nur die Motivation für einen bestimmten
Beruf oder für einen bestimmten Betrieb, sondern beeinflussen grundlegend
dessen berufliche Orientierung. Die von dort erhaltenen Anstöße und
Angebote prägen sehr früh das Entscheidungsfeld, innerhalb dessen die
Berufswahl getroffen und damit dem Jugendlichen ein mehr oder weniger
begrenzter Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gewiesen wird.
Dieser Zugang über Berufsfindung und Berufsaneignung wird umso
funktionaler sein, je mehr Information und gesellschaftlich positiv
bewertetes Problemlöseverhalten von den genannten Sozialisationsinstanzen
dargeboten und erfahren wird.
Die im Rahmen familialer Sozialisation vermittelten Sozialorientierungen
wirken in Richtung auf künftige Berufswirklichkeit. Die Entscheidung der
Eltern für eine bestimmte Schullaufbahn strukturiert die Möglichkeiten
späterer
Berufsaneignung.
Die
dadurch
erzielten
unterschiedlichen
Ausbildungsdispositionen beziehen sich im Wesentlichen auf ein allgemeines Berufsleitbild, auf ein allgemeines Erfolgsbild und auf für den Beruf
bedeutsame Einstellungsweisen und Verhaltensmuster auf der Grundlage
erworbener Kenntnisse und Fertigkeiten.
Diese in die künftige Berufswirklichkeit vorausgreifende Sozialisation
bezeichnet man als „antizipatorische Sozialisation". Durch sie werden mit
den Werten, Normen, Verhaltensmustern und Motivationsstrukturen auch
Vorstellungen über das spätere Leben in der Berufs- und Arbeitswelt
vermittelt. Sie beeinflussen später das Verhalten, aber auch die Berufsorientierungen.
Dabei ist vor allem die Übertragung des Gesellschaftsbildes der Eltern von
Bedeutung. Eventuell erfolgende Fixierungen verbauen dem Jugendlichen
oft von vornherein die Möglichkeit, in der beruflichen Orientierung Voraussetzungen zur Veränderung seiner sozialen Lage zu erkennen. Er neigt vielmehr dazu, seine Berufsmöglichkeiten als kollektives Schicksal zu betrachten. Das Ergebnis ist ein sozialresignatives Verhalten.
Ein Einfluss auf die Berufsorientierung geht auch davon aus, ob der Jugendliche den Beruf
• als Möglichkeit zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung oder
• als Mittel zur Erreichung eines möglichst hohen gesellschaftlichen Status
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
23
HPSV – Soziale Umwelten
erfahren hat (zumindest solange es diesen Zusammenhang zwischen Beruf
und Status noch gibt!).
lm ersten Fall besteht kein Interesse an einem langen Bildungsweg, und er
wird die nächstliegende Möglichkeit einer beruflichen Tätigkeit ergreifen.
Im zweiten Fall ist die Bereitschaft vorhanden, einen längerfristigen
Ausbildungsweg und damit Aufschub der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung; auf sich zu nehmen.
Die beruflichen Sozialisationsprozesse wirken in der Weise, dass ein
enger Zusammenhang zwischen der Art der beruflichen Tätigkeit und
den Einstellungen und Verhaltensweisen besteht:
1.
Sozial wirksam sind die unterschiedlichen berufstypischen Einstellungen und Verhaltensmuster. Diese werden durch unterschiedliche
Einkommens- und Konsumverhältnisse sowie durch unterschiedliche
Arbeitssituationen bestimmt.
Zur Arbeitssituation gehören im engeren Sinn: Arbeitsautonomie,
Arbeitskomplexität, Arbeitsinhalte, Interaktionsmöglichkeiten,
Arbeitsbelastung;
im weiteren Sinn: Stellung in der betrieblichen Hierarchie, Ausmaß
der Aufstiegschancen, Höhe der materiellen Entlohnung, Ausmaß
der Arbeitsplatzsicherheit.
2.
Sozialisationswirksam sind die schichtspezifischen Verhaltensweisen
und Einstellungen. Auch diese hängen jedoch mit der Art der
Erwerbstätigkeit zusammen, da sie ein wesentliches Kriterium für die
Bestimmung der Schichtzugehörigkeit ist. Zu diesen Einstellungen
gegenüber Politik, Arbeit, Beruf, Familie u.ä., Verhaltensweisen in
formellen und informellen Gruppen sowie solche, die zur Persönlichkeitsstruktur zu rechnen sind. Letztere werden wiederum durch primäre
Sozialisation innerhalb der Familie erworben.
Zusammenfassend kann festgestellt werden:
Die in der familialen Sozialisation erworbenen und entwickelten Einstellungen, Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale selektieren in
Richtung der zukünftigen Berufstätigkeit und werden - bei vielen
Menschen - durch die Sozialisationswirkungen der Berufstätigkeit eher
gefestigt als verändert.
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
24
HPSV – Soziale Umwelten
Berufliche Sozialisations- und Selektionsprozesse ergänzen einander in
ihrer Wirkung.
In Zukunft wird allerdings ein „langes Erwerbsleben", womöglich in
einem bestimmten Beruf, eine eher seltene Erscheinung sein.
Exkurs: Die (mögliche) Zukunft der Arbeitsgesellschaft
Wir stehen an der Schwelle eines Zeitalters der globalen Märkte und der
automatisierten Produktion. Bald wird die Wirtschaft kaum noch
menschliche Arbeitskräfte brauchen, skizziert Jeremy RIFKIN das Bild
der Zukunft (Jeremy RIFKIN, Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft).
Für Daniel BELL ist die nachindustrielle Gesellschaft gleichbedeutend
•
mit dem Aufkommen neuer axialer Strukturen und Prinzipien,
•
mit dem Übergang von einer warenproduzierenden zu einer
Informations- oder Wissensgesellschaft, einen Wandel der ganzen
Weltbetrachtung inkludierend.
Die Beschäftigung mit Produkten und Dingen verliert gegenüber dem
Spiel der Personen an Bedeutung und schafft so eine neue Wirklichkeit.
Ralf DAHRENDORF stellt im Hinblick auf die Zukunft die Frage, ob es
nicht vielleicht strategisch wichtige Bindeglieder zwischen Bürgerrechten und einem wachsenden Angebot gibt, zu denen ein garantiertes
Grundeinkommen und eine „Zeitsteuer" durch einen allgemeinen Zivildienst zählen könnten.
Zwei Dinge müssen nach Ansicht RIFKINs in Angriff genommen
werden, um in den Industrieländern den Übergang in ein postmarktwirtschaftliches Zeitalter zu bewerkstelligen:
•
Erstens müssen auch die Arbeitnehmer ihren Anteil am Produktivitätszuwachs, der durch die neuen arbeits- und zeitsparenden
Technologien entsteht, bekommen. Die Arbeitszeit muss verkürzt
werden und die Gehälter und Löhne müssen entsprechend erhöht
werden, um eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Früchte
des technischen Fortschrittes zu erreichen.
•
Zweitens werden der Personalabbau in der Privatwirtschaft und
die Einsparungen im öffentlichen Sektor es erfordern, dass wir
unser Augenmerk stärker auf einen anderen Bereich richten: den
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
25
HPSV – Soziale Umwelten
sozialen oder Non-Profit-Bereich. Hierhin werden sich die
Menschen im kommenden Jahrhundert wenden, wenn ihre persönlichen oder gesellschaftlichen Belange weder vom Markt noch
vom Staat berücksichtigt werden. Hier finden sie den Raum, neue
Rollen und Verantwortlichkeiten auszuprobieren, und hier können
sie ihrem Leben einen neuen Sinn verleihen, wenn der Marktwert
ihrer persönlichen Zeit schwindet.
Die bisherigen Wohlstandsnationen laden sich - nach Ansicht von Hans
– Peter MARTIN/Harald SCHUMANN („Die Globalisierungsfalle“) mit einem wachsenden Konfliktpotential auf, das, vor allem durch den
Widerspruch von Markt und Demokratie hervorgerufen, Tendenzen wie
Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung wirtschaftlich schwacher Gruppen
(Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Behinderte und Jugendliche ohne
Ausbildung), sowie in unausweichlich logischer Folge der Frauen, erkennen lässt, wenn sie fragen „Wie viel Markt hält die Demokratie aus?",
stellen sie die Utopie vom sich selbst regulierenden Markt sowie die
Beherrschung desselben durch Regulierung von Angebot und Nachfrage
zur Diskussion und resümieren, dass die bisherige Politik der globalen
Integration keine Zukunft hat. Den Ausweg sehen sie in der Vermeidung
eines Rückfalls in wirtschaftlichen Nationalismus und die Fortsetzung
des Weges der ökonomischen Vernetzung, da eine Umkehr weder
möglich noch wünschenswert wäre (z.B. Währungsunion).
Das Bild der Zukunft unserer Arbeitsgesellschaft oder - besser formuliert
- unserer „postmarktwirtschaftlichen" Gesellschaft zeichnet ein neues
Gesellschaftsbild der sozialen Ungleichheit. Wenn, wie MARTIN und
SCHUMANN es als notwendige Aufgabe ansehen, politische Interventionen für eine globale Integration unerlässlich sind, Politik aber in
Agonie und Bürokratie verharrt, wird die Revolution von der Basis
(nämlich dem Individuum) ausgehen müssen. Das wiederum bedeutet,
dass wir nicht in unseren tradierten Wertvorstellungen verhaftet bleiben
können, sondern innovative und befriedigende Arbeitsformen finden
müssen. Dazu gehört, dass wir uns
•
von über Jahre dauernden festgesetzten Arbeitszeiten,
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
26
HPSV – Soziale Umwelten
•
vom Anrecht auf einen Arbeitsplatz durch formale Abschlüsse,
•
von der Pragmatisierung,
•
von der kostenlosen Weiterbildung verabschieden müssen.
Das zukünftige Bild eines mit einem hohen Status ausgezeichneten
Arbeiters entwirft RIFKIN mit seiner Beschreibung der Klasse der
Symbolanalytiker, die er als neue etablierte Elite in einem Amerika der
90er Jahre bereits sieht.
Die Auslösung von Trends, die auf einen Wertewandel in unserer
Gesellschaft
hinweisen,
führt
John
NAISBITT
in
westlichen
Industrienationen auf Umwelteinflüsse zurück. NAISBITT hat über eine
Zehn-Jahres-Periode eine große Anzahl lokaler, überregionaler und
nationaler Zeitungen in den USA ausgewertet und folgende Trends
identifiziert:
l.
Von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft
2.
Von klassischer Technologie zu high-tech/high-touch (intensive
soziale Kommunikation)
3.
Von einer nationalen zu einer internationalen Wirtschaft
4.
Von einer kurzfristigen zu einer längerfristigen Zukunftsvorsorge
5.
Von der Zentralisation zur Dezentralisation
6.
Von staatlicher Hilfe zur Selbsthilfe
7.
Von repräsentativer zu partizipativer (direkter) Demokratie
8.
Von Hierarchien zu Netzwerken
9.
Von Nord nach Süd
(gemeint ist das Wirtschaftsgefälle in den USA)
10.
Von einem Denken in ja/nein- Entscheidungen zu einem Denken
in Handlungsspielräumen.
Gefördert, mitverursacht und überlagert werden diese Trends von einem
Wandel grundlegender persönlicher Einstellungen, Normen und Werte.
Es ist zu bedenken, dass die gegenwärtige konfliktreiche Übergangsphase, in der wir leben, für einzelne Menschen und Bevölkerungsschichten erhebliche Dissonanzen heraufbeschwört. Diese zentrale Verunsicherung wird hervorgerufen durch
• erbitterte soziale Konfrontation,
• starke Isolierungstendenzen,
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
27
HPSV – Soziale Umwelten
• Bedeutungsverlust traditioneller Berufs- und Leistungsmotivierung,
• Veränderung der Geschlechtsrollenbilder u.v.m.
2.6
Sozialisationstheorien
Sozialisationsforschung ist bemüht, jene sozialen und kulturellen Einflüsse zu entdecken, die Veränderungen im Werden der kindlichen
Persönlichkeit zur Folge haben. Dabei geht man davon aus, dass der
Sozialisationsprozess durch organische Entwicklung und Steuerung nur
teilweise erklärt werden kann. Ihr Ziel ist es, spezifische Zusammenhänge zwischen dem Werden der Persönlichkeit und der sozialen und
kulturellen Welt zu finden und zu erklären.
Die Behauptung, dass menschliches Verhalten durch unterschiedliche
Beeinflussung von außen in verschiedenen Richtungen veränderbar sei,
ist durch Ergebnisse der biologischen, anthropologischen und kulturanthropologischen Forschungen zu belegen und gilt heute als fast selbstverständlich. Über das WIE dieser Beeinflussungen gibt es allerdings unterschiedliche Auffassungen, die innerhalb einzelwissenschaftlicher Disziplinen zu mehr oder weniger stark empirisch abgesicherten Theorien
entwickelt worden sind.
2.6.1 Psychologische Theorien
siehe Pädagogische Psychologie
2.6.2 Psychoanalytische Theorien
siehe Pädagogische Psychologie
2.6.3 Soziologische Theorien
Folgende Fragen liegen der Erforschung der Sozialisationprozesse innerhalb
der Soziologie zugrunde:
• Wie ist ein Zusammenleben der Menschen, wie ist Gesellschaft auf Dauer
möglich, obwohl die Gesellschaftsmitglieder (d.h. die Personen) mit den
jeweiligen Generationen wechseln?
• Wie wird erreicht und gesichert, dass Einzelpersonen trotz ihrer unter-
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
28
HPSV – Soziale Umwelten
schiedlichen Interessen und Fähigkeiten in ihrem Handeln nicht nur individuelle Ziele verfolgen, sondern zugleich auch jene Aufgaben mit übernehmen und erfüllen, die in ihrer Gesamtwirkung eine Gesellschaft als Ganzes
erhalten oder verändern?
Ende des vorigen Jahrhunderts behandelt Emile DURKHEIM das Problem
der sozialen Integration bei fortschreitender gesellschaftlicher Differenzierung. Der soziologische Aspekt dieses Problems liegt im Folgenden:
Thomas HOBBES (1588-1679) erkennt bereits, dass sich soziale Integration
nicht von selbst herstellt. Seine Lösung, ein starker Staat als äußere Zwangsinstanz, hält Emile DURKREIM jedoch ebenso wenig für zielführend wie
die liberalistische Annahme, dass Gesellschaft sich aus Individuen
konstituiere, die ausschließlich am Nützlichkeitsprinzip orientiert sind und
in frei geschlossene vertragliche Beziehungen („Vertragstheorie") eintreten.
Gesellschaft, ja schon Verträge als solche, setzen bereits eine gewisse
Solidarität voraus. Seine Lösung lautet daher: Die Individuen müssen jene
Zwangsinstanz, welche Solidarität stiftet und Gesellschaft ermöglicht, verinnerlicht haben. Dies führt zur Bildung eines „kollektiven Bewusstseins"
oder eines „gemeinschaftlichen Gewissens".
Darunter versteht er den Inbegriff aller einer Gruppe bzw. Gesellschaft
gemeinsamen, von jedem ihrer Mitglieder verinnerlichten Werte, Verhaltensnormen, Wissensinhalte und allgemeine Meinungen. Die Inhalte des
kollektiven Bewusstseins erscheinen dem Individuum als äußere „Tatsachen", die mit dem Charakter des Obligatorischen einen moralischen
Zwang auf es ausüben. Die Gesellschaft muss, um existieren zu können, in
ihre Mitglieder eindringen und sich in ihnen organisieren. Dadurch wird sie
zum integralen Bestandteil menschlichen Wesens.
Im Anschluss daran entwickelt dann Emile DURKREIM seine Persönlichkeitstheorie. In der Persönlichkeit unterscheidet er zwei Bestandteile:
Der erste, private Teil umfasst alles Psychische, die Triebe und Bedürfnisse
sowie die sinnliche Wahrnehmung. Er zeigt keine überindividuellen Strebungen, sondern ist egoistisch und asozial. In diesem Zustand wird der
Mensch geboren. Würde er in diesem Zustand belassen, dann wäre er vielen
Frustrationen ausgesetzt.
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
29
HPSV – Soziale Umwelten
Eine Begrenzung erfolgt aber durch Normen und Werte, die nach ihrer
Verinnerlichung den zweiten Teil der Persönlichkeit, den sozialen bzw.
moralischen Teil ausmachen. Das von ihm verwendete Bild von der
Brandung, die gegen die Brandungsmauer prallt, verdeutlicht dies:
Die Gesamtheit der moralischen Regeln bildet gleichsam eine Mauer, an die
viele Leidenschaften, Triebe, Bedürfnisse branden. Sie begrenzt das Streben
und macht dadurch seine Befriedigung erst möglich.
Sozialisation bedeutet daher für ihn Lernen von Werten und Normen,
Lernen einer moralischen Ordnung. Diese Auffassung spielt dann in der
späteren soziologischen Forschung eine große Rolle und beeinflusst weitere
Theoriebildungen sehr nachhaltig.
2.6.4 Sozialpsychologische Theorien
Die sozialpsychologische Sicht des Sozialisationsgeschehens wird vor allem
durch verhaltens- und interaktionstheoretische Ansätze bestimmt. Sie werden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erster Linie in den USA
entwickelt.
Besondere Bedeutung kommt dabei den Arbeiten von George Herbert
MEAD zu. Er geht davon aus, dass sich die Kommunikation zwischen
Menschen und jene zwischen Tieren in einem wesentlichen Punkt
unterscheidet:
Während ein Tier auf die von einem anderen Tier produzierte Geste wie auf
einen Reiz reagiert, ohne nach einer intendierten Bedeutung zu fragen,
gehen Menschen bei ihrer Kommunikation von der im Alltag bestätigten
Annahme aus, dass alle Äußerungen eine intendierte und daher verstehbare,
also gemeinsame Bedeutung haben. Dadurch wird es möglich, den anderen
zu verstehen, sich in seine Lage zu versetzen.
Der Begriff des Sichhineinversetzens in die Position oder Rolle des
Interaktionspartners ist für MEADs Theorie von zentraler Bedeutung. Der
Begriff erklärt, dass wir im Interaktionshandeln immer Erwartungen an
das Verhalten der anderen hegen und so auch _ihre Sichtweise und
Erwartungen uns gegenüber antizipieren. In diesem Sinn kann gesagt
werden, dass wir die anderen verinnerlichen.
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
30
HPSV – Soziale Umwelten
In Erweiterung dieses Modells kann man alle Mitglieder einer Gruppe
(Gesellschaft) zu einem „verallgemeinerten Anderen" zusammenfassen und
dann dessen Perspektiven einnehmen. Mit diesem Begriff wird ein System
von Regeln und Normen bezeichnet, welches das soziale Leben reguliert.
Er verdeutlicht dies am Beispiel des Regelspiels (Fußball, Handball u.dgl.):
Auf Basis der Regeln eines solchen Spiels werden von jedem Spie-ler
bestimmte Handlungen erwartet. Ein einzelner Spieler kann nur dann aktiv
und nützlich sein, wenn er die Rollen aller anderen Spieler kennt und
aufgrund dieser Kenntnis seine eigene Aufgabe erfüllt. Er muss sich vom
verallgemeinerten Standpunkt der Gruppe aus sehen, vom „verallgemeinerten Anderen“.
Für das Sozialleben gilt – seiner Meinung nach - dasselbe:
Wer mit anderen Menschen zusammenleben will, muss das zugrundeliegende System von Regeln lernen. Hat sich dieser Prozess vollzogen, dann
enthält das Selbst ein kognitives System von Verhaltensstandards, das die
Grundlage für die Beurteilung des eigenen Verhaltens bildet. Das Modell
des „verallgemeinerten Anderen“ enthält somit eine Summe von
Verhaltenserwartungen gegenüber sich selbst und gegenüber anderen.
Seine Übernahme wird als Sozialisationsprozess bezeichnet.
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
31
HPSV – Soziale Umwelten
3. POSITION - STATUS - ROLLE
Das Zusammenleben von Mitgliedern eines sozialen Systems wird nicht nur
durch Normen geregelt, sondern die Personen stehen untereinander auch in
organisierter Beziehung. D.h. jede Person nimmt einen bestimmten „Ort",
eine Position ein, die mit den Positionen anderer Personen in einem
Ordnungszusammenhang steht. Diese Positionen und ihre Beziehungen
untereinander nennen wir die Struktur eines sozialen Systems.
Eine soziale Struktur kann man nicht sehen, sondern ihr Vorhandensein ist
lediglich aus dem Verhalten der Individuen zu erschließen. Dieses
Verhalten wird dann als eine Funktion der Struktur angesehen.
Eine Position bezeichnet einen Ort im Gefüge sozialer Beziehungen. Sie ist
grundsätzlich vom einzelnen unabhängig, existiert an sich und kann von
einer Person eingenommen werden (z.B. Abteilungsleiter). Aus der
Beziehung der Positionen zueinander ergibt sich die Positionsordnung, d.h.
eine Rangordnung von Positionen innerhalb eines sozialen Systems. Die
Höhe der einzelnen Position ist nur relativ im Hinblick auf andere
Positionen bestimmbar und hängt von der Funktion der Position für das
soziale System ab.
Hinsichtlich der Erlangung von Positionen unterscheidet man zugeschriebene und erworbene Positionen. Zu ersteren gehören vor allem die in
biologischen Merkmalen begründeten Positionen (z.B. Mann, Frau,
Erwachsener), letztere fordern die Beachtung des Individuums und gründen
auf dessen Leistungen (z.B. Lehrerin, Autofahrerin).
In engem Zusammenhang mit dem Begriff „Position" steht der Begriff
„Status". Der Unterschied besteht darin, dass Status nicht bloß einen Ort im
sozialen Gefüge bezeichnet, sondern auch eine Bewertung (Wertschätzung)
der Merkmale einer bestimmten sozialen Position (nicht Person!) im
Verhältnis zu anderen Positionen.
Statusunterschiede (Statusränge) werden nicht wie Positionsränge allein
funktional bestimmt, sondern sie hängen von der Wertschätzung durch die
Gruppe (Gesellschaft) ab, sind also kulturabhängig. Dies bedeutet, dass man
eine Position wohl durch Erbringen einer bestimmten Leistung erreichen
kann, der Status jedoch dem individuellen Bemühen weitgehend entzogen
ist. Die öffentliche Wertschätzung persönlichen Bemühens verleiht der
betreffenden Person Prestige (Ansehen). Status ist somit positionsbedingt,
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
32
HPSV – Soziale Umwelten
Prestige ist personenbedingt. Statussymbole dienen dazu, den Status nach
außen hin sichtbar und erkennbar zu machen. Es handelt sich dabei um
bestimmte Gegenstände und/oder Verhaltensweisen, die geeignet sind, eine
soziale Wertschätzung herbeizuführen oder schon vorhandene Wertschätzungen zu bestätigen (z.B. Kleidung, Umgangsformen, Konsumverhalten, Lage und Ausstattung des Arbeitsplatzes).
Ein Statussymbol kann auch Statusprivilegien anzeigen, d.h. Vorrechte bzw.
eine Betonung von Rechten nach „unten". Die Verteilung von Statusprivilegien, die in der Regel mit einer Verteilung von Macht konform geht, ist
eine
der
Determinanten
(Bestimmungsgrößen)
der
Stratifikation
(Schichtung) einer Gesellschaft.
Mit dem Begriff „Position" und dem des „Status" engstens verknüpft ist der
Begriff „Rolle". Ganz allgemein versteht man darunter die Summe der
Erwartungen, die dem Inhaber einer sozialen Position hinsichtlich seines
Verhaltens entgegengebracht wird. „Rolle" wird daher auch als der
dynamische Aspekt der Position bezeichnet.
(Günter Wiswede: Soziologie, 1991. S.298)
Aus dem Bemühen, die Handlungsweisen einer Person aus ihrer sozialen
Position und den mit dieser verbundenen Verpflichtungen und Privilegien
zu erklären, entsteht die „Rollentheorie". Eine ihrer Annahmen besteht
darin,
© Mag. Dr. Gerolf Kirchmair
33
HPSV – Soziale Umwelten
„dass organisierte oder gesellschaftliche Erwartungen die Handlungsweisen eines Individuums in einer bestimmten Position irr ganz ähnlicher
Weise, festlegen, wie (las Textbuch die Darstellung eines Schauspielers in
einer bestimmten Rolle bestimmt. Dieser Auffassung steht die Annahme der
Persönlichkeitstheorie gegenüber, der zufolge das Verhalten eines
Individuums. durch seine besonderen Persönlichkeitsmerkmale erklärbar
ist. (GUSKIN u. GUSKIN: Sozialpsychologie in Schule und Unterricht, 13)
Der Rollenbegriff vereinigt in sich folgende Aspekte:
1. Steuerung des Verhaltens einer Person in einer sozialen Position durch
die Rollenerwartungen.
2. Wahrnehmung und Interpretation solcher Erwartungen durch den
Rollenträger.
3. Umsetzung der Rollenerwartungen in konkretes Rollenverhalten durch
den Rollenträger. 4. Verinnerlichung von Rollenerwartungen.
5. Langfristiger Einfluss von Rollenerwartungen auf den Prozess der
Persönlichkeitsbildung des Rollenträgers.
Diese Aspekte beziehen sich im Wesentlichen auf die Anpassungsreaktionen des Rollenträgers auf gegebene soziale Verpflichtungen.
Der Begriff „Rolle" beinhaltet aber auch die Chance, in konkreten
Interaktionssituationen persönlich gefärbte Interpretationen gegenüber den
Rollenpartnern durchzusetzen, sich auf Grund persönlicher Fähigkeiten von
den Rollenerwartungen zu lösen, um schließlich selbst Maßstäbe und
Erwartungen für angemessenes Verhalten in dieser Rolle zu setzen.
Im letzteren Fall spricht man von Rollendistanz.
Mit einer Position ist meist nicht nur eine einzige Rolle verbunden, sondern
eine ganze Reihe. Robert MERTON sieht darin ein grundlegendes
Charakteristikum sozialer Strukturen und nennt es „role-set" (Rollensatz).
Er versteht darunter „jene Anzahl von Rollenbeziehungen, die Personen
kraft der Besetzung einer besonderen sozialen Position haben."
Die Inhalte der Rolle werden durch die Erwartungen jeweiliger Bezugsgruppen festgelegt. (So wird z.B. die LehrerInnen-Rolle durch Vorgesetzte,
KollegInnen, SchülerInnen, Eltern usw. inhaltlich bestimmt.) Widersprüche
in diesen Erwartungen führen zu Konflikten. Aus den widersprüchlichen
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Erwartungen
von
Teilrollen
eines
Rollensatzes
entstehen
Intra-
rollenkonflikte.
Unvereinbarkeiten bei Rollen, die sich auf mehrere Positionen beziehen
(Mehrfachrolle), bewirken Interrollenkonflikte.
Nach dem Grad ihrer Verbindlichkeit unterscheidet Ralf DAHRENDORF
drei Arten von Rollenerwartungen:
1. MUSS-Erwartungen: Hinter ihnen steht die Macht des Gesetzes. Man
kann sich ihnen nur auf die Gefahr einer gerichtlichen Verfolgung
entziehen.
2. SOLL-Erwartungen: Diese haben geringere Verbindlichkeit. Ihre
Nichterfüllung hat zwar auch vorwiegend negative Sanktionen zur Folge,
ihre Erfüllung bringt aber dem Rollenträger die Sympathie seiner
Mitmenschen.
3. KANN-Erwartungen: Diese bringen im Falle ihrer Erfüllung das
stärkste Ausmaß an positiven Sanktionen ein. Ihre Missachtung wird zwar
nicht bestraft, vermindert aber den Grad der Achtung und Beachtung durch
die Mitmenschen.
Diesen drei Formen von Erwartungen entsprechen die Sitte (das Gesetz), die
Bräuche und die sozialen Gewohnheiten (Gepflogenheiten).
Die gesellschaftliche
Funktion der sozialen Rollen besteht darin, die
Strukturen eines sozialen Systems erkennbar zu machen und die Menschen
zu bestimmen, sich diesen Strukturen entsprechend zu verhalten. Darüber
hinaus sollen sie auch die Kooperation von Individuen und Gruppen
ermöglichen bzw. erleichtern. Die soziale Rolle hat somit eine
Doppelfunktion zu erfüllen:
1. Durch Erhaltung gesellschaftlicher Strukturen sichert sie das
Gleichgewicht eines sozialen Systems (Stabilisierungsfunktion).
2. Sie macht die Verhaltensweisen der Individuen mit einigermaßen hoher
Wahrscheinlichkeit vorhersagbar und ermöglicht dadurch die Abstimmung
der Aktionen der Handlungspartner (Integrationsfunktion).
(Literatur: Ralf DAHRENDORF: Homo sociologicus. Dieter
CLAESSENS: Rolle und Macht)
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4.
KULTUR und GESELLSCHAFT
Die Frage nach der Kultur und ihren Einflüssen auf menschliches Verhalten
gewinnt in den zwanziger Jahren fundamentale Bedeutung. In dieser Zeit
beginnen Anthropologen (z.B. B.MALINOWSKY, M.MEAD) „primitive“
Gesellschaften systematisch zu durchforschen. Sie kommen zur Erkenntnis,
dass menschliches Verhalten unter verschiedenen kulturellen Bedingungen
große Unterschiede aufweist. Ihre Schlussfolgerungen lauten:
1.
Es gibt keine universelle menschliche Natur, die auf vorprogrammierten Verhaltensweisen beruht,
2.
verschiedene Gesellschaften entwickeln unterschiedliche kulturelle
Strukturen.
Was ist Kultur?
Unter Kultur versteht man in soziologischer Sicht die relativ koordinierte
Gesamtheit der von Generation zu Generation tradierten und orientierend
wirkenden Verhaltensmuster eines sozialen Systems.
Ein soziales System besteht aus einer Menge von Individuen (Personen)
und Beziehungen zwischen diesen Individuen und ihren Merkmalen. Die
Art der Beziehungen wird durch gegenseitige, an kulturellen Normen
orientierte Erwartungen bestimmt.
Jedes soziale System hat seine Kultur und diese ist als jeweilige Kultur nicht
höher oder niedriger als eine andere Kultur. Jedenfalls gibt es keine
Kriterien, um eindeutig eine Bewertung der einzelnen Kulturen vornehmen
zu können.
„Kultur gibt den Menschen die Möglichkeit, sich Über längere Zeitabschnitte hinweg als Gruppe, Stamm, oder Gesellschaft zu behaupten.
Kultur zementiert die Menschen und ihre Kleingruppen zusammen,
reglementiert sie aber auch. Die Kultur enthält sämtliche Normen, Verhaltensregeln, Sitten und Gebräuche, alltägliche Auffassungen, die
durchschnittlichen Stimmungslagen für wesentliche Anlässe, die einer
Gesellschaft ein erkennbares Gesicht geben. Kultur regelt, macht menschliches Verhalten für jeden vorhersagbar und somit relativ gefahrlos und
erträglich“.
(Helmut SCHOECK, Soziologisches Wörterbuch).
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In einer komplexen Gesellschaft gibt es keine einheitliche Kultur, sondern
bestenfalls einigermaßen einheitliche kulturelle Tendenzen. Man spricht von
Subkulturen. Die Kultur einer komplexen Gesellschaft ist als eine Menge
von Subkulturen, als Koordination heterogener Kulturmuster aufzufassen.
Subkulturen sind die Folge der Wirksamkeit bestimmter sozialer Lebensformen (z.B. Jugend, Landbevölkerung). Sie führen zu einer differenzierten
Ausformung der allgemeinen Kultur eines sozialen Systems. Die Angehörigen einer Subkultur werden in ihrem Verhalten durch diese bestimmt und
sind mit der Gesamtgesellschaft nur durch kulturelle Medien verbunden
(Hochsprache, Institutionen). Diese üben als Kommunikationsinstrumente
eine integrierende Wirkung auf das gesamte soziale System aus.
Oberste Ordnungs- und Orientierungsvorstellungen einer Gesellschaft und
ihrer Kultur nennt man Werte. Man versteht darunter Maßstäbe, die das
Handeln lenken und Entscheidungen über Handlungen ermöglichen. Der
Grad der Verbindlichkeit lässt auf den Grad der Integration einer
Gesellschaft schließen. Je widerspruchsfreier sie in einem Wertsystem oder
in einer Werthierarchie aufeinander bezogen sind, desto geringer sind die
Konflikte in einer Gesellschaft.
Sozialen Teilbereichen einer Gesellschaft mit ihrer jeweils eigentümlichen
Kultur (Subkultur) entsprechen unterschiedliche Wertsysteme (ethnische
oder religiöse Minderheiten, soziale Randgruppen).
Wenn Werte menschliches Verhalten regulieren, spricht man von Normen.
Sie geben an, was in einer bestimmten Situation zur Erreichung bestimmter
Ziele an Verhaltensmöglichkeiten geboten oder verboten ist. Sie schaffen
dadurch für die Mitglieder eines sozialen Systems ein gemeinsames
Bezugssystem.
Die Orientierung des sozialen Handelns an solchen durchgängigen Normen
und Werthaltungen ist die Voraussetzung für gemeinsames Handeln. Verschiedenen Subkulturen mit unterschiedlichen Wertsystemen fehlt der gemeinsame Bezugsrahmen, und deshalb gelten in ihnen auch unterschiedliche Verhaltensregeln und Spielräume für deren Einhaltung.
Der Inhalt sozialer Normen wird wesentlich durch die Geschichte, die
Kultur und die Struktur eines sozialen Systems bzw. Teile desselben
bestimmt. Soziale Normen haben Bedeutung für den einzelnen wie für die
Gesellschaft (Gruppe):
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Beim Individuum treten sie an die Stelle fast vollständig fehlender vorprogrammierter Verhaltensweisen. Sie haben die Aufgabe, die Sicherheit und
Unstörbarkeit des Verhaltens auf einer gegenseitigen Vertrauensbasis zu
garantieren (Arnold GEHLEN). D.h. Normen bedeuten für das Individuum
eine Entlastung vor allzu vielen Entscheidungen und dienen als Wegweiser
durch die Fülle von Eindrücken und Reizen, die den weltoffenen Menschen
überfluten. Sie ermöglichen aber auch das Zusammenleben in der Gruppe
(Gesellschaft), da sie die Vorhersage des Verhaltens der Partner ermöglichen und das Entwerfen von Handlungsstrategien gestatten. Außerdem erlaubt die Kenntnis der innerhalb eines sozialen Systems geltenden Normen,
das soziale Handeln der Mitglieder dieses Systems deutend zu verstehen.
Je wichtiger für ein soziales System bestimmte Werte und die aus ihnen
abgeleiteten Normen sind, desto genauer wird ihre Beachtung durch soziale
Kontrolle überwacht. Soziale Kontrolle heißt jede beabsichtigte Einwirkung auf einen anderen, ohne physische (Zwangs)Mittel, als deren Folge ein
Individuum oder eine Gruppe sich anders verhält, als es ohne die soziale
Kontrolle geschehen wäre (Helmut SCHOECK).
Damit ist gesagt, dass Menschen, die innerhalb loser oder fester Gruppenbindungen sich in Interaktion befinden, ein System gegenseitiger Anforderungen entwickeln. Über diese Anforderungen ist man sich mehr oder
weniger einig und passt ihnen die Handlungen und das Verhalten in
größerem oder geringerem Grade an. Die Größe sozialer Gruppierungen
spielt dabei keine Rolle. Über die Erfüllung der Anforderungen wacht die
Gruppe (Gesellschaft) durch soziale Kontrolle.
Kennzeichnend für deren Wirkungsweise ist, dass sie meist nicht wie
Fremdbestimmung, sondern wie Selbstkontrolle erlebt wird. Dies ist dadurch zu erklären, dass die Normen zwar Teil der Gruppe (Gesellschaft)
bleiben, zugleich aber auch Teil der Persönlichkeit geworden sind. Aus
diesem Grunde kommt es zu keinem Diskrepanzerlebnis hinsichtlich
sozialer Anforderungen und individueller Verhaltensregulierungen. Die
Verinnerlichung von Normen erfolgt durch Sozialisation.
Normen werden außerdem noch durch Sanktionen geschützt. Darunter
versteht man eine gesellschaftliche Reaktion sowohl auf normgemäße
(positive Sanktionen) als auch auf ein von den Normen abweichendes
Verhalten (negative Sanktionen).
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Positive Sanktionen sind Belobigung, Auszeichnung, Belohnung, negative dagegen Drohung, Tadel und Strafe.
Abweichendes Verhalten (Devianz) ist als ein Akt der Verletzung
gesellschaftlicher Normen zu verstehen. Die Ursachen dafür werden in
physischen, psychischen, sozialen und kulturellen Faktoren gesehen. In
dieser Form spricht man auch von primärer Abweichung. Sie wird meist
als sozial unerwünscht definiert, ihre Auswirkung auf die psychische
Struktur und den sozialen Status des/der Abweichlers/in ist jedoch eher
gering.
Durch die auf dem Wege sozialer Kontrolle erfolgende negative Bewertung kann es zur sekundären Abweichung kommen. Sie ist das Ergebnis
eines Aufschaukelungsprozesses zwischen dem abweichenden Verhalten
einerseits und gesellschaftlichen Reaktionen andererseits:
Es kommt in der Regel zur Auflehnung gegen die Maßnahmen der sozialen Kontrolle, dann zur Gewöhnung und Anpassung an sie und schließlich zur Übernahme der zugeschriebenen Rolle des/der Abweichenden
bis hin zur Entwicklung einer devianten Identität (Selbstbild) mit den
daraus resultierenden Einstellungen und Handlungen. Die sozialen
Folgen abweichenden Verhaltens können dysfunktional (dys= schlecht),
aber auch funktional für ein soziales System sein.
Eine Dysfunktion kann nach Alex COHEN mindestens in drei Arten
vorliegen:
1.
Abweichendes Verhalten wirkt wie der Ausfall oder das Versagen
eines wichtigen Teiles eines fein abgestimmten Mechanismus.
2.
Abweichendes Verhalten kann die Bereitschaft des einzelnen zur
Normerfüllung zerstören.
3.
Destruktivste Auswirkung ist auf das Vertrauen feststellbar .
Die Funktionalität von Devianz wird in folgender Weise gesehen:
1.
In der Form von „Ventilsitten" (öffentlich tolerierte und normierte
Abweichung; Faschingsbräuche) dient sie der Reduktion und Lösung
innerer Spannungen.
2.
Abweichendes Verhalten kann eine Demonstration dessen sein, was
man nicht tun sollte. Gerade dadurch aber werden bisher unbewusst
gebliebene Normen ins Bewusstsein gehoben. Die Gruppenmit-
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glieder gewinnen größere Klarheit über ihre Normen.
3.
Abweichendes Verhalten kann im Hinblick auf den Gruppenzusammenhalt eine Funktion erfüllen. Sowohl die gemeinsamen Bemühungen der Gruppenmitglieder um den/die Abweichend/en/e als
auch der eventuell erfolgende Ausschluss desselben/derselben aus
der Gruppe bewirken eine Integration der Gruppe.
4.
Abweichendes Verhalten deckt die Mängel des sozialen Systems auf
(z.B. Gesetzeslücken) und wird dadurch zum Warnsignal. Die sichtbar gewordenen Mängel können behoben und das System auf diese
Weise wieder gefestigt werden (Alex COHEN).
Emile DURKREIM setzt sich bei der Analyse sozialer Normen schon
früh mit Normabweichung auseinander. Obwohl seine Arbeiten bereits
alt sind, haben sie heute wieder zunehmende Aktualität. Er sieht in der
Normabweichung keine Krise, sondern meint, dass in der Balance
zwischen normkonformem und normabweichendem Verhalten die Sozialsysteme ihre Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen. Eine bestimmte
Häufigkeit normverletzenden Verhaltens in einem Sozialsystem findet er
normal; ebenso stellt das Verbrechen einen integrierenden Bestandteil
einer gesunden Gesellschaft dar.
Für das Gebiet der Erziehung noch wichtiger sind seine Überlegungen zur
Anomie. Darin erkennt er einen Zustand, in dem viele Normen gleichzeitig
an Verbindlichkeit verlieren (bei politischen Umstürzen oder in Zeiten
raschen sozialen Wandels). Neue Verhaltens- und Handlungsmuster werden
langsam „normal“. Dies führt zur Ausbildung einer neuen Norm („Gegennorm“). Dabei sind Konflikte zwischen den Generationen nicht selten und
werden von den Betroffenen sehr stark erlebt. Anomie steht im
Zusammenhang mit gesellschaftlichen Zielen und Mitteln. Solange entsprechende Mittel zur Erreichung der Ziele vorhanden sind, funktioniert das
System. Wenn die traditionellen Mittel zur Erreichung der Ziele nicht mehr
ausreichen, treten Spannungen im Bewusstsein der Mitglieder eines sozialen
Systems auf. Bestehende Normen verlieren ihre Gültigkeit, sie werden
aufgegeben. Dies ist der Zustand der Anomie, der für den einzelnen wegen
der damit verbundenen Orientierungslosigkeit belastend wirkt.
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