Adornos Musiktheorie der Tragödie

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Wolfram Ette
Adornos Musiktheorie der Tragödie
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Eine Theorie der Tragödie im engeren Sinn hat Adorno nicht hinterlassen, eine Theorie
also, die sich mit der griechischen Tragödie und ihren Konsequenzen für die europäische
Kultur befasst. Es gibt eine Stelle in der ›Ästhetischen Theorie‹, an der sich Adorno in
enger Anlehnung an Benjamin in dem Sinn auf die griechische Tragödie bezieht, dass sie
das Erwachen des autonomen Subjekts darstellen (GS 7, 344 f.). Das ist eine Stelle von
nicht zu unterschätzender theoretischer Tragweite. Sie bleibt aber in Adornos Werk
vereinzelt. Insgesamt bleibt die Tragödie als literarische Form ausgespart.
Dies ist ja aus zwei Gründen merkwürdig. Zum einen genießt die Tragödie von allen
politischen Gattungen wohl die höchste philosophische Dignität. Aristoteles, Hegel,
Schelling, Schopenhauer und Nietzsche haben ihr eine Schlüsselstellung in ihrem
jeweiligen philosophischen System eingeräumt; und noch in der Verwerfung der Tragödie
bei Platon zeichnet sich eine widerwillige Anerkennung dieser Form als der gefährlichsten
Konkurrentin zur philosophischen Rationalität ab, die sonst keiner Kunstform zuteil wird.
Angesichts dessen und angesichts der zentralen Rolle, die die Tragödie im Denken
Benjamins bis zum Trauerspielbuch spielt, nimmt es Wunder, dass Adornos Äußerungen
darüber so spärlich ausfallen.
Diese Verwunderung verstärkt sich noch, wenn man sich klarmacht, was für eine
herausragende systematische Rolle die Tragödie insbesondere bei Hegel spielt – der für
Adorno zumindest aktenkundig wichtigste Vorläufer, derjenige Philosoph, in dessen
Tradition Adorno sich unmittelbar und bewusst stellt. Bei Hegel verhält es sich ja so, dass
phasenweise der tragische und der dialektische Prozess kaum auseinanderzuhalten sind;
sei
es,
dass
er
wie
im
Naturrechtsaufsatz
das
Modell
eines
tragischen
Gesellschaftsprozesses unter dem Titel einer Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute
ewig mit sich selbst spielt (Hegel 1986, 495) entwirft; sei es, dass wie in der ›Phänomenologie des Geistes‹ ein Stück – nämlich die ›Antigone‹ – wie ein Schatten den dialektischen
Prozess der Erfahrung des Bewusstseins begleitet. Diese enge Überblendung von
tragischen und dialektischen Prozess lässt zwar nach der ›Phänomenologie des Geistes‹
nach. Dennoch würde Hegel in der Ästhetik nicht von der ›Antigone‹ als dem
vortrefflichsten, befriedigensten Kunstwerk des menschlichen Geistes sprechen (Hegel 1996,
550), wenn er ihr bei aller historischen Fixierung an die griechische Antike (die er
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gegenüber dem Frühwerk stärker betont) nicht eine tiefe strukturelle Nähe zum Kern des
eigenen Philosophierens zuschriebe. Dialektische Philosophie ist ein Stück weit
Philosophie aus dem Geist der Tragödie; und da ist es schon erstaunlich, dass sich der
Philosoph des 20. Jahrhunderts, der sich wie wenige anddere in die Tradition der Hegelschen Philosophie gestellt hat, diesen systematisch entscheidenden Punkt so sehr übergeht.
Nun hat Adorno seine eigene Philosophie ja nicht umstandslos als Dialektik bezeichnet
sondern als negative Dialektik, die als Gegenentwurf zur Hegelschen positiven Dialektik
doch jedenfalls bei aller Nähe zu Hegel eine Kritik an dialektischen Verfahren formuliert.
Gleichzeitig beansprucht diese Kritik nicht, den Bezirk dialektischen Philosophierens ganz
zu verlassen; sie beansprucht vielmehr, eine Dialektik zu entwerfen, die sich eben negativ,
negierend zur Hegelschen Dialektik verhält und dennoch im Kern Dialektik bleibt; sie
beansprucht also, eine andere, eine alternative Dialektik zu formulieren – so vage dies
zunächst einmal bleibt.
So wäre also zu fragen, ob die Absenz der Tragödie in Adornos Werk etwas mit diesem
Entwurf einer alternativen negativen Dialektik zu tun hat. Adorno bliebe Hegel indirekt
insofern treu, als er die Korrelation von Tragödie und positiver Dialektik übernimmt; und
in diesem Sinn würde die Tragödie denn doch eine fundierenden Bedeutung für Adornos
Philosophie besitzen – als ein Fundament, auf dem sie sich erhebt und über das sie
zugleich hinauswill.
Dafür, dass dem so ist, liefern nun weder die philosophische Schriften im engeren
Sinne noch die ›Ästhetische Theorie‹ noch die Schriften zur Literatur einen Beleg, sondern
die Musikphilosophie. Aus diesem Grund ist im Titel meines Textes von der »Musiktheorie
der Tragödie« die Rede. Die Musikphilosophie ist der Ort, an dem Adorno die Tragödie
und die Möglichkeiten, sich von ihr künstlerisch zu emanzipieren, auslotet. Wenn das
stimmt, dann ist die Musikphilosophie auch der Ort, an dem materialiter erkennbar wird,
wie sich positive und negative Dialektik zueinander verhalten. In Adornos Musikphilosophie (also in dem Bereich ästhetische Erfahrung, in dem er über den sichersten systematischen Zugriff verfügte) ist das Erfahrungsmaterial versammelt, das dann in der ›Negativen
Dialektik‹ methodologisch reflektiert wird.
In dieser Musikphilosophie spielt Beethoven die entscheidende Rolle. Er ist die
Schlüsselfigur; er steht am Ende des klassischen Zeitalters der neuzeitlichen Musik, deren
Tendenzen er in sich vereinigt und vollendet; und er steht am Beginn der Moderne, deren
Tendenzen er weit vorausnimmt. In Beethovens Musik wird die Auseinandersetzung zwischen positiver und negativer Dialektik – und eben damit auch ein spezifischer Begriff der
Tragödie aktenkundig, der sich sonst an keiner Stelle von Adornos Werk so findet.
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Darauf, dass sich Beethovens Musik auf das intensivste mit Adornos philosophischen
Intentionen im engeren Sinn berührt, weist eine erste Stelle aus dem Beethovenbuch:
Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie; sie ist aber zugleich wahrer als diese, d.h. es steckt
in ihr die Überzeugung, daß die Selbstreproduktion der Gesellschaft als einer identischen nicht
genug, ja daß sie falsch ist. Logische Identität als produzierte und ästhetische Formimmanenz
werden von Beethoven gleichzeitig konstituiert und kritisiert. Das Siegel ihrer Wahrheit in der
Beethovenschen Musik ist ihre Suspension: die Transzendenz zur Form, durch die erst die Form
ihren eigentlichen Sinn gewinnt. Die Formtranszendenz bei Beethoven ist die Darstellung – nicht
der Ausdruck – der Hoffnung. (Adorno 1994, 36)
Wenn Adorno sagt, dass Beethovens Musik die Hegelsche Philosophie sei (also nicht
etwa bedeute oder sich in einem analogischen Verhältnis zu ihr verhalte – vgl. ebd., 33 f.),
dann steht in Beethovens Musik eben auch das Essential dieser Philosophie zur Debatte
und auf dem Prüfstand, nämlich die Dialektik.
Wenn Adorno dann fortsetzt, das Beethovens Musik »zugleich wahrer« als die
philosophische Parallelunternehmung Hegels sei, dann ist es wohl legitim, dies auf das
Verhältnis von positiver und negativer Dialektik zu beziehen. Das heißt, im Verhältnis von
immanenter Form und Formtranszendenz scheint zugleich etwas auf vom Verhältnis von
positiver und negativer Dialektik.
Das Kernstück der von Beethoven irgendwie kritisierten positiven Dialektik ist offenbar
– ich zitiere das noch einmal – »logische Identität als produzierte und ästhetische Formimmanenz«. Was bedeutet logische Identität in einem Kunstwerk? Was bedeutet sie bei
Beethoven? Adorno hat hier offenbar die Sonatenhauptsatzform im Blick. Diese
produziert logische Identität dadurch, dass ihre dreiteilige Form im Kern zirkulär angelegt
ist; dass im Ende der Anfang in nur leicht veränderter Form wiederkehrt; dass es sich also
bei dem Konflikt, auf den hin diese Form durch die zwei exponierenden Themen und ihre
antagonistischen Vermittlung in der Durchführung angelegt ist, offenbar nicht um einen
echten Konflikt mit offenem Ausgang handelt, sondern um einen Schein, aus dem sich
faktisch nichts ergibt und der zu einem Ergebnis prozessiert, das von Anfang an festgelegt
war. In der Reprise, so könnte man sagen, wird all das an offener Zukunft all das an
revolutionären Hoffnungen, das sich in der Durchführung ausdrückt, kassiert; sie ist so
etwas wie die musikalische Gegenaufklärung.
Das lässt sich anhand eines zweiten Zitats belegen: Zum Problem der Reprise: Beethoven
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hat sie gleichsam zum Siegel des Idealismus in seiner Musik gemacht, d.h. durch sie erweist
sich das Resultat der Arbeit, der universalen Vermittlung, als identisch mit der
Unmittelbarkeit, die in der Reflexion, ihrer immanenten Entwicklung nämlich, sich auflöst.
(…) Aber es ist tief bezeichnend, daß trotzdem bei Beethoven die Reprise in demselben tiefen
Sinn ästhetisch fragwürdig bleibt wie bei Hegel die These der Identität, und zwar tiefsinnig
paradoxer Weise bei beiden abstrakt, mechanisch. Beethoven hat aus der Reprise die Identität
des Nichtidentischen gemacht. Dabei steckt darin, daß die Reprise an sich das Positive,
dinghaft Konventionelle ist, zugleich das Moment der Unwahrheit, der Ideologie. (Adorno
1994, 39)
Die Formimmanenz also, die sich am nachdrücklichen bei Beethoven in der
Sonatenhauptsatzform produziert zeichnet sich dadurch aus, dass durch die »universale
Vermittlung« alles in ihr motivisch-thematisch funktionalisiert ist; dass es kein
ungenutztes Material, keine leeren Stellen gibt; und dass dies in einer Prozessform
geschieht, in der Anfang und Ende mit besonderem Nachdruck auf einander bezogen sind
– wie es beispielsweise bei einer Fuge nicht der Fall ist.
Nun ist es für das Verständnis dessen, was Adorno hier behauptet, entscheidend, dass
sich dieser Formtypus auf den mittleren Beethoven bezieht – also auf das Corpus, das in
den Werken mit den Opuszahlen 90 ff. langsam ausläuft. Adorno selbst führt unter
anderem den dritten Satz des Streichquartetts op. 59.1 und den ersten Satz der ›Eroica‹ an;
ich würde dem noch ersten Satz der fünften Symphonie und den ersten Satz des
›Erzherzogtrios‹ (op. 97) als ein Werk des Übergangs, in dem noch einmal ganz deutlich
wird, auf welche Weise logische Identität als Immanenz der Form sich produziert,
hinzufügen.
Nun sagt Adorno an der zuerst zitierte Stelle aber ausdrücklich, dass die logische
Identität in diesen Werken gleichzeitig konstituiert und kritisiert wird, und dass sich dieses
Zugleich von Konstitution und Kritik im Modus der Suspension, also des Aufschubs
vollzieht. Was ist damit gemeint?
Nehmen wir ein Werk wie den ersten Satz der Fünften Symphonie: ein Werk, das in
einer fast monomanen Weise aus der Selbstvermittlung musikalischen Elementarmaterials
besteht. Wenn Adorno an einer anderen Stelle sagt, dass Beethoven ›die Tonalität
auskomponiert‹ (Adorno 1994, 90) habe, dann meint das eben diese Zerschlagung eines
quasi natürwüchsigen Materials (das alle möglichen historischen Konventionen und
Formeln mit sich schleppt) in Elementarbestandteile: hier die fallende Terz und das
primitive rhythmische Pattern des ersten Themas; die Kürze und fast etwas charakterlose
Simplizität auch des zweiten. Dieser Satz ähnelt einem Gebäude, das nicht mehr aus
Natursteinen errichtet ist, auf dessen Form und Materialbeschaffenheit die Maurer
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Rücksicht zu nehmen haben, sondern einen monumentalen Ziegelbau, der sich aus
identischen, vorgefertigten Bauteilen zusammensetzt. Im ›Versuch über Wagner‹ hat
Adorno dies so ausgedrückt: Bei Beethoven ist das Einzelne, der »Einfall« kunstvoll-nichtig,
wo immer die Idee der Totalität den Vorrang hat; das Motiv wird als ein an sich ganz
Abstraktes eingeführt, lediglich als Prinzip des reinen Werdens, und indem daraus das Ganze
sich entfaltet, wird das Einzelne, das im Ganzen untergeht, zugleich auch von diesem
konkretisiert und bestätigt. (GS 13, 49)
Diese Verherrlichung menschlicher Arbeit und Emanzipation von der Natur hat
durchaus etwas Bedrückendes und, um das Klischee doch einmal zu bemühen,
›Schicksalshaftes‹; die Immanenz der Form, so großartig sie sich produziert, wirkt
ausweglos; die rigide Beschränkung des Materials erscheint beklemmend; der
Arbeitsprozess wird zum Selbstläufer ohne Alternative, in dem sich nun nicht mehr die
menschliche Freiheit, sondern einen selbst auferlegten Zwang darstellt
Beethoven scheint dies selbst gespürt zu haben, denn er hat genau an dem
neuralgischen Punkt, an dem die Form sich schließt, also zu Beginn der Reprise eine
Unterbrechung eingebaut – eine Suspension und zwar in Gestalt eines Oboenrezitativs.
Dieses Rezitativ ist ein absoluter Fremdkörper: Seine rhythmische Freiheit widerspricht
der in diesem Stück mit besonderer Rücksichtslosigkeit durchexekutierten Taktrhythmik;
das Soloinstrument spielt eine Melodie, die sich unabhängig von aller Vermittlung der
einzelnen Stimmen durch die Allheit der anderen Stimmen entfaltet; und schließlich wird
kulturgeschichtlich eine andere Welt entworfen: die Oboe geht einher mit Reminiszenzen
an Hirtenkulturen, Schalmeienklang und Schäferidyllen – es werden durch sie archaische
Bilder eines nicht herrschaftlichen Verhältnis der Natur gegenüber aufgerufen.
Das eben meint Produktion der immanenten Form durch ihre Suspension; durch den
Aufschub wird die Schließung der Form nicht einfach vollzogen sondern als bewusste
geleistet und eben damit, wenn nicht kritisiert, so doch kritisierbar.
Ich möchte noch ein zweites Beispiel anfügen; eines, auf das Adorno selbst verweist
und in dem die Dinge sich auf ähnliche Weise, wenn auch etwas komplizierter verhalten.
Es geht hier um den langsamen Satz des ersten Rasumowskyquartetts op. 59.1 – und es
geht auch wieder um den neuralgischen Punkt der Überleitung zur Reprise. Komplizierter
als die Fünfte Symphonie ist dieser langsame Satz dadurch, dass sich sein motivisches
Material nicht exakt mit dem Material deckt, das von den beiden Themen gestellt wird.
Beethoven hat hier Kurzformeln musikalischer Elementareinheiten dazu komponiert, die
zusammen mit dem tendenziell auch in seine Einzelmotive zerfallenden thematischen
Material erst den Stoff bildet, aus dem das gesamte Werk gemacht ist.
In Takt 68 nun – also am Ende der Durchführung – setzt ein ganz neues Thema in Des5
Dur ein, das motivisch und thematisch mit dem vorangegangenen gar nichts zu tun hat.
Hier erscheint die Antithese weniger strikt und schockierend als in der Fünften
Symphonie. Die Suspension ist kein totaler Fremdkörper sondern harmonischer in die
prozessuale Vermittlung des Gesamtsatzes eingebettet. Bereits im vierten Takt also Takt 71
des Satzes drängt sich ein kleines Motiv in den Verlauf (ich habe es blau markiert), das
selber nicht zu den Hauptthemen gehört sondern eher einen Überleitungscharakter
besitzt. Beethoven verwendet es aber so häufig in diesem Satz, dass es im Nachhinein
quasi thematische Qualität gewinnt. Umgekehrt werden die Sextolen, die das Seitenthema
ab Takt 68 den mittleren Streichern begleiten, in einer leicht veränderten, aber doch
wiedererkennbaren Form in die Wiederkehr des Hauptthemas in der Reprise ab Takt 80
übernommen (das ist die rot markierte Stelle). Die Transzendenz der Form bleibt also
weitgehend zur Form vermittelt – jedenfalls mehr als der in diesem Betracht kühneren
fünften Symphonie. Dennoch empfindet man es so, dass die Form hier von sich
zurücktritt, gleichsam Luft holt und dem Arbeitsprozess ihrer Konstitution Einhalt geboten
wird.
Noch einmal: Das meint Adorno, wenn er von Suspension der Form spricht. Es heißt,
dass die immanente Form durch das was sie momenthaft transzendiert, nicht
durchbrochen oder aufgehoben wird, sondern eben bloß aufgeschoben. Durch den
Fremdkörper entsteht nichts Neues, sondern bloß ein Moment der Besinnung der
Reflexion. Die Form schließt sich nicht einfach im blinden Vollzug, sondern der Prozess
ihrer Produktion (deswegen spricht Adorno von produzierter Formimmanenz und von
Transzendenz zur Form) wird bewusst gemacht und erst in dieser Form eben auch
kritisierbar.
Eben darin wird für Adorno die Hoffnung dargestellt. Ich vermute, das der Unterschied
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von Darstellung und Ausdruck der Hoffnung, den Adorno hier macht, sich darauf bezieht,
dass hier kein subjektives Ausdrucksmoment hervortritt (etwa ein bestimmter
konventionell festgelegter Charakter eines Themas, einer Formel oder eines musikalischen
Phraseologismus, die so etwas wie Hoffnung oder Sehnsucht ausdrückt), sondern dass es
sich eben um eine formale Veranstaltung handelt, in deren innerer Reflexivität die
Hoffnung aufgeht, dass die Form doch einmal durchbrochen werden könnte; dass es doch
noch einmal anders ausgehen könnte; dass, mit anderen Worten, die Gesellschaft von der
Adorno ja zu Beginn der ersten von mir zitierten Stelle spricht, sich nicht bloß selbst
reproduziert, so dass alles beim alten bleibt, sondern dass sie sich qualitativ verändern
könnte.
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Diesen Formtypus des mittleren Beethoven, in dem sich die Form durch ihre kritische,
reflexive Überschreitung konstituiert, so dass man also tatsächlich nicht von einer
Transzendenz der Form sondern von einer Transzendenz zur Form sprechen muss,
identifiziert Adorno nun an einer späteren Stelle des Beethovenbuchs mit einem Denken,
das er Metaphysik der Tragödie nennt: Wenn man die mittlere Phase als die Metaphysik der
Tragödie ansprechen kann – die Totalität der Negationen als Position, die Bekräftigung dessen
was ist in der Wiederkunft als Sinn – so ist die Spätphase Kritik von Tragik als Schein. Dieses
Moment aber ist in der mittleren Phase teleologisch bereits angelegt insofern jener Sinn nicht
gegenwärtig [ist], sondern durch den Nachdruck der Musik beschworen wird, und eben dies
ist die mythische Schicht Beethovens. Zentralstück der Konstruktion. (Adorno 1994, 253
[Fragment Nr. 368])
Ich möchte zunächst versuchen den Ausdruck Metaphysik der Tragödie etwas zu
erläutern. Die Tragödie firmiert hier offenbar nicht als literarische Form, sondern es
verhält sich umgekehrt: Die literarische Form ist ihrerseits nur der Niederschlag, nur die
Chiffre eines Denkens, das die Wahrheit des Seienden (also das was die Metaphysik
auszudrücken
beansprucht)
eben
als
Transzendenz
zur
Form
als
produzierte
Formimmanenz auffasst. Die Wahrheit, der ›Sinn‹ der empirischen, prozesshaft
miteinander verflochtenen Dinge, ist ihre Transzendenz zur Form und ein anderer
Ausdruck für diese reflektierte Transzendenz zur Form ist die Metaphysik der Tragödie.
Es gibt nun einen Philosophen, der wortwörtlich die Transzendenz zur Form als
Quintessenz des tragischen Prozesses – als seinen metaphysischen Sinn beschrieben hat
und zwar auf höchst folgenreiche Weise. Das ist zunächst einmal nicht Hegel, sondern
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Aristoteles. Die entscheidende philosophische Operation, mithilfe derer Aristoteles den in
den Tragödien dargestellten Prozessen einen metaphysischen Sinn verleiht besteht darin
dass er sie mit dem Prozess des Wachstums und der Reproduktion von Lebewesen
analogisiert (vgl. Ette 2003). Etwas vereinfacht formuliert: mit derselben naturgegebenen
Unausweichlichkeit, mit der sich aus einer Buchecker eine Buche, und keine Eiche,
entwickelt, und die Buchecker zur Form der Buche transzendiert, indem sie zugleich diese
Form als eine vorgegebene reproduziert, soll sich nach Aristoteles auch die tragische
Handlung entwickeln die auf ein Ziel zusteuert dass ihr vorgegeben wenn auch in vielen
Fällen noch nicht sichtbar ist.
Das entscheidende Zitat findet sich in Kapitel 23 der ›Poetik‹: Was die erzählende und
nur in Versen nachahmende Dichtung angeht, so ist folgendes klar: man muß die Fabeln wie in
den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze
und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer
Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen
bewirken kann. (Arist. Poet. 1459 a 18-21)
Der Vergleich mit einem Lebewesen – einem zoon – ist nicht beiläufig, sondern führt
ins Zentrum der Sache. Die physis, hat Heidegger einmal gesagt ist – aristotelisch gedacht
– das Sein (Heidegger 1939, 258). Etwas gemäßigter formuliert: Der Kreislauf des Lebens,
in dem – in aller Regel wenigstens – nichts seine ihm durch seine innere Form (das eidos,
die morphe) vorher bestimmte Bahn verlässt, ist die privilegierte Explikationsgestalt des
aristotelischen Seins.
Wenn das nun in Bezug auf die griechische Tragödie stimmen sollte, wären die Folgen
verheerend. Denn in der Tragödie würden dem Aristoteles zufolge menschliche
Handlungen, die man doch irgendwie mit der Vorstellung von Freiheit und Verantwortung
verbindet, dem Prozess der Physis subsumiert; Geschichte würde naturalisiert und die
Idee einer offenen, von den Menschen selbst verantworteten Zukunft, in die sie sich durch
ihr Handeln entwerfen, wäre bloßer Schein – eine Illusion, die durch die Idee einer
»einzigen ganzen und in sich geschlossenen Handlung mit Anfang Mitte und Ende« also
durch die totale »Formimmanenz« wieder und wieder Lügen gestraft werden würde.
Nun ist diese Vorstellung der Tragödie, in der das Geschehen mit quasi naturhafter
Notwendigkeit abrollt und eben dadurch die Einheit der Form – d.h. mit Adorno
formuliert die logische Identität des Prozesses – verbürgt wird, sicherlich nicht ganz falsch
und vollkommen absurd: zumindest dann wenn man sich an den Wortlaut der Tragödien
hält. Menschliches Handeln ohne Freiheit, naturalisierte Geschichte –: das ist ein anderer
Ausdruck für das, was wir unter Schicksal verstehen (das Wort kommt bei Aristoteles, der
den tragischen Prozess nach Kräften zu logifizieren versucht, nicht vor; dafür aber in den
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Tragödien umso häufiger).
Aber Aristoteles vereinseitigt diese Idee so sehr – er entscheidet den Konflikt zwischen
Freiheit und Notwendigkeit, der in jeder Tragödie aufs Neue unter anderen
Voraussetzungen und mit offenem Ausgang ausgetragen wird, so eindeutig zu Gunsten
des Schicksals also der Physis der Handlung, dass das Gesamtbild des tragischen
Prozesses, das er entwirft, auf eine groteske Weise verzerrt wird. Bis heute sind Tragödie
und Trauerspiel (das nun tatsächlich von der Vorstellung eines totalitär durch alles
hindurchregierenden Schicksals bestimmt ist) trübe miteinander vermischt und der
Ursprung dieser Vermischung geht zuletzt auf Aristoteles zurück.
Das hat auch Folgen für den Begriff der Tragödie im Beethovenbuch. Wenn Adorno in
Beethoven von der Metaphysik der Tragödie spricht dann koinzidiert das eben nicht mit
dem Geschichtsbewusstsein, von den das Corpus der tatsächlichen antiken und modernen
Tragödien Zeugnis ablegt, sondern mit der Denkform, die Aristoteles in der ›Poetik‹ den
Tragödien übergestülpt hat und die die Auffassung von der Tragödie bis heute bestimmt.
Wenn Adorno bestimmte Elemente des Beethovenschen Spätwerks als Kritik von Tragik als
Schein hervorhebt, so fällt der Begriff der Tragik letztlich mit der philosophischen
(aristotelischen) Bestimmung der Tragödie zusammen.
Für diese Entdifferenzierung spricht nicht zuletzt die Bestimmung der tragischen
Denkform selber. Es hieß ja: die Totalität der Negationen als Position, die Bekräftigung
dessen was ist in der Wiederkunft als Sinn. Was ist damit gemeint?
Adorno bezieht sich offensichtlich auf die Logik des musikalischen Fortschreitens bei
Beethoven, das als Negation aufgefasst wird. Den Unterschied von Negation und bloßer
Differenz würde ich nun so bestimmen, dass die Negation immer auf ein Gemeinsames,
auf eine übergreifende Identität bezogen ist. Während die Differenz ein einfaches
zweistelliges Verhältnis artikuliert, stellt sich in der Negation ein dreistelliges Verhältnis
dar – zwischen dem Negierten, dem Negierenden der übergreifenden Identität von
beiden. Adorno hat an einigen Stellen erläutert, was Negation bei Beethoven musikalisch
bedeutet. Er führt dort die Kategorien der Hemmung und des Abbrechens (Adorno 1994,
42 f.)ein, und es ist das Ziel dieser spezifischen Verfahrensweisen, den musikalischen
Prozess unablässig weiterzutreiben, keinen Stillstand zuzulassen und durch die
wechselseitige Negation aller Einzelmomente ihre Aufhebung durch das Ganze des Werks
herbeizuführen.
In dieser Bestimmung treffen die Metaphysik der Tragödie, die Adorno dem mittleren
Beethoven zuschreibt und die Hegelsche Dialektik zusammen: denn diese Dialektik ist ja
prozessuale Entfaltung durch Negation und zumindest in der Form, in der sie Adorno bei
Hegel vor Augen steht, ist diese prozessuale Entfaltung durch Negation zugleich eine, in
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der keine offene oder neue Zukunft sich auftut, sondern eine, die auf ein von vornherein
festgelegtes Ziel bezogen ist –: ein Ziel, das selbst nichts anderes ist als der verwirklichte,
vollständig vermittelte, sich selbst begründende und durchartikulierte Anfang ist – eine
geschlossene Form also; und es ist eben dies das teleologische, will sagen: aristotelische
Erbe in Hegel, von dem er sich – wenigstens was das Ganze des dialektischen Prozesses
betrifft – nicht emanzipiert hat. Der dialektische Gesamtprozess (so muss man wohl
sagen) ist wie die Tragödie bei Aristoteles eine einzige ganze und in sich geschlossene
Handlung.
Damit ist die tragische Dialektik, von der die Werke des mittleren Beethoven ein
ästhetisches Abbild geben, eine reflektierte Transzendenz zur Form. Das, was sich im
Verlauf des musikalisch-tragisch-dialektischen Prozesses ändert, ist nicht seine inhaltliche
Bestimmtheit, also nicht das Verhältnis von Ursprung und Ziel, Anfang und Ende, sondern
der Grad seiner Bewusstheit. Er wird nicht einfach vollzogen: Das Schicksal eines Themas
wie Schönberg einmal die Musik genannt hat wird zum begriffenen Schicksal wie es Hegel
zufolge (1974, 155) in der antiken Tragödie dargestellt wird.
Gesellschaftlich entspricht dem ein Stand der Aufklärung der Gesellschaft über sich
selbst, wie ihn Kant in seiner berühmten Programmschrift ›Beantwortung der Frage: Was
ist Aufklärung?‹ fordert, in der die Freiheit des Geistes und die Gehorsamspflicht
gegenüber der Obrigkeit nebeneinander bestehen und nebeneinander bestehen sollen, so
dass der Verdacht sich aufdrängt, die Freiheit des Geistes habe bloß eine
kompensatorische Funktion, beruhige die Gemüter und diene letztlich dazu, das, was
Adorno in der ersten Stelle, die ich zitiert habe, die Selbstreproduktion der Gesellschaft als
einer identischen nennt, zu garantieren.
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Dieser Komplex von Vorstellungen wird vom späten Beethoven aufgekündigt. Die Kritik,
die der späte Beethoven an der Immanenz der Form führt, geht über die bloße
Unterbrechung und Suspension hinaus; sie bedeutet Destruktion: An die Stelle der
Transzendenz zur Form tritt die Transzendenz der Form; an die Stelle der tragischen
Metaphysik treten Prozesse, die sich wenigstens Adorno zufolge nicht mehr im Rahmen
des tragischen Weltbildes verhandeln lassen; an die Stelle der ebenso verfassten positiven
Dialektik tritt die negative Dialektik; und an die Stelle der identischen Selbstreproduktion
der Gesellschaft tritt die Perspektive auf ihre Veränderung.
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Ich kann hier keinen detaillierten Einblick in die formalen Verfahrensweisen zu geben,
mit denen der späte Beethoven arbeitet. Was ihnen aber gemeinsam zu sein oder besser sie
zu begründen scheint ist eine Tendenz zum Zerfall; und das, worin sich diese Tendenz zum
Zerfall am elementarsten ausdrückt nennt Adorno das Absterben der Harmonie:
Am späten Beethoven scheint mir technisch nicht das Entscheidende die Polyphonie, die
sich durchaus in Grenzen hält (...). Sondern es ist eigentlich die Aufspaltung nach Extremen,
die vorliegt: zwischen Polyphonie und Monodie. Es ist eine Dissoziation der Mitte. Mit anderen
Worten: das Absterben der Harmonie. (...) die Harmonie selber, die ja weithin überlebt,
bekommt etwas Maskenhaftes oder Hülsenhaftes. Sie wird zu einer aufrechterhaltenen
Konvention, der die Substanzialität weithin entzogen ist. Man kann wenigstens in den letzten
Quartetten kaum mehr von einer Konstruktion der Tonalität reden. Sie hat gleichsam kein
Eigengesetz der Bewegung mehr, sondern bleibt als Klanghülle zurück (...). Um sich die
Bedeutung dieses Prozesses klarzumachen, muß man wohl auf die Konstruktion der Tonalität
rekurrieren. Deren Wesen besteht darin, daß durch die Formation der Musik deren
Voraussetzung zum Resultat erhoben wird (...). Die »Harmonie« [des mittleren Beethoven] ist
die Identität von Voraussetzung und Resultat. Es geht [beim späten Beethoven] gegen diese
Identität, d.h. eigentlich gegen die von Subjekt und Objekt. (...) Der Identitätszwang wird
durchbrochen und die Konventionen sind seine Trümmer. Die Musik spricht die Sprache der
Archaik, der Kinder, der Wilden und Gottes aber nicht des Individuums. (Adorno 1994, 225227)
Adorno fügt dem, was wir bisher von ihm gehört haben, noch ein weiteres Element
dazu nämlich, das Element der Tonalität. Beim mittleren Beethoven ist sie das
entscheidende Mittel, durch das logische Identität via negationis hergestellt wird und das
Werk zur immanenten Form transzendiert. Zugleich erfüllt sie die Formbestimmung der
Tragödie aus der Aufzeichnung Nr. 368, und zwar aus folgendem Grund: Im tonalen
System, genauer gesagt: im System der funktionalen Tonalität ist jeder musikalische
Augenblick, jede harmonische Fortschreitung die Negation des vorhergehenden
Augenblicks – Negation in dem Sinne, dass jeder dieser Augenblicke in einem
funktionalen Zusammenhang steht, in dem er auf Anfang und Ende des Gesamtprozesses
bezogen ist. Es gibt also streng genommen im System der Funktionsharmonik, das
Beethoven auskomponiert hat, keine freien, funktionslosen Momente, die außerhalb des
Gesamtzusammenhangs für sich stünden.
Damit gibt es nun im strengen Sinne in dieser Musik des mittleren Beethovens – von
den Momenten reflektiver Transzendenz sehe ich jetzt einmal ab – keine Gegenwart;
nichts das für sich steht und sich in sich selbst erfüllte. Dahlhaus hat in seine r
Untersuchungen zur Oper die These aufgestellt, dass das gesprochene Wort, das Wort im
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Sprechdrama, in sich Vergangenheit und Zukunft vermittele; es ist dramatisches Wort,
insofern es den Verweis auf Anfang und Ende: das Ganze des dramatischen
Zusammenhangs in sich enthält und austrägt, und im Grunde auf diesen Verweis reduziert
erscheint. Das heißt, es ist dramatisches Wort, insofern es nicht Gegenwart ist, nicht aus
der Gegenwart heraus gesprochen ist, sondern umgekehrt die Determination der
Gegenwart durch Vergangenheit und Zukunft geltend macht. Das dramatische Wort im
strengsten Sinn nennt Gründe und macht Vorausdeutungen; eine Gegenwart, die sich
spontan kundgibt und sich damit aus jenem Beziehungsgeflecht herauslösen würde, ist
ihm fremd (vgl. Dahlhaus 2001, 423 ff). Die symphonische Form – also eben der Formtyp,
den Adorno vor allem im Sinn hat wenn er vom mittleren Beethoven spricht – entspricht
dieser dramatischen Totalvermittlung des einzelnen durch das Ganze so weit als das in der
Musik überhaupt möglich ist. Das aber heißt Gegenwartsverlust. Die Gegenwart ist bloß
ein Vehikel, um Zukunft und Gegenwart, Anfang und Ende des dramatisch tragischen
Prozesses zu vermitteln.
Es ist eine zwiespältige Angelegenheit. Aauf der einen Seite bekundet sich in der
kompletten Durchfunktionalisierung des Gesamtzusammenhanges die Autonomie des
Subjekts, das diesen Gesamtzusammenhang erzeugt; auf der anderen Seite jedoch
verkehrt sich die Autonomie in dem Moment, in dem sie alternativlos wird, in einen
schicksalshaften Zwang: in Heteronomie.
Wenn Adorno nun in dem letzten Zitat diese Prozessstruktur mit der Identität von
Subjekt und Objekt gleichsetzt, so steht damit offenbar noch etwas anderes in Rede als ein
musikalischer Sachverhalt: nämlich der Kern dessen, was Adorno identifizierendes
Denken nennt. Die Identität von Subjekt und Objekt wird im Satz hergestellt – in der
propositionalen Fügung, deren grammatische Struktur ebenfalls einer Logik des SichÖffnens und Sich-Schließens folgt. Jeder Satz vollzieht den Prozess der Entäußerung und
der Rückkehr zu sich, und zwar in eben dem Moment in dem die verstreuten Worte einen
Sinnzusammenhang ergeben, in dem Moment also, in dem der Satz verstanden wird.
Was hat dies mit der Musik zu tun? Der Satz verhält sich zur Rede oder zu einem Text
wie der tonale Elementarvorgang der Kadenz zu der musikalischen Verlaufsform, die sie
am vollkommensten ausdrückt, weil sie sie selbst in gewisser Weise noch einmal ist:
nämlich der Sonatenhauptsatzform. All das sind alles Spielarten dessen, was Adorno
»Metaphysik der Tragödie« nennt, die ihrerseits in der Gesamtanlage von Hegels positiver
Dialektik und von Beethovens Konstruktion der Tonalität im mittleren Werk ihren
vollkommensten und zugleich dramatischen Ausdruck gefunden hat.
Wenn nun der späte Beethoven diese Zusammenhänge zwischen der Kadenz und dem
propositionalen Urteil auf der einen Seite und dem gesamten Werk bzw. dem
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dialektischen Gesamtprozess zur Identität kritisiert, indem er ihn in seine einzelnen
Bestandteile zerfallen lässt die nun von allem möglichen zusammengehalten werden – von
den archaischen Formen der Polyphonie und der Liturgie; von der regressiven Form der
Variation; von der konstellativen Form, wie sie sich in den Bagatellen oder im Patchwork
des zweiten Satzes von Opus 110 ausdrückt; in pathetischen Formen wie den zahlreichen
Bezugnahmen zur Oper im Spätwerk –, die aber allesamt nicht mehr aus sich heraus einen
organischen Zusammenhang konstituieren, – dann liegt auf der Hand, dass Beethoven
damit Adornos ureigene philosophische Interessen in musicis vertritt. Beethoven –: das ist
nicht bloß, wie das Nachlasswerk vom Herausgeber genannt wurde, ›Philosophie der
Musik‹, sondern es ist zugleich die Musik der Philosophie, der Philosophie nämlich, die
Adorno vertrat und für notwendig hielt. Der späte Beethoven realisiert musikalisch, was
Adorno in der ›Negativen Dialektik‹ methodisch von der Philosophie fordert.
Natürlich ist dies erst einmal eine bloße Behauptung – eine Behauptung zumal, die ich
hier gar nicht belegen kann weil man dazu den Kanon der methodologischen Forderungen
der negativen Dialektik genau durchgehen müsste. Aber ich möchte mir doch erlauben,
einige Stichworte namhaft zu machen, die dafür sprechen, Beethovens antitragisches,
zum Zerfall tendierendes Spätwerk und Adornos negative Dialektik im Zeichen einer
Kritik von Tragik in eine solche Nähe zu rücken, wie ich hier tue:
•
Es ist die Tendenz zur kleinen Form (›Der Essay als Form‹) bis hin zum Fragment;
•
es ist die Methode der Konstellation;
•
es ist die Kritik an der Identität und die Theorie des Nichtidentischen in der
›Negativen Dialektik‹ ;
•
es ist das, was Adorno in der ›Negativen Dialektik‹ als Logik des Zerfalls verhandelt.
Wenn es mit diesen Andeutungen seine Richtigkeit hat, dann geht aus ihnen doch soviel
hervor, dass Beethovens Musik und die formalen Fragen, mit denen sich Beethoven
beschäftigte, tief in die Fundamente von Adornos Philosophie eingelassen sind –: in die
Fundamente
eines
Denkens
also
das
sich
gegen
das
Identitätsdenken,
das
Ursprungsdenken und gegen die Teleologie innerhalb der Europäischen Rationalität
richtet. Alle drei – also Identitätsdenken, Ursprungsdenken und Teleologie – sind
miteinander verflochten und es ist eben die Tragödie bzw. das Bild von ihr, dass die
aristotelische Metaphysik davon durch die Jahrhunderte überliefert hat, die diese drei
Stränge in ein verbindliches und darüber hinaus anschauliches öffentliches Prozessmodell
zusammengefasst hat. In diesem Sinne ist Adornos Musiktheorie der Tragödie zugleich
eine Kritik am tragischen Unterstrom des gesamten europäischen Denkens und
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Beethovens Musik ist vermutlich einer seiner stärksten Bundesgenossen in diesem
kritischen Unternehmen, das die tragische Verfassung der Europäischen Rationalität
einerseits bewusst machen, andererseits überschreiten will.
Zitierte Literatur
Adorno 1994: Theodor W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 1994.
Aristoteles, Poetik. Übersetzt und herausgegeben von manfred Fuhrmann. Griechisch-deutsch,
Stuttgart 1982.
Dahlhaus 2001: Carl Dahlhaus, Zeitstrukturen in der Oper, in: Gesammelte Schriften 2:
Allgemeine Theorie der Musik II, Laaber 2001, 423-432.
Ette 2003: Wolfram Ette, Die Aufhebung der Zeit in das Schicksal. Zur 'Poetik' des Aristoteles,
Berlin 2003
Hegel 1986: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten
des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den
positiven Rechtwissenschaften (1803), in: Werke 2: Jenaer Schriften 1801-1807, ed.
Moldenhauer / Michels, Frankfurt am Main 1986, 434-533.
Hegel 1996: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Band III, Werke,
ed. Moldenhauer / Michels, Band 15, Frankfurt am Main 1996
Hegel 1974: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ed.
Lasson, Band II/1: Die bestimmte Religion, Hamburg 1974
Heidegger 1939: Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Physis (Aristoteles, Physik B,
1), in: Wegmarken, Frankfurt am Main 1978, 237-300.
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