Richard Klein (Hg.) Gesellschaft im Werk Musikphilosophie nach Adorno VERLAG KARL ALBER B Richard Klein (Hg.) Gesellschaft im Werk VERLAG KARL ALBER A Wann immer Musik philosophisch auf der Agenda steht, eröffnet Theodor W. Adorno ein spannungsreiches Spektrum von Denkmöglichkeiten. Dabei treffen spekulatives Denken, wissenschaftliche Forschung, musikalische Praxis und politisch-soziale Kritik auf eine Weise zusammen, die noch da inspirierend ist, wo der Philosoph irrt oder übertreibt. Die Rede von der »Gesellschaft im Werk« nimmt Adorno dort ernst, wo er sich von der Ästhetik unserer Tage am meisten unterscheidet: im Festhalten eines kritischen Werkbegriffs und einer sozialen Lektüre autonomer Formen. Der Herausgeber: Richard Klein ist Herausgeber von Musik & Ästhetik. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. Musikphilosophie zur Einführung (2014), Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2011, hrsg. mit Johann Kreuzer und Stefan Müller-Doohm). Gesellschaft im Werk Musikphilosophie nach Adorno Herausgegeben von Richard Klein in Zusammenarbeit mit der Adorno-Forschungsstelle der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg Verlag Karl Alber Freiburg / München Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48744-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80822-1 Inhalt Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Wolfram Ette Adornos Musiktheorie der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . 13 Richard Klein Die Gesellschaft im Werk und das Problem der Zeit. Nervenpunkte in Adornos Beethovenkritik . . . . . . . . . . 29 Jürgen Stolzenberg Tonalität, Zeit, Subjektivität. Überlegungen zu Theodor W. Adornos Beethoven-Fragmenten . . . . . . . . . 58 Ferdinand Zehentreiter Gesellschaft im Werk? Ein Grundlagenproblem Adornos – dargestellt an einer Soziologie des Konzerts . . . . . . . . . . 77 Larson Powell Modi der Moderne. Adornos Material, Luhmanns Medium und eine mögliche Musikgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Gabriele Geml »Der erste größere Text, in dem ich wirklich ganz drin bin«. Adornos Schubertaufsatz von 1928 . . . . . . . . . . . . . . 119 Nikolaus Urbanek »Bilder von Gesten«. Über die Aktualität von Adornos Theorie der musikalischen Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5 Inhalt Guido Kreis Kritik der avantgardistischen Vernunft. Kants Grundlegung des Kunstwerks und Adornos Kriterien der neuen Musik . . . . . 173 Susanne Kogler Musik und Kritik nach Adorno. Perspektiven für die Musikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6 Siglen Theodor W. Adorno Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz. 20 Bände in 23 Büchern. Frankfurt a. M. 1970–1986. Taschenbuchausgabe Frankfurt a. M. 1997. GS 1: GS 2: GS 3: GS 4: GS 5: Philosophische Frühschriften. Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. / Drei Studien zu Hegel. GS 6: Negative Dialektik. / Jargon der Eigentlichkeit. GS 7: Ästhetische Theorie. GS 8: Soziologische Schriften I. GS 9/1: Soziologische Schriften II. Erste Hälfte. GS 9/2: Soziologische Schriften II. Zweite Hälfte. GS 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. / Ohne Leitbild. GS 10/2: Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe. / Stichworte. GS 11: Noten zur Literatur. GS 12: Philosophie der neuen Musik. GS 13: Die musikalischen Monographien: Versuch über Wagner. / Mahler. Eine musikalische Physiognomik. / Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs. GS 14: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. / Einleitung in die Musiksoziologie. GS 15: Komposition für den Film. / Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis. GS 16: Musikalische Schriften I-III. GS 17: Musikalische Schriften IV. GS 18: Musikalische Schriften V. 7 Siglen GS 19: Musikalische Schriften VI. GS 20/1: Vermischte Schriften I. GS 20/2: Vermischte Schriften II. Theodor W. Adorno Fragment gebliebene Schriften aus dem Nachlass BF: MR: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1993. Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata. Hrsg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 2001. Theodor W. Adorno Vorlesungen KV: Kranichsteiner Vorlesungen. Hrsg. v. Klaus Reichert u. Michael Schwarz, Frankfurt a. M. 2014. Die Gesammelten Schriften werden mit Reihensigel, Band- und Seitenzahl, die Schriften aus dem Nachlass und die Kranichsteiner Vorlesungen mit Einzelsigel und Seitenzahl zitiert. 8 Einleitung An Theodor W. Adorno sind weniger seine Person und deren empirische Parteinahmen von Interesse als vielmehr ein Spektrum komplexer Denkmöglichkeiten, das eigentlich nur seine Philosophie eröffnet, wann immer Musik auf der Agenda steht. Bei Adorno treffen spekulatives Denken, wissenschaftliche Forschung, musikalische Praxis und im weitesten Sinn politische Kritik auf eine Weise zusammen, die noch da inspirierend ist, wo der Philosoph irrt oder übertreibt. Für Leser und Interpreten kann das eine durchaus ambivalente Erfahrung sein. Gemahnt Adornos »interdisziplinäre« Art, an Probleme heranzugehen, die akademischen Fachleute doch ständig an das, was ihnen fehlt oder was sie sich verbieten. So wird die Musikwissenschaft regelmäßig auf ihr Nichtverhältnis zu Ästhetik und Philosophie gestoßen. Die Philosophie lernt, dass sich mit ihren angestammten Denkmitteln über das Besondere der musikalischen Phänomene nicht qualifiziert reden lässt. Die Soziologie fühlt sich vom Autonomieanspruch der Werke belästigt, den sie als bürgerliches Fossil längst abgestreift zu haben meint. Und ausübende Musiker tun sich nun einmal schwer mit der Einsicht, dass Begriffe nicht bloß im Kopf von Personen herumspuken, sondern ein genuines Realitätsrecht besitzen, dem gegenüber man mit der rhetorischen Frage, »ob denn diese Dinge alle Mozart bewusst gewesen sind«, nicht durchkommt. Aber es wäre unangemessen, an die Sprachspiele, die Adorno geprägt hat, bruchlos anzuknüpfen. Nicht wenige Motive und Kategorien, die mit seinem Namen verbunden sind – z. B. die künstlerästhetische Überhöhung der Wiener Schule, der Mythos des »integralen Kunstwerks«, das verengte Bild von Musikhistorie und zum Teil auch die Lehre von der »Tendenz des Materials« 1 –, haben sich 1 Mit diesem Teil ist die Stilisierung des Materialbegriffs zur emanzipatorischen Leit- 9 Einleitung überlebt. Nicht in dem positivistischen Sinn, dass »neuere Untersuchungen« die »Rückständigkeit« Adornos »herausgefunden« hätten, sondern weil die Erfahrungen, die seinerzeit zu den erwähnten und noch einigen anderen Positionen führten, sich heute als nicht mehr zugänglich erweisen. Sie sind uns auf eine Weise fremd geworden, die es schwer macht, im Abstand zu ihnen eine produktive Irritation zu erkennen. Freilich ist das kein Signal des weltgeschichtlichen Fortschritts. Wir sind nicht »weiter« als Adorno, sondern lediglich »woanders«, wenn auch nicht beliebig, sondern auf bestimmte Weise. Sich heute mit Adorno auseinanderzusetzen, hat nur Sinn, wenn die Aufmerksamkeit dem gilt, was mehr ist als thetische Festlegung und Weltbildprämisse, und wenn man entlang der Unterscheidung von historischem und gegenwärtigem Gehalt ein adäquates Bild beider Perspektiven zu entwerfen vermag. Nun braucht man Adorno darüber keineswegs zu belehren. Er weiß nur zu gut, dass die Reichweite seiner Musikphilosophie über deren offizielle Themen und Thesen weit hinausführt. So wenig wie die Psychoanalyse antiquiert ist, weil wir nicht mehr im Viktorianischen Zeitalter leben, so wenig ist Adorno überholt, weil Schönberg keine Avantgarde im klassischen Sinn mehr sein kann. Philosophisches Denken entspringt historischen Erfahrungen und Gegenständen und gewinnt seinen Wahrheitsanspruch in der Auseinandersetzung mit ihnen. Aber es erschöpft sich nicht in Historisierung. Die Lehre vom »Zeitkern der Wahrheit« beinhaltet keine Theorie vom nächsten Donnerstag. Sie ist vielmehr dadurch definiert, dass sie sich in das Ephemere historischer Konstellationen versenkt, statt sich für schlechte Ewigkeiten stark zu machen. Aber ebenso lebt sie aus einem Nein gegenüber dem Versuch oder auch nur Bedürfnis, Kunstwerke historisch zu relativieren. Die Abkehr von zeitlosen Ideen zugunsten kleinteiliger geschichtlicher Perspektiven stößt auf einen absoluten Wahrheitsanspruch, der sich gegen das Schema der Historisierung wendet. Ob es Adorno gelingt, diese Erkenntnis konsistent zu entfalten, mag fraglich sein. Aber wenn dieser Ansatz auch nur im Prinzip stimmt, muss er auf Adorno selbst angewandt werden. Sein Denken ist zu historisieren und auf Abstand zur jetzigen Situation zu brinfigur von Adornos Musikphilosophie, sein vermeintlicher Fortschritts- und Entwicklungscharakter gemeint. Wie eine »anschlussfähige« Rekonstruktion heute aussehen könnte, ist strittig. Vgl. Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 2014: 36–72. 10 Einleitung gen. Zugleich geht es aber darum freizulegen, was den historischen Gehalt dieser Philosophie übersteigt, d. h. was zukunftsträchtig und für Veränderungen offen ist. »Musikphilosophie nach Adorno« meint denn auch zweierlei: (a) historische Distanz zu Person, Dogma und Wirkung; (b) Orientierung am Denken Adornos aus der Distanz heraus. Unsere Erfahrungen sind in vieler Hinsicht andere als die seinigen. Umso bedeutsamer wird der freie und detaillierte Umgang mit seinem Denken, nicht zuletzt mit dem Potenzial an ihm, das sich gegen die eigenen offiziellen Festlegungen richtet. Auf andere Weise mehrdeutig ist die Rede von der »Gesellschaft im Werk«. Im ersten Moment könnte man sie als Wiederaufnahme von Adornos »verschwiegener Orthodoxie« (Habermas) verstehen, doch wäre dies nur sehr bedingt richtig. Die soziale Hermeneutik musikalischer Kunstwerke ist ein zentrales Thema des adornoschen Denkens. Aber man sollte sie nicht mit dem Weltbild der 1930er Jahre gleichsetzen, als Adorno und Benjamin sich über den »Fetischcharakter der Ware« ereiferten, als hätten sie den revolutionären Basiscode der modernen Welt geknackt, mit dem sich die Probleme von Leben, Kunst und Kultur wenn auch nicht lösen, so doch kritisch entziffern ließen. Dass sich ein so hybrides Programm nicht durchhalten ließ, belegen gerade die musikalischen Schriften von Adorno eindrucksvoll. Aber das Scheitern einer intellektuellen Größenphantasie widerlegt nicht Recht und Notwendigkeit sozialer Musikkritik schlechthin. Dies umso weniger, als Adorno die Ästhetik und Soziologie unserer Tage gleich zweifach hinter sich lässt: (a) durch das kritische Festhalten des Werkbegriffs und (b) durch die gesellschaftliche Kritik autonomer Formen. Marx und Lukács mögen sich als nicht annähernd so hilfreich erwiesen haben, wie Adorno glaubte, aber das Projekt als solches bleibt sein »Alleinstellungsmerkmal«, das sich weder durch Erlebnisforschung noch durch Institutionenanalyse oder auch biografische Untersuchungen und ebenso wenig durch professionelle werkimmanente Analyse ersetzen lässt. Die Idee eines experimentellen Zusammenspiels von musikalischer und historisch-sozialer Kritik ist Adornos eigentliches musikphilosophisches Vermächtnis. * Der vorliegende Band ist ein Schritt auf dem Weg, mit diesem Vermächtnis ernst zu machen. Die Beiträge bemühen sich darum, Ador11 Einleitung no gerecht zu werden, wie frei, zustimmend oder distanziert oder beides zugleich, auch immer. Sie gehen zurück auf eine Tagung, die im Rahmen meines DFG-Projekts zur Musikphilosophie nach Adorno im Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK), Institute for Advanced Study, in Delmenhorst vom 3. bis 5. April 2014 stattfand. Mein Dank gilt zuerst der DFG, die das Projekt von 2011 bis 2014 finanziell gefördert hat. Danken möchte ich sodann Johann Kreuzer für die Möglichkeit, es am Philosophischen Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und in Anbindung an die dort angesiedelte Adorno-Forschungsstelle umzusetzen. Darüber hinaus hat er die Realisierung des vorliegenden Bandes effektiv unterstützt. Zu danken habe ich natürlich dem HWK Delmenhorst, das uns zwei Tage den Raum und die für die gemeinsame Arbeit nötige Muße gab. Last but not least danke ich Johanna Dombois für Lektorat und Korrekturlesen. Richard Klein 12 Horben, im Mai 2015 Adornos Musiktheorie der Tragödie Wolfram Ette I. Eine Theorie der Tragödie im engeren Sinn hat Adorno nicht hinterlassen, eine Theorie also, die sich mit der griechischen Tragödie und ihren Konsequenzen für die europäische Kultur befasst. Es gibt eine Stelle in der Ästhetischen Theorie, an der sich Adorno in enger Anlehnung an Benjamin in dem Sinn auf die griechische Tragödie bezieht, dass sie das Erwachen des autonomen Subjekts darstellt (GS 7: 344 f.). Das ist eine Stelle von nicht zu unterschätzender theoretischer Tragweite. Sie bleibt aber in Adornos Werk vereinzelt. Insgesamt bleibt die Tragödie als literarische Form ausgespart. Dies ist aus zwei Gründen merkwürdig. Zum einen genießt die Tragödie von allen politischen Gattungen wohl die höchste philosophische Dignität. Aristoteles, Hegel, Schelling, Schopenhauer und Nietzsche haben ihr eine Schlüsselstellung in ihrem jeweiligen philosophischen System eingeräumt; und noch in der Verwerfung der Tragödie bei Platon zeichnet sich eine widerwillige Anerkennung dieser Form als der gefährlichsten Konkurrentin zur philosophischen Rationalität ab, die sonst keiner Kunstform zuteilwird. Angesichts dessen und angesichts der zentralen Rolle, die die Tragödie im Denken Benjamins bis zum Trauerspielbuch spielt, nimmt es Wunder, dass Adornos Äußerungen darüber so spärlich ausfallen. Diese Verwunderung verstärkt sich noch, wenn man sich klarmacht, was für eine herausragende systematische Rolle die Tragödie insbesondere bei Hegel spielt – der für Adorno zumindest aktenkundig wichtigste Vorläufer, derjenige Philosoph, in dessen Tradition Adorno sich unmittelbar und bewusst stellt. Bei Hegel verhält es sich ja so, dass phasenweise der tragische und der dialektische Prozess kaum auseinanderzuhalten sind; sei es, dass er wie im Naturrechtsaufsatz das Modell eines tragischen Gesellschaftsprozesses unter dem Titel einer »Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich 13 Wolfram Ette selbst spielt« entwirft 2; sei es, dass wie in der Phänomenologie des Geistes ein Stück – nämlich die Antigone – wie ein Schatten den dialektischen Prozess der Erfahrung des Bewusstseins begleitet. Diese enge Überblendung von tragischem und dialektischem Prozess lässt zwar nach der Phänomenologie des Geistes nach. Dennoch würde Hegel in der Ästhetik nicht von der Antigone als dem »vortrefflichsten, befriedigendsten Kunstwerk« des menschlichen Geistes sprechen 3, wenn er ihr bei aller historischen Fixierung an die griechische Antike (die er gegenüber dem Frühwerk stärker betont) nicht eine tiefe strukturelle Nähe zum Kern des eigenen Philosophierens zuschriebe. Dialektische Philosophie ist ein Stück weit Philosophie aus dem Geist der Tragödie; und da ist es schon erstaunlich, dass sich der Philosoph des 20. Jahrhunderts, der sich wie wenige andere in die Tradition der hegelschen Philosophie gestellt hat, diesen systematisch entscheidenden Punkt so sehr übergeht. Nun hat Adorno seine eigene Philosophie ja nicht umstandslos als Dialektik bezeichnet, sondern als negative Dialektik, die als Gegenentwurf zur hegelschen positiven Dialektik doch jedenfalls bei aller Nähe zu Hegel eine Kritik an dialektischen Verfahren formuliert. Gleichzeitig beansprucht diese Kritik nicht, den Bezirk dialektischen Philosophierens ganz zu verlassen; sie beansprucht vielmehr, eine Dialektik zu entwerfen, die sich eben negativ, negierend zur hegelschen Dialektik verhält und dennoch im Kern Dialektik bleibt; sie beansprucht also, eine andere, eine alternative Dialektik zu formulieren – so vage dies zunächst einmal bleibt. So wäre also zu fragen, ob die Absenz der Tragödie in Adornos Werk etwas mit diesem Entwurf einer alternativen negativen Dialektik zu tun hat. Adorno bliebe Hegel indirekt insofern treu, als er die Korrelation von Tragödie und positiver Dialektik übernimmt; und in diesem Sinn würde die Tragödie denn doch eine fundierenden Bedeutung für Adornos Philosophie besitzen – als ein Fundament, auf dem sie sich erhebt und über das sie zugleich hinauswill. Dafür, dass dem so ist, liefern nun weder die philosophische Schriften im engeren Sinne noch die Ästhetische Theorie noch die Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtwissenschaften (1803)«, in: Ders.: Jenaer Schriften 1801–1807 (Theorie Werkausgabe 2), Frankfurt a. M. 1986: 434–533, hier 495. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III (Theorie Werkausgabe 15), Frankfurt a. M. 1996: 550. 2 14 Adornos Musiktheorie der Tragödie Schriften zur Literatur einen Beleg, sondern die Musikphilosophie. Aus diesem Grund ist im Titel meines Textes von der »Musiktheorie der Tragödie« die Rede. Die Musikphilosophie ist der Ort, an dem Adorno die Tragödie und die Möglichkeiten, sich von ihr künstlerisch zu emanzipieren, auslotet. Wenn das stimmt, dann ist die Musikphilosophie auch der Ort, an dem materialiter erkennbar wird, wie sich positive und negative Dialektik zueinander verhalten. In Adornos Musikphilosophie (also in dem Bereich ästhetischer Erfahrung, in dem er über den sichersten systematischen Zugriff verfügt) ist das Erfahrungsmaterial versammelt, das dann in der Negativen Dialektik methodologisch reflektiert wird. In dieser Musikphilosophie spielt Beethoven die entscheidende Rolle. Er ist die Schlüsselfigur; er steht am Ende des klassischen Zeitalters der neuzeitlichen Musik, deren Tendenzen er in sich vereinigt und vollendet; und er steht am Beginn der Moderne, deren Tendenzen er weit vorausnimmt. In Beethovens Musik wird die Auseinandersetzung zwischen positiver und negativer Dialektik – und eben damit auch ein spezifischer Begriff der Tragödie – aktenkundig, der sich sonst an keiner Stelle von Adornos Werk so findet. II. Dass sich Beethovens Musik auf das intensivste mit Adornos philosophischen Intentionen im engeren Sinn berührt, darauf weist eine erste Stelle aus dem Beethovenbuch: »Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie; sie ist aber zugleich wahrer als diese, d. h. es steckt in ihr die Überzeugung, daß die Selbstreproduktion der Gesellschaft als einer identischen nicht genug, ja daß sie falsch ist. Logische Identität als produzierte und ästhetische Formimmanenz werden von Beethoven gleichzeitig konstituiert und kritisiert. Das Siegel ihrer Wahrheit in der Beethovenschen Musik ist ihre Suspension: die Transzendenz zur Form, durch die erst die Form ihren eigentlichen Sinn gewinnt. Die Formtranszendenz bei Beethoven ist die Darstellung – nicht der Ausdruck – der Hoffnung.« (BF: 36) Wenn Adorno sagt, dass Beethovens Musik die hegelsche Philosophie sei (also nicht etwa bedeute oder sich in einem analogischen Verhältnis zu ihr verhalte – vgl. BF: 33 f.), dann steht in Beethovens Musik eben auch das Essential dieser Philosophie zur Debatte und auf dem Prüfstand, nämlich die Dialektik. 15 Wolfram Ette Wenn Adorno dann fortsetzt, das Beethovens Musik »zugleich wahrer« als die philosophische Parallelunternehmung Hegels sei, dann ist es wohl legitim, dies auf das Verhältnis von positiver und negativer Dialektik zu beziehen. Das heißt, im Verhältnis von immanenter Form und Formtranszendenz scheint zugleich etwas auf vom Verhältnis von positiver und negativer Dialektik. Das Kernstück der von Beethoven irgendwie kritisierten positiven Dialektik ist offenbar – ich zitiere das noch einmal – »logische Identität als produzierte und ästhetische Formimmanenz«. Was bedeutet logische Identität in einem Kunstwerk? Was bedeutet sie bei Beethoven? Adorno hat hier offenbar die Sonatenhauptsatzform im Blick. 4 Diese produziert logische Identität dadurch, dass ihre dreiteilige Form im Kern zirkulär angelegt ist; dass im Ende der Anfang in nur partiell veränderter Form wiederkehrt; dass es sich also bei dem Konflikt, auf den hin diese Form durch die exponierenden Strukturen, Kontraste, die thematischen Felder und deren Verarbeitung in der Durchführung angelegt ist, offenbar nicht um einen echten Konflikt mit offenem Ausgang handelt, sondern um einen Schein, aus dem sich faktisch nichts ergibt und der zu einem Ergebnis prozessiert, das von Anfang an festgelegt war. In der Reprise, so könnte man sagen, wird all das an offener Zukunft, all das an revolutionären Hoffnungen, das sich in der Durchführung ausdrückt, kassiert; sie ist so etwas wie die musikalische Gegenaufklärung. Das lässt sich anhand eines zweiten Zitats belegen: »Zum Problem der Reprise: Beethoven hat sie gleichsam zum Siegel des Idealismus in seiner Musik gemacht, d. h. durch sie erweist sich das Resultat der Arbeit, der universalen Vermittlung, als identisch mit der Unmittelbarkeit, die in der Reflexion, ihrer immanenten Entwicklung nämlich, sich auflöst. […] Aber es ist tief bezeichnend, daß trotzdem bei Beethoven die Reprise in demselben tiefen Sinn ästhetisch fragwürdig bleibt wie bei Hegel die These der Identität, und zwar tiefsinnig paradoxer Weise bei beiden abstrakt, mechanisch. Beethoven hat aus der Reprise die Identität des Nichtidentischen gemacht. Dabei steckt darin, daß die Reprise an sich das Positive, dinghaft Konventionelle ist, zugleich das Moment der Unwahrheit, der Ideologie.« (BF: 39) Auf den Stand der neueren sonatentheoretischen Diskussion gehe ich hier nicht eigens ein. Exemplarisch dazu: Charles Rosen: Sonata Forms, New York 1980 (Revisited Edition 1988). 4 16 Adornos Musiktheorie der Tragödie Die Formimmanenz also, die sich am nachdrücklichsten bei Beethoven in der Sonatenform produziert, zeichnet sich dadurch aus, dass durch die »universale Vermittlung« alles in ihr motivisch-thematisch funktionalisiert ist; dass es kein ungenutztes Material, keine leeren Stellen gibt; und dass dies in einer Prozessform geschieht, in der Anfang und Ende mit besonderem Nachdruck aufeinander bezogen sind – wie es beispielsweise bei einer Suite nicht der Fall ist. Nun ist es für das Verständnis dessen, was Adorno hier behauptet, entscheidend, dass sich dieser Formtypus auf den »mittleren« Beethoven bezieht – also auf das Corpus, das in den Werken mit den Opuszahlen 90 ff. langsam ausläuft. Adorno selbst führt unter anderem den dritten Satz des Streichquartetts op. 59, 1 und den ersten Satz der Eroica an; ich würde dem noch den ersten Satz der V. Symphonie und den ersten Satz der VII. Symphonie als ein Werk des Übergangs, in dem noch einmal ganz deutlich wird, auf welche Weise logische Identität als Immanenz der Form sich produziert, hinzufügen. Nun sagt Adorno an der zuerst zitierten Stelle aber ausdrücklich, »dass die logische Identität in diesen Werken gleichzeitig konstituiert und kritisiert wird«, und dass sich dieses Zugleich von Konstitution und Kritik im Modus der »Suspension«, also des Aufschubs vollzieht. Was ist damit gemeint? Nehmen wir ein Werk wie den ersten Satz der V. Symphonie: ein Werk, das in einer fast monomanen Weise aus der Selbstvermittlung musikalischen Elementarmaterials besteht. Wenn Adorno an einer anderen Stelle sagt, dass Beethoven »die Tonalität auskomponiert« (BF: 90) habe, dann meint das eben diese Zerschlagung eines quasi naturwüchsigen Materials (das alle möglichen historischen Konventionen und Formeln mit sich schleppt) in Elementarbestandteile: hier die fallende Terz und das primitive rhythmische Pattern des ersten Themas; die Kürze und fast etwas charakterlose Simplizität auch des zweiten. Dieser Satz ähnelt nicht mehr einem Gebäude, das aus Natursteinen errichtet ist, auf dessen Form und Materialbeschaffenheit die Maurer Rücksicht zu nehmen haben, sondern einem monumentalen Ziegelbau, der sich aus identischen, vorgefertigten Bauteilen zusammensetzt. Im Versuch über Wagner hat Adorno dies so ausgedrückt: »Bei Beethoven ist das Einzelne, der ›Einfall‹ kunstvoll-nichtig, wo immer die Idee der Totalität den Vorrang hat; das Motiv wird als ein an sich ganz 17 Wolfram Ette Abstraktes eingeführt, lediglich als Prinzip des reinen Werdens, und indem daraus das Ganze sich entfaltet, wird das Einzelne, das im Ganzen untergeht, zugleich auch von diesem konkretisiert und bestätigt.« (GS 13: 49) Diese Verherrlichung menschlicher Arbeit und Emanzipation von der Natur hat durchaus etwas Bedrückendes und, um das Klischee doch einmal zu bemühen, »Schicksalshaftes«; die Immanenz der Form, so großartig sie sich produziert, wirkt ausweglos; die rigide Beschränkung des Materials erscheint beklemmend; der Arbeitsprozess wird zum Selbstläufer ohne Alternative, in dem sich nun nicht mehr die menschliche Freiheit, sondern ein selbstauferlegter Zwang darstellt Beethoven scheint dies selbst gespürt zu haben, denn er hat genau an dem neuralgischen Punkt, an dem die Form sich schließt, also zu Beginn der Reprise eine Unterbrechung eingebaut – eine Suspension und zwar in Gestalt eines Oboenrezitativs. Dieses Rezitativ wirkt wie ein absoluter Fremdkörper: Seine rhythmische Freiheit widerspricht der in diesem Stück mit besonderer Rücksichtslosigkeit durchexekutierten Taktrhythmik; das Soloinstrument spielt eine Melodie, die sich unabhängig von aller Vermittlung der einzelnen Stimmen durch die Allheit der anderen Stimmen entfaltet; und schließlich wird kulturgeschichtlich eine andere Welt entworfen: Die Oboe geht einher mit Reminiszenzen an Hirtenkulturen, Schalmeienklang und Schäferidyllen – es werden durch sie archaische Bilder eines nicht herrschaftlichen Verhältnisses der Natur gegenüber aufgerufen. 5 Das eben meint »Produktion der immanenten Form durch ihre Suspension«; durch den Aufschub wird die Schließung der Form nicht einfach vollzogen sondern als bewusste geleistet und eben damit, wenn nicht kritisiert, so doch kritisierbar. Ich möchte noch ein zweites Beispiel anfügen; eines, auf das Adorno selbst verweist und in dem die Dinge sich auf ähnliche Weise, wenn auch etwas komplizierter verhalten. Es geht hier um den langsamen Satz des ersten Rasumowskyquartetts op. 59, 1 – und es geht auch wieder um den neuralgischen Punkt der Überleitung zur Reprise. Komplizierter als die V. Symphonie ist dieser langsame Satz Auch hier verfährt Beethoven dialektischer, als es zunächst scheint. »Durchbrochen« ist auch schon das Vermittlungsgeschehen des ersten Satzes der V. Symphonie – durch die häufigen Fermaten, die den musikalischen Arbeitsprozess immer wieder unterbrechen und gleichsam offene Fragezeichen setzen. Auf sie gibt das Rezitativ Antwort. Es bleibt ein Fremdkörper, aber er wird gestisch vorbereitet. Die Fermaten entwerfen das Koordinatensystem des expressiven Raumes, der vom Rezitativ dann gefüllt wird. – Für diesen wichtigen Hinweis danke ich Richard Klein. 5 18 Adornos Musiktheorie der Tragödie dadurch, dass sich sein motivisches Material nicht exakt mit dem Material deckt, das von den beiden Themen gestellt wird. Beethoven hat hier Kurzformeln musikalischer Elementareinheiten dazukomponiert, die zusammen mit dem tendenziell auch in seine Einzelmotive zerfallenden thematischen Material erst den Stoff bildet, aus dem das gesamte Werk gemacht ist. In T. 68 nun – also am Ende der Durchführung – setzt ein ganz neues Thema in Des-Dur ein, das motivisch und thematisch mit dem vorangegangenen nichts zu tun hat. Hier erscheint die Antithese weniger strikt und schockierend als in der V. Symphonie. Die Suspension ist kein Fremdkörper, sondern harmonischer in die prozessuale Vermittlung des Gesamtsatzes eingebettet. Bereits im vierten Takt, also in T. 71 des Satzes, drängt sich ein kleines Motiv in den Verlauf, das selbst nicht zu den Hauptthemen gehört, sondern eher einen Überleitungscharakter besitzt. Beethoven verwendet es aber so häufig in diesem Satz, dass es im Nachhinein quasi thematische Qualität gewinnt. Umgekehrt werden die Sextolen, die das Seitenthema ab T. 68 den mittleren Streichern begleiten, in einer leicht veränderten, aber doch wiedererkennbaren Form in die Wiederkehr des Hauptthemas in der Reprise ab T. 80 übernommen. Die Transzendenz der Form bleibt auf subtile Weise zur Form vermittelt – jedenfalls mehr als der in diesem Betracht gröber konzipierten V. Symphonie. Dennoch empfindet man es so, dass die Form hier von sich zurücktritt, gleichsam Luft holt und dem Arbeitsprozess ihrer Konstitution Einhalt geboten wird. Noch einmal: Das meint Adorno, wenn er von »Suspension der Form« spricht. Es heißt, dass die immanente Form durch das, was sie momenthaft transzendiert, nicht durchbrochen oder aufgehoben wird, sondern eben bloß aufgeschoben. Durch den Fremdkörper entsteht nichts Neues, sondern bloß ein Moment der Besinnung der Reflexion. Die Form schließt sich nicht einfach im blinden Vollzug, sondern der Prozess ihrer Produktion (deswegen spricht Adorno von »produzierter Formimmanenz« und von »Transzendenz zur Form«) wird bewusst gemacht und erst in dieser Form eben auch kritisierbar. Eben darin wird für Adorno »die Hoffnung dargestellt«. Ich vermute, dass der Unterschied von Darstellung und Ausdruck der Hoffnung, den Adorno hier macht, sich darauf bezieht, dass hier kein subjektives Ausdrucksmoment hervortritt (etwa ein bestimmter, konventionell festgelegter Charakter eines Themas, einer Formel oder eines musikalischen Phraseologismus, die so etwas wie Hoff19 Wolfram Ette nung oder Sehnsucht ausdrückt), sondern dass es sich eben um eine formale Veranstaltung handelt, in deren innerer Reflexivität die Hoffnung aufgeht, dass die Form doch einmal durchbrochen werden könnte; dass es doch noch einmal anders ausgehen könnte; dass, mit anderen Worten, sich die Gesellschaft, von der Adorno ja zu Beginn der ersten von mir zitierten Stelle spricht, nicht bloß selbst reproduziert, so dass alles beim alten bleibt, sondern dass sie sich qualitativ verändern könnte. III. Diesen Formtypus des mittleren Beethoven, in dem sich die Form durch ihre kritische, reflexive Überschreitung konstituiert, so dass man also tatsächlich nicht von einer Transzendenz der Form, sondern von einer Transzendenz zur Form sprechen muss, identifiziert Adorno nun an einer späteren Stelle des Beethovenbuchs mit einem Denken, das er »Metaphysik der Tragödie« nennt: »Wenn man die mittlere Phase als die Metaphysik der Tragödie ansprechen kann – die Totalität der Negationen als Position, die Bekräftigung dessen was ist in der Wiederkunft als Sinn – so ist die Spätphase Kritik von Tragik als Schein. Dieses Moment aber ist in der mittleren Phase teleologisch bereits angelegt insofern jener Sinn nicht gegenwärtig [ist], sondern durch den Nachdruck der Musik beschworen wird, und eben dies ist die mythische Schicht Beethovens. Zentralstück der Konstruktion.« (BF: 253) Ich möchte zunächst versuchen, den Ausdruck »Metaphysik der Tragödie« etwas zu erläutern. Die Tragödie firmiert hier offenbar nicht als literarische Form, sondern es verhält sich umgekehrt: Die literarische Form ist ihrerseits nur der Niederschlag, nur die Chiffre eines Denkens, das die Wahrheit des Seienden (also das was die Metaphysik auszudrücken beansprucht) eben als »Transzendenz zur Form« als »produzierte Formimmanenz« auffasst. Die Wahrheit, der »Sinn« der empirischen, prozesshaft miteinander verflochtenen Dinge, ist ihre Transzendenz zur Form und ein anderer Ausdruck für diese reflektierte Transzendenz zur Form ist die Metaphysik der Tragödie. Es gibt nun einen Philosophen, der wortwörtlich die Transzendenz zur Form als Quintessenz des tragischen Prozesses – als seinen metaphysischen Sinn – beschrieben hat und zwar auf höchst folgenreiche Weise. Das ist zunächst einmal nicht Hegel, sondern Aristo20 Adornos Musiktheorie der Tragödie teles. Die entscheidende philosophische Operation, mithilfe derer Aristoteles den in den Tragödien dargestellten Prozessen einen metaphysischen Sinn verleiht, besteht darin, dass er sie mit dem Prozess des Wachstums und der Reproduktion von Lebewesen analogisiert. 6 Etwas vereinfacht formuliert: Mit derselben naturgegebenen Unausweichlichkeit, mit der sich aus einer Buchecker eine Buche, und keine Eiche, entwickelt, und die Buchecker zur Form der Buche transzendiert, indem sie zugleich diese Form als eine vorgegebene reproduziert, soll sich nach Aristoteles auch die tragische Handlung entwickeln, die auf ein Ziel zusteuert, dass ihr vorgegeben, wenn auch in vielen Fällen noch nicht sichtbar ist. Das entscheidende Zitat findet sich in Kap. 23 der Poetik: »Was die erzählende und nur in Versen nachahmende Dichtung angeht, so ist folgendes klar: man muß die Fabeln wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann.« 7 Der Vergleich mit einem Lebewesen – einem zoon – ist nicht beiläufig, sondern führt ins Zentrum der Sache. Die physis, hat Heidegger einmal gesagt, ist – aristotelisch gedacht – das Sein. 8 Etwas gemäßigter formuliert: Der Kreislauf des Lebens, in dem – in aller Regel wenigstens – nichts seine ihm durch seine innere Form (das eidos, die morphe) vorherbestimmte Bahn verlässt, ist die privilegierte Explikationsgestalt des aristotelischen Seins. Wenn das nun in Bezug auf die griechische Tragödie stimmen sollte, wären die Folgen verheerend. Denn in der Tragödie würden dem Aristoteles zufolge menschliche Handlungen, die man doch irgendwie mit der Vorstellung von Freiheit und Verantwortung verbindet, dem Prozess der Physis subsumiert; Geschichte würde naturalisiert und die Idee einer offenen, von den Menschen selbst verantworteten Zukunft, in die sie sich durch ihr Handeln entwerfen, wäre bloßer Schein – eine Illusion, die durch die Idee einer »einzigen ganzen und in sich geschlossenen Wolfram Ette: Die Aufhebung der Zeit in das Schicksal. Zur »Poetik« des Aristoteles, Berlin 2003. 7 Arist. Poet. 1459 a 18–21. Zit. n.: Aristoteles: Poetik. Übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Griechisch-deutsch, Stuttgart 1982: 77. 8 Vgl. Martin Heidegger: »Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles, Physik B, 1« (1939), in: Ders.: Wegmarken, Frankfurt a. M. 1978: 237–300, hier 258. 6 21 Wolfram Ette Handlung mit Anfang Mitte und Ende«, also durch die totale »Formimmanenz«, wieder und wieder Lügen gestraft werden würde. Nun ist diese Vorstellung der Tragödie, in der das Geschehen mit quasi naturhafter Notwendigkeit abrollt und eben dadurch die Einheit der Form – d. h. mit Adorno formuliert die »logische Identität« des Prozesses – verbürgt wird, sicherlich nicht ganz falsch und vollkommen absurd: zumindest dann nicht, wenn man sich an den Wortlaut der Tragödien hält. Menschliches Handeln ohne Freiheit, naturalisierte Geschichte: Das ist ein anderer Ausdruck für das, was wir unter Schicksal verstehen (das Wort kommt bei Aristoteles, der den tragischen Prozess nach Kräften zu logifizieren versucht, nicht vor; dafür aber in den Tragödien umso häufiger). Aber Aristoteles vereinseitigt diese Idee so sehr – er entscheidet den Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit, der in jeder Tragödie aufs Neue unter anderen Voraussetzungen und mit offenem Ausgang ausgetragen wird, so eindeutig zugunsten des Schicksals, also der Physis der Handlung, dass das Gesamtbild des tragischen Prozesses, das er entwirft, auf eine groteske Weise verzerrt wird. 9 Bis heute sind Tragödie und Trauerspiel (das nun tatsächlich von der Vorstellung eines totalitär durch alles hindurchregierenden Schicksals bestimmt ist) trübe miteinander vermischt und der Ursprung dieser Vermischung geht zuletzt auf Aristoteles zurück. Das hat auch Folgen für den Begriff der Tragödie im Beethovenbuch. Wenn Adorno in Beethoven von der »Metaphysik der Tragödie« spricht, dann koinzidiert das eben nicht mit dem Geschichtsbewusstsein, von dem das Corpus der tatsächlichen antiken und modernen Tragödien Zeugnis ablegt, sondern mit der Denkform, die Aristoteles in der Poetik den Tragödien übergestülpt hat und die die Auffassung von der Tragödie bis heute bestimmt. Wenn Adorno bestimmte Elemente des beethovenschen Spätwerks als »Kritik von Tragik als Schein« hervorhebt, so fällt der Begriff der Tragik letztlich mit der philosophischen (aristotelischen) Bestimmung der Tragödie zusammen. Für diese Entdifferenzierung spricht nicht zuletzt die Bestimmung der tragischen Denkform selber. Es hieß ja: »die Totalität der Negationen als Position, die Bekräftigung dessen was ist in der Wiederkunft als Sinn«. Was ist damit gemeint? Adorno bezieht sich offensichtlich auf die Logik des musika9 Vgl. Wolfram Ette: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung, Weilerswist 22015. 22 Adornos Musiktheorie der Tragödie lischen Fortschreitens bei Beethoven, das als Negation aufgefasst wird. Den Unterschied von Negation und bloßer Differenz würde ich nun so bestimmen, dass die Negation immer auf ein Gemeinsames, auf eine übergreifende Identität bezogen ist. Während die Differenz ein einfaches zweistelliges Verhältnis artikuliert, stellt sich in der Negation ein dreistelliges Verhältnis dar – zwischen dem Negierten, dem Negierenden der übergreifenden Identität von beiden. Adorno hat an einigen Stellen erläutert, was Negation bei Beethoven musikalisch bedeutet. Er führt dort die Kategorien der »Hemmung« und des »Abbrechens« (BF: 42 f.) ein, und es ist das Ziel dieser spezifischen Verfahrensweisen, den musikalischen Prozess unablässig weiterzutreiben, keinen Stillstand zuzulassen und durch die wechselseitige Negation aller Einzelmomente ihre Aufhebung durch das Ganze des Werks herbeizuführen. In dieser Bestimmung treffen die »Metaphysik der Tragödie«, die Adorno dem mittleren Beethoven zuschreibt und die hegelsche Dialektik zusammen: Denn diese Dialektik ist ja prozessuale Entfaltung durch Negation und zumindest in der Form, in der sie Adorno bei Hegel vor Augen steht, ist diese prozessuale Entfaltung durch Negation zugleich eine, in der sich keine offene oder neue Zukunft auftut, sondern eine, die auf ein von vornherein festgelegtes Ziel bezogen ist – ein Ziel, das selbst nichts anderes ist als der verwirklichte, vollständig vermittelte, sich selbst begründende und durchartikulierte Anfang – eine geschlossene Form also; und es ist eben dies das teleologische, will sagen: aristotelische Erbe in Hegel, von dem er sich – wenigstens was das Ganze des dialektischen Prozesses betrifft – nicht emanzipiert hat. Der dialektische Gesamtprozess (so muss man wohl sagen) ist wie die Tragödie bei Aristoteles eine einzige ganze und in sich geschlossene Handlung. Damit ist die tragische Dialektik, von der die Werke des mittleren Beethoven ein ästhetisches Abbild geben, eine reflektierte »Transzendenz zur Form«. Das, was sich im Verlauf des musikalisch-tragischdialektischen Prozesses ändert, ist nicht seine inhaltliche Bestimmtheit, also nicht das Verhältnis von Ursprung und Ziel, Anfang und Ende, sondern der Grad seiner Bewusstheit. Er wird nicht einfach vollzogen: Das ›Schicksal eines Themas‹ wird zum begriffenen Schicksal, wie es Hegel zufolge in der antiken Tragödie dargestellt wird. 10 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II/1: Die bestimmte Religion, Hamburg 1974: 155. 23