In: Widerspruch Nr. 41 Anstoß Adorno (2003), S. 27

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In: Widerspruch Nr. 41 Anstoß Adorno (2003), S. 27-38
Autor: Roger Behrens
Artikel
Roger Behrens
Antisystem. Drei Stichpunkte zur
kritischen Theorie der Gesellschaft*
I. So oder so
Die Kritische Theorie diagnostiziert, dass diese Welt alles andere als die
beste aller möglichen Welten ist. Sie beschreibt die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung als total verwaltete Welt, als universellen Verblendungszusammenhang. Die Kritik fällt radikal aus, weil es ihr nicht um
Reformen oder Korrekturen der herrschenden Verhältnisse geht, sondern letztlich um eine fundamentale Kritik, die auf die Abschaffung, also
Aufhebung und Umwälzung dieser Verhältnisse zielt. Es scheint, gelinde
gesagt, das Paradox zu sein, das der Kritischen Theorie, insbesondere
Adorno, angehängt wird: Je grundsätzlicher und beunruhigender sie in
ihrer Diagnose wird, desto lauter gebärdet sich der Einwand, dass mitnichten die Welt so schlimm sei. Im Gegenteil, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, scheint unsere Welt gerade heute weitgehend mit
humanen Errungenschaften und kulturellen Verbesserungen gesegnet zu
sein. Dieser andere Standpunkt will übrigens weniger überheblich, verbissen oder pessimistisch die Sache sehen. Freilich ist ohne Weiteres
zuzugeben, dass es gerade denjenigen, die sich heute noch den Luxus
erlauben können, in theoretischer Distanz zur Welt zu treten, nicht
schlecht geht. Und wer es doch nicht so gut hat, wird zum Kollateralschaden der Zivilisation erklärt: ‚tendenziell‘ gehe es auch den Hungernden heute besser als früher.
Dass es gegenwärtig gerade im Bereich der Unterhaltung die vielfältigsten Möglichkeiten gibt, sich genussvoll, lustig und eigentlich auf allen
erdenklichen Niveaus die Zeit zu vertreiben, die man nicht hat, ist auch
Behrens: Antisystem
nicht von der Hand zu weisen: Tanzen, Fernsehen, für Freunde Kochen,
in die Kneipe gehen etc. macht Spaß und hat natürlich den Nebeneffekt,
sich ein wenig über die alltägliche Trostlosigkeit zu erheben. Was ist also
der Punkt? Liegt Adorno, der die Produkte der Kulturindustrie für
Schund hielt, deshalb falsch, weil man auf Konsumenten vertraut, die
sich ihr Leben mit eben diesen Produkten zufrieden eingerichtet haben?
Hat Adorno Unrecht mit seinem Befund eines zwar demokratisch organisierten, in der Freiheit der Einzelnen allerdings höchst kontrollierten
Systems alles durchdringender Herrschaftsverhältnisse, weil gewisse
Leute die für sie vorgesehenen Lücken finden, in denen sie den Anschein
von Freiheit und Selbstbestimmung praktizieren dürfen? Und dann – so
der neueste, fast empörte Einwurf anlässlich der aktuellen Biografisierungen des „Meisterdenkers“ (Titelseite: ‚Die Zeit‘ vom 3.9.2003) – habe
der streitbare Philosoph selbst noch nicht einmal nach den vermeintlichen Maßstäben seiner Kritik gelebt, sei statt dessen fremdgegangen,
habe statt Schund den Luxus bevorzugt und versuchte gar, es sich gut
gehen lassen, machte schöne Reisen und dergleichen!
Solche Beanstandung, die sich in der Regel pedantisch und gelehrt gibt,
will Adorno Fehler in seiner kritischen Theorie nachweisen, will schließlich die kritische Theorie der Gesellschaft als Makel Adornos deklarieren
und sie ihm wie ein philosophisches Versehen austreiben. Es gehe gar
nicht gegen Adorno, sondern mit ihm! Erst der in der Konsequenz vollständig von der Gesellschaftskritik gesäuberte Adorno kann dann zu den
Akten gelegt werden, darf – vor allem heute, wenn Adorno in der Berliner Republik der Neuen Mitte einhundert geworden wäre – im akademischen Diskurs weiterhin den Kulturkritiker geben und fungiert in den
Feuilletons von ‚TAZ' und ‚FAZ' als das auf Konsens getrimmte Gewissen der Nation. Die Aussöhnung mit der Kritischen Theorie, die mittlerweile auch Neokonservative und Neue Rechte betreiben, funktioniert
zu eben genau den Konditionen, von denen sie sich vehement distanzierte: Adornos Beitrag wird zur Kulturkritik degradiert, um ihm dann zu
attestieren, dass er keine Ahnung hatte, zum Beispiel vom Jazz und vom
Fernsehen. Die hatte er auch nicht; nur ist es für das, worum es Adorno
ging, etwa in seiner Jazzkritik, irrelevant und egal. Zudem spricht in den
Kritteleien an Adorno immer auch der beleidigte Bildungsbürger, der
Behrens: Antisystem
sich im Feuilleton zum Anwalt der Angestellten machen will: wenn es
ihm „um die Sache“ geht, geht es immer um Moral, eigentlich nie um die
Sache. Adornos Befund vom universellen Verblendungszusammenhang
ist jedenfalls kein moralischer und ist auch nicht als ein solcher umzudeuten. Das ist nur möglich, wenn systematisch ausgeblendet wird, was
das Kritische an der Kritischen Theorie ist und damit das Fundament
der Philosophie Adornos:
dass es ihr eben explizit nicht um Kultur-, sondern Gesellschaftskritik
geht, in die eine Beschäftigung mit der Kultur allerdings als Ideologiekritik eingebettet ist;
dass es ihr um die Bedingungen von Kritik selbst geht, und damit auch
um die Frage nach Theorie und Praxis gleichermaßen;
dass es ihr um eine Gesellschaft geht, deren immanenter Strukturzusammenhang - die kapitalistische Verwertungslogik - verborgen, d. h.
verblendet und fetischistisch verzerrt ist, und Theorie daher keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit hat;
dass es ihr vor allem aber um die zentrale philosophische Frage der
Neuzeit geht, was nämlich der Mensch sei, und zwar angesichts von
Verhältnissen, die das Menschsein einerseits in ihrer Entwicklung behindern und sogar existenziell bedrohen, andererseits seine Möglichkeiten
erweitern, ohne dass darüber hinaus der Mensch an sich ontologisch
bestimmbar wäre, außer eben in seiner nicht-festgelegten Potenzialität
und perfektiblen Universalität.
Kritische Theorie operiert so am Grundwiderspruch der Ideologie: sie
ist dialektisch als falsches Bewusstsein möglicher richtiger Zustände und
richtiges Bewusstsein der falschen Zustände zugleich bestimmt. In solchen Figurationen ist indes die Architektur der Kritischen Theorie zu
entschlüsseln. Entscheidend ist einmal mehr die dialektische Grundfigur
rettender Kritik: sie kristallisiert sich in der Idee, dass Kritik nur im Bewusstsein der Widersprüche denkbar ist, dass die Konzepte nicht einseitig oder positivistisch von ihren Widersprüchen bereinigt werden können, sondern dass sie durch die Widersprüche überhaupt erst geformt
werden. In dieser Weise ist im Übrigen der Entwurf einer negativen
Dialektik als Dialektik der bestimmten Negation zu verstehen; und dies
Behrens: Antisystem
ist zugleich ihr materialistisches Motiv. Wenn Marx sagte, die Philosophie könne nur aufgehoben werden, wenn sie verwirklicht wird, und
Adorno für das 20. Jahrhundert konstatierte, dass diese Verwirklichung
misslang, dann sind zwei Deutungen möglich.
Entweder meint das Misslingen der Verwirklichung, dass die Verwirklichung gar nicht stattfand, und die Einlösung des Marxschen Diktums
noch aussteht. Das aber hieße konsequent, dass die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, zu Marx‘ Zeiten, steckengeblieben ist, ohne dialektische Bewegung. Dazu gehören Vorstellungen
wie die von den starren Formationen der Klassengesellschaft oder der
aktionistische Schematismus sozialistischer Gruppen, aber auch die spätbürgerliche, popdiskursive Kapitulation vorm Kapitalverhältnis.
Oder das Misslingen der Verwirklichung meint, die Verwirklichung habe stattgefunden, aber eben falsch, fehlgeschlagen. Dies formuliert eine
Position der Aufhebung der Philosophie, die sich aber nur negativ und
retrospektiv auf das Misslingen gründet, - sie ist der Ort der Kritischen
Theorie Adornos, und in ihrem Rückblick aufs 19. Jahrhundert übrigens
mit wichtigen Parallelen zum Konzept einer Dialektik im Stillstand wie
sie Walter Benjamin diagnostizierte.
Sie ist auch die Position, von der aus sich das systematische Antisystem
entfaltet, das dann in die ‚Negative Dialektik‘ mündet. Hier wird deutlich,
inwiefern die einzelnen Momente der kritischen Theorie Adornos selbst
dialektisch ineinander greifen, und zwar vom Punkt der misslungenen
Aufhebung der Philosophie aus, mit der ja immer Hegels philosophisches System gemeint ist. Von hier aus greifen die philosophischen Probleme von Totalität und Identität, Subjekt und Objekt mit den ästhetischen Fragen von Mimesis, Authentizität, Wahrheitsgehalt ebenso ineinander wie mit den soziologischen und psychologischen Analysen des
Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum, von Bewusstsein und
Unbewusstem.
II. Verbindlichkeit ohne System
Als Antisystem ist die Komplexion der Begriffe in der Kritischen Theorie auch insofern zu verstehen, als alle positiven Kategorien systematischen
Behrens: Antisystem
Philosophierens nur noch negativ bestimmbar sind; und das betrifft
schließlich die Konstruktion des systematischen Philosophierens selbst.
Antisystem ist die letzte Philosophie dort, wo sie als System versagt,
verstummt: der Entwurf einer negativen Dialektik korrespondiert nicht
nur methodisch, sondern auch strukturell mit der negativen Totalität der
Gesellschaft, mit der Begriffslogik des Nichtidentischen und vor allem
mit der negativen - d. h. bilderlosen - Utopie sowie der negativen Ästhetik. Die negative Dialektik der Kunst überspannt und durchzieht das
gesamte Antisystem, weil in der Kunst die negative Dialektik des Antisystems selbst zum Ausdruck kommt. Denn einerseits ist Kunst die
adäquate Sprache der Negation, ist die durch Kunst vermittelte Erfahrung negativ-negierend und Kunst also sozusagen die Waffe der Kritik
als Erkenntnis; andererseits kristallisiert sich in ihr die negative Totalität,
die negative Erkenntnis von der Negation der Kunst. Genau diese Figur
bezeichnet die Dialektik des Verstummens. Sie ist exemplarisch im Antisystem selbst zu fassen, im deutlichen Kontrast zu den großen Systemen
der Philosophie Kants und Hegels: Wo Kant nach den Bedingungen der
Möglichkeit von Erkenntnis fragt, geht es Adorno um die Bedingungen,
die Erkenntnis verhindern; und wo Hegel den Stufenweg des Selbstbewusstseins beschreibt, versucht Adorno herauszufinden, warum dieser Weg am
Selbst vorbei in die Unmündigkeit führt.
Antisystem impliziert darüber hinaus die materialistische Wendung des
idealistischen Systems: „Die vom Hegelschen System begriffene Welt hat
sich buchstäblich als System, nämlich das einer radikal vergesellschafteten Gesellschaft, erst heute, nach hundertfünfundzwanzig Jahren, satanisch bewiesen.“ (GS Bd. 5, 273) Zugleich aber bleibt der Gegenentwurf
des Antisystems geschichtlich vermittelt, und nicht zuletzt deshalb konzentriert Adorno sich in der ‚Negativen Dialektik‘ auf das letzte philosophische System, die Fundamentalontologie Heideggers. Zu dessen Daseinsanalyse bildet Adornos Antisystem den diametralen Gegenpol: während Heidegger nach dem Sinn des Seins fragt, richtet sich Adornos
Augenmerk darauf, überhaupt erst Sinn in die Welt zu bringen. Und
insofern umkreist Adorno Heideggers Ontologie mit den beiden Tabus
dessen Seinslehre, nämlich der Dialektik und der Utopie: „Angesichts der
konkreten Möglichkeit von Utopie“, heißt es in der ‚Negativen Dialektik‘, „ist Dialektik die Ontologie des falschen Zustands. Von ihr wäre ein
richtiger befreit, System so wenig wie Widerspruch“ (GS Bd. 6, 22).
Behrens: Antisystem
Zudem ist das Antisystem systematisch, indem es durch das Fragment
hindurch der Totalität habhaft zu werden versucht; es ist nicht beliebig,
sondern verbindlich. Seine Struktur ist eine der bestimmten Vermittlung:
Modellanalysen als ein Denken in Konstellationen. Deswegen kann Adorno
bisweilen etwas apodiktisch formulieren, ohne Dogmatik und Programmatik: „Theorie ist unabdingbar kritisch“ (GS Bd. 8, 197). Also ist Theorie immer schon kritische Theorie; das Verhältnis von kritischer Theorie
und Kunst ist eines der Wahlverwandtschaft; und kritische Theorie ist
ästhetische Theorie. Ästhetische Theorie ist daher sowohl eine Theorie
der Ästhetik als auch eine nach ästhetischen Aspekten strukturierte Theorie. Da Kunst ästhetische Praxis ist, ist kritische Theorie als kritische
auch Praxis. Und so weiter. In der ‚Vorlesung über Negative Dialektik‘
heißt es „thetisch ganz allgemein“, „dass die negative Dialektik ... mit
einer kritischen Theorie im Wesentlichen dasselbe ist. Ich würde denken,
die beiden Termini Kritische Theorie und Negative Dialektik bezeichnen
das Gleiche.“ (VND, 36f.) Und Adorno setzt hinzu: „Vielleicht, um
exakt zu sein, mit dem einen Unterschied, dass Kritische Theorie ja eben
wirklich nur die subjektive Seite des Denkens, also eben die Theorie
bezeichnet, während Negative Dialektik nicht nur dies Moment angibt,
sondern ebenso auch die Realität, die davon getroffen wird.“ (VND, 37)
Wenn Adorno hier von „Realität“ spricht, so verweist dies auf den
Doppelcharakter des Systems, das eben nicht nur das philosophische Denken bezeichnet, sondern auch den Strukturzusammenhang der sozialen
Wirklichkeit selbst. Gleichwohl sind diese beiden Systembegriffe oder
eben Systemrealitäten miteinander vermittelt: das Antisystem der Negativen Dialektik ergibt sich sozusagen aus der negativen Dialektik der Gesellschaft. Was bei Adorno sich philosophisch-kritisch um den Komplex
einer Logik der Identität gruppiert, zielt gesellschaftskritisch auf die Analyse der Logik des Tausches. Sie ist die instrumentelle, verdinglichte
Praxis des identifizierenden, verdinglichten Denkens: „Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er
wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und
Behrens: Antisystem
Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips
verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität.“ (GS Bd. 6, 149)
Die vermittelte Einheit von Totalität und Fragment bestimmt auch die
durch den Tausch definierte Gesellschaft. Die Totalität ist nicht durch
unmittelbares Miteinander, sondern durch das abstrakte Tauschverhältnis wesentlich gebannt, das als abstraktes Verhältnis den menschlichen
Beziehungen allerdings äußerlich bleibt: sie halten sich an die falsche Unmittelbarkeit, an das Pseudokonkrete der alltäglichen Beziehungen. Insofern ist ihre Vergesellschaftung die von Produzenten und Konsumenten,
nicht aber die von Menschen. Nur kraft dieses entfremdeten Selbstbezugs können wir überhaupt die Einheit herstellen, die wir als sinnvolle
soziale Totalität wahrnehmen, und die sich zudem durch Trennungsmechanismen wie Klassenwidersprüche, Herrschaft oder Selbstkontrolle
erst konstituiert. Sie konstituiert sich so in der Dialektik von Integration
und Desintegration, die sich bis zum faschistischen Terror verschärfen
kann, die aber auch durch demokratische Selbstregulationen der Subjekte
aufgefangen werden kann. Sie strukturiert so die „Systematik der bürgerlichen Gesellschaft“ und drückt sich zugleich in der radikalen Dialektik
aus, die Adorno mit Marx erläutert, „dass sich in dieser Gesellschaft
immer größere Missverhältnisse, nämlich rein vom Ökonomischen her
Disproportionen zwischen den einzelnen Sektoren herausbilden und
durch sie schließlich das ganze System gesprengt werden muss. Nach
dieser Theorie ... beinhaltet das Gesetz des Systems den Untergang des
Systems und nicht dessen Bestätigung oder Selbsterhaltung. Man kann
dementsprechend das Marxische System ein negatives oder ein kritisches
System nennen, eine durchaus kritische Theorie.“ (PT Bd. 2, 262)
Im Antisystem kristallisiert sich indes die Grundfigur der Philosophie
Adornos, nach der das Ganze das Unwahre ist: „Die Welt ist zwar ein
System, aber sie ist das System, das den Menschen heteronom auferlegt
ist als ein ihnen fremdes; sie ist ein System als Schein und hat nichts mit
ihrer Freiheit zu tun. Das ist ein System als Ideologie, und das Ganze,
das bei Hegel die Wahrheit sein soll, das wäre innerhalb der Marxischen
Theorie ein Unwahres.“ (PT Bd. 2, 262 f.)
Behrens: Antisystem
III. Antisystem und Gesellschaft
Eingebettet ist die Philosophie als Antisystem in die kritische Theorie der
Gesellschaft. Marx hat sie bekanntlich als ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ begründet, die darstellt, inwieweit die Produktionsverhältnisse,
Produktivkräfte und überhaupt die allgemeine Struktur der Produktion
den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang bestimmen. Was sich auf
abstrakter Ebene als Wertvergesellschaftung ubiquitärer Tauschbeziehungen darstellt, geriert sich im konkreten Leben der Menschen als ihr
verdinglichtes und entfremdetes Verhältnis zueinander und definiert
zugleich ihre Stellung im Produktionsprozess. Ihre menschlichen Interessen konvergieren mit den ökonomischen, den beruflichen und finanziellen; und insofern die wirtschaftlichen Bindungen zum subjektiven
Schicksal werden, treten die Menschen sich objektiv als Klassen gegenüber, d.h. in unterschiedlicher Abstufung, was die Verfügung über und
den Besitz an Produktionsmitteln angeht. Dass im Kapitalismus der
gesellschaftliche Zusammenhang insgesamt als Äquivalententausch wie
ein menschliches Naturverhältnis funktioniert, ist die erste und letzte
Ideologie, mit der die kulminierenden, sich in der Krise des Systems
zuspitzenden Widersprüche kaschiert werden sollen.
Solche Ideologie als falsches Bewusstsein oder richtiges Bewusstsein
der falschen Zustände, dem Marx und Engels einmal das Bild der ‚camera obscura‘ gaben, formiert sich nach materialistischer Lehre in der Dynamik eines Überbaus, der von der ökonomischen Basis abhängig bleibt.
Gerade weil aber das gesellschaftliche Sein auch das individuelle Bewusstsein bestimmt, tangieren die Widersprüche nicht nur die Auseinandersetzungen und Spannungen der sozialen Klassen, sondern auch die
Individuen selbst. In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entfalten sich Individualitäten zunehmend isoliert; Individuation wird zum
Prozess der Desintegration. Zugleich gelingt die gesellschaftliche Integration vermittels der scheinbar vom ‚realen Leben‘ entkoppelten Sphäre
der Kultur. Sowohl die Dialektik des Individuums wie auch die Dialektik
der Kultur erscheinen als der Kitt, der das kapitalistische Gewaltverhältnis zeitweise und scheinbar befriedet oder ausblendet. Und dennoch
verlängert sich in der Struktur des Individuums wie in der Dynamik der
Kultur die Verwertungslogik der kapitalistischen Ökonomie, und zum
Idealbild des Individuums wird der mündige Bürger als Unternehmer.
Behrens: Antisystem
Deshalb nennen Adorno und Horkheimer in der ‚Dialektik der Aufklärung‘ das Individuum einen „psychologischen Kleinbetrieb“, die „unermüdliche Verwirklichung des Idealtyps homo oeconomicus“ (GS Bd. 3,
229). Die Widersprüche indes entfalten sich in den Subjekten in nachgerade derselben Gewalt, mit der sie sich gesamtgesellschaftlich und heute
global als Geschichte durchsetzen. In ‚Zum Verhältnis von Soziologie
und Psychologie‘ benennt Adorno diese dialektische Verkettung der
Antagonismen: „Die Ungleichzeitigkeit von Unbewusstem und Bewusstem ist selbst ein Stigma der widerspruchsvollen gesellschaftlichen Entwicklung. Im Unbewussten sedimentiert sich, was immer im Subjekt
nicht mitkommt, was die Zeche von Fortschritt und Aufklärung zu zahlen hat.“ (GS Bd. 8, 61) Und wie sich im Individuum die Dynamik von
Bewusstem und Unbewussten psychisch manifestiert, geriert sich dieselbe Dynamik sozial als Kultur. Freud hat das mit dem Unbehagen beschrieben; und Adorno korrigiert in diesem Sinne Marx: „Bei zunehmender Integration verliert die Basis-Überbau-Relation ihre alte Schärfe.
Je mehr die Subjekte von der Gesellschaft erfasst, je mehr sie vom System bestimmt und je vollständiger sie determiniert werden, um so mehr
erhält sich das System nicht einfach durch Zwangsanwendung den Subjekten gegenüber, sondern auch durch die Subjekte hindurch.“ (EIS, 253
f.)
Der durch den Tausch vermittelte Zusammenhalt der Gesellschaft
kulminiert in dem universellen Verblendungszusammenhang, der nicht
von außen die Menschen unterwirft, sondern der zu einem Mechanismus
der subjektiven Selbsterhaltung vollends zu werden droht. „Immer enger
werden die Maschen des Ganzen nach dem Modell des Tauschakts geknüpft. Es lässt dem einzelnen Bewusstsein immer weniger Ausweichraum, präformiert es immer gründlicher, schneidet ihm a priori gleichsam
die Möglichkeit der Differenz ab, die zur Nuance im Einerlei des Angebots verkommt. Zugleich macht der Schein der Freiheit die Besinnung
auf die eigene Unfreiheit unvergleichlich viel schwerer, als sie im Widerspruch zur offenen Unfreiheit war, und verstärkt so die Abhängigkeit.“
(GS Bd. 10/1, 13) Die Wirklichkeit selbst kippt ideologisch in den Idealismus zurück, indem die Menschen glauben, dass die Welt, so wie sie ist,
von ihnen gemacht wurde, und dass die Welt, so wie sie ist, prinzipiell
Behrens: Antisystem
ihr Glück befördert. Der Fetischcharakter der Ware ist zur Charaktermaske des Individuums geworden; Kritik des Verblendungszusammenhangs heißt daher nicht Kulturkritik, sondern Kritik der kapitalistischen
Verwertungslogik. „Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden
des Denkens will, dass das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute
bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch.
Hat ihn die kritische Theorie als den von Gleichem und doch Ungleichem enthüllt, so zielt die Kritik der Ungleichheit in der Gleichheit auch
auf Gleichheit, bei aller Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das nichts qualitativ Verschiedenes toleriert. Würde keinem
Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre
rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus.“ (GS Bd. 6, 150) Zwar konstituiert sich der
Verblendungszusammenhang als universeller, doch bleibt jedes seiner
Momente, dialektisch, Bedingung seiner Aufhebung; darauf rekurriert
das Antisystem.
Die Abhängigkeit der Menschen von der Produktionsordnung kann nur
durch Aufhebung der Produktionsordnung aufgehoben werden. Dies
setzt voraus, „dass die gesamten Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft, für die hier die Produktivität im Sinn des Tauschprinzips einsteht,
also mit anderen Worten, das gesamte System, ... nicht etwa ein System
des Absoluten oder der Wahrheit sein soll.“ (PT Bd. 2, 276) So zeigt
sich, wie Adorno weiter erläutert, „dass hinter dem Marxschen Begriff
der Produktivität eine Vorstellung steht, die nun doch über den Begriff
der bloßen materiellen Produktion weit hinausgeht.“ (PT Bd. 2, 276) Sie
ist insofern für das Antisystem einer kritischen Theorie der Gesellschaft
zentral, weil das, was das Gefüge im Innersten zusammenhält, zugleich
zum Hebel der Kritik wird, mit dem dieses Gefüge in eine neue, emanzipierte Ordnung gebracht werden kann: Die Produktivität wird zum
Schlüssel dessen, was sie unter gegebenen Bedingungen zugleich verstellt: die menschliche Praxis. In diesem Sinne nennt Adorno wirkliche
Produktivität „die Fähigkeit zum nicht schon Dagewesenen“ (GS Bd.
10/2, 651). Schon mit Marx ist der Aspekt am Begriff der Produktivität
hervorzuheben, der „nicht rein ins Subjekt, will sagen, in menschliche
Arbeit aufzulösen ist“ (PT Bd. 2, 268). Antisystemisch-systematisch
Behrens: Antisystem
meint deshalb, den Begriff der Produktivität „nicht wieder in das Identitätsdenken herein[zu]ziehen“ (PT Bd. 2, 268).
In solcher fast utopischen Perspektive ist wiederum die Kernproblematik der kritischen Theorie Adornos berührt, die in der Dialektik gründet,
dass einerseits die Bedingungen eines befriedetes Daseins für alle Menschen hier und heute gegeben sind, und die Einrichtung menschlicher
Zustände nicht einmal schwerwiegenden Verzicht bedeutete; dass andererseits jedoch die Menschen einen Großteil ihrer Kraft und ihres Vermögens darauf konzentrieren, dass alles so bleibt, wie es ist, und sich
nichts Wesentliches ändert. In der Kritischen Theorie selbst sind diese
beiden Pole im Antisystem nur kraft ihrer reflektierten Vermittlung zu
begreifen. Die ästhetische Theorie ist ein Moment der kritischen Theorie
der Gesellschaft, und die kritische Theorie der Gesellschaft kristallisiert
sich in der Analyse der Kulturindustrie. Kunst, auf die ästhetische Theorie sich richtet, und an der sie versucht, den Erkenntnischarakter freizulegen, ist heute gleichsam ein Moment der Kulturindustrie. Weder die
Kunst noch die Kritische Theorie selbst verfügen über eine Position
außerhalb des Systems; wohl aber bleibt kritischer Praxis die Option, den
Gewaltzusammenhang des Systems – sei's durch Kunst, sei's durch Theorie – zu durchbrechen: erst in der Rekonstruktion des Antisystems
ergibt sich die Möglichkeit verändernder Praxis, die sich nach keinem
Sachzwang, nach keiner realpolitischen Notwendigkeit und Dringlichkeit
sozialer Krisenintervention richten muss. Solange aber bleibt, nach Adornos Wort, „Praxis auf unabsehbare Zeit vertagt“, ist „nicht mehr die
Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation.“ (GS Bd. 6; 15)
Praxis bleibt vorerst der kritische Gedanke, nicht weniger. Denn: „Das
Ziel richtiger Praxis wäre ihre eigene Abschaffung ... Fällige Praxis wäre
allein die Anstrengung, aus der Barbarei sich herauszuarbeiten.“ (GS Bd.
10/2, 769) Hier ist die Nuancierung entscheidend: Ist Praxis, die kritischtheoretisch begründet ist, verstellt, so wäre es gleichsam zynisch und
Hohn, sich auf Theorie zurückzuziehen und Praxis da zu verweigern, wo
die Dringlichkeit der Lage sie erfordert. Daran vermag auch das Antisystem nicht zu rütteln. Wohl aber ist es radikale Bedingung dafür, sich dem
Sachzwang nicht blind und unreflektiert zu unterwerfen, weder theore-
Behrens: Antisystem
tisch noch praktisch zu kapitulieren. Das meint Kritische Theorie als
Haltung.
Siglen:
EIS: Th.W. Adorno, Einleitung in die Soziologie. Nachgel. Schriften, Abt. IV,
Bd. 16, hg. vom ThW. Adorno-Archiv und von Chr. Gödde, Frankfurt/Main
1993.
GS: Th.W. Adorno, Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, hg. von R. Tiedemann, unter Mitwirkung von Gretel Adorno, S. Buck-Morss und K. Schultz,
Frankfurt/Main 1997.
PT Bd. 2: Th.W. Adorno, Philosophische Terminologie Bd. 2, Frankfurt/Main
1974.
VND: Th.W. Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik. Nachgel. Schriften,
Abt. IV: Vorlesungen Bd. 16, hg. vom Th.W. Adorno-Archiv und von R. Tiedemann, Frankfurt/Main 2003.
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