In: Widerspruch Nr. 41 Anstoß Adorno (2003), S. 29-48 Autorin: Michaela Homolka Artikel Michaela Homolka Nach Adorno. Zum Aspekt des Räumlichen Die beiden kategorischen Imperative von Adornos Philosophie, das Rimbaud’sche: Il faut être absoluement moderne1 und, dass sich Auschwitz nicht wiederholen darf, sind mit der radikalen Absage an Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft aufeinander beziehbar und damit explizit historisch. Erst wenn uns dies geschichtsphilosophische Katapult: die explizite Forderung nach einem Denken auf der Höhe der Zeit heute noch etwas bedeutet, ist auch die Frage nach Adornos Aktualität berechtigt (und schon bejaht). Während Adorno ehemals der Wahrheit einen Zeitkern zuschrieb und Chronos somit eine hervorragende Stellung einräumte, wird Zeit heute vorwiegend im Problembereich von Be- und Entschleunigung diskutiert und problematisiert also einem räumlichen Kontext beigeordnet (Geschwindigkeit = Weg/Zeit). Die Debatte über die Zeit ist als Synchronisierungsproblem, das die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beschreibt, in die Thematik von Globalisierung eingegangen. Für Adorno bestand solche Gleichzeitigkeit im nicht eingelösten Versprechen: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“2 Heutige Beispiele für dies Problem sind vor allem die angebliche Rückständigkeit peripherer Gebiete gegenüber den Zentren, so die Ränder der Städte im Verhältnis zu deren Mittelpunkten, die Ränder Europas bezogen auf seine Metropolen, die Grenzen der zivilisierten Welt verglichen mit deren Kernbe1 Th.W. Adorno, Wozu noch Philosophie? In: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 10/2, Frankfurt/Main 1997, S. 473. 2 Th.W. Adorno, Negative Dialektik. In: GS Bd. 6, S. 15 Homolka: Nach Adorno reichen. Die Synchronisierungsdebatte bestimmt ebenso den Bereich der Medien: Die Beschleunigung der Informationsübertragung auf den Datenautobahnen des Internets lässt die Welt zum so genannten globalen Dorf schrumpfen. Damit wäre der Zeitbegriff in eine Kategorie des quasi selbst im Verschwinden begriffenen Raumes übergegangen. Offensichtlich führt die Relation unseres Empfindens von Raum und Zeit einen geschichtlichen Index mit sich. Komplementär zur altmodischen Vorstellung von Zeiträumen ist hier die neue Raumzeit installiert. (Raum und Zeit funktionieren anders als Apfelstrudel und Strudelapfel oder Erdöl und Ölerd: Sie sind nach einem dialektischen terminus technicus wechselseitig ineinander vermittelt.) Sie greift in unser Raum- und Zeitgefühl ein und verändert es virtuell nicht nur im Cyberspace. Der Tendenz zum Primat des Raumes entspricht auf wirtschaftlichem Gebiet der neuere Slogan „Raum ist Geld“, dem der alte „Zeit ist Geld“ gewichen ist. Und bald wird auch der Raum verschwunden sein und das Geld übrig bleiben. Heute wie zu Adornos Zeit führen die Abstraktionen ein beachtliches Quantum Leid mit sich, so ist die Zeit der Arbeitslosen fortan wertlos; und durch jüngste US-amerikanische Expansion wurde ein Raum erobert, der Geld ist, der mit Menschenlebenszeit bezahlt ist. Selbst Adornos Lieblingsbereich, die avantgardistische Musik neigt sich der Seite des Raumes zu und beschäftigt sich mit Synchronisierungsproblemen: Karlheinz Stockhausens Helikopter-Streichquartett, seiner astronomischen Intention entsprechend allen Astronauten gewidmet, besteht aus Aufstieg – Flug – Formation – Abstieg – Landung. Die vier Musiker fliegen simultan in vier Hubschraubern so weit vom Auditorium entfernt, dass sie gesehen, aber nicht gehört werden können. Der Lärm der Rotoren soll die Darbietung nicht stören. Sie stehen über zwölf Mikrofone und Kopfhörer mit der Rotation ihrer Helikopter, den Piloten, einer Bodenstation und untereinander in Beziehung. Die polyphone und Takt für Takt gefügte Komposition ist selbst vom Fluggeräusch inspiriert und sieht zusätzlich durch Tremoli und Stakkati die Berücksichtigung der wechselnden Geschwindigkeit und Intensität der Rotoren vor. Am Mischpult werden Flug- und Streichergeräusche ausbalanciert und mit Lautsprechern zum Publikum übertragen. Fernsehkameras senden die Bilder der Spieler für das Publikum direkt auf vier Monitore. Nach dem Homolka: Nach Adorno Kommentar des Komponisten könnten nun auch Musiker auf unterschiedlichen Planeten miteinander spielen. Ein anderes spektakuläres Beispiel für die Entfaltung des Raumes in der zeitgenössischen Komposition ist das elektrische Singspiel: suchmaschinen im lichtleeren meer von Berkan Karpat und Klaus Schedl. Bei einer futuristisch anmutenden Klanginstallation, die das Zentrum der Aufführung bildet, stehen während der Aufführung fünf mit Einzelkabinen ausgestattete Taxis bereit, in die jeweils eine Sängerin und zwei Personen aus dem Publikum einsteigen und durch die Stadt fahren. Alle Taxis sind mit der zentralen Klanginstallation und den dortigen Sängerinnen über Funk gekoppelt. Die taxifahrenden Zuhörer entsteigen gänzlich desorientiert ihren Kabinen an einem anderen Ort dem Taxi wie einem Traum. Durch den wahrlich sirenenartigen Gesang und die Fahrt in der nur schemenhaft erkennbaren, fremd gewordene Stadt wird dem vereinzelten Publikum die archetypische Erfahrung eines Innenraumes gewährt. Entfaltet Stockhausen seine Idee des Raumes als ein machtvolles und nahezu beliebig erweiterbares Konzept, dessen Innenräume ebenso zur Waffe wie zum Musikinstrument und Transportmittel taugen, so wird der Außenraum von Schedl und Karpat futuristisch verfremdet und die Taxis als Vehikel der künstlichen Höhle zum Negativ. Negative Dialektik des Raumes War Adorno zu seiner Zeit geradezu verhängnisvoll aktuell, so steht die Frage von Adornos heutiger Aktualität, nach dem vielfach proklamierten Ende der Geschichte, eindeutig unter der Verschiebung von der Zeitthematik zum Raum. Und so lautet die Frage: Wie hält es Adorno, der doch vor allem als geschichtsphilosophischer Denker gilt, mit dem Raum? Gemeinhin werden mit einem räumlichen Denken Okkupation und Expansion assoziiert, Machtfaktoren, für die Adorno ein voll ausgebildetes, von Nietzsche ererbtes Sensorium besitzt. Negativ, wie seine Dialektik sind auch Adornos Orte. Daran weist sein ansonsten, asystematisches, dem Aphorismus und Essay zugeneigtes Denken eine große Stringenz auf: Allen diesen Orten voran steht die Utopie, der ou-topos oder Nichtort oder Noch-Nicht-Ort, der für alles, was Adorno kritisiert, den – zu gut – verwahrten und von Nietzsche Homolka: Nach Adorno inspirierten Subtext einer Logik des Überflusses und des Schenkens bereithält. Gefolgt vom Abgrund, jenem unmöglichen und daher nach unten beschleunigten Standort, den Adorno paradox für sein Denken reklamiert, und an dem er sich allem zuwendet, was vor Furcht verhärtet und versteinert ist; und jenem Motiv des trennenden Abgrunds, für das Lukacs die Frankfurter Schule „Caffee Abgrund“ zu nennen liebte. Adorno negiert alle aufwärts und an systematischer Geschlossenheit interessierten idealistischen Bestrebungen; mit seiner Erkenntnis zielt er nach unten und folgt der Schwerkraft der Dinge nach – und darin ist er bis heute provokativ und materialistisch. Neben der Tradition des sokratischen Nichtwissens stehen: Iconoclash, Kritizismus, Nihilismus und Umwertung. Auschwitz, der Ort in Adornos Denken, mit dem er den Imperativ der Einmaligkeit unverrückbar installiert: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“3 Negativ auch der mythische Raum, den Odysseus durchirrt: „Mühselig und widerruflich löst sich im Bilde der Reise historische Zeit ab aus dem Raum, dem unwiderruflichen Schema aller mythischen Zeit.“4 Höhlen als Zwischenräume für den Widerspruch: „Die Ideen leben in den Höhlen zwischen dem, was die Sachen zu sein beanspruchen, und dem, was sie sind.“5 Amorbach, negativ als Hohlform der Erinnerungen heiler Kindheit. Die Eiswüste der Abstraktion, die es für den Philosophen wie für einen Polarforscher zu durchmessen gilt. Und nicht zuletzt das Bilderverbot als offen gelassene Stelle. An diesen spontan versammelten Beispielen zeigt sich eine für diesen großen Denker der Zeit eher unerwartete Vielfalt räumlicher Motive, die sich tatsächlich stringent dem negativen Duktus der Adornoschen Dia3 ders., Negative Dialektik. In: GS, Bd. 6, S. 358. ders., Dialektik der Aufklärung. In: GS, Bd. 3, S. 66. 5 ders., Negative Dialektik, a.a.O., S. 153. 4 Homolka: Nach Adorno lektik fügen und ihm Anschaulichkeit verleihen. Auch die zentralen Begriffe seiner Erkenntnismethode sind topologisch: Konstellation, Mittelpunkt und Durchgang durch die Extreme bilden eine Art Bausatz für die Konstruktion seiner kritischen Modelle. Konstellation, Mittelpunkt, Extrem Zur analytisch kritischen Methode, der Logik des Zerfalls, tritt in Adornos Philosophie der synthetische Aspekt der Konstellation hinzu. Sie ist eine Erkenntnisform, bei der der zentrale problematische Begriff einer Sache von außen, aus dessen geschichtlichem und gesellschaftlichem Kontext, erschlossen wird. Er bildet für Adorno eine Alternative zum identifizierenden, definierenden, hierarchischen Verfahren der traditionellen Philosophie. Das Identitätsdenken, von der Unberührbarkeit von Kants ‚Ding an sich’ aus betrachtet, gilt Adorno als mythisches Tabu fürs Subjekt: nicht an das zu rühren, was ihm nicht gleiche.6 Eine andere Analogie zum unkritisch identifizierenden Denken besteht für ihn im Vorgang des Fressens: „Durchweg verbindet es den Appetit des Einverleibens mit Abneigung gegen das nicht Einzuverleibende, das gerade der Erkenntnis bedürfte.“7 So demonstriert Adorno, dass das Denken noch kein eigentlich geistiges Stadium erreicht hat und, befangen in Urgeschichte, noch in Analogie zu den natürlichen Reflexen funktioniert. Ihm zufolge vermag Denken im Akt des Identifizierens nicht das Unauflösliche seiner Gegenstände zu Bewusstsein zu bringen und verschärft darin jenen Widerspruch von Allgemeinem und Besonderem, bei dem Adorno nicht stehen bleibt, und gegen den er seine Dialektik des Besonderen in dessen jeweiligem Zusammenhang entfaltet. „Nach dem dauerhaftesten Ergebnis der Hegelschen Logik ist es nicht schlechthin für sich sondern in sich sein Anderes und Anderem verbunden. Was ist, ist mehr, als es ist. Dies Mehr wird ihm nicht oktroyiert, sondern bleibt, als das aus ihm Verdrängte, ihm immanent. Insofern wäre das Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen. Das Innerste des Gegenstandes erweist sich als zugleich diesem auswendig, seine Verschlossenheit als Schein, Reflex des identifizierenden, fixierenden Verfahrens. Dahin geleitet 6 7 ebd., S. 163. ebd. Homolka: Nach Adorno denkende Insistenz vorm Einzelnen, als auf dessen Wesen, anstatt auf das Allgemeine, das es vertrete.“8 Adorno vollzieht Hegels Gedanken, nach dem alles im Himmel und auf der Erde miteinander verbunden ist, mimetisch in einer erkenntnistheoretischen Intention nach. Wenn der Gegenstand aus dem Zusammenhang, in dem er steht, gedeutet wird, ist dieser Zusammenhang nicht ein rein äußerliches Nebeneinander, sondern bildet das Bedeutungsgeflecht, in dem der Gegenstand sich entäußert, nach. Diese Methode der Entfaltung von Konstellationen ermöglicht dem Denken den Ausweg aus dessen Selbstbezug. Bereits aus dieser knappen Betrachtung des Begriffs der Konstellation wird schon erkennbar, dass der Raum, in dem sie sich entfaltet, nicht als Totalität gesehen wird. Jedem Gegenstand wird sozusagen die Rekonstruktion seines eigensten geschichtlichen Raumes zugeschrieben, vergleichbar einem Kosmos en miniature, in dessen Mitte er wie in einem speziell für seine Erkenntnis angelegten zentralen Spannungsfeld steht. Adorno betreibt damit eine Wissenschaftskritik, die sich vor allem an den traditionellen Kategorien „Identität“ und „Totalität“ entzündet. Sein Denken benötigt statt des traditionellen Einheitsprinzips der Identität nur ein einheitsstiftendes Moment: „Das einigende Moment überlebt, ohne Negation der Negation, doch auch ohne der Abstraktion als oberstem Prinzip sich zu überantworten, dadurch, dass nicht von den Begriffen im Stufengang zum allgemeineren Oberbegriff fortgeschritten wird, sondern sie in Konstellation treten. Diese belichtet das Spezifische des Gegenstandes, das dem klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist oder zur Last. Modell dafür ist das Verhalten der Sprache. Sie bietet kein bloßes Zeichensystem für Erkenntnisfunktionen. Wo sie wesentlich als Sprache auftritt, Darstellung wird, definiert sie nicht ihre Begriffe. Ihre Objektivität verschafft sie ihnen durch das Verhältnis, in das sie die Begriffe, zentriert um eine Sache, setzt. Damit dient sie der Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken.“9 Nach Adornos Diktum soll in der gelungenen Konstellation alles gleich nah zum Mittelpunkt zu stehen kommen. Allerdings hält er sich mit Auskünften über diesen Mittelpunkt bedeckt. Hegel benennt ganz am An8 9 ebd., S. 164. ebd., S. 164. Homolka: Nach Adorno fang seiner Vorrede zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie den Mittelpunkt für das philosophiegeschichtliche Interesse als jenes Verhältnis, in dem die „scheinbare“ Vergangenheit mit der Gegenwart über den Kausalzusammenhang hinaus „auf eine eigentümliche Weise produktiv“10 ist. Die Anschaulichkeit der produktiven Wirksamkeit der Vergangenheit als des ausdehnungslosen Raums entfaltet Adorno im Zentrum der Konstellation. Der Mittelpunkt oder Schnittpunkt von Vergangenheit und Gegenwart zentriert ein Spannungsfeld. Er findet seine zeitliche Entsprechung im Augenblick. Der Mittelpunkt ist die äußerste Zuspitzung des raumzeitlichen Motivs. Im Verhältnis von Begriff und Sprache wird die Isolation des Begriffs zugunsten seines Zusammenhangs aufgebrochen. Adorno nähert dadurch wiederum den Begriff Dialektik der Vielschichtigkeit des Wortes im Sinne der Dialektik der platonischen Dialoge an. Paradigmatisch scheinen für Adorno die Hegelschen Anmerkungen in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zur Bedeutung von Platos Dialogen zu sein: „... die Platonischen Dialoge sind nicht so beschaffen wie die Unterredung mehrerer, die aus vielen Monologen besteht, wovon der eine dies, der andere jenes meint und bei seiner Meinung bleibt. Sondern die Verschiedenheit der Meinungen, die vorkommt, ist untersucht; es gibt ein Resultat als das Wahre; oder die ganze Bewegung des Erkennens, wenn das Resultat negativ ist, ist es, die Platon angehört.“11 In der Bestimmung der ‚ganzen Bewegung des Erkennens, wenn das Resultat negativ ist,’ als Wahrheit, ist auch Adornos Konzeption erkennbar, die auf die Unabgeschlossenheit des Prozesses ihre Hoffnung setzt. Weiter unten heißt es bei Hegel: „Ich habe schon bemerkt, dass Platos Dialoge nicht so anzusehen sind, dass es ihm darum zu tun gewesen ist, verschiedene Philosophien geltend zu machen, noch dass Platos Philosophie eine eklektische Philosophie sey, die aus ihnen entstehe; sie bildet vielmehr den Knoten, indem diese abstrakten einseitigen Prinzipien jetzt auf konkrete Weise wahrhaft vereinigt sind. In der allgemeinen Vorstellung der Geschichte der Philosophie sahen wir schon, dass solche Kno10 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke, Bd. 18, Frankfurt/Main 1986, S. 20. 11 ebd., 181. – Vgl. auch: L. Sichirollo, ∆ιαλεγσθαι Dialektik, Hildesheim 1966, S. 175. Homolka: Nach Adorno tenpunkte in der Linie des Fortganges der philosophischen Ausbildung eintreten müssen, in denen das Wahre konkret ist.“12 Da Adorno nicht vom Ding ausgeht, sondern von dessen Begriff, bevorzugt er die Sprache gegenüber der logischen Systematik als das ähnlichere, mimetische Mittel, sich dem Nicht-Identischen in seinem jeweiligen Zusammenhang zu nähern. Hegels Dialektik bezeichnet er dagegen als „eine ohne Sprache“: „Im emphatischen Sinn bedurfte er der Sprache nicht, weil bei ihm alles, auch das Sprachlose und Opake, Geist sein sollte und der Geist der Zusammenhang. Jene Supposition ist nicht zu retten. Wohl aber transzendiert das in keinen vorgedachten Zusammenhang Auflösliche als Nichtidentisches von sich aus seine Verschlossenheit. Es kommuniziert mit dem, wovon der Begriff es trennte. Opak ist es nur für den Totalitätsanspruch der Identität; seinem Druck widersteht es. Als solches jedoch sucht es nach dem Laut. Durch die Sprache löst es sich aus dem Bann seiner Selbstheit.“13 Ist bei Adorno von Sprache die Rede, so steht nicht die Mitteilung im Vordergrund, sondern die plastische Darstellung; letztendlich ist es die Performance einer Kommunikation, nicht mit dem Leser, sondern dem Gegenstand, für den er eigens diese ideale Kommunikationssituation der Konstellation herstellt, und dem er das Vermögen der Kommunikation aus dessen Zusammenhang heraus zuspricht. Er kommuniziert also nicht über die Dinge, sondern mit den Dingen und für sie; von daher auch das Hermetische seiner Texte. Habermas hat diesem kommunikativen Prinzip dann eine völlig andere, intersubjektive Richtung gegeben. An diesen Begriffen: Verhältnis, Kommunikation, Sprache, Konstellation zeigt sich, wie anthropomorph der erkenntnistheoretische Aspekt von Adornos Denken geprägt ist. Neben und auch mit der Entfaltung von räumlichen Konstellationen nähert es sich beinahe unwillkürlich anthropomorphen und ästhetischen Kategorien. Allerdings ist die Kommunikationssituation, die er herstellt, trotz und gerade wegen seiner Bemühungen asymmetrisch, das Subjekt dem Objekt zunächst überlegen wie der Arzt dem Kranken oder wie die erfahrene Liebhaberin dem unerfahrenen Geliebten. Adornos Konzeption der Konstellation bezeichnet gewissermaßen das strukturelle Scharnier, an dem das Denken von der Systemkritik ab- und 12 13 ebd., S. 175 bzw. 181 f. Th.W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 165. Homolka: Nach Adorno der Sprache zugewandt wird. Und von der Sprache aus ist es für Adorno, dem sich das Mehr der Dinge zuneigt, bloß ein winziger Sprung zur wortgewaltigen Rhetorik.. „Die Gewalttat des Gleichmachens reproduziert den Widerspruch, den sie ausmerzt.“14 Eines solchen Pathos des Gedankens sind wir Heutigen gänzlich entwöhnt; unvorstellbar heute die Wortgewalt Nietzsches oder dies Ätzende Voltaires. Nachdem man einen solchen Satz gelesen hat, bekommt man den Eindruck, man müsse die Begriffe aus deren Gefängnissen befreien, in denen sie, in Sträflingskleidung und mit Nummern versehen, in Reih’ und Glied zur Bewegung im Anstaltshof im Kreise gehen und auf Untaten sinnen. Die Vorliebe fürs Extreme hat bei Adorno Methode. War sie authentischer Ausdruck der zeitgenössischen Gefühlslage, so wurde sie als „Durchgang durchs Extrem“ Mittel negativer Dialektik und trug reziprok zur Steigerung der damals wohl zunehmend explosiven Gefühlslage bei. Und die Wahrheit der Übertreibung wurde ästhetisch moralisches Programm. „Während die hellen (Schriftsteller) das unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat, von bürgerlicher Gesellschaft und Herrschaft durch Leugnung schützten, sprachen jene (die dunklen) rücksichtslos die schockierende Wahrheit aus. ‚...In die von Gattinnen- und Kindermord, von Sodomie, Mordtaten, Prostitution und Infamien besudelten Hände legt der Himmel diese Reichtümer; um mich für diese Schandtaten zu belohnen, stellt er sie mir zur Verfügung’15, sagt Clairwil im Resümé der Lebensgeschichte ihres Bruders. Sie übertreibt. Die Gerechtigkeit ist nicht ganz so konsequent, nur die Scheußlichkeiten zu belohnen. Aber nur die Übertreibung ist wahr.“16 Die Affinität Adornos zum Extrem hängt sicherlich mit seiner Erfahrung des Dritten Reichs zusammen. Philosophisch vermittelt ist sie an den klassischen Kategorien der Totalität und Identität der subjektiven Philosophie, genauer gesagt: an deren, in Adornos Augen, totalen Identitätsanspruch. „... auch nur eingeschränkt, ist das Subjekt bereits entmächtigt. Es weiß, warum es im kleinsten Überschuß des Nichtidentischen sich absolut bedroht fühlt, 14 ebd., S. 146. M. de Sade, Histoire de Juliette, Hollande 1797, Bd, V, S. 319 f. 16 Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 139. 15 Homolka: Nach Adorno nach dem Maß seiner eigenen Absolutheit. An einem Minimalen wird es als Ganzes zuschanden, weil seine Prätention das Ganze ist.“17 Meisterhaft führt hier Adorno den dialektischen Umschlag von der Totalität zur Nichtigkeit vor. Der Absolutheitsanspruch löst sich in Nichts auf. Soweit ist die These mitvollziehbar. Aber, dass dabei nicht auch das Subjekt „zuschanden“ wird, wie seine Rhetorik suggeriert, sollte festgehalten werden. Auf den ersten Blick ist die Radikalität seiner über das Ziel hinausschießenden Formulierungen verwunderlich. Doch über die Frage nach der Identität des Menschen, die im Roman, im Film wie auch in der Psychologie seit der Jahrhundertwende längst als Problem eingedrungen und thematisiert war, musste auf erkenntnistheoretischem Gebiet erst noch nachgedacht werden. Nietzsche wirft die Problematik der Identität erst auf. Bei ihm stellt sie sich mit einem geradezu theatralischen Ensemble von Charakteren im Zarathustra dar. Kierkegaard schreibt in Pseudonymen. Adorno zeigt in seiner Philosophie das Bestreben, erkenntnistheoretisch die Höhe des modernen kulturellen Bewusstseins zu erreichen. Auch von daher ist sein Kampf gegen den subjektiven Identitätsanspruch und seine Demontage des Subjektbegriffs zu verstehen. Den von ihm proklamierten Vorrang des Objekts führt er nur darauf zurück, dass die Macht des Subjekts nicht absolut sei. Demnach ist er kein gewöhnlicher Kritiker der Macht und kein Anarchist – er ist ausschließlich der Kritiker absoluter Macht. Und nur von dieser äußersten Position aus, räumlich gesprochen, deren Entsprechung er im geschlossenen System sieht, ist er richtig zu verstehen. Und erst von hier aus stellt sich die Frage: Hat sich nicht der Systemgedanke vor ihm, Adorno, in den Plural geflüchtet?! 17 ders., Negative Dialektik, a.a.O., S. 184.