(Mai 2016): "Mehrsprachigkeit macht schlau und nett"

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Mehrsprachigkeit macht schlau und nett
Wer mehr als eine Sprache nutzt, schneidet in kognitiven Tests besser ab und wird empathischer.
Fanny Jiménez
Mit Buchstaben jonglieren: Mehrsprachigen gelingt Perspektivenwechsel. Foto: Getty
Der Junge zögert einen Moment. Der Erwachsene, der ihm gegenübersitzt, hat ihn gebeten, das
kleine Auto vom Tisch zu nehmen – aber welches meint er bloss? Das kleinste der drei Autos, die
dort stehen, kann der Erwachsene nämlich gar nicht sehen. Es ist aus seiner Perspektive versteckt
hinter einer kleinen Wand. Der Junge ist vier, und die Entscheidung fällt ihm nicht leicht. Am
Ende aber nimmt er das mittelgrosse Auto – also jenes, das der Erwachsene ihm gegenüber wohl
für das kleine hält.
Was in diesem Experiment der Psychologin Katherine Kinzler von der University of Chicago getestet wird, ist die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Dieser schwierige Perspektivenwechsel, so zeigt das gerade veröffentlichte Ergebnis, gelingt manchen Kindern besser als anderen
– und zwar jenen, die mehrsprachig aufwachsen. In Kinzlers Definition heisst das: Sie müssen
sich entweder täglich in verschiedenen Sprachen verständigen oder ab und zu eine zweite oder
dritte Sprache im Alltag hören, etwa von einem Babysitter oder den Grosseltern. Schon ab einem
Alter von zwei Jahren, so zeigt Kinzlers Forschung, sind mehrsprachige Kinder besser darin, sich
in die Perspektive von anderen hineinzuversetzen. Die Idee davon, was Mehrsprachigkeit bedeutet
und was sie mit dem Gehirn macht, hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert.
Lange sahen auch Experten es eher kritisch, wenn Kinder im Alltag mit mehreren Sprachen jonglieren mussten.
Mehr Nervenzellen in gewissen Bereichen des Gehirns
Doch inzwischen weiss man, dass Mehrsprachigkeit kein Problem für das menschliche Gehirn ist.
Ja mehr noch: Sie ist ein grosser Glücksfall. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass Mehrsprachige Vorteile haben, die weit über das grössere Sprachvermögen hinausgehen. Sie können sich
besser konzentrieren und Konflikte lösen, sich besser in andere hineinversetzen. Ihr Gehirn ist viel
flexibler, bis ins hohe Alter. Und davon profitieren nicht nur jene, die von Geburt an zwischen
Sprachen umschalten – sondern auch jene, die es erst als Erwachsene tun.
«Mehrsprachige müssen, wenn sie eine Sprache sprechen, die andere unterdrücken, also kontrollieren», sagt Claudia Maria Riehl, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München das Institut für Deutsch als Fremdsprache leitet. Alle Sprachen, die man kennt, werden Teil eines einzigen
Sprachsystems, erklärt sie. Spricht man eine, muss das Gehirn die anderen in den Hintergrund
rücken. Schliesslich werden alle gleichzeitig angekurbelt, sobald das Sprachzentrum aktiv wird.
Um die jeweils konkurrierende Sprache in Schach zu halten, entwickelt das Gehirn von Mehrsprachigen früh eine sehr gute «kognitive Kontrolle», wie Wissenschaftler es nennen. Das gelingt,
indem in bestimmten Bereichen des Gehirns, die für die Steuerung der Sprache verantwortlich
sind, ab dem Kleinkindalter mehr Nervenzellen angelegt werden.
Das macht diese Areale des Gehirns, den Nucleus caudatus und den anterioren cingulären Cortex
(ACC), viel leistungsfähiger. Doch diese beiden Bereiche sind nicht nur Teil des Sprachsystems,
sondern auch anderer wichtiger Systeme. Etwa jener, die Aufmerksamkeit fokussieren, Konflikte
lösen, Empathie ermöglichen oder Impulse unterdrücken. All diese Fähigkeiten profitierten mit,
sagt Riehl.
«Die Vorteile der Mehrsprachigkeit sieht man vor allem dann, wenn
das Gehirn sich entwickelt.» Holger Hopp, Sprachwissenschaftler
Diese Vorteile währten ein Leben lang, sagt Holger Hopp, der als Sprachwissenschaftler an der
TU Braunschweig arbeitet. In bestimmten Phasen profitiert man ganz besonders von dieser Arbeitsweise. «Die Vorteile der Mehrsprachigkeit sieht man vor allem bei Kindern in der Phase,
wenn das Gehirn sich entwickelt, und bei älteren Menschen, wenn die geistigen Fähigkeiten langsam abnehmen», sagt er. Wann immer sich das Gehirn verändert, wenn es wächst oder abbaut,
lässt die Dichte der Nervenzellen im Nucleus caudatus und dem ACC das Gehirn effektiver arbeiten, als es das sonst tun würde.
Kindern wie dem kleinen Jungen aus Katherine Kinzlers Versuch hilft das, weil sie so früher lernen, sich in andere hineinzuversetzen, also soziale Kompetenz zu erwerben, ihre Impulse zu kontrollieren und ihre Aufmerksamkeit zu steuern. Und Älteren hilft das, weil es ihr Gehirn vor geistigem Abbau schützt. Denn bei Demenzerkrankungen beginnt der Abbau der Nervenzellen genau
in diesen zwei Bereichen. Wer hier mehr Zellen hat, bei dem ist dieser Abbau deutlich verlangsamt. Es ist gut belegt, dass sich bei Mehrsprachigen aus diesem Grund der Beginn der Demenz
um bis zu fünf Jahre verzögert.
«Was Mehrsprachigkeit ist, wird oft falsch verstanden.»Claudia Maria Riehl,
Ludwig-Maximilians-Universität
Wer sich jetzt benachteiligt fühlt, weil er nicht von Geburt an mit zwei oder mehr Sprachen aufgewachsen ist, irrt aber. Denn wenn Forscher heute von Mehrsprachigkeit reden, fassen sie das
viel weiter als früher. So wie auch in Kinzlers Experiment geht es nicht darum, mehrere Sprachen
von Geburt an zu verstehen und zu sprechen, sondern darum, Erfahrungen mit verschiedenen
Sprachen zu machen und aktiv zwischen ihnen hin- und herschalten zu müssen und zu können.
«Was Mehrsprachigkeit ist, wird oft falsch verstanden», sagt Claudia Maria Riehl. «Mehrsprachig
ist jeder, der flexibel und ohne grössere Probleme von einer Sprache in eine andere wechseln
kann.»
Lange galt die Regel, dass Kinder eine Sprache möglichst früh lernen müssen, um sie wirklich zu
verinnerlichen. Doch diese Theorie der kritischen Periode werde mittlerweile stark infrage gestellt, sagt Holger Hopp. Sie habe sich eher in eine andere verwandelt. «Je mehr man eine Sprache
spricht und je häufiger man zwischen Sprachen wechselt, desto mehr profitiert man», sagt er. Das
Alter sei ein Faktor, aber nicht der wichtigste.
Bei Migranten hilft es, auch mit der Muttersprache zu arbeiten
Annick De Houwer, die an der Universität in Erfurt arbeitet, sieht das ebenso. Sie hat in einem
riesigen Datensatz mit 5000 bilingualen Kindern zeigen können, dass ein Viertel aller Kinder, die
von Geburt an regelmässig zwei Sprachen hören, nur eine der beiden aktiv spricht. Es sei ein Irrtum, sagt sie, dass frühes Lernen einer Sprache gleich perfektes Können bedeute. Viele Eltern, die
versuchen, ihr Kind zwei- oder mehrsprachig zu erziehen, seien verzweifelt, weil es nicht klappe
und das Kind an einer Sprache festhalte. Im Gegenzug kann es sein, wie Claudia Maria Riehl sagt,
dass man eine Sprache erst spät erlernt und durch viel Übung ein eigentlich bilinguales Kind in
Wortschatz und Wortfluss bei weitem übertrifft. Auch dann profitiere man von der kognitiven
Kontrolle, die das Gehirn beim Umschalten zwischen den Sprachen einrichte.
Holger Hopp, der dazu forscht, wie Englisch in der Grundschule gelernt wird, hat allerdings festgestellt, dass die Vorteile von Mehrsprachigkeit nicht immer helfen, wenn sie es könnten – zum
Beispiel bei Kindern mit Migrationshintergrund. «Die Vorteile der Mehrsprachigkeit, die man im
Labor messen kann, sieht man in der Realität leider nicht so oft», sagt er. Das liege auch daran,
dass in der Schule Mehrsprachigkeit oft eher als Ballast und Hindernis für den schulischen Erfolg
wahrgenommen werde statt als Ressource. Beim Englischlernen zum Beispiel würde es Kindern
mit Migrationshintergrund helfen, dabei auch mit ihrer Muttersprache zu arbeiten – anstatt zu versuchen, diese möglichst auszublenden.
SonntagsZeitung, 1.5.2016
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