ENZYKLOPÄDIE MIGR ATIO N IN EuRO PA Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwa rt Herausgegeben von KLAus J. BADE, PIETER C. EMMER, LEo LucASSEN UND JOCHEN ÜLTMER Redaktionelle Mitarbeit: Corrie van Eijl, Marlou Schrover, Michael Schubert 3. Auflage FERDINAND SCHONIN GH FADERBORN ·MÜNCHEN ·WIEN ·ZÜRICH WILHELM FINK MÜNCHEN Frankreich LESLIE PAGE MocH Zuwanderungen nach Frankreich nahmen seit Mitte des 19. Jahrhunderts erheblich zu. In der Frühen Neuzeit prägten insbesondere Binnenwanderungen von Arbeitskräften und Handwerkern auf dem Land wie auch in die Städte das Migrationsgeschehen. Die Ab- und Auswanderung in die französischen Kolonien in Nord- und Südamerika war zu dieser Zeit umfangreicher als die Zuwanderung aus dem Ausland. Die Französische Revolution 1789 trieb ihre Gegner ins Ausland und zog politische Sympathisanten an. In der nachrevolutionären Periode begannen die Geburtenzahlen in Frankreich zu sinken; diese Entwicklung sollte entscheidende Bedeutung für den Bedarf an ausländischen Arbeitskräften im späten 19. und im gesamten 20. Jahrhundert haben. Drei große Zuwanderungswellen (um 1900, in den 1920er Jahren und 1960-1975) brachten Arbeitswanderer in sehr großer Zahl nach Frankreich. Zentralen Einfluß auf die Entwicklung der Migrations- und Integrationsverhältnisse im Frankreich des 20. Jahrhunderts nahmen Kriege, Wirtschaftskrisen, der Zusammenbruch des Kolonialreichs und die Globalisierung der Migrationsmuster. Der Raum und seine Grenzen Die heutigen territorialen Grenzen Frankreichs etablierten sich im europäischen Vergleich bereits sehr früh. Mit den Eroberungen und Erwerbungen König Ludwigs XIV. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sowie- in geringerem Umfang- seines Nachfolgers Ludwig XV. Mitte des 18. Jahrhunderts im Nordwesten, Nordosten und Südosten war der gegenwärtige territoriale Umfang fast erreicht. Die umfangreichen napoleonischen Eroberungen in West-, Mittel- und Südeuropa gingen bereits nach wenigen Jahren mit den Regelungen des Wiener Kongresses 1814/15 wieder verloren. Savoyen und Nizza kamen 1860 an Frankreich als Preis für die französische Unterstützung der italienischen Einigungsbewegung. Elsaß-Lothringen, das Frankreich 1871 an das Deutsche Reich abtreten mußte, kehrte nach dem Sieg im Ersten Weltkrieg zurück. Frankreich war eine der bedeutendsten europäischen Kolonialmächte. Die ausgedehnten überseeischen Besitzungen der Frühen Neuzeit gingen bereits im 18. Jahrhundert in den globalen Auseinandersetzungen mit Großbritannien weitgehend verloren. Mit dem Beginn der Eroberung Algeriens 1830 und der Expansion im afrikanischen und asiatischen Raum seit den späten 1850er Jahren kam es zum Neuaufbau eines großen Kolonialimperiums. Die Dekaionisation der französischen Kolonialbesitzungen in den 1950er und 1960er Jahren prägten zahlreiche kriegerische Konflikte, unter denen vor allem die französischen Niederlagen in Indochina und in Algerien hervortraten. Reste des Kolonialimperiums sind bis heute als Überseedepartements und -territorien Teil Frankreichs. FRANKREICH 123-- Binnenwanderungen sowie Ab- und Auswanderungen in der Frühen Neuzeit Binnenwanderungen im Frankreich des Ancien Regime folgten unterschiedlichen Routen und waren oft kleinräumig: Zahlreiche landwirtschaftliche Arbeitskräfte wanderten in ganz Frankreich auf eingeschliffenen Pfaden im lokalen oder regionalen Umfeld, in Südfrankreich nahmen Landarbeiter auch längere Wege aus ihren Bergdörfern in die Tallagen und Ebenen in Kauf. Zuwanderer in die regionalen urbanen Zentren und in die Großstädte stammten zum größten Teil aus der unmittelbaren Umgebung. Grenzüberschreitende Zuwanderungen in die französische Landwirtschaft gab es kaum: Die anfallenden Arbeiten erledigten in aller Regel französische Arbeitskräfte, selbst auf den riesigen Feldern der Ile de France. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zogen vor allem spanische und italienische Arbeitskräfte zur Weinlese und zur Getreideernte in die flachen Küstengebiete Südfrankreichs oder in die Handels- und Hafenstadt Marseille. Besonders in Paris, der größten Stadt des europäischen Kontinents von 1650 bis nach 1800, lebten viele Fremde- die meisten von ihnen vorübergehend. Künstler und Gelehrte zog es an den königlichen Hof und in die adeligen und bürgerlichen Salons; zu ihnen zählten beispielsweise der deutsche Komponist Christoph Willibald Gluck, der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau, der deutsche Schriftsteller Friedrich Melchior Grimm und der nordamerikanische Wissenschaftler und Politiker Benjamin Franklin. Die Zahl der zugewanderten Handwerker und Fachkräfte in Frankreich blieb zwar, abgesehen von Paris, niedrig; sie spielten dennoch aber eine äußerst wichtige Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes im 17. und 18. Jahrhundert. Zu ihnen gehörten niederländische Ingenieure, die das Marais-Viertel in Paris sowie große Gebiete in Südwestfrankreich zwischen Loire und Gironde trockenlegten; schwedische Schiffbauexperten, die sich auf das Abdichten des Schiffsrumpfes mit Teer verstanden; Niederländer mit ihren Kenntnissen in der Herstellung von hochwertigen Tuchen sowie die britischen Gründer der Eisenindustrie in Le Creusot. Aus ausländischen Söldnern zusammengesetzte Truppenteile bildeten einen wesentlichen Bestandteil des französischen Heeres im Ancien Regime. Dem König galten die Schweizer Söldner als verläßlichste Soldaten, die deshalb seine Leibgarde bildeten.1 Schließlich zählten in den Handelsstädten zahlreiche ausländische Kaufleute zur wirtschaftlichen Elite. Das galt beispielsweise jahrhundertelang für Italiener in Lyon; in Bordeaux gehörten deutsche, anglo-irische und niederländische Kaufleute sowie Juden iberischer Herkunft zur Elite. 2 Nach der Niederlage der Jakobiten in England im späten 17. und im 18. Jahrhundert flohen fast 20.000 Offiziere, Soldaten, Frauen und Kinder nach Frankreich, wo es bereits kleinere irische Herkunftsgemeinschaften in Paris, Nantes und Bordeaux gab. 3 Vor allem 1660-1730 übertraf die Ab- und Auswanderung vermutlich die Zuwanderung. Dazu trug insbesondere die Flucht der bis zu 200.000 Hugenotten nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes 1685 bei. Je etwa ein Drittel ging nach Großbritannien und in die Niederlande, ein weiteres Drittel in die Schweiz, nach Deutschland und nach Nordamerika. 4 Keine andere Abwanderungswelle im Frankreich der Frühen Neuzeit erreichte einen vergleichbaren Umfang, auch nicht die Siedlungswanderung in die überseeischen Kolonialbesitzungen Frankreichs: Die Pionierwanderungen nach Kanada umfaßten im 17. Jahrhundert insgesamt schätzungsweise 2 3 Schweizer Söldner in Europa vom 17. bis zum 19. Jh. (Beispiel Frankreich). Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel in Oidiz und Bordeaux vom späten 17. bis zum späten 19. Jh.; Irische Weinbrandhändler in der Charente im 18. Jh.; Sephardische Juden im Europa der Frühen Neuzeit. Jakobiten in Europa 1688-1788; Britische Royalisten in West-, Mittel- und Südeuropa 1640-1660. Hugenotten in Europa seit dem 16. Jh. - 124 WESTEUROPA 27.000 Personen. Fast die Hälfte davon waren Soldaten. Die andere Hälfte bildeten größtenteils alleinstehende Männer, unter ihnen Arbeitswanderer, Priester und Missionare, von denen viele nach Frankreich zurückkehrten. Unter den wenigen Frauen befanden sich auch die 1663-1665 aus einem Pariser Waisenhaus rekrutierten >filles du roi< (>Töchter des Königs<), die nach Kanada geschickt wurden, um dort Siedler zu heiraten. Sie blieben auf Dauer. Am Ende des 18. Jahrhunderts lebten etwa 28.000 Franzosen in der karibischen Kolonie Saint Domingue, 25.000 auf Martinique und Guadeloupe sowie weitere 12.000 in den Inselbesitzungen im Pazifik, wo der Anteil der Männer an den Zuwanderern noch höher lag als in Kanada. Unter den Ab- und Auswanderern aus Frankreich traten darüber hinaus noch die französischen Arbeitskräfte und Kaufleute aus dem Zentralmassiv in den Städten und ländlichen Gebieten Spaniens hervor. Ihre Zahl lag 1789 bei wahrscheinlich rund 80.000. Auch im Falle dieses Wanderungssystems handelte es sich sowohl um temporäre als auch um dauerhafte Abwanderungen fast ausschließlich von Männern. 5 Nach der Französischen Revolution gingen die Ab- und Auswanderungen nach Spanien und in die karibischen Kolonien erheblich zurück. Juden waren nur in einigen Gebieten Frankreichs willkommen: In den 1780er Jahren umfaßten die jüdischen Gemeinden insgesamt 30.000-35.000 Personen, vornehmlich in Südwest- und Nordostfrankreich, im Comtat Venaissin (um Avignon) und in Paris. Die sephardischen Juden von der Iberischen Halbinsel und die Aschkenasim aus Mittel- und Ostmitteleuropa kamen auf jeweils verschiedenen Routen und mit unterschiedlichen Wanderungsmotiven nach Frankreich. Die Aschkenasim begegneten der größten Feindseligkeit und Gewalt im Elsaß während der Revolutionsjahre, danach wurde unter napoleonischer Herrschaft die Emanzipation der Juden fast vollständig umgesetzt. 6 Die Folgen der Französischen Revolution für die Wanderungsverhältnisse Das Frankreich des Ancien Regime und der Revolutionsjahre bot nicht nur den Juden, sondern allen Ausländern widersprüchliche Aufnahmebedingungen. Schon vor Ausbruch der Revolution 1789 zog Frankreich politische Denker aus dem Ausland an, die sich im Kampf gegen den Absolutismus engagierten, wie zum Beispiel Thomas Jefferson und Thomas Paine. Die Zuwanderung umfaßte auch politische Flüchtlinge, die nach den fehlgeschlagenen Aufständen und revolutionären Bewegungen 1781 Freiburg im Uechtland, 1782 Genf, 1787 die Niederlande sowie 1790 Belgien und Lüttich verlassen mußten? Sie gelangten in ein Frankreich, das sich selbst ausdrücklich als Hort der Freiheit definierte. Während der revolutionären Terrorherrschaft 1793/94 waren Ausländer allerdings nicht länger willkommen, sondern galten bis zum Thermidor 1794 und der Absetzung Maximilien de Robespierres als Teil einer gegenrevolutionären >ausländischen Verschwörung<. Danach kehrten einige Verfechter freiheitlicher Ideen, wie Madame de Stael und Benjamin Constant, nach Frankreich zurück. Während konservative Kommentatoren aus dem Ausland, wie zum Beispiel der anglo-irische Philosoph Edmund Burke, die Revolution verdammten, flohen im ersten Jahrfünft nach 1789 mehr als 150.000 royalistische oder von der Revolution bedrohte Franzosen, vor allem 1793/94 unter der Herrschaft des Nationalkonvents, aus dem Land. Diese >emigres<, von denen manche bereit waren, den Truppen der konterrevolutionären europäischen Koalition beizutreten, kamen aus sämtlichen Gesellschafts6 Auvergner in Spanien in der Frühen Neuzeit. Sephardische Juden im Europa der Frühen Neuzeit; Aschkenasische Juden in Europa seit der Frühen Neuzeit. Niederländische Flüchtlinge (>Bataver<) in Frankreich 1787-1795. FRANKREICH 125-- schichten. Mitglieder der königlichen Familie und wohlhabende Adelige stellten ein Fünftel dieser Gruppe, die über erheblichen Einfluß an den Höfen in Großbritannien, in den deutschen Staaten und in anderen Ländern Europas verfügten. Über ein Viertel der >emign§s< waren Frauen, die meisten von ihnen kehrten letztlich nach Frankreich zurück. 8 Bis zur Verfassung von 1795 wurden Tausende von Zuwanderern eingebürgert. Voraussetzung war ein fünfjähriger Aufenthalt in Frankreich, die Eheschließung mit einer Französin oder das Betreiben eines Unternehmens in Frankreich; die Mehrheit der in Frankreich lebenden Ausländer wurde bis 1795 automatisch naturalisiert. Danach war eine entsprechende Willenserklärung erforderlich und ab 1799 ein zehnjähriger Aufenthalt in Frankreich. Das Staatsangehörigkeitsrecht orientierte sich am Territorialprinzip (>ius soli<): Franzose war, wer in Frankreich geboren worden war oder längere Zeit dort lebte. Mit dem napoleonischen Code Civil 1803 setzte sich das Abstammungsprinzip (>ius sanguinis<) durch: Franzose war nun, wer einen französischen Vater hatte. Aufnahme und Integration von Arbeitswanderern und politischen Flüchtlingen 1815-1880 Mit dem Ende der napoleonischen Ära 1815 wurden mehr als eine Million Soldaten der Grande Armee aus dem Kriegsdienst entlassen. 9 Viele von ihnen waren Ausländer, die sukzessive in ihre Herkunftsländer zurückkehrten. Zurück blieben nur wenige (zum Beispiel Deserteure), die sich in die französische Gesellschaft integrierten. Im Zuge der gescheiterten Revolutionen in Europa kamen 1830-1850 insgesamt etwa 20.000 Flüchtlinge aus Spanien, Italien und Polen nach Frankreich, allein die Hälfte davon waren Polen. 10 Die Flüchtlinge stellten jedoch nur einen kleinen Teil der Ausländer in Frankreich: So bildeten beispielsweise die 2.000 italienischen Flüchtlinge, die 1832 ins Land kamen, nur eine Minderheit unter ihren 20.000 Landsleuten, die sich als Saisonarbeitskräfte in Frankreich aufhielten oder dauerhaft dort niedergelassen hatten. 11 Arbeitswanderungen in die entstehenden industriellen Ballungsräume sowie Unternehmerwanderungen nahmen erst nach 1850 zu. Die Betriebe früh zugewanderter Unternehmerfamilien trugen erheblich zum Wandel der französischen Migrationsverhältnisse bei. In Lyon, Marseille, Bordeaux und Paris nahm eine ausländische Unternehmerische Elite im Bankgeschäft und im Handel eine bedeutsame Stellung ein. Deutsche Familien wie die Krugs, Heidsiecks und Pipers entwickelten den Champagner zu einem typisch französischen Produkt. Zahlreiche ausländische Unternehmer brachten technische Innovationen ins Land und bauten Textilfabriken, wie zum Beispiel der Engländer Rawle, der in Rauen zu Beginn der Restaurationsepoche 1.200 Arbeitskräfte beschäftigte. Schon in den Jahren der Revolution und in der napoleonischen Zeit errichteten Schweden, Schweizer, Belgier und insbesondere Engländer Eisen- und Stahlwerke in Ostfrankreich sowie Maschinenwerkstätten in Paris. Mischehen dieser Unternehmer aus den Nachbarländern mit Mitgliedern der lokalen Elite förderten ihre Integration. Mit den ausländischen Unternehmen kamen auch qualifizierte Arbeitskräfte wie Stahlarbeiter und Techniker ins Land. In den Großstädten, besonders in Paris und Marseille, arbeiteten in der Hochphase etwa 60.000 Facharbei8 9 10 11 Französische Revolutionsflüchtlinge in Europanach 1789. Europäische Soldaten der Napoleonischen Armee. Polnische politische Flüchtlinge in Mittel- und Westeuropa im 19. Jh. Italienische Flüchtlinge des >Risorgimento< im Mittel- und Westeuropa des 19. ]h. - 126 WESTEUROPA ter für Unternehmer, die nicht französischer Herkunft waren. Rund die Hälfte der 10.000 Arbeiter, die die 1843 eröffnete Eisenbahnstrecke Paris-Rouen bauten, stammte aus Großbritannien. 12 Zu den deutschen Zuwanderern in Frankreich zählten seit dem 17. Jahrhundert auch Handwerksgesellen, die einen Teil ihrer Ausbildungszeit in Paris verbrachten. Handwerksgesellen und Facharbeiter kamen auch deshalb nach 1815 aus deutschen Staaten nach Frankreich, weil sie den politischen Maßnahmen der dortigen restaurativen Regierungen zu entgehen suchten. Süd- und Westdeutsche durchquerten Frankreich darüber hinaus auf dem Weg nach Le Havre, das ein wichtiger Hafen für die Auswanderung in die Vereinigten Staaten war. Zahlreiche Deutsche blieben aber auch dauerhaft in Frankreich. Ihre Zahl wuchs von etwa 30.000 um 1830 (von denen etwa 7.000 in Paris lebten) auf 170.000 zu Spitzenzeiten am Vorabend der Revolution 1848/49 (etwa 60.000 in Paris). Im Paris der 1840er Jahre gab es unzählige deutsche Handwerker: Unter fünf Schneidern kamen zwei aus Deutschland, auch jeder dritte Schuster stammte von dort. Unter den Tischlern, Schriftsetzern und Schmieden waren Deutsche ebenfalls stark vertreten. 13 Die Gruppe der deutschen Zuwandererumfaßte Handwerker und Arbeiter beiderlei Geschlechts ebenso wie Intellektuelle und politische Aktivisten. Während des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 wurden Deutsche aus Frankreich ausgewiesen, kehrten jedoch nach Kriegsende als Ladenbesitzer, Arbeiter oder Dienstmädchen vor allem wieder nach Paris zurück - oder, in geringerer Zahl, erneut als politische Flüchtlinge aufgrund der antisozialistischen Gesetze Bismarcks. Die Internierungen und Ausweisungen im Ersten Weltkrieg setzten der Existenz der deutschen Herkunftsgemeinschaft in Paris ein Ende. Die >Große Emigration< der Polen 1830/31 schloß viele Intellektuelle und Künstler, wie zum Beispiel Frederic Chopin, und zahlreiche Adelige ein; insgesamt gelangten im Rahmen dieser Fluchtwelle etwa 8.000 Polen nach Frankreich. 14 Der französische Staat hieß die Flüchtlinge zunächst willkommen und suchte sie zu integrieren. Seit Mitte der 1830er Jahre aber änderte sich das politische Klima: Nun ging es darum, politische Flüchtlinge möglichst schon an der Grenze abzuweisen und die Zahl derjenigen zu reduzieren, die sich bereits in Frankreich befanden. Vielfach wurden sie gedrängt, der 1831 gegründeten Fremdenlegion beizutreten, außerdem verpflichtete man sie, auf politische Aktivitäten zu verzichten. Dennoch nahm Frankreich während der Julimonarchie (1832-1851) mehr Flüchtlinge als irgendein anderes Land auf. Sie bildeten einen erheblichen Teil der 1846 schätzungsweise 820.000 Ausländer in Frankreich.15 Im Zuge der wirtschaftlichen Krisen und Revolutionen war Frankreich im Frühjahr 1848 für kurze Zeit offen für Einbürgerungen von Ausländern, verfolgte bald darauf jedoch wieder eine restriktivere Gesetzgebung. Vor allem nach der Wahl Louis Napoleons zum Staatspräsidenten 1849 herrschte in Frankreich eine restriktive Migrations- und Integrationspolitik In der Folge verließ die Mehrheit der Zuwanderer das Land, so daß 1851, als Napoleon III. das Zweite Kaiserreich ausrief, die Volkszählung nur etwa 380.000 Ausländer verzeichnete (s. Tabelle 1). Hierbei handelte es sich überwiegend um Arbeitskräfte aus Nachbarländern, die in den Grenzregionen und in Paris lebten. Ein Drittel von ihnen waren Belgier, die in den Bergwerken, Fabriken und in der Landwirtschaft Nordfrankreichs arbeiteten, ein Sechstel Italiener in Süd- 12 13 14 15 Britische technische Experten in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jh. Deutsche Möbeltischler im Paris des 18. Jh. Polnische politische Flüchtlinge in Mittel- und Westeuropa im 19. Jh. Rußländische Revolutionäre in West- und Mitteleuropa im 19. und frühen 20. Jh.; Deutsche Soldaten in der französischen Fremdenlegion im 19. und 20. Jh. FRANKREICH 127-- ostfrankreich sowie in Paris, und etwa halb so große Gruppen kamen aus Spanien und aus der Schweiz: 16 Tabelle 1: Wichtigste Zuwanderergruppen in Frankreich nach Herkunftsländern 1851-1946 in Prozent 1851 1881 1911 1931 1946 Belgier 42,4 50,4 28,6 11,9 11,1 Deutsche (bis 1881 inklusive Österreich-Ungarn) Spanier 18,5 9,8 11,9 3,4 - 9,9 7,7 10,5 16,4 22,0 Italiener 20,9 25,2 41,7 37,6 32,8 8,3 6,9 7,3 - - Polen - - - 23,6 30,8 Portugiesen - - - 2,3 1,6 Algerier - - - 4,9 1,6 302 957 1.005 2.148 1.373 77 44 155 567 371 379 1.001 1.160 2.715 1.744 Schweizer Wichtigste Zuwanderergruppen insgesamt in Tausend Sonstige Zuwanderer in Tausend Ausländerzahl gesamt in Tausend Quelle: Berechnet nach Noiriel, Population. Beginn der Massenzuwanderungen 1880-1914 Die zweite Phase der Industrialisierung in Frankreich führte zu einer erhöhten Zuwanderung von Arbeitskräften, insbesondere als die Krisen der 1840er Jahre dem Wirtschaftsaufschwung des Zweiten Kaiserreichs (1852-1870) wichen. Von Beginn an war die Anwerbung billiger und williger ausländischer Arbeitskräfte eine verbreitete Unternehmerische Strategie. 1886 überstieg deren Zahl erstmals eine Million. Am umfangreichsten war zunächst die Zuwanderung von Belgiern nach Nordfrankreich, die 1886 mit einem Spitzenwert von etwa 486.000 Personen fast die Hälfte aller Ausländer in Frankreich stellten. So kamen beispielsweise von den 14.000 Bergarbeitern der nordfranzösischen >Compagnie d'Anzin< allein 8.000 aus Belgien. Die Zahl der Schweizer verdoppelte sich 1851-1876. Das galt auch für die Zahl der Spanier, die hauptsächlich in der Landwirtschaft im Südwesten Frankreichs arbeiteten. Sie verdreifachte sich bis 1911 sogar. Die Gruppe der Italiener wuchs am stärksten: Obwohl vor dem Ende des Zweiten Kaiserreichs 1871 nur wenige italienische Zuwanderer nach Frankreich gekommen waren, übertraf diese Gruppe bald die der Belgier und stellte 1911 beinahe 40 Prozent der ausländischen Bevölkerung in Frankreich, um bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch weiter zu wachsen. 1914 stammten insge16 Flämische Textilarbeiter in West- und Mitteleuropa seit dem 19. Jh. (Beispiel Frankreich); Italienische industrielle Arbeitskräfte in West- und Mitteleut'opa im späten 19. und frühen 20. Jh.; Italienische Arbeitswanderer im Baugewerbe in der Region Paris seit den 1870er Jahren. I 28 WESTEUROPA samt 89 Prozent der Ausländer in Frankreich aus den Nachbarländern Italien, Belgien, Spanien, Schweiz und Deutschland. Belgier arbeiteten vornehmlich in drei Beschäftigungsbereichen: Im Raum Paris (vor allem im Pariser Osten und in industriellen Vororten) wohnten 1867 etwa 30.000 oder mehr Industrie- und Bauarbeiter. In Nordfrankreich ließ die Arbeit belgiseher Weber und Industriearbeiter beiderlei Geschlechts die französische Textilindustrie in und um Roubaix und Lille immer weiter wachsen. Zudem fanden Belgier in ganz Nordfrankreich und im Pariser Raum als landwirtschaftliche Saisonarbeitskräfte Beschäftigung, nachdem der Anbau von Zuckerrüben und Kartoffeln stark ausgeweitet worden war. Noch 1906 stellten Belgier ein Drittel aller Ausländer in Frankreich. Viele hatten sich in den nordfranzösischen Grenzregionen niedergelassen, die französische Staatsbürgerschaft angenommen und französische Ehepartner geheiratet. 17 Die italienische Zuwanderung nach Frankreich blickt auf eine lange Tradition zurück. Seit dem 16. Jahrhundert waren Italiener vor allem als Künstler, Schauspieler, Wanderhändler und Wandergewerbetreibende gekommen: Bärenführer und Musiker gab es unter ihnen ebenso wie Flickschuster, Scherenschleifer, Drechsler, Glaser, Korbstuhlmacher und Straßenhändler, die im Sommer Eis und im Winter Maronen verkauften.18 Besonders zahlreich waren sie im Südosten (östlich der Linie Nancy-Montpellier), vor allem in Savoyen und Nizza, die bis 1860 zu Italien gehörten. Mit dem massiven Anstieg der Zahl italienischer Zuwanderer 1878-1882 wuchs auch die berufliche Vielfalt: Italiener arbeiteten als Kutscher oder Schneider und in anderen Textilberufen, als Schuster, Maurer, Zimmerleute sowie Stukkateure. Sie traten in Konkurrenz zu den traditionsreichen Gruppen von Maurern und Bauarbeitern aus Mittelfrankreich, die besonders in Paris und Lyon geschätzt waren. Als ungelernte Arbeitskräfte schufteten die Italiener darüber hinaus bei unzähligen Bau- und Infrastrukturprojekten.19 Entlang der Mittelmeerküste arbeiteten Italiener in der Salzgewinnung, Männer wie Frauen bei der Ernte von Obst, Oliven und Blumen. Frauen gingen in die südfranzösischen Seidenfabriken bis hinauf nach Lyon. Männer fanden Beschäftigung in den Steinbrüchen und Bergwerken Ostfrankreichs und der Normandie, spezialisierten sich als Metallarbeiter auf den Schiffswerften oder als Facharbeiter in den Chemiefabriken von Marseille. Die italienischen Zuwanderer konzentrierten sich zunächst in Nizza und in Marseille, wo sie 1911 ein Viertel der Bevölkerung ausmachten. Vor dem Ersten Weltkrieg existierten bedeutende italienische Herkunftsgemeinschaften in Lyon und Paris sowie insbesondere in der Nähe der lothringischen Bergwerke um Nancy und in Le Briey. Bei den Saisonarbeitskräften handelte es sich zumeist um Männer. Etliche Italiener wanderten aber auch im Familienverband zu und blieben auf Dauer, viele alleinstehende Zuwanderer heirateten Französinnen. Konflikte blieben nicht aus. Die Fremdenfeindlichkeit wuchs in Frankreich in der Phase wirtschaftlicher Wachstumsstörungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Es kam zu Kundgebungen und Ausschreitungen gegen Ausländer. In Nordfrankreich wurden Belgier angegriffen, im Süden Italiener gelyncht, und 1893 entstand eine Massenbewegung, die ihren gewalttätigen Höhepunkt erlebte, als italienische Salzarbeiter in Aigues-Mortes an der Mittelmeerküste ermordet wurden. Eine Welle gewaltbereiter Fremdenfeindlichkeit zog dann 1894 die Ermordung des französischen Staatspräsidenten Marie-Fran~ois Sadi Carnot durch einen italienischen Anarchisten in Lyon nach sich. Zeitgleich richtete sich ein scheinwissenschaftlich-biologistisch geprägter 17 18 19 Flämische Textilarbeiter in West- und Mitteleuropa seit dem 19. Jh. (Beispiel Frankreich). Italienische Straßenmusiker im Europa des 19. Jh.; Comici dell'arte in Europa in der Frühen Neuzeit. Italienische industrielle Arbeitskräfte in West- und Mitteleuropa im späten 19. und frühen 20. Jh.; Italienische Arbeitswanderer im Baugewerbe in der Region Paris seit den 1870er Jahren. FRANKREICH 129-- rassistischer Antisemitismus gegen die in Frankreich lebenden Juden. 20 Das war auch der weltanschauliche Hintergrund für die spektakuläre >Dreyfus-Affäre<, die in ganz Europa Aufsehen erregte: Alfred Dreyfus, jüdischer Hauptmann im französischen Generalstab, war 1898 des Landesverrats angeklagt worden. Die langen, aufreibenden Auseinandersetzungen um das Für und Wider der Rechtmäßigkeit der Anklage spalteten in der Folgezeit die Nation. Fremdenfeindlichkeit und Fremdenangst sowie Rassismus grassierten im späten 19 ., aber auch im 20 Jahrhundert in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit. Zwei Gruppen von Zuwanderern, die nicht aus den Nachbarländern kamen, erreichten Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg und gewannen in der Folgezeit erheblich an Bedeutung für das Wanderungsgeschehen: Die erste Gruppe umfaßte etwa 2.000 polnische Bergleute, die zunächst im Ruhrgebiet gearbeitet hatten und nun in die nordfranzösischen Montanreviere weiterzogen. Die zweite Gruppe bildeten Kabylen aus dem algerischen Bergland. Nach 1911 wanderten etwa 5.000 Kabylen pro Jahr zu und steuerten in erster Linie die Fabriken von Marseille und die Bergwerke in Nordfrankreich an. Der französische Staat war gegenüber dieser ersten Zuwanderergruppe aus den französischen Kolonien mißtrauisch und ordnete ihre polizeiliche Überwachung an. Als Hilfsarbeiter in den Bergwerken, Viehtreiber, Hafenarbeiter und Salzsieder verrichteten algerische Männer in Frankreich Tätigkeiten, die mit ausgesprochen geringem Prestige verbunden waren. Sie kamen ohne Familien und bildeten selten eigene Gemeinschaften. In dieser Zeit der Massenzuwanderungen entstand das französische Staatsangehörigkeitsgesetz. Nach der französischen Staatsangehörigkeit strebten seit 1848 nur wenige Zuwanderer. Den meisten ging es um das Aufenthaltsrecht, eine kostengünstigere und mit weniger Auflagen verbundene Möglichkeit, sich in Frankreich niederzulassen: Die Zuwanderer unterlagen dann nicht der Militärpflicht, und Frauen und Kinder, die mitgezogen waren, konnten trotz fehlender Staatsangehörigkeit staatliche Leistungen in Anspruch nehmen. Bald aber reagierte der französische Staat und paßte das Staatsangehörigkeitsrecht an: Frankreich sah sich durch den Ausbau internationaler Beziehungen, der sich zum Beispiel im britisch-französischen Freihandelsabkommen (Cobden-Chevalier-Vertrag) von 1860 manifestierte, genötigt, bestehende Restriktionen gegenüber Zuwanderern zu entschärfen. Deshalb wurden ab 1867 die Vorleistungen für die Einbürgerung abgesenkt und nur mehr drei anstelle von zehn Jahren Ortsansässigkeit in Frankreich verlangt sowie 1874 die Paßpflicht zur Einreise und für Reisen innerhalb des Landes aufgehoben. Besonders nach der französischen Niederlage im Krieg gegen Deutschland 1870/71 galt der französischen Regierung darüber hinaus die hohe Zahl von nicht-militärpflichtigen Zuwanderern als ein Problem. Vor allem in Nordfrankreich, wo die ausländische Bevölkerung besonders dicht war, unterlagen angesichts der hohen Geburtenraten der ausländischen Bevölkerung immer mehr junge Männer nicht der Militärpflicht. Hinzu kam, daß Zuwanderer der ersten oder zweiten Generation sogar für manche Arbeitgeber attraktivere Arbeitskräfte waren als junge Franzosen, die nach dem Abschluß ihrer Ausbildung für mehrere Jahre Militärdienst leisten mußten. Ab 1882 diskutierte der Senat als erste Kammer des Parlaments darüber, ob sich die Vergabe der Staatsangehörigkeit an der Geburt und am Aufenthalt im Land oder an der Abstammung orientieren sollte. Mit dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 1889 wurde das Territorialprinzip (>ius soli<) eingeführt, es verlieh in Frankreich geborenen Kindern von Ausländern die französische Staatsbürgerschaft, verpflichtete sie somit zum Militärdienst und förderte ihre Assimilation. Das Gesetz begründete aber ein Mischsystem, denn es orientierte sich gleichzeitig auch am Abstammungsprinzip (>ius 20 Ost-, ostmittel-und südosteuropäische Juden in l)lris seit dem späten 19. Jh. -130 WESTEUROPA sanguinis<), da im Ausland geborene Kinder von Franzosen ebenfalls automatisch die französische Staatsangehörigkeit erhielten. Insofern wirkte das Gesetz inklusiv und wandte sich gegen die verbreitete Fremdenfeindlichkeit jener Zeit. Den fremdenfeindlichen Strömungen gaben demgegenüber die restriktiven Reformen der 1890er Jahre nach: Zuwanderern wurde der Anspruch auf medizinische Leistungen versagt und ihre Beschäftigung in bestimmten Bereichen, wie beispielsweise in der Bauwirtschaft, im öffentlichen Dienst und bei staatlichen Projekten, beschränkt. Das Staatsangehörigkeitsgesetz blieb durchgängig patrilinear ausgerichtet, da Frauen verpflichtet waren, bei der Heirat die Staatsangehörigkeit ihres Ehemannes anzunehmen. Die französische Entwicklung bildete eine Ausnahme in der europäischen Migrationsgeschichte, weil Frankreich nur einen sehr begrenzten Anteil an den Auswanderungen in die Neue Welt hatte, die weite Teile Europas im 19. Jahrhundert bis 1914 als Massenphänomene prägten. Die Hauptursache für die geringe Auswanderung liegt in dem frühen Absinken der Geburtenraten in Frankreich, die den Franzosen weiterhin ausreichende Lebensgrundlagen im eigenen Land sicherten. Hinzu kam, allerdings mit geringerer Reichweite, eine Politik der Begrenzung von Auswanderung durch den französischen Staat. Rund 816.000 Franzosen wanderten im 19. Jahrhundert bis 1924 nach Nord- und Südamerika aus. Folgen des Ersten Weltkriegs für die Migrations- und Integrationsverhältnisse Der Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 führte zu einem Bruch in der europäischen Wanderungsgeschichte. In Frankreich galten viele Zuwanderer nun als >feindliche Ausländer< und verließen das Land. Gleichzeitig nahm die französische Armee mehr als 42.000 ausländische Freiwillige aus 52 Staaten auf, die bereit waren, für Frankreich zu kämpfen. Unter ihnen gab es auch einige, die bereits in Frankreich lebten und sich mit dem Eintritt in die französische Armee gegen ihr Herkunftsland stellten. Die Mehrheit der ausländischen Freiwilligen nahm die Fremdenlegion auf, die als militärisches Instrument zur Integration von Ausländern fungierte. Die größte Gruppe bildeten mehr als 7.000 Italiener, die mit der> Legion garibaldienne< ein eigenständiges Regiment stellten und 1915 mit dem Kriegseintritt Italiens Teil der italienischen Armee wurden. Juden unter den 2.800 Freiwilligen aus dem Zarenreich konnten auf eine derart offene Aufnahme nicht hoffen; ihnen wurde in einigen Fällen bei Kriegsende die Einbürgerung in Frankreich verweigert. Der Staat übernahm im Ersten Weltkrieg wesentliche Funktionen zur Steuerung von Migration sowie zur Rekrutierung von Arbeitskräften und Soldaten im Ausland bzw. außerhalb des französischen Mutterlandes. Soldaten wurden allenthalben in den Kolonien angeworben und zum Teil auf dem europäischen Kriegsschauplatz eingesetzt, darunter auch Tausende der als >tirailleurs senegalais< bekannten Westafrikaner. Darüber hinaus rekrutierte Frankreich Hunderttausende ausländische Arbeitskräfte für die Kriegsindustrie. Von ihnen wurde erwartet, daß sie nach Kriegsende das Land wieder verließen - Fragen der Integration spielten bei der kriegsbedingten Arbeitskräfteanwerbung kaum eine Rolle. Nahezu 100.000 Kriegsgefangene wurden zur Zwangsarbeit in der französischen Kriegswirtschaft und Rüstungsindustrie eingesetzt. Die Rekrutierung ziviler Arbeitskräfte konzentrierte sich anfänglich auf die Nachbarländer und umfaßte rund 150.000 Personen, vor allem Spanier. Eine erneute Anwerbekampagne brachte mehr als 80.000 Italiener, Portugiesen, Griechen und Spanier nach Frankreich. In Algerien wurden neben etwa 86.000 Soldaten rund 78.000 Arbeitskräfte rekrutiert. Von außerhalb Eu- FRANKREICH I3I ropas kamen darüber hinaus 55.000 Marokkaner und Tunesier, 50.000 Vietnamesen und 37.000 Chinesen. Sie stellten ein Heer von insgesamt 220.000 Kontraktarbeitern aus den Kolonien, die in vielen Fällen mehr oder weniger zwangsweise nach Frankreich gekommen waren. Die Mehrheit von ihnen wurde in den ersten Monaten des Jahres 1919 in die Herkunftsländer zurückgeschickt. 21 Kriegsfolgen prägten auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit das Wanderungsgeschehen: Etliche Franzosen, die beim Vormarsch der deutschen Truppen 1914 Nordoder Nordostfrankreich verlassen hatten, fanden nach Kriegsende ihre Heimatorte zerstört vor und mußten sich einen neuen Wohnort suchen. Bis 1923 strömten 400.000 Flüchtlinge nach Frankreich, die ihre Heimatländer wegen der Russischen Revolution, dem nachfolgenden Russischen Bürgerkrieg, des Völkermords an den Armeniern oder der Nachkriegskonflikte in Ost-, Ostmittel-und Südosteuropa verlassen mußten.22 Auch wenn Frankreich sich als Asylland verstand und die Flüchtlinge offen aufnahm, erwies sich die Integration dieser entwurzelten Zuwanderer, ob Russen, Polen oder Armenier, für viele der Betroffenen als ein mental äußerst belastender Prozeß. Als weitere Kriegsfolge ließen sich 50.000 Franzosen im wiedereroberten Elsaß-Lothringen nieder. Von dort waren rund 150.000 Deutsche nach 1918 in das Reich abgewandert bzw. hierhin von den französischen Behörden ausgewiesen worden. 23 Zuwanderung in den 1920er Jahren Die 1920er Jahre waren eine Zeit unerwartet hoher Zuwanderungen. Während Paris als >Kulturhauptstadt< Europas zahllose Intellektuelle, Musiker und andere Künstler aus Europa und Übersee anzog24, wuchs in ganz Frankreich die Zahl der Arbeitswanderer. Die Zuwanderer der Vorkriegszeit integrierten sich darüber hinaus weiter in die französische Gesellschaft. Die Volkszählung 1931 stellte eine Rekordzahl von mehr als 2,8 Millionen im Ausland Geborener fest. Arbeitswanderungen in den Bereichen Bergbau, Hüttenwesen und Landwirtschaft wurden jetzt oft durch Arbeitgeber und private Anwerbeagenturen, wie zum Beispiel die >Socü§te generale d'immigration< (SGI), gefördert. Frankreich schloß staatliche Anwerbeverträge mit ehemaligen Kriegsverbündeten wie Polen und der Tschechoslowakei. Bergbaugesellschaften holten im Januar 1919 rund 7.000 italienische Arbeitskräfte ins Land, und gegen Ende des Jahres verließ ein erster Zug mit 800 polnischen Bergleuten Warschau. Unternehmer in Lyon rekrutierten Arbeitskräfte aus der Gruppe der armenischen Flüchtlinge. 1924 schlossen sich Arbeitgeber aus Bergbau, Hüttenwesen und Landwirtschaft zusammen, um ausländische Arbeitskräfte anzuwerben. Die Zahl der Italiener in Frankreich verdoppelte sich zwischen 1911 und 1931 auf 808.000. Rechnet man Saisonarbeitskräfte und illegale Zuwanderer hinzu, erreichte ihre Zahl vermutlich eine Million. Ein Drittel von ihnen waren Frauen. Die Italiener blieben zwar die größte Zuwanderergruppe, insgesamt aber gab es Verschiebungen in der Rangfolge der einzelnen Herkunftsländer: Zwar stieg neben der Zahl der Italiener auch die der Spanier (auf 352.000); dennoch stellten Zuwanderer aus den Nachbarländern- darunter Belgien, Deutschland und die Schweiz -jetzt nur noch knapp die Mehrheit mit 55 Prozent. Der Rest verteilte sich auf Gruppen, die vor dem Krieg 21 22 23 24 Chinesische Kontraktarbeiter in Frankreich im Ersten Weltkrieg; Chinesische Arbeiter-Studenten in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg. Rußländische Emigranten in Europa seit 1917; Armenische Flüchtlinge in Frankreich seit dem Ersten Weltkrieg. Deutsche Zuwanderer aus den nach dem Ersten Weltkrieg ~bgetretenen Gebieten in Deutschland. Amerikanische Schriftsteller, bildende Künstler und Musiker im Paris der Zwischenkriegszeit; Schwarzafrikanische Studierende in Frankreich seit dem späten 19. Jh. -132 WESTEUROPA sehr klein gewesen waren, wie vor allem die der Polen: 1921 hatte deren Zahl bei 46.000 gelegen. Ein Jahrzehnt später war sie auf 508.000 gestiegen, so daß Polen mit fast 20 Prozent aller Ausländer 1931 die zweitgrößte Zuwanderergruppe nach den Italienern bildeten. Hinzu kamen zahlreiche Russen und Armenier (1931 je etwa 67.000), Zuwanderer aus der Tschechoslowakei und Südosteuropa sowie rund 300.000 aus den nordafrikanischen Kolonien, vor allem aus Algerien. In den frühen 1920er Jahren gingen polnische Arbeitskräfte zunächst in die Bergwerke Nordfrankreichs. Viele brachten ihre Familien mit und reisten in großen Gruppen mit dem Zug an, darunter auch Zehntausende, die zuvor Jahre oder Jahrzehnte im Ruhrgebiet gearbeitet hatten. 25 Frauen und Töchter fanden Beschäftigung in den nordfranzösischen Textilfabriken, auch wenn dies mitunter lange tägliche Fahrtzeiten zwischen Wohn- und Arbeitsort mit sich brachte. Als die Polen verstärkt in andere französische Bergbauregionen zogen und auch immer mehr Zuwanderer aus anderen Herkunftsländern in den Bergwerken Arbeit fanden, diversifizierte sich die Berufsstruktur der polnischen Zuwanderergruppe . Weiterhin bildete das Baugewerbe einen Schwerpunkt der Beschäftigung von Zuwanderern: Portugiesen und Spanier bauten in den Pyrenäen Schiefer ab; Italiener stellten Ziegel und Kacheln her, spalteten Granit und Quarz in den Steinbrüchen. Es herrschte vor allem in den frühen 1920er Jahren Mangel an Maurern, Zimmerleuten und Stukkateuren, insbesondere für den Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges. In Paris arbeiteten ausländische Zuwanderer beim Abbruch der alten Stadtmauern und beim Ausbau der Metrolinien. Sie bauten günstige Wohnungen, bürgerliche Villen und schließlich die Maginot-Linie, die als militärischer Schutzwall Frankreich dauerhaft gegen Deutschland sichern sollte. Gegen Ende der 1920er Jahre stellten Ausländer ein Drittel der Belegschaften im Kohlebergbau, die Hälfte der Zementarbeiter, 50-70 Prozent der Arbeiterschaft in den Kunstseidefabriken und 70 Prozent der Arbeiter in der Eisenverhüttung. Auch die Landwirtschaft beschäftigte zahlreiche ausländische Arbeitskräfte, darunter viele Italiener in Südwestfrankreich. 1920 hatte es dort noch keinen einzigen italienischen Arbeitswanderer gegeben, am Ende des Jahrzehnts aber lebten hier bereits rund 100.000 Italiener in den Landgemeinden, vor allem in den Departements Haute-Garonne und Gers. 26 Noch stärker als zurJahrhundertwen de prägte eine international zusammengesetzte Arbeiterschaft die Fabriken und landwirtschaftlichen Betriebe. Ausländer stellten beispielsweise zwei Drittel der Belegschaft der Stahlwerke von Longwy: Bereits 1920 waren hier 1.700 Franzosen, 1.030 Italiener,497 Polen, 1.194 Belgier und Luxemburger, 206 Tschechen, Jugoslawen und Russen sowie 325 Arbeiter aus einem Dutzend anderer Länder beschäftigt. Auch in der Landwirtschaft arbeiteten Einheimische Seite an Seite mit Zuwanderern, wie beispielsweise auf dem Gut Passy-en-Valois (Aisne), wo 50 Franzosen, 44 Polen, 16 Belgier, 8 Schweizer und 4 Tschechen gezählt wurden. Der Arbeitskräftemange l in Frankreich konnte in den 1920er Jahren nur durch die Beschäftigung von Ausländern aufgefangen werden. Vor dem Hintergrund der niedrigen Geburtenrate und der katastrophalen Bevölkerungsverluste des Ersten Weltkriegs hieß Frankreich Zuwanderer willkommen und förderte ihre Integration. Das Staatsangehörigkeit srecht von 1927 setzte die als Einbürgerungsvorausse tzungzwischenzeitl ich wieder geforderten zehn Jahre Aufenthalt im Land erneut auf drei Jahre herab. Wie bereits um die Jahrhundertwende gelang vielen Zuwanderern, vor allem Polen, Belgiern und Italienern, die Integration und 25 26 Polnische industrielle Arbeitswanderer im Ruhrgebiet (>Ruhrpolen<) seit dem Ende des 19. Jh. Italienische landwirtschaftliche Arbeitskräfte in Südwestfrankreich seit den 1920er Jahren; Italienische industrielle Arbeitskräfte in West- und Mitteleuropa im späten 19. und frühen 20. jh.; Italienische Arbeitswanderer im Baugewerbe in der Region Paris seit den 1870er Jahren. FRANKREICH 133- der beruflich-soziale Aufstieg. Das aber sollte sich in den 1930er Jahren abrupt ändern. Migration und Integration im Zeichen von Wirtschaftskrise und Krieg 1931-1945 Mit der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre wurden Zuwanderer in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt, weil die Arbeitsplätze den Franzosen vorbehalten werden sollten. Antisemitismus sowie fremdenfeindliche Abgrenzung gegenüber den Flüchtlingen des Spanischen Bürgerkriegs 1936-1939 nahmen zu. Unter dem Vichy-Regime wurden Juden und Angehörige der politischen Linken durch Auslieferung an die deutschen Besatzer in den sicheren Tod geschickt. Damit wandelte sich Frankreich zwischen 1931 und 1940 von einem Staat, der gegenüber Zuwanderern offen und integrativ agierte, zu einem Regime, das Ausländer argwöhnisch verfolgte. Bergwerke und Industriebetriebe entließen zu Beginn der Krisenjahre zuerst ihre ausländischen Beschäftigten. In Nordfrankreich sank die Zahl der ausländischen Bergleute bis 1933 um 24 Prozent, danach nahmen die Entlassungen nochmals erheblich zu. Die Kosten für die Rückreise wurden oft vom Staat oder vom Arbeitgeber übernommen. Bis 1936 hatten mehr als 630.000 Ausländer das Land verlassen; allein in Paris hatte sich ihre Zahl um ein Drittel reduziert. Im allgemeinen bemühten sich die zuständigen staatlichen Stellen und Unternehmer um eine familienfreundliche Politik, so daß vorrangig alleinstehende Männer ausgewiesen wurden. Der daraus resultierende Anstieg des Anteils ausländischer Frauen und Kinder erhöhte allerdings die Sichtbarkeit der Zuwanderungsbevölkerung, was die Fremdenfeindlichkeit der einheimischen Bevölkerung weiter schürte. Auch Flüchtlinge rückten stärker in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Frankreich hatte bereits zahlreiche italienische Antifaschisten aufgenommen, die durch ihre Flucht gegen das 1927 von Mussolini verhängte Auswanderungsverbot verstießen, als mit der Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler 1933 die Zahl der Flüchtlinge in Frankreich rapide anstieg. 27 Kirche und öffentliche Meinung waren den Flüchtlingen zunächst wohlgesonnen, bis offensichtlich wurde, daß es viele Juden unter ihnen gab. Nicht nur in den Unterschichten nahm Fremdenfeindlichkeit verstärkt antisemitische Züge an. Auf die Flucht vieler Juden nach Frankreich und die steigende Zahl ihrer Nachkommen in Fachschulen und Universitäten reagierten viele einheimische Akademiker, besonders die Freiberufler unter ihnen, mit agitatorischer Hetze. Demonstrationen gegen jüdische Jura- und Medizinstudenten mündeten in restriktivere Gesetze, die Ausländern die Berufsausübung in Frankreich erschwerten. Einem Gesetz von 1933 nach durften ausländische Ärzte beispielsweise erst praktizieren, wenn sie einen zehnjährigen Aufenthalt in Frankreich nachweisen konnten. Ein Erlaß von 1935 begrenzte das Recht auf Familienzusammenführung und Reisefreiheit innerhalb Frankreichs; die Versammlungsfreiheit für Ausländer wurde 1939 aufgehoben. Nach der französischen Niederlage im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland 1940 setzte die Vichy-Regierung die bisher geforderte Aufenthaltsdauer von drei Jahren als Voraussetzung für die Einbürgerung erneut auf zehn Jahre fest. Zahlreichen Franzosen, denen aufgrunddes Gesetzes von 1927 die französische Staatsangehörigkeit verliehen worden war, wurde diese wieder entzogen. Den rechtsgerichteten politischen Kräften hatten sie ohnehin nur als >Papier-Franzosen< 27 Politische und intellektuelle Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und aus dem von Deutschland besetzten Europa 1933-1945; Jüdische Flüchtlinge aus demiiationalsozialistischen Deutschland und dem von Deutschland besetzten Europa seit 1933. -134 WESTEUROPA gegolten. Ziel dieser Maßnahmen war es, vor allem jüdischen Neuankömmlingen den Schutz durch die französische Staatsbürgerschaft zu entziehen sowie, ganz allgemein, die Niederlassung und Integration von Migranten zu verhindern. Schon 1936-1938 hatte die Dritte Republik eine Politik der Ausgrenzung bestimmter Gruppen betrieben, die für den einzelnen die Einweisung in ein Lager bedeuten konnte. Diese Politik gewann während des Zweiten Weltkriegs erheblich an Bedeutung: Immer mehr Kommunisten, >Zigeuner<, Juden und andere >Fremde< wurden interniert. Nur spanischen Flüchtlingen des Bürgerkriegs 1936-1939 aus dem Baskenland, aus Aragon und Katalonien schlug etwas mehr Sympathie entgegen. Noch im Februar 1939 überquerten eine halbe Million Männer, Frauen und Kinder die Grenze nach Frankreich. Im Juli 1939 hielten sich noch 325.000 spanische Flüchtlinge in Frankreich auf. 28 Wie im Ersten Weltkrieg ging es auch im Zweiten Weltkrieg nicht um Fragen der Integration von Ausländern, im Gegenteil: Viele Neuankömmlinge- Juden und Angehörige der politischen Linken- blieben im Vichy-Frankreich gänzlich ohne Schutz, wurden inhaftiert und deportiert. Etwa 75.000 Juden, zwei Drittel von ihnen aus dem Ausland, deportierten französische und deutsche Dienststellen in enger Abstimmung in die Vernichtungslager in Ostmitteleuropa. Die französische Regierung lieferte nicht nur bereitwillig ausländische und in Frankreich geborene Juden und Linke an Deutschland aus, sondern schickte zudem viele weitere Franzosen zur Zwangsarbeit, so daß 1944 rund 1,25 Millionen französische zivile Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft arbeiteten. 29 Zuwanderungen in den >Trente Glorieuses< 1945-1975 Mit dem Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit kamen Zuwanderer aus Nachbarländern, aus dem Mittelmeerraum und aus den früheren Kolonien nach Frankreich. Die Zahl der Zuwanderer stieg auf Rekordwerte, überflügelte 1971 den bis dahin erreichten Höchstwert von etwa drei Millionen aus dem Jahr 1931 und erreichte 1975 rund 3,4 Millionen. Frankreich stellte in diesem Zeitraum keine Ausnahme dar, vielmehr gelangten in den fast 30 Jahren des Wirtschaftsbooms Zuwandererströme nach ganz West-, Mittel- und Nordeuropa. Integrationserfolg und Aufenthaltsdauer hingen von der Herkunft der Zuwanderer und dem Zeitpunkt ihrer Ankunft ab. Unmittelbar nach Kriegsende 1946 bildeten Polen, Italiener, Spanier und Belgier die größten in Frankreich lebenden Ausländergruppen. Vor allem die zahlreichen Polen und Italiener, die in der Zwischenkriegszeit ins Land gekommen waren, integrierten sich schnell und stiegen in besser bezahlte und qualifizierte Beschäftigungen in expandierenden Wirtschaftszweigen auf. 1950-1970 gelang beispielsweise den Söhnen polnischer Arbeiter im zentralfranzösischen Departement Cher mit höherer Wahrscheinlichkeit der Aufstieg in Führungspositionen oder in Angestelltenberufe als den Söhnen einheimischer Arbeiter; ähnliches galt für den Aufstieg italienischer Zuwanderer der zweiten Generation in Facharbeiter- oder Angestelltenberufe. Ebenso wie zunächst die polnische Zuwanderung schwächte sich nach den 1960er Jahren auch die italienische Zuwanderung ab. Beide Gruppen profitierten von den Angeboten des >Office National de !'Immigration< (ONI, 1987 geändert in >Office des Migrations Internationales<, OMI), das ausländischen Arbeitskräften die gleichen Sozialleistungen zusicherte wie der einheimischen Bevölkerung. Diese Maßnahmen förderten die Integration der bereits länger im Land lebenden Zuwanderer erheblich. 28 29 Spanische politische Flüchtlinge in Europa seit dem Beginn des Bürgerkriegs 1936 (Beispiel Frankreich). Zwangsarbeitskräfte in Deutschland und im von Deutschland besetzten Europa im Zweiten Weltkrieg. 135-- FRANKREICH Bis 1975 hatten 80 Prozent der Italiener in Frankreich einen nicht-italienischen Ehepartner geheiratet; bei Polen lag dieser Wert bei 65 Prozent, bei Spaniern bei 60 Prozent. Bis 1975 dominierte die Zuwanderung aus Südeuropa, Europäer stellten weiterhin mehr als die Hälfte aller Zuwanderer in Frankreich. Den Italienern folgten Spanier, dann Portugiesen.30 Bis Ende der 1960er Jahre hatte die Zahl der Spanier in Frankreich die der Italiener fast erreicht. Nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 stieg die Zuwanderung aus dem nordafrikanischen Land erheblich an, so daß 1968 Algerier nach Italienern und Spaniern die drittgrößte Zuwanderergruppe in Frankreich bildeten.31 Die Zuwanderung aus Marokko und Tunesien wuchs nach 1968 deutlich, ebenso wie aus den ehemaligen französischen Kolonien in Indochina und im subsaharischen Afrika, insbesondere aus Mali und dem Senegal (s. Tabelle 2). 32 Hinzu kamen nach Gründung des staatlichen >Bureau pour le developpement des Migrations Interessant les Departmements d'Outre Mer< (BUMIDOM) 1963 vieleNeuankömmlingeaus den früheren karibischen Kolonien. Diese Institution erstattete Reisekosten, bot berufsbildende Kurse für Zuwanderer an und förderte Familienzusammenführungen zu einer Zeit, als Zuwanderungen aus den Übersee-Departements als wünschenswerter galten als jene aus Afrika. VieleMigranten von den französischen Antillen fanden Anstellungen im öffentlichen Sektor, bei der Post oder im Gesundheitswesen. 1975lebten mehr als 100.000 Zuwanderer karibischer Herkunft in Frankreich.33 Ende der 1960er Jahre setzte ein unerwartet starker Zustrom portugiesischer Migranten ein, die 1975 mit 750.000 Personen alle übrigen Zuwanderergruppen in Frankreich übertrafen. Portugiesen und Algerier sollten in den Folgejahren unterschiedliche Wege der Integration durchlaufen. Tabelle 2: Zuwanderer in Frankreich nach nationaler Herkunft 1946-1999 in Prozent 1946 1954 1962 1968 1975 1982 1990 1999 Spanier 21,6 20,5 24,5 25,5 15,3 9,1 6,2 5,3 Italiener 32,2 36,0 34,8 24,0 14,3 9,5 7,3 6,6 Polen 30,2 19,0 9,8 5,5 2,9 1,8 1,4 1,1 Portugiesen 1,6 1,4 2,8 12,4 23,4 21,5 18,7 18,2 Algerier 1,6 15,0 19,3 19,9 21,9 22,5 17,6 15,6 Marokkaner 1,1 0,8 1,8 3,5 8,0 12,3 16,5 16,6 Tunesier 0,1 0,4 1,5 2,6 4,3 5,3 5,9 5,1 Andere Afrikaner 0,9 0,1 1,0 1,4 2,5 4,4 6,9 9,3 Asiaten 5,0 2,9 2,0 1,9 3,2 8,1 12,2 13,5 Türken 0,6 0,4 k.A. 0,3 1,6 3,4 5,7 6,8 2,0 2,2 1,7 1,5 1,6 0,8 0,4 0,2 0,1 0,4 Jugoslawen 1,5 1,2 1,2 Russen 3,6 2,4 1,4 Hauptzuwanderergruppen gesamt in Tausend 1.401 1.413 1.810 2.379 3.243 3.575 3.479 3.047 Quelle: Berechnet nach INSEE; Volkszählungen in: Blanc-Chaleard, Les immigres et la France, S. 51; k.A. = keine Angabe. 30 31 32 33 Spanische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs; Portugiesische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit den 1950er Jahren (Beispiele Frankreich und 1 Deutschland). Maghrebiner in Frankreich seit der Dekaionisation in den 1950er und 1960er Jahren. Vietnamesische koloniale und postkoloniale Zuwanderer in Frankreich seit dem Ersten Weltkrieg; Schwarzafrikaner aus den ehemaligen Kolonien in Frankreich seit den 1960er Jahren. Westinder in Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. I 36 WESTEUROPA Die Jahre vor 1975 waren gekennzeichnet durch temporäre Arbeitswanderungen vor allem männlicher Saisonwanderer, die ohne Familien nach Frankreich kamen, um Geld zu verdienen. Ähnlich wie in den 1920er Jahren handelte es sich vor allem um Italiener und Spanier, die beispielsweise Seite an Seite im Pariser Baugewerbe arbeiteten, sowie um Italiener und Algerier in den ostfranzösischen Stahlwerken. Diese junge und hochmobile Bevölkerungsgruppe leistete höhere Beiträge zu Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenkassen als sie an Sozialleistungen zurückerhielt, vor allem weil ein Großteil keine Familienangehörigen mit nach Frankreich gebracht hatte. Noch wurde kaum über Fragen von Assimilation, Integration und über die Perspektiven der zweiten Generation gesprochen. Das änderte sich mit dem Ölpreisschock 1973 und den wirtschaftlichen Wachstumsstörungen in der Folgezeit. Erneut stellte Frankreich im europäischen Vergleich keine Ausnahme dar: Der im Juli 1974 verhängte Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte kam nur einige Monate später als in Belgien und in der Bundesrepublik Deutschland. Zuwanderungsbeschränkung und Rückkehrförderung waren das Ziel. In der Realität blieben diese Ziele unerreicht: Weder sank die Zahl der Ausländer in Frankreich noch wuchs deren Rückkehrbereitschaft Statt dessen stieg die Tendenz zur dauerhaften Niederlassung in Frankreich: Die Zuwanderer gründeten Familien oder holten sie nach, blieben nach Ablauf ihres Touristenvisums illegal im Land oder waren bereits illegal eingereist. 1982 erreichte die Zahl der Menschen ausländischer Herkunft in Frankreich mit über 3,5 Millionen ihren bis heute unübertroffenen Höhepunkt. Die Zuwanderung aus Algerien als umfangreichste postkoloniale Migration nach Frankreich war gekennzeichnet durch schwerwiegende Konflikte, trotzder Tatsache, daß Algerier seit 1946 frei einreisen konnten und 1947 sogar die algerischen Muslime -nicht nur die europäischen Siedler in Algerien- die französische Staatsangehörigkeit erhalten hatten (ebenso wie Muslime aus Mali und dem Senegal). Nachdem der algerische Unabhängigkeitskrieg 1962 mit den Verträgen von Evian beendet worden war, wuchs die Zuwanderung algerischer Arbeitskräfte stark an. Damit ergab sich eine signifikante Verschiebung bei der räumlichen Herkunft der Zuwandererbevölkerung: Der Großteil der Zuwanderer war nunmehr maghrebinischer Herkunft. 1975 stellten sie fast 40 Prozent der Zuwandererbevölkerung in Frankreich. 34 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Frankreich die Zuwanderung aus Algerien und anderen Anrainerstaaten des Mittelmeers zunächst gefördert. Die Mehrheit der Algerier kam als >Gastarbeiter< ohne Familien und mit fester Rückkehrabsicht, so daß Fragen nach ihrer Integration nicht zur Debatte standen. Als ab 1960 der Algerienkrieg in seine härteste Phase trat, wurden Algerier in Frankreich zu Opfern von Diskriminierung, Hetze und gewalttätigen Polizeiaktionen, die am 17. Oktober 1961 in der Ermordung von mindestens 200 Personen bei der Niederschlagung einer friedlichen Demonstration in Paris kulminierten. Algerier galten als Verräter und Feinde Frankreichs und wurden auch zum Ziel rechtsgerichteter Anti-Einwanderungspolitik. In den 1960er Jahren kamen überwiegend arabische Algerier ins Land, aber auch deren frühere Gegner: zum einen die >Pieds Noirs<, europäische Siedler, die zum Teil ihre anti-arabischen Aktivitäten in Frankreich fortsetzten, zum anderen die >Harkis<, die als Soldaten oder als Verwaltungspersonal mit der Kolonialmacht kollaboriert hatten und nach ihrer Ankunft in Frankreich zunächst in separaten Sammellagern untergebracht wurden. 35 Mit dem Ende des Algerienkriegs und der Entlassung Algeriens in die Unabhängigkeit verbanden viele Franzosen die Erwartung, daß die algerischen Zuwanderer 34 35 Maghrebirrer in Frankreich seit der Dekaionisation in den 1950er und 1960er Jahren. >Pieds-Noirs< aus Algerien in Frankreich seit 1954; >Harkis< aus Algerien in Frankreich seit 1962. FRANKREICH 137_ in ihr Herkunftsland zurückkehren würden. Das Gegenteil war der Fall: Algerische Flüchtlinge strömten in großer Zahl nach Frankreich, nun kamen oft auch Frauen, Kinder und weitere Familienmitglieder. Teile der französischen Gesellschaft begegneten ihnen mit offener Ablehnung, die in den frühen 1970er Jahren in einer Serie rassistisch motivierter Morde kulminierte. Darin spiegelte sich eine integrationsfeindliche Haltung: Algerier galten grundsätzlich als nicht in die französische Gesellschaft integrierbar. Die Auseinandersetzungen veranlaßten die algerische Regierung 1973, aus Sorge um die algerischen Staatsbürger im Ausland die Abwanderung nach Frankreich zu verbieten. 1975 hielten sich mehr als 700.000 Algerier in Frankreich auf. Probleme und Perspektiven der Integration nach 1975 Mitte der 1970er Jahre wuchs der Umfang der portugiesischen Zuwandererbevölkerung über den der algerischen hinaus: Die Zahl der Portugiesen stieg rasch von 300.000 (1968) über 750.000 (1975) auf über 780.000 (1982). Familien zogen nach, eine zweite Zuwanderergeneration wuchs heran. Portugiesen hielten durch jährliche Urlaubsaufenthalte, oft anläßlich von Hochzeiten und Taufen, rege Kontakte zu ihrem Herkunftsland aufrecht. Allerdings heiratete bereits Anfang der 1990er Jahre mehr als die Hälfte (59 Prozent) der in Frankreich geborenen Söhne portugiesischer Eltern Französinnen; der entsprechende Wert für die Töchter lag mit 47 Prozent ebenfalls sehr hoch. Sowohl die zweite Generation der Portugiesen als auch die der Spanier ließ sich in den Wählerverzeichnissen registrieren. Für beide Gruppen gilt, daß sie um so bessere Schulleistungen erzielten, je jünger sie zum Zeitpunkt der Zuwanderung nach Frankreich waren. Heiratsverhalten, Wahlbeteiligung und schulischer Erfolg der Südeuropäer zeugen, trotz anfänglicher Schwierigkeiten, von einer gelungenen Integration. Dabei waren die bereits länger im Land lebenden Gruppen, wie Italiener und Spanier, erfolgreicher als die später zugewanderten Portugiesen. Hier manifestiert sich eine der Lehren der Migrationsgeschichte, nach der die Zeit der wichtigste Integrationsfaktor ist. Die Situation der maghrebinischen Zuwanderer war weitaus komplexer. Neben den Arabern und Kabylen aus Algerien kamen seit der Zwischenkriegszeit große Gruppen von Marokkanern nach Frankreich. Die Maghrebiner zeigten vergleichbare Muster des Heiratsverhaltens, mit allerdings starken Unterschieden zwischen Männern und Frauen. Nach Daten für den Zeitraum ab 1992 arrangierten algerische und marokkanische Familien in mehr als der Hälfte aller Fälle die Heiraten ihrer Töchter, während dies nur bei etwa 30 Prozent der jungen Männer der Fall war. Zudem heirateten rund 50 Prozent der Algerier der zweiten Generation in Frankreich Französinnen, während nur ein Viertel der Algederinnen eine Ehe mit einem Franzosen einging. Unter den algerischen Schülern gab es eine hohe Schulabbrecherquote (23 Prozent), die jedoch bei portugiesischen Schülern ebenso hoch lag. Algerische und portugiesische Schülerinnen schnitten mit 16 Prozent etwas besser ab. Dennoch gab es auch Bildungserfolge: Ein großer Teil der algerischen Schüler (31 Prozent der Männer, 30 Prozent der Frauen) erwarb die allgemeine Hochschulreife oder einen berufsqualifizierenden Abschluß. Diese Integrationserfolge und Bildungsleistungen waren in Anbetracht der zu bewältigenden materiellen und politischen Schwierigkeiten im Zuge der Massenzuwanderungen der Nachkriegszeit sehr hart errungen. Die Fünfte Republik kämpfte mit Problemen von Unterbringung und Integration einerseits und !lrüt wachsender Fremdenfeindlichkeit der einheimischen Bevölkerung andererseits. Die Wohnsituation stellte in den 1960er Jahren das größte Hindernis für die Durchsetzung ange- 138 WESTEUROPA messener Lebensbedingungen der Zuwanderer dar: Viele lebten zusammengedrängt unter slumähnlichen Bedingungen abseits der Wohngebiete der Einheimischen in >bidonvilles< ohne fließendes Wasser, zureichende sanitäre Anlagen und befestigte Straßen. Das galt beispielsweise 1968 für 15.000 portugiesische Arbeitswanderer und ihre Familien in Champigny im Südosten von Paris oder in Nanterre, wo im gleichen Jahr etwa 10.000 vor allem algerische Migranten lebten. Ab 1964 schwenkte die französische Wohnungsbaupolitik um, ließ die häßlichen und unhygienischen improvisierten Behausungen abreißen und errichtete statt dessen >cites de transit< - von Mauern umgebene Übergangsunterkünfte mit zureichenden sanitären Anlagen, die die Familien für rund zwei Jahre aufzunehmen sollten, bis solidere große Wohnkomplexe zur Verfügung standen. Aus zwei Jahren wurden schließlich bis zu zehn: Die Förderung des Wohnungsbaus für Zuwanderer rückte ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte, während die Zuwanderungspolitik zunehmend restriktive Züge annahm. Während das Wort >Ausländer< in den 1930er Jahren zum Sammelbegriff für unerwünschte Flüchtlinge und Juden wurde, verwies der Begriff >Zuwanderer< in den 1980er Jahren nicht mehr auf die Gesamtheit der ins Land gekommenen Arbeitskräfte, sondern mit abwertender Tendenz auf die Maghrebiner in Frankreich. Als derart problembehaftete >Zuwanderer< galten nicht nur im Ausland geborene Nordafrikaner, sondern auch ihre in Frankreich geborenen Kinder. Sehr klar sichtbare Tendenzen der Integration wurden damit verleugnet. Im Hintergrund standen anti-arabische Ressentiments, die während des Algedenkriegs aufblühten und politische Wurzeln schlugen, als die rechtspopulistische Partei >Front National< unter Jean-Marie Le Pen erstarkte. In den 1990er Jahren erreichten neue Zuwanderergruppen Frankreich, darunter Türken, die bereits in vielen anderen west- und mitteleuropäischen Ländern feste Herkunftsgemeinschaften etabliert hatten. 36 Die Zuwanderung von Chinesen, Vietnamesen und anderen Asiaten nahm zu. 37 Schließlich kamen mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten Ost-, Ostmittel-und Südosteuropas nach 1989 auch immer mehr Zuwanderer aus diesen Regionen ins Land. 38 Einige, vor allem Chinesen, waren Teil der >Globalisierung von unten<, einer Form der weltweit vernetzten Arbeitsmigration, die nun auch West- und Mitteleuropa erreichte. Andere kamen aufgrund der kolonialen Vergangenheit Frankreichs, wie Vietnamesen und Senegalesen. Für wieder andere, wie Russen und Rumänen, erhöhten sich nach den politischen Umbrüchen in ihren Herkunftsländern die Ausreisechancen. Schließlich erreichten zahlreiche politische Flüchtlinge Frankreich, insbesondere aus Kambodscha, Vietnam, Zai:re (ab 1997 Demokratische Republik Kongo) und der Türkei. 39 Vergangenheit und Zukunft Frankreich teilt bestimmte Muster in der langen Entwicklung der Migrationsverhältnisse mit anderen west- und mitteleuropäischen Ländern. Wie Deutschland, die Schweiz und Großbritannien nahm Frankreich an der Wende zum 20. Jahrhundert und erneut während des langen Wirtschaftsbooms nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeitskräfte in großer Zahl aus dem Ausland auf. In der Zwischenkriegszeit jedoch 36 37 38 39 Türkische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit der Mitte der 1950er Jahre. Vietnarnesische koloniale und postkoloniale Zuwanderer in Frankreich seit dem Ersten Weltkrieg. Polnische Arbeitswanderer in Mittel- und Westeuropa seit 1989; Ost-, ostrnittel- und südosteuropäische Prostituierte in West-, Mittel-, Nord- und Südeuropa seit den 1980er Jahren. Vietnarnesische Flüchtlinge in West-, Mittel- und Nordeuropa seit den 1970er Jahren. FRANKREICH 139 - rekrutierte Frankreich in stärkerem Maße als andere Länder Arbeitskräfte aus Polen, der Tschechoslowakei und aus den Nachbarländern, von denen viele auf Dauer im Land blieben und sich in die französische Gesellschaft integrierten. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Tendenz unübersehbar, daß viele der Zuwanderer, die nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen waren, sowie ihre Kinder und Kindeskinder zum integralen Bestandteil der französischen Gesellschaft werden. Dafür spricht ihre große Bereitschaft, die französische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Um die Wende zum 21. Jahrhundert wurden jährlich mehr als 100.000 Ausländer französische Staatsbürger: Voraussetzung war entweder die Heirat mit einem französischen Ehepartner (im Jahr 2000 mehr als 26.000), der erfolgreiche Einbürgerungsantrag nach fünf Jahren Aufenthalt in Frankreich (mehr als 50.000 jährlich) oder die Annahme der Staatsangehörigkeit als in Frankreich geborene Kinder von Zuwanderern mit dem 21. Lebensjahr (2000 etwa 43.000). Darüber hinaus kämpft eine starke Bewegung aufenthaltsrechtlich Illegaler (>Sans-papiers<) für die Legalisierung ihres Status. Nach der Volkszählung von 1999 haben 36 Prozent der Zuwanderer in Frankreich die französische Staatsangehörigkeit erworben. Der Integrationsprozeß schreitet merklich voran in den öffentlichen Schulen, am Arbeitsplatz und bei der Familiengründung. Während die Geburtenraten der Spanier, Italiener und Portugiesen sich denjenigen der Franzosen angepaßt haben, weisen Maghrebiner und Türken weiterhin etwas höhere Geburtenraten auf. Auch in ihrem Fall sind sie allerdings in den letzten 20 Jahren deutlich gesunken. Integrationshindernisse bilden in Frankreich, wie auch in anderen Ländern, gegenwärtig zwei Entwicklungen: Anders als während der> Trente Glorieuses< (1945-1975), als für alle Zuwanderergenerationen Arbeitsplätze in Aussicht standen und es viele Möglichkeiten gab, von ungelernten Tätigkeiten in qualifizierte Berufe aufzusteigen, prägen heute wirtschaftliche Wachstumsschwäche und hohe Arbeitslosigkeit die Integrationsverhältnisse. Es entstehen derzeit kaum neue Arbeitsplätze für un- oder angelernte Arbeitskräfte. Daß beispielsweise die zweite Generation algerischer Zuwanderer seltener heiratet als andere Gruppen, liegt unter anderem darin begründet, daß junge Algerier keinen Arbeitsplatz finden, der die Gründung eines eigenen Haushalts finanziell ermöglicht. Seit der iranische Oppositionelle und Revolutionsführer Ayatollah Khomeini 1979 das französische Exil verließ und in den Iran zurückkehrte, war eine immer stärkere Bindung muslimischer Neuankömmlinge an die Herkunftsgemeinschaft zu beobachten, anti-islamische Ressentiments wuchsen vor dem Hintergrund politischer Konflikte, und der islamische Fundamentalismus verbreitete sich. Diese Entwicklung verschärfte sich im Zuge des Angriffs auf das World Trade Center 2001, durch den Irak-Krieg seit 2003 und immer häufigere Anschläge auf Synagogen und jüdische Friedhöfe in Frankreich. Eine der staatlichen Reaktionen auf das anti-islamische Klima bestand darin, die Bedeutung staatlicher Schulen als eines gemeinsamen, säkularen Raumes hervorzuheben und muslimischen Schülerinnen das Tragen von Kopftüchern zu verbieten, da diese als religiöses Symbol interpretiert wurden (ebenso wie große Kreuze, Kippa und Turbane). Daraus resultierte im Frühjahr 2003 das Kopftuchverbot an staatlichen Schulen. Die französische Gesetzgebung sucht das Bild eines säkularen Staates zu stärken, der Zuwanderung begrüßt und Assimilation fördert. Arbeitslosigkeit und die Entfremdung einer zunehmend fundamentalistischen und politisierten muslimischen Bevölkerung werden noch verschärft durch eine Wohnungspolitik, die segregativ wirkt und viele große Gruppen von Neuzuwanderern sowie Angehörige der zweiten Generation in die Banlieues der großen Städte nötigt. Dort herrschen tiefgreifende soziale Spannungen und eine hohe Arbeitslosigkeit. Im November 2005 offenbarten Ausschreitungen in und um Paris sowie in den Banlieues anderer Städte die wachsende Kluft zwischen einheimischen Franzosen und den 140 WESTEUROPA >Zuwanderern<. Integration zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen, bleibt eine dringliche politische Herausforderung. In Reaktion auf die Krawalle von 2005 rücken gegenwärtig Fragen der schulischen und beruflichen Bildung als Katalysatoren der Integration ins Zentrum der öffentlichen Diskussion in Frankreich. Literatur Klaus J. Bade, Buropa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Marie-Claude Blanc-Chaleard, Les immigres et Ia France, XIXe-XXe siede, Paris 2003. Yves Charbit/Marie-Antoinette Hily /Michel Poinard, Le va-et-vient identitaire. Migrants portugais et villages d' origine, Paris 1997. Leslie Choquette, Frenchmen into Peasants. Modernity and Tradition in the Peopling of French Canada, Cambridge, MA 1997. Adrian Favell, Philosophies of Integration: Immigration and the Idea of Citizenship in France and Britain, New York 2001. NancyGreen, Ready-to-Wear and Ready-to-Work: A Century oflndustry and Immigrants in Parisand New York, Durham, NC 1997. Nancy Green, Repenser les migrations, Paris 2002. 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