Prof. Dr. Juliane Sagebiel Soziale Erfindungen Fachtag an der Hochschule München Soziale Arbeit und Soziale Erfindungen Meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst einmal möchte ich mich bei der Veranstalterin dieses Fachtages „Soziale Erfindungen“ recht herzlich für die Einladung bedanken. Vor einigen Wochen bin ich in Frankfurt im Museum gewesen und auf ein Bild gestoßen, das sehr gut zu unserem Thema paßt: „ Zwei proletarische Erfinderinnen auf dem Weg zum Erfinderkongress“ von Martin Kippenberger 1984. Eine kurze Bildbetrachtung mag uns in das Thema einführen. Wir sehen zwei einfach gekleidete Arbeiterinnen, vermutlich ohne einen höheren Bildungsabschluss, denen man normalerweise keine Fähigkeiten zu Erfindung zutrauen würde. Es ließe sich schlussfolgern, selbst Frauen, also jede und jeder ohne Vorbildung ist in der Lage, für praktische Probleme des Alltags neue, bessere Lösungen zu finden. Der Hintergrund ist farbig und hell, das könnte auf die Hoffnung schließen, Erfindungen erleichtern das Leben und versprechen eine bessere Zukunft. Auf dem Weg zum Erfinderkongress sind sie, heißt ihnen wir ein öffentlicher Raum geboten, in dem sie ihre Bedarfe äußern können, gehört und ernst genommen werden und in dem sie ihre Ideen und Potentiale realisieren können. Was können wir aus dieser, sicher subjektiven Interpretation, für unser Thema schlussfolgern? Jeder und jede ist potentiell in der Lage Dinge zu verändern, Probleme zu lösen. Lösungen für praktische Probleme des Alltags, im sozialen Umfeld (Lebenswelt) können eine spürbare, qualitative Veränderung herbeiführen, indem sie die Lebensqualität der Menschen verbessern. Doch um diese Ideen zu realisieren, sie dauerhaft im Sozialen zu etablieren, muss sie von vielen Akteuren geteilt und getragen werden. Soziale Erfindungen brauchen einen öffentlichen Raum, eine institutionelle Einbindung, in dem Menschen ihre Bedürfnisse erkennen, sie beschreiben und in dem sie Lösungen ausprobieren können. Erst wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, dürfen wir von Nachhaltigkeit sprechen. „Soziale Nachhaltigkeit bedeutet, Strukturen der Entscheidungsfindung und der Kooperation zu entwickeln und zu verbessern, die die Chancen der Einzelnen vergrößern, die Konsequenzen ihres Handelns überschauen zu können. (…) Deshalb setzt soziale Nachhaltigkeit darauf, Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen und die Selbstverantwortung von (…) Einzelnen zu fördern“ (Peters/ Sauerborn 1994, 21). 1 Vortrag: 06.06.2013 Prof. Dr. Juliane Sagebiel Soziale Erfindungen Fachtag an der Hochschule München Soweit zur Einleitung. Ich darf Sie einladen in der nächsten halben Stunde mit mir gemeinsam auf einen „sozialen Erfinderkongress“ zu gehen. Unser Thema lautet: „Soziale Arbeit und Soziale Erfindung“. Um einen Zusammenhang zwischen beiden Begriffen herzustellen beginnen wir uns in Erinnerung zu rufen, was Soziale Arbeit ist, welche Ziele sie anstrebt, wie sie diese begründet und was sie wie tut. Werfen wir einen Blick auf die Definition der IFSW : Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession hat den Auftrag das individuelle Wohlbefinden der Menschen zu fördern, sie zu ermächtigen ihnen eine befriedigende Teilhabe am Leben zu ermöglichen und den sozialen Wandel zu fördern. Sie unterstützt Menschen (Individuen, Gruppen und das Gemeinwesen) bei der Bewältigung von sozialen Problemen. Sie basiert auf humanitären und demokratischen Idealen, fühlt sich den Menschenrechten und der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet und diese Werte resultieren aus dem Respekt vor der Gleichheit und Würde aller Menschen. (IFSW 2000, DBSH 2005). Und die des Deutschen Berufsverbandes (DBSH von 2005). Da heißt es: „Die Profession Soziale Arbeit hilft der Politik, in dem sie mögliche Ursachen für Problemlagen benennt (Handlungsforschung) und zugleich über neu entstehende Problemlagen informiert (Frühwarnsystem). Die Profession Soziale Arbeit hilft der Gesellschaft, indem sie unmittelbar den sozialen Zusammenhalt fördert, darüber hinaus gesellschaftliche Veränderungsbedarfe anmahnt, zu deren Umsetzung beiträgt und Teilhabe aller BürgerInnen ermöglicht und unterstützt. Die Profession Soziale Arbeit handelt auf der Grundlage von Schlüsselkompetenzen, die wiederum Grundlage für die Anwendung besonderer Methoden sind.“ In meinem Vortrag – bzw. auf unserem Weg zum Erfinderkongress – möchte ich an folgenden Stationen Halt machen: 1. Soziale Arbeit ist historisch betrachtet eine soziale Erfindung, die sich arbeitsteilig im Zuge der Industrialisierung herausgebildet hat. 2. Soziale Arbeit befasst sich mit der Konstitution sozialer Probleme, auf allen gesellschaftlichen Niveaus. Sie beschreibt, erklärt, bewertet und bearbeitet soziale Probleme und trägt somit zu ihrer Verhinderung und Bewältigung bei. 3. Soziale Arbeit arbeitet mit wissenschaftlich begründeten und ethisch orientierten Methoden und Verfahren, die soziale Veränderungen anregen und dauerhaft etablieren. 4. Professionelle, reflexive Soziale Arbeit ist veränderungs- und zukunftsorientiert. Sie erkennt und reagiert auf die drängenden Gegenwarts- und Zukunftsfragen und trägt zum gesellschaftlichen Wandel bei. 5. Abtauchen oder Auftauchen? Welche Zukunft hat die Soziale Arbeit im Sog eines sich entgrenzenden Sozialstaates – braucht die Profession selbst soziale Erfindungen? 2 Vortrag: 06.06.2013 Prof. Dr. Juliane Sagebiel Soziale Erfindungen Fachtag an der Hochschule München I Soziale Arbeit als soziale Erfindung Soziale Arbeit hat sich im Verlauf der Industrialisierung als ein organisiertes, rechtlich begründetes, wissenschaftsbasiertes und wertegeleitetes Hilfesystem herausgebildet. Sie agiert als intermediäres System zwischen Staat und Markt. Die moderne, wissenschaftsbasierte Soziale Arbeit war eine Erfindung von engagierten Menschen, vor allem Frauen aus der Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts, die die Not und das Elend der Menschen erkannt haben und Wege zur Abhilfe gesucht haben. Sie erkannten, dass zentrale Bedürfnisse der Fabrikarbeiter, der Arbeitslosen, der Frauen und Kinder nicht befriedigt waren, und sie erkannten den Zusammenhang von individueller Not und defizitären gesellschaftlichen Strukturen. Um ihnen ein befriedigendes, menschenwürdiges Leben zu ermöglichen sahen sie die Notwendigkeit und Chance junge Menschen – insbesondere junge Frauen des Bürgertums - zur sozialen Hilfsarbeit auszubilden. Das war neu! Mithin eine soziale Erfindung, wie Norbert R. Müller (2013, 10) sie definiert, denn sie orientierten sich an den Bedürfnissen der Menschen, formulierten diese öffentlich als Anliegen der Gesellschaft und schufen damit eine soziale Veränderung: den Beruf der Fürsorgerin. In der Gründerzeit der Ausbildung gab es „keine fertige verkaufsfertige Wissenschaft der Sozialen Arbeit“ (Salomon 1984, 102) sie musste erst im Prozess der Lehre und Praxisforschung entwickelt (erfunden) werden. In einem gemeinsamen Such- und Lernprozess erfanden diese Frauen die transdisziplinär konzipierte HandlungsWissenschaft Soziale Arbeit. Ihre Erfindung war quasi eine Gegenmacht zu der männlich dominierten Wissenschaftsauffassung jener Zeit. Ihr Focus lag auf dem Erkunden und Sammeln von Wissen, das der Lösung praktischer Probleme dient, indem sie die traditionelle Trennung von Theorie und Praxis überwanden und diese in ein dynamisches, lebendiges Verhältnis zueinander setzten (Sagebiel 2010, 53). Eine weitere soziale Erfindung war, dass sie – Alice Salomon, Helene Weber, Gertrud Bäumer, Jane Addams, u.a.- jungen Frauen eine fachlich qualifizierte, bezahlte berufliche Tätigkeit über die Ausbildung anboten, die es ihnen nicht nur ermöglichte einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, sondern aus der Unsichtbarkeit des Privaten, in den öffentlichen Raum zu treten und sich einzumischen und auf soziale Missstände aufmerksam zu machen und Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben. => Wir dürfen festhalten: Soziale Arbeit als Profession ist eine soziale Erfindung II: Soziale Probleme Gehen wir zur nächsten Station. Warum kommt es zu sozialen Erfindungen? Weil es soziale Probleme gibt. Beide hängen miteinander zusammen und bedingen sich gegenseitig. Sie bilden ein fortwährend spannungsgeladenes, dialektisches (gegensätzliches) Verhältnis zwischen dem positiven Pol soziale Erfindungen und dem negative Pol sozialer Probleme. In diesem Spannungsverhältnis agiert die Soziale Arbeit. Ihr Gegenstand sind soziale Probleme, die strukturell im Schnittpunkt gesellschaftlicher Kräfte- und Machtverhältnisse liegen. Da sich diese im Verlauf der Geschichte immer 3 Vortrag: 06.06.2013 Prof. Dr. Juliane Sagebiel Soziale Erfindungen Fachtag an der Hochschule München wieder verändern tauchen auch immer wieder neue soziale Probleme auf und fordern neue soziale Erfindungen heraus. Waren es um früher existentielle Nöte wie die absolute Armut der FabrikarbeiterInnen und Heimarbeiterinnen, so sind es heute Lebensrisiken und die verhinderte Teilhabe an der Gesellschaft in all ihren Ausprägungen. Nun ließe sich die Frage stellen, ob die neuen Probleme nicht auch die alten sind, und ob die Reaktionen darauf, die als neu definiert werden, nicht schon einmal erfunden wurden. Nach dem Motto: „Je schneller das Neuste zum Alten wird, desto schneller kann Altes zum Neuen werden“ (Horx 2008, 229 in Böhnisch 2011, 14). Wir leben nicht mehr in einer organisierten Industriegesellschaft, sondern in einer freisetzenden, kapitalistischen Konsumgesellschaft, in der nur noch der zählt, der konsumieren kann (Welzer 2013). Im digitalen Kapitalismus - wie Böhnisch ihn nennt - werden dem Individuum andere Bewältigungskompetenzen abverlangt als noch von 30 Jahren, als wir auf der Schreibmaschine schrieben. Was gleich geblieben ist für die Menschen, ist jedoch das Leiden an der Kultur und der Gesellschaft. Die Mensch „leiden unter benachteiligenden ökologischen und strukturellen Verhältnissen, unter geringen Integrationschancen, Existenznöten, unter erfolglosem individuellem Bemühen bzw. Versagen – kurz: sie sind von verschiedenen Ausprägungen sozialer Probleme betroffen“(Geiser 2007, 36). Soziale Probleme verweisen auf Ungleichheiten zwischen Menschen, die nicht sein müssten, die im Zusammenhang mit elementaren Bedürfnissen von Individuen nach Integration in die soziale Umwelt stehen. Um auf soziale Probleme angemessen reagieren zu können, sprich sie professionell zu bearbeiten, dürfen wir fragen, was sind soziale Probleme, wie und warum entstehen sie. Oder um mit Groenemeyer, einem bekannten Soziologen zu sprechen: was meint „doing social problems“? Erst einmal ist festzuhalten, dass die Definition, bzw. Beschreibung sozialer Probleme, je nach wissenschaftlicher Provenienz der AutorenInnen recht unterschiedlich ausfällt. Ich beschränke mich im Folgenden auf die zwei soziologische und eine sozialarbeitswissenschaftliche Perspektive. Soziologisch sind soziale Probleme vom Durchschnitt abweichende Zustände, die von bestimmten Gruppen in der Gesellschaft wie z.B. Politikern, Institutionen oder Wissenschaftlern, als problematisch beurteilt werden. Ihre Beseitigung liegt im Interesse der Betroffenen und der Gesellschaft. Solche Zustände können Armut, Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt, Drogenmissbrauch, Kriminalität, Slumbildung oder Korruption u.v.a.m. sein (vgl. Endruveit 2002, 416). Soziale Probleme sind normative soziale Konstruktionen, die je nach Kultur, Lebensraum und Wertvorstellungen verschieden definiert werden. So kann Alkoholkonsum in islamisch geprägten Ländern als soziales Problem bewertet werden, während maßvoller Konsum in westlichen Ländern kein soziales Problem darstellt. Hinzu kommt, dass die Definition von sozialen Problemen einhergeht mit dem sozialen Wandel in einer Gesellschaft. Diese –hier sehr kurz gefasste sozialkonstruktivistische Definition – basiert auf der Annahme, dass soziale Probleme nur solche Zustände abbilden, die von den Inhabern der Definitionsmacht (z.B. von Wissenschaftlern, den Medien oder der Politik) öffentlich reklamiert werden. Für die Soziale Arbeit jedoch ist diese Definition nicht ausreichend, denn sie befasst sich neben den öffentlich anerkannten sozialen Problemen mit dem ganz alltäglichen Leiden von Menschen, dem Alltag, der Lebenswelt. Und das sind oft Notlagen, die keine Resonanz in den Medien finden wie z.B. Konflikte in der Familie, Ängste, Isolation usw. 4 Vortrag: 06.06.2013 Prof. Dr. Juliane Sagebiel Soziale Erfindungen Fachtag an der Hochschule München Demnach bedarf die Definition sozialer Probleme als Gegenstand der Sozialen Arbeit einer Erweiterung. Nach Staub-Bernasconi, Obrecht und Geiser (vgl. 2005, 15) sind soziale Probleme praktische Probleme, die ein Individuum in Bezug auf seine soziale Integration und seine Position in der Gesellschaft hat. Es sind Probleme, die sich auf die Interaktion mit anderen Menschen, Gruppen und Institutionen beziehen, z.B. in der Familie, in der Nachbarschaft, mit der Schule, dem Vermieter, Ärzten, den Behörden, der Komune. Zum anderen sind es Probleme, die sich auf die gesellschaftliche Position beziehen. Menschen mit bestimmten Merkmalen wie ethnische Minderheiten, Frauen, alleinstehende alte Menschen, Arbeitslose, Behinderte genießen nur einen geringen Status in der Gesellschaft. Diese soziale Randstellung ist ein Zustand, der weitere Probleme verursachen kann: z. B. psychische Probleme, wie Einsamkeit, Ängste, Desintegration und biologische Probleme wie psychische Krankheiten. Auch die physikalische und chemische Umwelt kann soziale Probleme generieren, wenn z.B. die Wohnung feucht mit Schimmel befallen ist, nicht ausreichend geheizt werden kann, vermüllt, die Luft unrein ist etc. All die genannten Probleme können sich gegenseitig bedingen und in mehrfacher Form auftreten. Professionell sprechen wir von einer Akkumulation der Problemlagen. Soziale Probleme als Gegenstand der Sozialen Arbeit lassen sich nach Staub-Bernasconi (1994, 14) in vier Problemkategorien gliedern: 1. Ausstattungsprobleme: das sind Probleme, die sich auf die körperliche (Gesundheit, Alter, Geschlecht), psychische (Erkennen Empfinden, Erleben), ökonomische (Bildung, Arbeit, Einkommen, Position), symbolische (Werte, Überzeugungen), soziale Beziehungen (Familie, Freunde, Nachbarschaft, Vereine) und die Handlungskompetenzen beziehen. 2. Austauschprobleme: das sind Probleme, die sich auf die sozialen Beziehungen eines Individuums zu seiner Umwelt beziehen. Ist das Tauschverhältnis ausgewogen – solidarisch, vertrauensvoll, kooperativ und friedlich besteht ein symmetrisches Verhältnis. Ist es hingegen unausgewogen, besteht eine Schieflage zwischen Geben und Nehmen, dann ist es asymmetrisch und für einen Partner nicht befriedigend. 3. Machtprobleme: sind Probleme, die aus der sozialen Position und der Verfügung, bzw. Nichtverfügung über Ressourcen resultieren. Sie hängen mit Ausstattungsund Austauschproblemen zusammen und den fördernden oder behindernden Zugangsregeln zu Ressourcen in einer Gesellschaft zusammen. 4. Wertprobleme: sind Probleme, die im Zusammenhang mit Werten, Normen, Rechten und Pflichten, Gesetzen und Vorstellungen stehen, was gut und was nicht gut ist. Schlägt ein Mann Frau und Kinder besteht ein Wertproblem, denn er handelt gegen das Gesetz; fehlen hingegen Gesetze, die häusliche Gewalt unter Strafe stellen, besteht auch ein Wertproblem, denn das Grundbedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit wird nicht geschützt. => Wir dürfen festhalten: Soziale Probleme – als praktische Probleme - bilden den Gegenpol zu sozialen Erfindungen sie bedingen sich gegenseitig. Erfindung 5 Vortrag: 06.06.2013 Prof. Dr. Juliane Sagebiel Soziale Erfindungen Fachtag an der Hochschule München III. Professionelles Handeln – Methoden als problemorientierte Arbeitsformen Mit jeder Lösung von sozialen Problemen können potentiell auch wieder neue soziale Probleme auftreten. Werfen wir z.B. einen Blick auf die Tafelbewegung. Sie wurde erfunden, weil der Hartz IV Satz den notwendigen Lebensunterhalt nicht ausreichend abdeckt und es ökologisch nicht vertretbar ist, Nahrungsmittel wegzuwerfen. Sicher eine gute Tat, sie ermöglicht die Befriedigung biologischer Grundbedürfnisse, sie umverteilet den Überfluss an Lebensmitteln. Doch gleichsam verletzt sie die Würde der Menschen und entlässt den Sozialstaat aus der Verantwortung. Garantierte Bürgerrechte werden durch willkürliches, barmherziges Handeln abgelöst, von denen die Bittsteller abhängig sind (Selke 2010, 17). Warum dieses Beispiel? Um zu zeigen, dass Lösungen immer ein Risiko bergen unbeabsichtigte Nebenfolgen zu produzieren. Sich dieser Nebenwirkungen oder gar der Gefahr des Scheiterns bewusst zu sein, erfordert eine reflexive Perspektive im professionellen Handeln, die Widersprüche und Ambivalenzen zulässt, die sich vom Mithalten an der ökonomischen Dynamik distanziert und innehält, Umwege geht und sich Zeit nimmt die Dinge und Sachverhalten erst einmal zu beschreiben, zu erklären und erst dann über Handlungsoptionen nachdenkt. Genau darin liegt das Kapital professioneller Sozialer Arbeit (Böhnisch 2011: 12). Fragen wir: welchen Stellenwert haben Methoden – und soziale Erfindungen sind eine Methode - zur Veränderung soziale ungerechter, unbefriedigender Zustände – in der Sozialen Arbeit? Professionelle Soziale Arbeit orientiert ihr zielgerichtetes, problemlösendes Handeln an theoretischem Wissen, ethisch begründetem fachlichen Können. Zum einen gilt das Prinzip der Methodenoffenheit: d. h. es gibt keine festgelegten Methoden, denn der Inhalt, die Fragestellung, das Problem bestimmen die Wahl der Methode. Sie richtet sich nach den Menschen, ihren Möglichkeiten und Wünschen (Seithe: 2013,15). StaubBernasconi spricht von problembezogenen Arbeitsweisen, die die Suche nach einer allumfassenden „Supermethode“ hinfällig macht, denn „die Mehrdimensionalität der Probleme wird auch eine mehrdimensionale Sicht von Arbeitsweisen und Handlungsregeln nah sich ziehen müssen“. Und „Eine klare, differenzierte Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit ist die Basis für die Entwicklung problembezogener sowie wissenschaftsbasierter Arbeitsweisen und Schlüsselqualifikationen“ (Staub-Bernasconi 1994, 58). Zum anderen arbeitet Soziale Arbeit ergebnisoffen: sie verhandelt die Wege und Ziele zur Lösung partizipativ mit den AdressatInnen, ist offen für Veränderungen im Hilfeprozess, formuliert Ziele um und kann daher keine Ergebnisse vorher festsetzen (Seithe:2013,15). Wohlbemerkt, wir sprechen hier von professioneller Sozialer Arbeit, die sich an den Bedürfnissen der Menschen und dem ethischen Codex orientiert nicht von einer neoliberalen, an der aktuellen Haushaltslage wirkungsorientierter Sozialen Arbeit (dort lautet die Handlungsorientierung: Steuerung). Wir dürfen festhalten: professionelles Handeln basiert auf theoretisch fundiertem Wissen, ethisch begründeten Werten und Zielen, und professionellem Können und Erfahrungswissen. 6 Vortrag: 06.06.2013 Prof. Dr. Juliane Sagebiel Soziale Erfindungen Fachtag an der Hochschule München Entsprechend dem Wandel der Gesellschaft verändern und entwickeln sich soziale Probleme, die neue Methoden – und das sind soziale Erfindungen - hervorbringen. Eine reflexive Haltung zu Methoden finden Das Interventionsspektrum ist mehrniveaunal und zielt auf alle beteiligten sozialen Systeme der AkteureInmnen. Nimmt die Soziale Arbeit ihren Auftrag den sozialen Wandel und soziale Gerechtigkeit zu fördern ernst, geht dieser über individuelle Hilfen und persönliche Unterstützung hinaus. Dann „gehören auch die Einflussnahmen auf Wirtschaft, Bildungssystem, (Sozial)Politik und Rechtssystem, …. Mitarbeit an Sozialgesetzen … dazu“ (Staub-Bernasconi 2002, 255). Sie übernimmt aktiv eine gesellschaftliche Verantwortung und setzt sich für strukturelle und politische Lösungen ein (Seithe 2013, 14). IV Wie kann professionelle Soziale Arbeit zum gesellschaftlichen Wandel beitragen? Der politische Auftrag der Sozialen Arbeit ein ausgeträumter Traum? Damit kommen wir zum letzten Abschnitt: wie kann „gute“ Soziale Arbeit (Seithe 2013) zum gesellschaftlichen Wandel beitragen, ohne dem neoliberalen Geist mit seiner marktgängigen Effizienzlogik anheim zu fallen? Oder müsste die Frage lauten, wie kann professionelleSoziale Arbeit überleben? Eine Antwort in Anbetracht unseres Themas liegt scheinbar schnell auf der Hand: durch soziale Erfindungen. Doch das ist erst der zweite Schritt. Als ersten Schritt würde ich im erregten Klima der Modernisierungs- Steuerungs- und Wirkungsanforderungen einen reflexiven Blick in das „Schatzkästen“ der Profession empfehlen. Was wissen wir über den Zusammenhang von Individuen und Gesellschaft? Welche Werte und Ziele vertreten wir? Was können wir tun, was nicht und was hat sich bewährt? Mit welchen Problemen sind wir aktuell konfrontiert? Beginnen wir auf der Makroebene. Da haben wir es mit der Entgrenzung des Sozialstaates in dessen Sog unsere Profession zur Disposition steht, mit dem ökonomischen Argument, unsere Dienstleistungen seien zu teuer und zu wenig effizient, zu tun. Die Adressaten haben in dem aktivierenden Sozialstaat selbst die Verantwortung für ihre Probleme zu tragen und von ihnen werden Gegenleistungen erwartet. Der Einfluss struktureller Bedingungen auf die individuellen Notlagen werden in der neoliberalen Sichtweise geflissentlich ausgeblendet. Begleitet wird dieser gesellschaftliche Wandel vom Mythos der Machbarkeit. Böhnisch nennt das den konstruktivistischen Glauben des „doing future“. (Böhnisch 2011, 9). Alles scheint machbar, käuflich, alles muss schnell, besser und innovativ sein. Doch Innovation allein verengt den Blick und die Handlungsoptionen. Dass sich dahinter verdeckte ökonomisch-technologische Ertrags- Machtinteressen verbergen, die den Menschen mit seinen Bedürfnissen außer Acht lassen, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Folglich ist Sozialpolitik etwas für die Schwachen, die die Zukunft eh nicht schultern können (Böhnisch 2011, 10). In dieser Kultur des Mithaltens wird die Soziale Arbeit an den Rand gedrängt, sie scheint die „schöne“ neue Zukunft aufzuhalten. In Abhängigkeit von den Zuwendungen des (noch) Sozialstaates müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit unsere Leistungen markfähig sind. 7 Vortrag: 06.06.2013 Prof. Dr. Juliane Sagebiel Soziale Erfindungen Fachtag an der Hochschule München Doch wie bereits an anderer Stelle erwähnt, wissen wir: „Je schneller das Neuste zum Alten wird, desto schneller kann Altes zum Neuen werden“ (Horx 2008,229 in Böhnisch 2011, 14). Erinnern und vergegenwärtigen wir uns dieser simplen Tatsache, dann können wir in entlastender Gewissheit eine professionelle Distanz zu neolibealen Logik einnehmen. Von dieser Position aus lassen sich Alternativen finden und es entsteht Raum für kreative Lösungen. Wir dürfen uns selbst-bewußt werden, über welches Potential wir verfügen, statt es und uns ständig klein zu reden. Nur noch mal zur Erinnerung: In der Profession verfügen wir über • eine breites Spektrum theoretischen Wissens zur Beschreibung und Erklärung sozialer Probleme und Herausforderungen, • wir haben ein Professionsmandat, das uns auf Werte verpflichtet, • wir haben einen Fundus an Arbeitsformen und • wir haben eine wenn auch lange zurückliegende Erfahrung uns international zu organisieren. • Und wir wissen aus Erfahrung, dass personenbezogene soziale Dienstleistungen nur beschränkt sinnvoll zu standardisieren sind. • Und, dass Hilfemaßnahmen zu unbeabsichtigten Nebenfolgen führen können, dass über Umwege oft schneller und wirkungsvoller Ziele erreichbar sind. Diese Erfahrungen bezeichnen wir als Prozessqualität im Unterschied zur ökonomischen Ergebnisqualität. Unser Motto für die Zukunft könnte lauten: Entschleunigung Innhalten statt Mithalten - Besinnen statt Mitsingen könnte eine Alternative sein. V. Auftauchen oder Abtauchen? Braucht die Profession selbst soziale Erfindungen? Die Soziale Arbeit ist geübt im Umgang mit Widersprüchen und Konflikten, sie kann auf ein reichhaltiges theoretisches Wissen aufbauen, sie kann Widersprüche aufdecken, sie kann soziale Missstände öffentlich anmahnen, sie kann Menschen befähigen, ihre Anliegen zu artikulieren, ihren Lebensraum zu gestalten und sie kann sich politisch zu Wort melden. Sie kann und muss nicht nur für und mit ihren AdressatInnen neue Wege zur Lösung von sozialen Problemen erfinden, sie muss es vor allem auch für sich selbst. Erfinden heißt einen Blick ins Schätzkästchen werfen, sich auf die Tradition der Profession und ihrer Leistungen besinnen, Innehalten, analysieren was los ist, auf die berufsethischen Werte zu reflektieren und dann erst zu handeln. Soziale Arbeit hat dann eine Chance in der Zukunft, wenn sie endlich wieder auftauchtsichtbar im öffentlichen Raum wird, gemeinsam aktiv handelt auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene und so ganz im Sinne von Hannah Arendt Neues in der Welt schafft. 8 Vortrag: 06.06.2013 Prof. Dr. Juliane Sagebiel Soziale Erfindungen Fachtag an der Hochschule München Wir dürfen festhalten: Soziale Arbeit braucht den selbstvergewissernden Blick in die Vergangenheit, den kritisch, reflektierten Blick in der Gegenwart und einen hoffungsvollen, kreativen Blick in die Zukunft. Und den Mut gemeinsam zu Handeln. Damit wären wir am Ende unseres Ausfluges zum Erfinderkongress angelangt. Ich bedanke mich für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit und möchte Sie mit einem Zitat von Staub-Bernasconi ermutigen zu neuen sozialen Erfindungen in der Sozialen Arbeit „Träume, Utopien und Handlungstheorien müssen an der Praxis, der Erfahrung scheitern können, um neuen Träumen, differenzierteren Utopien, angemesseneren Theorien und menschen- wie gesellschaftsgerechten Lebensformen Platz zu machen.“ Literatur Böhnisch, Lothar; Schroer, Wolfgang (2011): Blindflüge. Versuch über die Zukunft der Sozialen Arbeit. Weinheim und München, Juventa Engelke, Ernst; u.a. (2009): Die Wissenschaft Soziale Arbeit. Werdegang und Grundlagen 3. Auflage. Freiburg im Breisgau. Lambertus Geiser, Kaspar ( Problem- und Ressourcenanalyse in der Sozialen Arbeit. Einführung in die Systemische Denkfigur und ihre Anwendung. 2. Überarb. Auflage. Luzern Lambertus Hammerschmidt, Peter; Sagebiel Juliane (Hrsg.) (2010): Professionalisierung im Widerstreit…Neu Ulm, AG Spak Müller, Norbert (2013): Über Soziale Erfindungen in der Tradition von Robert Jungk. Reader zum Fachtag „Soziale Erfindungen in der Tradition von Robert Jungk“ Hochschule München 06.06.2013 Peters/ Sauerborn (1994): Nachhaltigkeit … In: Stracke Baumann, Claudia (2013): Die Bedeutung Sozialer Erfindungen für die Soziale Arbeit. In: Reader zum Fachtag „Soziale Erfindungen in der Tradition von Robert Jungk“ Hochschule München 06.06.2013, S. 21 Sagebiel, Juliane (2009). Der professionelle Umgang mit Armut nach der Handlungstheorie von Silvia Staub-Bernasconi. In: Maier, Konrad (Hrsg.): Armut als Thema der Sozialen Arbeit. Freiburg im Breisgau. Fel Salomon, Alice (1984): Charakter und Schicksal Lebenserinnerungen. Herusgegeben von Rüdiger Baron und Rolf Landwehr. Weinheim und Basel Seithe, Mechthild (2013): Was ist gute soziale Arbeit? SozialAktuell. Nr. 3_März 2013 Selke, Stefan (2010): Tafeln zwischen Mythos und Wirklichkeit. In: Forum SOZIAL 1/2010, S. 14-17 Stracke Baumann, Claudia (2013): Die Bedeutung Sozialer Erfindungen für die Soziale Arbeit. In: Reader zum Fachtag „Soziale Erfindungen in der Tradition von Robert Jungk“ Hochschule München 06.06.2013 Staub-Bernasconi, Silvia (1994): Soziale Probleme – soziale Berufe – soziale Praxis. In: Heiner, Maja; Meinhold, Marianne; von Spiegel, Hiltrud; Staub-Bernasconi, Silvia: Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Freiburg im Breisgau. Lambertus Welzer, Harald (2013): Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main. S. Fischer 9 Vortrag: 06.06.2013