Textvorlage: Fachlexikon der Sozialen Arbeit, 7.. Auflage 2011 Hrsg. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Berlin, Eigenverlag Juliane Sagebiel Macht in der Sozialen Arbeit Von gesellschaftlichen Macht-balancen- und -beziehungen hängen sowohl die Entstehung, wie die Definition von sozialen Problemen, die Durchsetzung professioneller Bewältigungsformen und die Anerkennung der Sozialen Arbeit als Wissenschaftsdiziplin ab. Machtstrukturen und die daraus resultierenden sozialen Probleme als Gegenstand der Sozialen Arbeit konstituieren das Praxisfeld der Profession. Macht ist ein Kräfteverhältnis und das Ergebnis von sozialen Beziehungen, das sich in sozialen Systemen über die Interaktionen von Individuen widerspiegelt. Machtbeziehungen zeichnen sich durch eine Positions- und Interaktionsstruktur aus, in der diejenigen, die über Ressourcen, Fähigkeiten und Symbole verfügen, ein Oben und diejenigen, die über weniger Ressourcen verfügen, ein Unten bilden. Hierarchisch angeordnete Beziehungen sind sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung für soziale Chancen und Integration. Sie verweisen auf Status und Position und somit auf Teilhabechancen innerhalb der Gesellschaft. AdressatInnen der Sozialen Arbeit nehmen in der Regel eine niedrige soziale Position ein, die auf strukturelle Abhängigkeiten, bzw. soziale Ungleichheit verweist. Ihre Lebenssituation ist geprägt durch einen Mangel an ökonomischen, bildungsmäßigen, symbolischen und sozialen Ressourcen i.S. fehlender Mitgliedschaften, sozialer Isolation, Ausgrenzung, fehlender sozialer Anerkennung, mangelndem Einfluss und Fremdbestimmung. Sie leiden nach sozialarbeitswissenschaftlicher Auffassung unter praktischen, sozialen Problemen, die als Machtprobleme zuungunsten der AdressatInnen strukturiert sind, denn sie erschweren ihnen, ihre biologischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse angemessen zu befriedigen. Die individuelle Ausstattung eines Menschen bilden Machtquellen, die sofern sie erkannt und genutzt werden, über das Maß an Einfluss in sozialen Beziehungen i. S. von Position, Anerkennung und Status entscheiden. Als Machtquellen gelten: a. Körpermacht i. S. von physischer Stärke und Attraktivität, b. Ressourcenmacht i.S. von kaptialwerten Gütern, Bildung, soziokulturellen Eigenschaften (Position) und Mitgliedschaften, c. Modell- und Artikulationsmacht i. S. von Überzeugungsfähigkeit, Wissen und Problemlösungsfähigkeit, e. Positions- und Organisationsmacht i.S. von Vernetzungs- u. Organisationsfähigkeit. Die Erschließung von Machtquellen und der Aufbau legitimer Macht zur Bewältigung von sozialen Problemen kann durch problemorientierte Arbeitsweisen wie Ressourcenerschließung, Bewusstseinsbildung, Vernetzung, und Empowermentstrategien erreicht werden. Ob Macht problematisch i.S. von menschenverachtender und behindernder Ungleichheitsordnung ist oder gerecht i.S. von bedürfnis- und menschengerechter sozialer Ordnung, hängt ab von der Art wie die Verteilungsmuster von Gütern und die Arbeitsteilung geregelt ist, wie Ideen und Werte institutionalisiert, legitimiert und sanktioniert werden. In der strukturellen Schichtung der Gesellschaft als hierarchische Muster und Wertzuschreibungen zeigen sich soziale Ungleichheit und soziale 1 Gerechtigkeit. Staub-Bernasconi unterscheidet für die Soziale Arbeit als normative Handlungswissenschaft zwei Formen der Macht: die legitime, menschengerechte Begrenzungsmacht und die illegitime, menschenverachtende Behinderungsmacht. Begrenzungsmacht als bedürfnisnahe und einschränkende Steuerung von Machtbildungsprozessen ermöglicht den Individuen den legitimen Zugang zu allen verfügbaren Ressourcen in allen Lebensbereichen, die Menschen für ihre Existenzsicherung und gesellschaftliche Teilhabe benötigen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Religion, Hautfarbe. Behinderungsmacht dagegen schließt willkürlich einzelne Gruppen von der gesellschaftlichen Partizipation aus, indem vorhandene Güter künstlich verknappt werden. Behinderungsregeln beschränken und disziplinieren nach unten und entgrenzen und eröffnen die Umverteilung nach oben. Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession ist ohne eine theoretische Reflektion und einen kritisch professionellen Umgang mit Macht nicht denkbar. Denn die Macht ist allgegenwärtig auf allen gesellschaftlichen Niveaus, in denen Soziale Arbeit agiert. Die theoretisch basierte, kritische Reflektion reicht von der professionellen Hilfebeziehung über die Macht der Fachkräfte und der ihr zur Verfügung stehenden Hilfe- und Kontrollinstrumente, der Macht- und Ohnmacht der AdressatenInnen bis hin zu den Machtund Hierarchiestrukturen der Trägerorganisationen. Für die Beschreibung, Erklärung und normative Bewertung von Machtverhältnissen bieten sich Denkfiguren an, die Macht als menschliche Fähigkeit zu handeln beschreiben, wie die klassische Definition von Max Weber, die handlungstheoretische Konzeption von Hannah Arendt und die phänomenologische Perspektive von Heinrich Popitz. Macht bedeutet nach Max Weber die Chance innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Ein Akteur kann zum eigenen Nutzen gegenüber einem Schwächeren durchsetzen und dessen Gehorsam erzwingen, indem er die Chance nutzt seine Machtquellen einzusetzen. Institutionalisierte Macht legitimiert sich als Herrschaft über Recht, Tradition und Charisma. Für Hannah Arendt entspringt Macht der menschlichen Fähigkeit sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner, sie ist im Besitz organisierter Gruppen und bleibt nur so lange existent wie diese zusammenhält. Die menschliche Fähigkeit zur Machtbildung verweist auf die Vergänglichkeit und Veränderbarkeit von Machtstrukturen und Abhängigkeiten. Heinrich Popitz beschreibt Grundformen der Macht analog ihrer historischen Entwicklung und bezieht diese auf die anthropologischen Voraussetzungen und Handlungsfähigkeiten des Menschen. Macht ist eine notwendige Kraft, um soziale Ordnungen zu schaffen und zu stabilisieren. Da Macht von Menschen geschaffene Strukturen sind, sind sie veränderbar und müssen legitimiert werden, da sie freiheitsbegrenzend wirken. Machtbeziehungen entstehen aufgrund der Entsprechung von menschlichen Fähigkeiten einerseits (zu zerstören, zu drohen, Sicherheit und Anerkennung zu geben und die Natur technisch zu verändern) und den biologischen, psychischen und sozialen Abhängigkeiten andererseits (Verletzbarkeit, Angst, Orientierungs- und Anerkennungsbedürfnis und der Abhängigkeit von einer künstlich veränderte Umwelt). Michael Foucault hingegen untersucht Machtbildungsprozesse unter Effizienz- und Ökonomieaspekten als Zusammenspiel von Kräften und Regeln in Kultur und Gesellschaft. Diese Kräfte und Regeln verbinden und reproduzieren sich und bilden den gesamten 2 modernen Gesellschaftskörper, indem sie sowohl kontrollierende, einschränkende, als auch steigernde, positive Kräfte entfalten. Macht ist die Verbindung von Wissen über Menschen und Dinge, die sich in Diskursen entfalten und die Bedingungen festlegen, über was, wie gesprochen wird, was als aktuelle Wahrheit gilt, und was Normalität und was Abweichung ist. Vor dem Hintergrund dieser Perspektive entlarven sich wohlfahrts-staatliche, gesundheits-politische, gentechnologische Diskurse als verfeinerte, unsichtbare Machtdiskurse, die zum einen kontrollierend und disziplinierend konformes Verhalten erzwingen, zum anderen aber auch hochproduktiv, integrierend und im positiven Sinne kräftesteigernd auf die gesamte Bevölkerung zielen und wirken. Als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium des Funktionssystems Politik beobachtet Niklas Luhmann Macht. Nicht als Eigenschaften oder Besitz einer Person oder Gruppe, sondern als ein Medium für die Produktion von Erwartungen der Umwelt an das Politiksystem, kollektiv bindende Entscheidungen zur Sicherung der sozialen Ordnung bereitzustellen. Macht ist eine codegesteuerte Kommunikation, die als Kontextmarkierung in allen sozialen Systemen vorkommen kann und von diesen als Selektionsofferte über den Code Sicherheit/Unsicherheit gesteuert wird. In der Kommunikation unterliegt derjenige, der über mehr Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten verfügt und es unterliegt derjenige, der der das Kommunikationsangebot annehmen muss, ohne eine Alternative wählen zu können. Juliane Sagebiel, München 2-02-2010 Literatur: Arendt, H.: Macht und Gewalt, München Zürich 2000 Engelke, E.: Wissenschaft Soziale Arbeit. Werdegang und Grundlagen, Freiburg i. B., 2003Foucault, M.: Analytik der Macht, Frankfurt M., 2005 Luhmann, N.: Macht, 1988 Popitz, H.: Phänomene der Macht, Tübingen 1992 Sagebiel, J.; Der professionelle Umgang mit Armut nach der Handlungstheorie von Silvia Staub-Bernasconi, in: Maier, K. (Hg.): Armut und Soziale Arbeit, Freiburg i. B. 2009 Sagebiel, J., Vlecken, S.: Soziale Arbeit (M)acht Diagnose – Allgemeines methodisches Professionswissen als Quelle professioneller Identität, in: Engelfried, C. (Hg.): Soziale Organisationen im Wandel. Fachlicher Anspruch, Genderperspektive und ökonomische Realität. Frankfurt/New York, 2005 Staub-Bernasconi, S.: Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft, Bern.Stuttgart.Wien 2007 Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe. Mohr, Tübingen 1984 3