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UTB S (Small-Format) 3232
Macht
Bearbeitet von
Wilhelm Berger
1. Auflage 2009. Taschenbuch. 115 S. Paperback
ISBN 978 3 8252 3232 0
Format (B x L): 12 x 18,5 cm
Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >
Wissenschaftstheorie > Sozialphilosophie, Politische Philosophie
Zu Inhaltsverzeichnis
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UTB 3232
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„Grundbegriffe der europäischen Geistesgeschichte“
herausgegeben von Konrad Paul Liessmann
UTB
Wilhelm Berger
Macht
facultas.wuv
Wilhelm Berger, ao. Univ.-Prof. Mag. Dr., lehrt am Institut für Technik
und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Für Diskussionen und Hinweise bedanke ich mich
bei Jacob Guggenheimer, Kirstin Mertlitsch,
Klaus Ratschiller und Bernhard Wieser. W. B.
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2009
© 2009 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas.wuv, Berggasse 5, 1090 Wien, Österreich
Alle Rechte vorbehalten
Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand
Umschlagumsetzung: Atelier Reichert Stuttgart
Satz: Ekke Wolf, typic.at
Druck: Druckerei Pustet, Regensburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-8252-3232-0
Inhalt
Warum Macht?
Jahrhunderte der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Macht im Profil
1 2 3 4 5 6 7 Macht in der Antike:
Die „Erfindung“ der Demokratie und das erste Imperium . . .
Die Macht der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Macht der Fürsten, Macht des Staates . . . . . . . . . . . . . . .
Macht der Ökonomie, Macht des Geldes . . . . . . . . . . . . .
Macht des Wissens, Macht der Technik . . . . . . . . . . . . . .
Totalitäre Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Macht in Zeiten der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . .
21
37
53
61
69
83
93
Anhang
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Warum Macht?
Jahrhunderte der Macht
Schon das 20. Jahrhundert wurde von vielen als Jahrhundert der Macht
bezeichnet: Große Kriege verheeren die Welt; Faschismus und Stalinismus entfalten ungeheure destruktive Energien; mit der Erfindung
der Atombombe ist das Leben auf der Erde mit seiner Vernichtung bedroht; zwei Machtblöcke stehen sich gegenüber und tragen Konflikte
weltweit aus, in Vietnam und Korea, in Berlin und Kuba. Am Beginn
des 21. Jahrhunderts haben sich Wirkung und Reichweite von Macht
noch mehr gesteigert: Die Waffentechnologien sind perfektioniert; die
Blockbildung hat sich in eine Vielheit von Konfliktherden aufgelöst;
bis in den brasilianischen Urwald reichen die Folgen ökologischer
Eingriffe; die globalisierte Ökonomie, Medien und Internet, Überwachungstechnologien und die moderne Biotechnologie greifen tief in
das Leben der Einzelnen ein. Zwei Jahrhunderte nach dem Zeitalter
der Aufklärung mobilisieren religiöse und politische Fundamentalismen Massen von Menschen.
Der ungeheuren Steigerung von Macht entsprechen auf der anderen Seite das Gefühl und die Realität der Ohnmacht: Es ist, als ob
die Staaten, deren reale Wirtschaftsleistung vom Volumen der an den
Weltbörsen gehandelten Werte um ein Vielfaches übertroffen wird, auf
die Macht der globalisierten Ökonomie nur reagieren könnten; der Bedrohung durch Konflikte, den Auswirkungen ökologischer Eingriffe,
der Macht der Medien und der technologischen Vernetzung kann sich
kaum jemand entziehen. Gleichzeitig scheint Macht immer ungreifbarer zu werden: Überall verschuldete Staaten, aber keine sichtbaren
Gläubiger; immer anonymere Machtwirkungen und Sachzwänge, aber
immer weniger konkrete Personen, die als tatsächliche Machthaber
identifiziert werden könnten; die Konfliktlagen sind unübersichtlich.
Macht ist in diffuser Weise allgegenwärtig. „Die Macht der Macht“,
schreibt der Soziologe Niklas Luhmann, „scheint im Wesentlichen auf
dem Umstand zu beruhen, dass man nicht genau weiß, um was es sich
eigentlich handele“ (Luhmann 1969, 149).
Die zunehmende Spannung zwischen Macht und Ohnmacht gibt
Warum Macht?
einem Nachdenken über Macht seine Aktualität und Dringlichkeit.
Mit dem Thema sind viele andere Fragen eng verwoben: etwa die Frage
nach dem Politischen im Zeitalter der Globalisierung, nach der Steue­
rung des wissenschaftlichen Fortschritts, nach der Legitimität politischer Herrschaft – und schließlich die Frage nach der Gerechtigkeit.
Auch die Geschichte kann ohne den Begriff Macht nicht verstanden werden. Wie konnte das Römische Reich, eines der größten Imperien der Geschichte, überhaupt als Gesamtgefüge funktionieren? Wie
konnte das Christentum zwei Jahrtausende überdauern? Wie konnten die kapitalistische Ökonomie und die moderne Wissenschaft und
Technologie zu Strukturprinzipien werden, die überall wirksam sind?
Wie konnte sich der Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft
etablieren? Was führte die Angeklagten in den stalinistischen Schauprozessen dazu, ihre vermeintliche Schuld bedingungslos einzugestehen? Und umgekehrt: Wie konnte ein Machtsystem wie die DDR in der
Weise zusammenbrechen, wie sie gegen Ende des Films „Das Leben
der Anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck in einer Szene
verdichtet wird? Als die beiden degradierten, nun im Keller des Hauptquartiers private Briefe ausspionierenden Stasi-Offiziere über Radio
erfahren, dass die Mauer gefallen ist, stehen sie einfach wortlos auf und
gehen nach Hause.
Nicht umsonst zählt Macht daher, wie Peter Imbusch (1998, 9)
schreibt, zu den unverzichtbaren Grundbegriffen der Sozialwissenschaften, ja rangiert sogar unter ihren „top five“. Die Politikwissenschaft kann dort, wo sie sich als Wissenschaft der Demokratie begreift,
auf den Machtbegriff nicht verzichten (Greven 1991). Die Gegenwartsphilosophie beschäftigt sich in vielen Facetten – von anthropologischen Fragestellungen (z. B. Plessner 1931) bis zu emanzipatorischen
Ansätzen (z. B. Honneth 1985) – mit dem Thema Macht, indem sie sich
auch selber als Produzentin von Sinn und damit von Macht kritisch
reflektiert. In der Psychologie, von der Sozialpsychologie bis zur Psychoanalyse (z. B. Strotzka 1985) und anderen therapeutischen Schulen,
spielen Fragen der Macht eine wesentliche Rolle. Macht bezeichnet
literaturwissenschaftliche Fragestellungen (z. B. Borchmeyers Studie
zu Wallenstein, 1988) ebenso wie Probleme des Managements. Kurz:
Macht ist eine inter- und transdisziplinäre Kategorie par excellence.
Damit ist aber gleichzeitig ein Problem verbunden. Es wird in einem
Satz von Wolfgang Sofsky und Rainer Paris (1991, 9) deutlich: „Wer
Macht sagt, sagt auch Gesellschaft, doch wer Gesellschaft sagt, sagt
Jahrhunderte der Macht
immer auch Macht.“ Michael Mann (1990, 13), der mit seiner mehrbändigen „Geschichte der Macht“ ein Grundlagenwerk vorgelegt hat,
betrachtet Gesellschaften als „organisierte Machtgeflechte“ und setzt
damit Gesellschaft und Macht in eins. Und der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russel (1973, 10) hat in seinem 1947 erschienenen
Buch „Macht“ überhaupt vorgeschlagen, dem Machtbegriff in den Sozialwissenschaften einen Stellenwert als Grundbegriff zuzuweisen, wie
ihn der Begriff Energie in der Physik innehat.
Diese Tendenz zur Verallgemeinerung geht auf Friedrich Nietzsche
(1844–1900) zurück. Sein Begriff „Wille zur Macht“ markiert eine Radikalisierung des Themas und zugleich seine größte Erweiterung, die
nicht zufällig in einer Zeit großer technischer Neuerungen, ökonomischer Globalisierungstendenzen und des klassischen Imperialismus
stattgefunden hat. Obwohl der Begriff „Wille zur Macht“ durch seinen
Missbrauch für ideologische Zwecke, insbesondere im Nationalsozialismus, diskreditiert ist, und die nachgelassenen Fragmente Nietzsches
unter diesem Titel fälschlicher Weise zu einem Hauptwerk erklärt wurden, beweisen die Folgerungen, die aus Nietzsches Konzept gezogen
wurden, nach wie vor ihre Brauchbarkeit für eine Analyse der gegenwärtigen Situation. Eine Aktualisierung und Konkretisierung, die moderne Machttheorien wesentlich beeinflusst hat, leistete vor allem der
französische Philosoph Michel Foucault.
„Wille“ heißt bei Nietzsche nicht der Wille eines freien Subjekts,
sondern ist, in der Tradition Arthur Schopenhauers (1788–1860) ein
blindes Streben zum Sein, das reine Faktum des Existieren-Wollens.
Wenn man konsequent danach fragt, warum etwas ist, dann lautet die
letzte Antwort: Nicht durch Gott, nicht von Natur her, sondern weil es
als Aktivität ist, in diesem Sinne sein „will“. Alle Dinge und Lebewesen
werden nicht von einem transzendenten Prinzip im Sein gehalten, sondern durch dieses Streben selber. Im Gegensatz zu Schopenhauer, bei
dem dieses Streben ein Überleben-Wollen darstellt, ist der „Wille“ bei
Nietzsche gleichsam expansiv. Allem, was ist, geht es darum, mehr und
stärker zu werden. Vor diesem Hintergrund sieht Nietzsche die Lebewesen und die Menschen als Akteure, die in ständigen Prozessen der
Überwindung oder des Überwundenwerdens ihre Macht stärken oder
schwächen. Weil diese Prozesse kein gemeinsames Ziel haben, sind sie
notwendig heterogen.
Obwohl gerade die zuvor genannten Theoretiker dennoch unter ihren allgemeinen Definitionen vielfältige Differenzierungen vornehmen,
10
Warum Macht?
liegt die Frage nahe: Kann eine allgemeine Definition, für die Macht
gewissermaßen alles ist, den komplexen Problemen gerecht werden,
mit denen ein Nachdenken über Macht heute konfrontiert ist?
Die Unterscheidung von Macht und Gewalt
Noch vor allen Ausdifferenzierungen scheint jedenfalls eine grund­
legende Unterscheidung auf allgemeiner Ebene sinnvoll zu sein: die
zwischen Macht und Gewalt. Ihre Thematisierung führt schon mitten
in die Kontroversen um den Machtbegriff hinein.
Die Unterscheidung kann zunächst mit Elias Canetti (1905–1994)
plastisch werden, der an einer Stelle seines Werks „Masse und Macht“
schreibt: „Aus der Gewalt des Jägers wird die Macht des Hirten“ (Canetti 1980, 222). Der Jäger, vor dem das Tier flüchtet, wendet eine augenblickliche instrumentelle Gewalt an, um das Tier zu töten und sich
die Beute einzuverleiben. Dem Hirten, der seine Herde durch subtile
Mittel steuert und dem die Schafe scheinbar von selber folgen, geht es
um Aufzucht und Pflege, ehe auch er die Tiere tötet.
In diesem Bild werden zwei wichtige Aspekte einer möglichen Unterscheidung deutlich. Erstens: Das Nein der Gewalt ist entweder ein
definitiver Akt oder erzwingt ein bestimmtes Verhalten, bedingungslosen Gehorsam oder Flucht. Macht dagegen scheint auf so etwas wie
Zustimmung zu beruhen. Und zweitens: Gewalt erschöpft sich im negativen Akt ihrer Ausübung, in einem gewalttätigen Nein, mag dieses
Nein auch dauerhaft wirken, etwa in Gestalt einer Mauer. Macht dagegen bringt das Verhalten hervor, um das es ihr geht; sie ist in diesem
Sinne schöpferisch. Wenn die Philosophin Hannah Arendt (1906 bis
1975) eine Äußerung aus dem „roten Buch“ von Mao Tse-tung („die
politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“) umdreht, werden
beide Aspekte angesprochen: „aus den Gewehrläufen kommt immer
der wirksamste Befehl, der auf unverzüglichen, fraglosen Gehorsam
rechnen kann. Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht“
(Arendt 1970, 54).
Der erste Aspekt der Unterscheidung gehört schon früh zum begriffsgeschichtlichen Inventar der Philosophie. Für den Sophisten
Gorgias von Leontinoi (um 483–375 v. Chr.) ist es unter anderem die
Überredung, die Macht gegenüber der bloßen Gewalt definiert. Der
mittelalterliche Philosoph Wilhelm von Ockham (1285–1349) bei-
Jahrhunderte der Macht
11
spielsweise, der sich über das Thema der göttlichen Allmacht hinaus
menschlichen Machtverhältnissen zuwendet, sieht in der Zustimmung
der Menschen jene Dimension von Macht, die über bloße Kraft und
Gewalt hinausgeht. Und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831),
der den Begriff in komplexer Weise gebraucht, thematisiert unter dem
Begriff Macht die Vereinigung der Einzelnen, und diese Vereinigung
gelingt nicht durch Gewalt, sondern nur, wenn die Vereinigung zugleich „die Macht, das Anerkanntsein, d. i. ihr Gelten im Bewusstsein
ist“ (Hegel 1970, § 484).
Arendt hat Macht an den Begriff des Handelns gebunden und dabei von Gewalt unterschieden. Während Gewalt dem Einzelnen ein
bloß reaktives Verhalten aufzwingt, entspringt „Macht […] immer nur
dort, wo Menschen zusammen handeln“ (Arendt 1986, 725). Handeln
aber ist in dieser Definition immer offen. Weil es zwischen vielen Menschen stattfindet, entspricht ihm „das Faktum der Pluralität“ (Arendt
1981, 14). Macht bezeichnet dann Prozesse, in denen diese Pluralität
des Handelns in eine kollektive Form übergeht: „Über Macht verfügt
niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur
solange aufrecht, als die Gruppe zusammenhält“ (Arendt 1970, 45).
Mit dem Begriff Macht wird also nicht das Handeln eines Einzelnen
beschrieben, er zielt von vorneherein auf die Ebene der Relationen zwischen den Akteuren.
Das Einvernehmen in der Gruppe ist mehr als bloße Zustimmung.
Es kann in unterschiedlichen Formen hergestellt sein. Die Grenzwerte
dieser Formen sind für Arendt Republik und Totalitarismus. Auch in
der idealen Republik teilt ein politisches Gemeinwesen nicht nur einen
Konsens, das Gemeinwesen kommt überhaupt erst als organisierte Pluralität des Handelns, mithin als Macht zur Erscheinung. Autorität und
Institutionen stützen den Konsens. Der Totalitarismus leistet ebenfalls
nichts anderes als die Organisation der Pluralität des Handelns, und
zwar durch eine „ständig in Bewegung gehaltene Bewegung“ (Arendt
1986, 528), durch eine totale Mobilisierung, der sich niemand entziehen kann.
Auch der zweite Aspekt der Unterscheidung hat tiefe begriffsgeschichtliche Wurzeln. Die göttliche Allmacht und die Frage, ob Gott
auch gegen die von ihm geschaffene Ordnung handeln könnte, beschäftigte die christlich-mittelalterliche Philosophie. Macht hat in
allen germanischen Sprachen die Bedeutungswurzel von Kraft, vor
allem Zeugungskraft; das Wort transportiert letztlich die Bedeutung
12
Warum Macht?
der Machbarkeit und steht schließlich in Opposition zur Gewalt des
Schicksals und der Natur. Etymologisch gilt das für den deutschen
Sprachraum. Heinrich Popitz (1992, 12) weist darauf hin, dass die Prämisse der Machbarkeit das geschichtliche Verständnis von Macht spätestens seit der Aufklärung wesentlich mitbestimmt.
Für den französischen Philosophen Michel Foucault (1926–1984) ist
Macht weniger ein Prozess des Machens im Sinne der Machbarkeit, der
Fertigstellung von etwas gemachtem, sondern ein Machen als Prozess
– Macht existiert nur „in actu“ (Foucault 1978, 70). Diese Produktivität
von Macht ist Resultat eines historischen Transformationsprozesses,
der im 17. Jahrhundert einsetzt: An die Stelle der „Abschöpfung“, also
der bloßen Aneignung von Produkten und Dienstleistungen der Untertanen und der Bemächtigung ihres Lebens, treten Strategien, die „an
der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und
Organisation der unterworfenen Kräfte arbeiten: Diese Macht ist dazu
bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen,
anstatt sie zu hemmen, zu beugen und zu vernichten“ (Foucault 1979,
163). In seinem zum Klassiker gewordenen Buch „Überwachen und
Strafen“, in dem Foucault diesen Transformationsprozess am Beispiel
der Veränderung von Strafpraktiken im Übergang zum 19. Jahrhundert
beschreibt, zieht er den Schluss: „Man muss aufhören, die Wirkungen
der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‚ausschließen‘,
‚unterdrücken‘, ‚verdrängen‘, ‚zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ‚verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches“ (Foucault 1976, 250).
Die Abgrenzung, die er hier vornimmt, bedeutet zugleich eine Kritik
an verschiedenen Machtkonzepten, die Foucault unter dem Titel „Repressionshypothese“ zusammenfasst. Den Begriffen des Ausschlusses
und der Unterdrückung, wie sie in politischen Diskursen etwa bei ­Paolo
Freire („Unterdrückung und Befreiung“, 2007) verwendet werden, oder
den Begriffen Verdrängung und Zensur, wie sie in der klassischen Psychoanalyse eine Rolle spielen, oder auch dem Begriff Maskierung ist
ein Dualismus unterlegt: Macht wirkt auf der einen Seite als (physische
und ideologische) Repression von „etwas“, und dieses „etwas“ existiert
auf der anderen Seite als eigenständige Wirklichkeit. Das Unterdrückte
wartete auf seine Befreiung, das Verdrängte hätte seinen klar unterschiedenen Ort, hinter der Maske stünde die eigentliche Wahrheit.
Die Kritik an der Repressionshypothese leugnet nicht die Existenz
von Repression und Ideologie als politische Mittel, sondern bricht, wie
Jahrhunderte der Macht
13
Thomas Lemke (1997, 95) schreibt, „mit der Vorstellung einer äußerlichen Beziehung“ zwischen der Macht und den Wirklichkeiten, auf
die sie wirkt. Damit ist nicht eine bloße „Verinnerlichung“ von Zwängen, also etwa die Kunst gemeint, „acht Stunden täglich auf einem
Bürostuhl zu verbringen und diese Übung 40 oder 50 Jahre lang zu
wie­derholen, ohne dass hierzu noch eine Kette von Eisen vonnöten ist“
(Nitzschke 1974, 125). Macht wohnt vielmehr der Wirklichkeit inne,
die sie gleichzeitig hervorbringt. Diese „Regel der Immanenz“, die Foucault (1979, 119) seiner Methode zugrunde legt, verortet Macht inmitten der Menschen, ihrer Seelen und Körper, inmitten des Wissens und
der Strukturen, in denen sie sich bewegen und die sich durch ihr Verhalten hindurch erst verwirklichen. Wer bei leerer Straße auf das grüne
Licht der Ampel wartet, illustriert die Immanenz von Macht und zeigt
gleichzeitig, dass Raum und Zeit, also die Strukturen, die in diesem
Fall durch die Ampel organisiert werden, keine „Randbedingungen des
Sozialen“ darstellen, „sondern konstitutive Formen der Wechselseitigkeit“ (Sofsky 1993, 61).
Das Verhältnis zwischen Macht, Herrschaft und Gewalt
Gegen Arendt ist eingewendet worden, dass ihre Entgegensetzung von
Macht und Gewalt zu polar sei. Panajotis Kondylis (1992, 32) bringt
den Begriff der Herrschaft gegen das Konzept von Arendt in Stellung:
Der Begriff könne den Gegensatz überbrücken, weil Herrschaft weder
„der Legitimation“, also des Einvernehmens, „noch der Gewalt entbehren kann“. Gegen Foucault wendet Kondylis ein, er habe die begriffliche
Grenze zwischen Macht und Herrschaft verwischt und damit die Möglichkeit verloren, Macht und Gewalt zu kontrastieren.
In der jüngeren Theoriegeschichte hat vor allem der Soziologe Max
Weber (1864–1920) das Verhältnis der Begriffe Macht, Herrschaft und
Gewalt präzisiert. Macht, definiert als „jede Chance, innerhalb einer
sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben
durchzusetzen“, ist für ihn „soziologisch amorph“, also gestaltlos und
schwer greif bar. Herrschaft, die „Chance, für einen Befehl bestimmten
Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1980,
28), setzt dagegen schon konkrete Ordnungen und Institutionen vo­
raus, in denen diese Personen, Befehlshaber und -empfänger, lokalisiert sind. ­Diese Ordnungen bündeln Macht. Gerade in Hinblick auf
14
Warum Macht?
Gewalt stehen Herrschaft und Macht im Widerspruch. Während Herrschaftsformen ein Gewaltmonopol für sich in Anspruch nehmen – und
ein Befehl innerhalb einer gegebenen, der Gewalt Grenzen setzenden
Ordnung eben auch mit Gewalt durchgesetzt werden kann, z. B. der
Haftbefehl –, kann Macht durch den Gebrauch von Gewalt eine bestehende Herrschaftsordnung überwinden. Die Spannung zwischen der
elementaren, aber amorphen Ebene der Macht und der engeren und
konkreteren Ebene der Herrschaft hat nach Weber zahlreiche sozialwissenschaftliche Kontroversen beschäftigt.
Weder Macht noch Herrschaft sind für Weber Substanzbegriffe.
Sie bezeichnen keine für sich existierenden Realitäten, sondern beschreiben das Handeln von Menschen. Aber sie haben Akteure zur
Voraussetzung, von denen Macht und Herrschaft ausgehen. Es ist ein
Individuum, das seinen eigenen Willen in einer sozialen Beziehung
durchsetzt; es ist ein Individuum, von dem der Befehl ausgeht. Dieser
„methodische ‚Individualismus‘“ (Neuenhaus 1998, 86) von Weber ist
die die Folge seiner Opposition gegenüber ideologischen Konzepten
der Einheit des Sozialen wie Nation oder klassenlose Gesellschaft. Für
Arendt hingegen ist das Handeln selber je schon plural, und Macht ist
immer schon im Besitz des Kollektivs, das durch Macht erst seine konkrete Form findet. Foucaults Regel der Immanenz wiederum sieht die
konkrete Gestalt des Individuums selber als Produkt von Macht.
Arendts Analyse der totalen Herrschaft schwächt den Einwand von
Kondylis und zeigt zugleich die Grenzen des Herrschaftsbegriffs nach
dem Modell von Weber. Der Totalitarismus verachtet die Institutionen
und Gesetze, also jene Herrschaftsstrukturen, die Weber fokussiert. Sie
stehen der von ihm entfesselten Bewegung im Wege: „Vergleicht man
den totalen Herrschaftsapparat mit einem der vielen uns aus der Geschichte bekannten Staatsapparate, so kann man ihn nur als strukturlos
bezeichnen. Dabei vergisst man, dass nur ein Gebäude eine Struktur
haben kann, dass aber eine Bewegung […] nur eine Richtung haben
kann und dass jegliche gesetzliche und staatliche Struktur für eine immer schneller in eine bestimmte Richtung sich bewegende Bewegung
nur ein Hindernis ist“, schreibt Arendt (1986, 621). Vor diesem Hintergrund bleibt auch die Unterscheidung von Macht und Gewalt aufrecht. Selbst der totalitäre Terror ist keine bloße Gewalt, er „ist niemals
einfach negativ – etwa die Niederschlagung der Feinde des Regimes –,
sondern dient positiv der Verwirklichung der jeweiligen totalitären
Fiktion“ (Arendt 1986, 652). Die Originalität des Konzepts von Arendt
Jahrhunderte der Macht
15
besteht eben in der Einsicht, dass totale Herrschaft weder als Herrschaft im Sinne von Weber noch als bloßes Gewaltregime verstanden
werden kann.
Aber kann diese Einsicht auf „normale“ Macht übertragen werden? Das Verhältnis zwischen Macht und Gewalt könnte vorläufig in
doppelter Weise gefasst werden. Für Luhmann bedeutet der Einsatz
von Gewalt letztlich das Scheitern von Macht. Macht „benutzt Gewalt
gleichsam im Irrealis, nämlich unter der Voraussetzung, dass Gewalt
nicht angewandt wird. Die Gewalt wird virtualisiert, wird als negative
Möglichkeit stabilisiert“ (Luhmann 1977, 477). Auf der anderen Seite
kann der tatsächliche Gewaltakt „produktiv“ im Sinne von Macht sein:
Die Bombardierung des Libanon durch die israelische Luftwaffe, der
Anschlag auf das Word Trade Center sind Akte der Gewalt, aber sie
bringen komplexe Machtwirkungen hervor – neue Konstellationen entstehen in Beirut, weder die Wiederwahl von George W. Bush noch die
spätere Situation im Irak können ohne diese Akte verstanden ­werden.
Legitimität und Performanz von Macht
In jedem Fall wirft die Unterscheidung von Gewalt einerseits und
Macht und Herrschaft andererseits erst die Frage der Legitimität von
Macht auf, die von Anbeginn deren Thematisierungen begleitet. Wenn
Macht von Gewalt unterschieden und auf Zustimmung angewiesen ist,
wenn sie nicht als gottgegeben oder natürlich erscheint, dann muss sie
sich legitimieren.
In diesem Themenfeld hat die Philosophie im Übergang zur Neuzeit das Erbe der Theologie angetreten. Herausragend dabei ist die die
Vertragstheorie des Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679). Im
Jahre 1658, also in der beginnenden Neuzeit, in der die theologischen
Begründungskonzepte ihre Wirkung verlieren und das Verhältnis zwischen dem entstehenden bürgerlichen Individuum und den Herrschern
zum Problem wird, formuliert er seine Theorie des Gesellschaftsvertrags (Hobbes 1966a), auf die noch später eingegangen wird.
Von Thomas Hobbes an weisen die Thematisierungen der Frage
nach der Legitimität einen charakteristischen Dualismus auf: Auf der
einen Seite existiert die wirkliche Macht, auf der anderen Seite legitimiert sie sich – die Sphäre der Legitimation erscheint als bloße Maske
von Macht, nämlich als Ideologie. Für Karl Marx und Friedrich Engels
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