Strukturelle Eigenheiten ottonischer Königsherrschaft Unterschiede zur Herrschaft der Karolinger 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Das Zusammenleben wurde im 10. Jahrhundert nicht an schriftlich fixierten Normen ausgerichtet, dennoch vollzog es sich natürlich nicht ungeregelt. Vielmehr beobachtete man Gewohnheiten (consuetudines), die Handlungsmuster für alle gängigen Situationen bereitstellten, und „fand“ neue, wenn eine ungewöhnliche Situation dies erforderte. Solche Gewohnheiten waren deshalb nicht weniger verbindlich, weil sie sich nicht in schriftlich fixierten Normen niederschlugen. Durch Gewohnheit waren die Rechten und Pflichten der Könige ebenso festgelegt wie diejenigen ihrer Helfer, der geistlichen und weltlichen Großen. Die Rahmenbedingungen ottonischer Königsherrschaft werden vom „Kräftespiel“ zwischen Königtum, Kirche und Adel bestimmt. Dies war in der Karolingerzeit nicht anders gewesen, doch verschoben sich die Gewichte in diesem Kräftedreieck. Kann man Adel und Kirche namentlich in der Herrschaftskonzeption und –praxis Karls des Großen als „Instrumente“ des Königtums beschreiben, so haben sie sich in der Ottonenzeit zu Mitträgern und Partnern der Herrschaft entwickelt, was deutlich andere Formen und Inhalte des Umgangs miteinander zur Folge hatte. Staatliche Strukturen, wie sie Karl der Große und sein Umkreis aufzubauen versuchten, sind im 10. Jh. zugunsten anderer Formen aufgegeben, ein Prozeß, der sicher bald nach dem Tode Karls des Großen einsetzte. Im 10. Jh. finden wir keine schriftlichen Anweisungen an den Herrschaftsverband, wie sie in die karolingischen Kapitularien darstellen. In diesen Kapitularien manifestierte sich der zentralistische Reglementierungswille namentlich Karls des Großen zu seiner Umgebung: Vorschriften bis ins Detail und in viele Lebensbereiche, Maßnahmen zur Kontrolle der nachgeordneten Herrschaftsträger und die Aufforderungen, Berichte an die Zentrale zu liefern, die einen Überblick über die Befolgung der Gebote, ja über die Stimmung im Lande gewährleisten sollten. Mit den „Königsboten“ (missi dominici) schuf er überdies eine Institution, die vor Ort die Kontrolle über die königlichen Amtsträger ausüben sollte. Auf Einrichtungen zur Kontrolle ihrer Amtsträger scheinen die Ottonen verzichtet zu haben. Dieser Verzicht erscheint folgerichtig, denn Überprüfung und Kontrolle setzt eine Distanz und eine Unterordnungsverhältnis von Königen und Amtsträgern voraus, wie sie im 10. Jh. nicht mehr gegeben waren. Man könnte sagen: Mitträger von Herrschaft diszipliniert man nicht durch Kontrolle und die Androhung von Sanktionen, sondern man bindet sie durch angemessene Berücksichtigung ihrer Ratschläge und durch Erfüllung ihrer Wünsche. Dieses neue Verhältnis des Königtums gerade zum weltlichen Adel war bedingt durch einen Prozeß, der die Positionen des Adels dieses Adels fundamental verändert hatte: die Erblichkeit der Ämter und Lehen. Die Möglichkeiten der Könige, durch Ämtervergabe verändernd in die Rangordnung des Herrschaftsverbandes einzugreifen, reduzierten sich damit aber zunehmend. Als 50 55 Otto der Große dies in den Anfangsjahren seiner Regierung noch einmal mit der Vergabe von Ämtern an „jüngere Söhne“ versuchte, provozierte er bereits breiten Widerstand. Königliche Hulderweise hatten sich an der Rangordnung zu orientieren, während in der Karolingerzeit diese Rangordnung mehrfach durch königliche Huld gravierend verändert werden konnte. [...] „Vorstaatliche“ Herrschaftsformen 60 65 70 Die „personal“ begründete Herrschaft der Ottonen verzichtete auf Herrschaftsformen, die die karolingische Staatlichkeit ausgemacht hatten: Gesetzgebung, Verwaltung, Gerichte und Ämter. Ausdruck fand diese Kultur in sehr demonstrativem Verhalten. Das Spektrum reicht von Begrüßung und Abschied, die das Verhältnis der Partner und ihren Rang deutlich machten, über vielfältige Formen der Ehrung, über den Gabentausch, die friedensstiftenden Mähler und Festen mit ihren vertrauensbildenden Aktivitäten bis hin zu den Ritualen der Königserhebung und der Unterwerfung. Zeichen und Verhaltensweisen gaben Auskunft über den Rang einer Person und ihr Verhältnis zu den anderen. Die Begrüßung oder die Sitzordnung bildeten zuverlässig die bestehende Rangordnung ab, und sie nötigte alle Teilnehmer, durch ihre Handlungen diese Ordnungen zu bestätigen. Jeder Hoftag zwang alle Teilnehmer zur Anerkennung der bestehenden Ordnung, weil das Mitmachen bei den öffentlichen Ritualen ihre Zustimmung zur Ordnung signalisierte. Im Falle eines Dissenses blieb nur die Möglichkeit des Fernbleibens oder des Störens der Rituale. Die Zeitgenossen nahmen solche demonstrativen Akte wohl ernster als das Pergament, und das sollte nachdenklich stimmen. 75 80 85 Als Aufgabenbereiche des Königs begegnen in den Quellen immer wieder die Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit, der Schutz und die Förderung der Kirche sowie der Armen. Nicht mehr und nicht weniger. Das sollte bewusst bleiben, denn es warnt davor den Herrschern des 10. Jh. Planungen und Konzeptionen zu unterstellen, die auf eine systematische Organisation und Ausweitung ihrer Herrschaft gezielt hätten. Davon lässt sich konkret wenig nachweisen, was keineswegs heißen muss, dass die Ottonen keine Planungen betrieben hätten. Doch gewiß verwandten sie mehr Gedanken darauf, die Hilfe Gottes für ihre Herrschaft zu erlangen, als auf Planungen, die man mit modernen Kriterien der Wirtschafts-, Finanz-, Innen- oder Außenpolitik zuordnen könnte. nach: Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart u.a. 2000. 90 Aufgabe: Notiere die Veränderungen, die der Text im Vergleich zur Karolingerzeit nennt.