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Aristoteles ist neben seinem Lehrer Platon der bedeutendste Philosoph der Antike. In seinem umfangreichen
Werk ordnete er als Erster die großen Themenkreise – der
Mensch, die Natur, die Philosophie – systematisch nach
verschiedenen Gegenstandsbereichen. Er begründete die
Zoologie und die Logik. Damit schuf er die Grundlagen der
abendländischen Geistesgeschichte und wissenschaftlichen Systematik, die bis heute fortwirken. Im Gespräch
spannt er anschaulich und unterhaltsam den Bogen seines enormen Wissens von der Rhetorik über Ethik, Politik,
die Seele und vieles mehr bis hin zu den Göttern.
Jonathan Barnes lehrte Philosophie an den Universitäten
von Oxford, Genf und Paris. Er ist Mitglied der Britischen
Akademie und hat viele Bücher zur frühen Philosophiegeschichte geschrieben, unter anderem Aristoteles. Eine
Einführung. Er lebt in Frankreich.
Julian Barnes ist ein bekannter, mehrfach preisgekrönter
Schriftsteller und hat zahlreiche Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht, u.a. Flauberts Papagei und Arthur &
George.
Jonathan Barnes
AUF EINEN KAFFEE MIT
ARISTOTELES
Mit einem Vorwort
von Julian Barnes
Aus dem Englischen
von Mara-Daria Cojocaru
Deutscher Taschenbuch Verlag
Alle in der Reihe Auf einen Kaffee mit … erschienenen Titel finden Sie auf
Seite 127.
Ausführliche Informationen
über unsere Autoren und Bücher
finden Sie auf unserer Website
www.dtv.de
Deutsche Erstausgabe
März 2010
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
© Duncan Baird Publishers London 2008
Titel der Originalausgabe: Coffee with Aristotle
© für den Text: Jonathan Barnes 2008
© für das Vorwort: Julian Barnes 2008
© für die deutschsprachige Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München 2010
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch
auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagfoto: gettyimages/Imagno/Austrian Archives
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Gesetzt aus der Thesis Serif und der Thesis Mix
Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen
Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany · ISBN 978-3-423-34592-7
Inhalt
Vorwort von Julian Barnes – 7
Einleitung – 11
Aristoteles (384–322 v.Chr.): Sein Leben in Kürze – 14
Beginnen wir mit dem Gespräch …
Der Mann der Öffentlichkeit – 26
Platon und Rhetorik – 35
Logik – 43
Zoologie – 51
Wissenschaft und Kausalität – 57
Demokratie – 65
Sklaverei – 73
Das Weibchen einer Spezies – 79
Ethik – 85
Metaphysik – 93
Die Seele – 100
Götter – 107
Tod – 112
Zukunftsaussichten – 118
Nachschub gefällig? Leseempfehlungen – 125
Vorwort von Julian Barnes
Im Mittelalter gab es eine Vorahnung, dass die Welt irgendwann vom Kopf auf die Füße gestellt werden würde;
ein Bestandteil dieser Vision war die Furcht der Männer
davor, dass die Frauen eines Tages die Hosen anhaben
könnten. Ab dem 13. Jahrhundert finden wir zahllose,
sehr drastische Bilder einer Variation dieses Themas; wir
sehen Aristoteles mit seiner Lebensgefährtin Herpyllis
(oder auch Phyllis) in extrem vertauschten Rollen: Der
Philosoph kriecht auf allen vieren, von seiner Gefährtin
im Damensitz geritten; sie treibt ihn an, prügelt auf ihn
ein und zupft an seinem Philosophenbart. Es ist ein derbes Bild, aber auch eine Warnung: Wenn es möglich ist,
dass der klügste Mann aller Zeiten von einer Frau und
fleischlichen Gelüsten geknechtet und erniedrigt wird,
dann ist kein Mann mehr sicher.
Heutzutage muss nur einer von einem Fachgebiet in
ein anderes wechseln – ein Plutokrat überquert im Heißluftballon den Atlantik, ein Kricketspieler wird Psychotherapeut –, um bereits als »Mann der Renaissance« hochgelobt zu werden (zugegebenermaßen wird die Frau der
Renaissance seltener entdeckt). Doch so wie sich der mo[7]
derne Typ mit seinen zwei Talenten zum RenaissanceGenie verhält, so verhält sich Letzteres zu Aristoteles.
Schon die Lektüre einer kurzen Zusammenfassung von
Aristoteles’ intellektuellen Tätigkeiten macht uns sprachlos und lässt uns vor Neid erblassen; angesichts der Bandbreite, der Energie und Angriffslust dieses Mannes fällt
uns nichts mehr ein. Er ist aus zwei Gründen zu beneiden:
Erstens hat er nicht nur viele Dinge entdeckt, sondern
ganz neue Disziplinen (wie die Logik und die Zoologie)
begründet, andere wiederum hat er maßgeblich weiterentwickelt. Zweitens hatte er das Glück, zu einer Zeit arbeiten und denken zu können, da es noch möglich schien,
dass ein einzelner Mensch – zugegebenermaßen einer
der Geistreichsten – alles wusste, was man über das Universum wissen konnte. Wenn einer dazu imstande war,
dann Aristoteles: umso größer daher der Schock, ihn als
devoten Trottel auf allen vieren zu sehen.
Der Autor dieses Buches ist der Herausgeber der Gesammelten Werke von Aristoteles, hat die vierbändige
Reihe Articles on Aristotle ediert und im Laufe seiner beachtlichen Karriere sowohl Aufsätze als auch Bücher über
diesen Philosophen geschrieben. Er ist auch mein Bruder.
Wenn ich nun sage, dass der Text, den Sie vor sich haben,
überzeugend, gelehrt, zugänglich, klug und gut formu[8]
liert ist, werden Sie mich für befangen halten. Ich neige
jedoch dazu, Lorbeeren nicht ganz so leicht zu verteilen,
und vor allem dieses Lob ist im Kontext zu sehen. Das
frühe Hauptwerk meines Bruders, zwei Bände zu den Vorsokratikern, hat mir einige Probleme bereitet, und auch
mit seiner zugänglicheren, kurz gefassten Einführung zu
Aristoteles bin ich ehrlicherweise nicht klargekommen.
Insofern besitzt mein Lob für dieses Buch einige Gültigkeit.
Ich habe meinen Bruder gefragt, ob Aristoteles an irgendeiner Stelle von Vetternwirtschaft spricht – in unserem Fall wäre es Bruderwirtschaft; offenbar nicht, obwohl
der Meister schon der Meinung war, dass sich Brüder in
allen Dingen bis auf das Alter glichen. Das scheint mir,
dem Laien, jedoch leider weder besonders denkwürdig
noch wahr zu sein. Aber zumindest erinnert es mich an
unsere Mutter, die einmal einem Freund gegenüber klagte: »Ich habe zwei Söhne. Der eine schreibt Bücher, die ich
zwar lesen, aber nicht verstehen kann, und der andere
schreibt Bücher, die ich verstehen, aber nicht lesen kann.«
Sie hielt uns ganz wie Aristoteles für gleichwertig – und
wenn auch nur hinsichtlich unserer einschläfernden literarischen Wirkung. Ich vermute aber, dass sie, lebte sie
noch, erleichtert gewesen wäre, zu sehen, dass doch noch
[9]
einer von uns einen Text zustande gebracht hat, der auch
ihr gefallen hätte.
[10]
Einleitung
Auf einen Kaffee mit Aristoteles? Warum eigentlich nicht.
Aristoteles hat zwar sicherlich in seinem ganzen Leben
nie eine Tasse Kaffee getrunken – genauso wenig wie
er Truthahn, Tomaten oder Tabak probieren konnte. Als
Zeitgenossen haben wir ihn immerhin um 23 Jahrhunderte verpasst. Aber er hat uns sein Werk hinterlassen,
in dem wir ihm begegnen können. Also können wir auch
mit ihm einen Kaffee trinken gehen. Auf einen Kaffee mit
Aristoteles also.
Aristoteles war Wissenschaftler, Historiker und Philosoph. Es gibt bis heute nicht viele Leute, die eine neue
Wissenschaft gestiftet haben, er aber begründete gleich
zwei – Logik und Zoologie. Seine Zoologie ist zweifelsohne
veraltet – trotzdem wird er auch von modernen Zoologen
bewundert, und Darwin sagte, Aristoteles sei sein absoluter Gott. Auch die aristotelische Logik ist nicht mehr aktuell – dennoch war sie über zweitausend Jahre lang der
Ausgangspunkt westlichen Denkens. Die Philosophie des
Aristoteles wurde von seinen Nachfolgern bewahrt und
mitunter weiterentwickelt. Sie fand Eingang in die ptolemäische Astronomie und in die Medizin Galens; nach
[11]
größeren Kontroversen wurde sie von den christlichen
Kirchen anerkannt und bildete das Fundament der mittelalterlichen Scholastik. Auch diente der Aristotelismus
der Schärfung des arabischen Denkens, und die großen
Köpfe der Renaissance sahen darin ganz klar ein Vorbild.
Während er im 17. und 18. Jahrhundert von der Bildfläche
verschwunden war, besann man sich in der Folge wieder
darauf, sodass heutige Philosophen Aristoteles als übermächtigen Ahnen und sehr ehrenwertes Mitglied ihrer
Zunft betrachten. Und wir sind alle, zumeist unbewusst,
vom aristotelischen Denken beeinflusst: Mit solchen
Wörtern wie »Substanz« und »Akzidens«, »potenziell«
und »aktuell«, »Theorie« und »Praxis« benutzen wir Aristoteles’ Begriffe.
Wir wollen uns vorstellen, dass das folgende Interview am Ende seines Lebens geführt worden ist, nachdem
er sich aus Athen auf sein Anwesen auf Euböa zurückgezogen hatte. Der einfachste Gesprächspartner war er
übrigens nicht. Jeder weiß so ungefähr, wie Sportler ticken, worauf Politiker und Schauspieler anspringen. Was
aber fragt man einen Wissenschaftler und Philosophen?
Ihr Werk ist oft genug kompliziert und ihre Fachsprache
kann ziemlich verwirrend sein. Als Interviewer muss
man die Fragen einfach halten, aber Einfachheit gleitet
[12]
wiederum schnell ins Oberflächliche ab – und von dort ist
es nur noch ein kleiner Schritt, bis man gar nichts mehr
wirklich versteht.
Im Falle von Aristoteles gibt es eine weitere Schwierigkeit: Natürlich können wir noch immer ein paar tausend
Seiten seiner Schriften lesen und wir wissen in etwa, was
er gedacht hat; was jedoch seinen Charakter und seine
Persönlichkeit betrifft, haben wir praktisch keine Anhaltspunkte – jedes Bild, das wir diesbezüglich gewinnen, muss größtenteils auf Einfühlung und Phantasie
beruhen.
Aristoteles ist in seinen Antworten manchmal schroff,
sowohl im Inhalt als auch im Stil. Aber für seine Schroffheit war er berühmt. Bisweilen sind die Antworten sehr
simpel. Dennoch können Sie so ziemlich alles, was Aristoteles auf den folgenden Seiten sagt – mit mehr Hingabe,
detaillierter und subtiler – in seinen eigenen Schriften
finden.
[13]
Aristoteles (384–322 v.Chr.)
Sein Leben in Kürze
Aristoteles starb 322 v.Chr. im Alter von 62 Jahren. Er hinterließ seine Lebensgefährtin Herpyllis und seine zwei
Kinder, Pythias und Nikomachos. Seine Welt war langsamer, ruhiger und dunkler als die unsrige. Auch war es
wohl eine schmerzvollere Welt; die Ärzte mögen gewisse Fertigkeiten gehabt haben, Narkosemittel hatten sie
nicht.
Es gab keine Maschinen, aber Sklaven. Deren Zahl war
etwa genauso groß wie die der freien Bürger – man hatte
sowohl Sklaven, die zum öffentlichen Eigentum gehörten
und in den Minen arbeiteten, als auch Privatsklaven für
die Arbeit auf dem Feld und im Hause. Selbst die ärmeren
Familien besaßen eine menschliche Arbeitskraft oder
zwei, und diese erfüllten die Funktion von Maschinen zu
einem sehr viel geringeren Preis.
Es gab Leid, aber auch kultivierte Freuden – und diese
nicht nur für die Reichen. Man musizierte und tanzte,
hielt religiöse Feiern ab und ging ins Theater. Die meisten
Städte hatten ihr eigenes Theater, welches für alle ortsansässigen Bürger Platz bot; und die Komödien waren
[14]
zumeist äußerst amüsant. Dann war da natürlich noch
der Sport, und alle vier Jahre fanden die Olympischen
Spiele statt.
Es war eine heidnische Welt und doch war die Religion
allgegenwärtig; es gab kaum eine Straßenecke oder -kreuzung, an der nicht ein kleiner Schrein stand. Die größten
Gebäude der Welt waren den Göttern und Göttinnen gewidmet, und im blauen Himmel über ihnen wimmelte
es von Dämonen – bösen und guten. Es gab keine organisierte Kirche (obschon der Staat einige Priester ernannte) und keine Heilige Schrift (wobei natürlich die starke
Traditionalität all die uralten Mythen bewahrte). Die
Menschen beteten privat; daneben fanden öffentliche
Rituale und Opferzeremonien statt. Diese Opfer waren
übrigens eine Hauptbezugsquelle für Fleisch – denn die
Götter, denen die geschlachteten Tiere dargebracht wurden, bevorzugten seltsamerweise Knochen und Schlachtabfälle und überließen das Fleisch den Opferbringern.
Es war eine kleine Welt. Kaufleute oder Soldaten mögen die Grenzen Griechenlands überschritten haben, aber
der normale Grieche blieb zu Hause, und nur wenige beherrschten mehr Sprachen als die eigene. Ein wissbegieriger Mann konnte eine Bibliothek und damit alles, was
auf Griechisch publiziert worden war, besitzen – Literatur,
[15]
Philosophie, Geschichte und Wissenschaft. Und das Ganze ließ sich durchaus in ein paar Jahren lesen.
Griechenland zu dieser Zeit stellte ein kulturelles Phänomen dar – jedoch kaum ein politisches. Als Aristoteles 384 v.Chr. geboren wurde, war das Land in mehrere
hundert, voneinander unabhängige Stadtstaaten aufgeteilt, von denen einige die Größe eines Dorfes nicht
überschritten – der größte ließe sich in etwa mit Monaco
vergleichen. Jeder Stadtstaat hatte seine eigenen Gesetze,
seine eigene Staatsform, seinen eigenen Herrscher. Wohl
gab es temporäre Bündnisse – gegen die Perser beispielsweise –, aber häufiger kam es zum Zwist, ab und an auch
zum Krieg.
Zu Lebzeiten von Aristoteles änderte sich die politische
Stimmung im Land drastisch, als die Makedonen wie die
Wölfe in den Schafspferch über die Staaten hereinbrachen und die griechischsprachige Welt unterwarfen.
Aristoteles kam in Stagira, Makedonien, zur Welt.
Sein Vater war dort königlicher Hofarzt, seine Mutter,
Phaestis, eine wohlhabende Frau. Beide starben, als Aristoteles noch ein Kind war, und so blieb er bei seinem
Onkel mütterlicherseits, Proxenos. Zeitlebens musste er
nie für seinen Lebensunterhalt arbeiten.
Mit sechzehn Jahren ging er nach Athen, wo er die
[16]
Akademie Platons besuchte. Diese Akademiker waren intellektuelle Allesfresser: Sie befassten sich mit Ethik und
Politik, mit Psychologie und Mathematik, mit Rhetorik
und Logik, mit Geometrie und Astronomie. Aristoteles
blieb dort zwei Jahrzehnte, studierte und verfasste später Abhandlungen. Zu seinen Lieblingsfächern gehörten
Rhetorik und Logik.
Im Jahr 347 v.Chr. starb Platon. Aristoteles verließ daraufhin Athen und ging ins östlich gelegene Atarneus,
eine Kleinstadt an der Küste Kleinasiens. Der dortige
Herrscher, Hermias, war ein Freund der Akademie und
um die Förderung von Bildung bemüht. Bei dem Geschichtsschreiber Philodemus heißt es, Hermias habe
Aristoteles und seinen Freunden die Stadt Assos zur Verfügung gestellt, um dort ihre Zeit ganz der Philosophie
widmen und sich im Garten treffen zu können; er sei
auch für alles andere, was sie brauchten, aufgekommen.
Aristoteles war Hermias auch noch aus persönlicheren
Gründen verbunden, denn seine Frau Pythias war dessen
Nichte.
Nach einigen Jahren in Assos und zwei weiteren in
Mytilene auf der nahe gelegenen Insel Lesbos kehrte er
nach Makedonien zurück. König Philipp hatte ihn, zusammen mit seinem Neffen Kallisthenes und seinem
[17]
Freund Theophrastos, an den Hof in Mieza gerufen, um
sich um die Erziehung des Kronprinzen zu kümmern. Der
Prinz war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt und hieß:
Alexander.
In Kleinasien hatte die Zoologie zu Aristoteles’ Hauptbeschäftigungen gezählt – genauer gesagt: die Meeresbiologie. Was er, abgesehen von seiner Lehrverpflichtung,
während der sieben oder acht Jahre in Makedonien getrieben hat, lässt sich nicht genau sagen.
Alexander jedenfalls erbte die väterliche Krone und
machte sich daran, die Welt zu erobern. Aristoteles kehrte zurück nach Athen. Obschon die Akademie im Jahr
335 v. Chr. unter der neuen Führung gedieh, gründete
Aristoteles einen eigenen Zirkel. Die Mitglieder sollen
sich immer im Lykeion, einem der öffentlichen Gymnasien, getroffen haben, und Aulus Gellius berichtet, dass
Aristoteles morgens Vorlesungen abhielt, um sich nachmittags nur mit seinen Freunden und Kollegen zu unterhalten. Und er sprach im Gehen. Da »gehen« auf Griechisch peripatein heißt, ist nun auch klar, warum seine
Anhänger Peripatetiker genannt wurden. Zweifellos hat
Aristoteles hier seine zentralen philosophischen Gedanken – zur Ethik, Politik, Kosmologie, Physik und Metaphysik – zur vollen Entfaltung gebracht.
[18]
Es gab auch viel Kummer in Aristoteles’ Welt. Seine
Frau Pythias verstarb in jungen Jahren. Sie war die Mutter
eines Mädchens, das ihren Namen trug und später Nicanor, einen von Aristoteles’ Cousins, heiraten sollte. Als
Witwer fand Aristoteles in Herpyllis gute Gesellschaft,
die mit ihm bis zu seinem Tode lebte. Herpyllis (der Name
meint im Griechischen »Heuschrecke«) ist angeblich seine Lieblingssklavin gewesen. Sie gebar einen Sohn, Nikomachos – benannt nach dem Großvater väterlicherseits –,
der noch keine zwanzig war, als er in einer Schlacht ums
Leben kam.
323 v. Chr. starb Alexander der Große, weit entfernt im
Osten; dies war für die Athener, die ihren makedonischen
Machthabern nicht unbedingt wohlgesinnt waren, Anlass und Sicherheit, ihren Unmut zu zeigen. Aristoteles,
dessen makedonische Verbindungen kein Geheimnis
waren, zog sich sicherheitshalber auf die Insel Euböa zurück, wo seine Familie ein Anwesen besaß. Dort starb er
dann innerhalb eines Jahres. Seine Schule, die er Theophrastos überschrieben hatte, bestand noch etwa zweihundertfünfzig Jahre in Athen. Sein Werk, das er der Welt
hinterließ, besteht noch heute. Spätere griechische Denker tradierten es, führten es fort, nahmen Änderungen
vor – sowohl Männer, die sich mit Stolz als Aristoteliker
[19]
bezeichneten, als auch Philosophen und Wissenschaftler mit ganz anderem Hintergrund. Aristoteles’ Schriften
wurden ins Syrische, Arabische und Armenische übersetzt – und natürlich ins Lateinische. So überdauerte sein
Werk das Mittelalter im Osten auf Griechisch und Arabisch, im Westen auf Latein; ab und an wurden Teile von
Aristoteles’ Lehre von der christlichen Kirche abgelehnt,
doch im Großen und Ganzen erfuhr sie viel Zuspruch. Die
Renaissance bewunderte Platon, hielt aber auch Aristoteles in Ehren; und diese Wertschätzung, die allen Angriffen zahlreicher moderner Säbelrassler, die erklärten,
sie hielten den Aristotelismus für veraltet, standgehalten
hat, wirkt auch im 21. Jahrhundert noch fort.
Aristoteles’ intellektuellen Interessen waren eigentlich keine Grenzen gesetzt. Eine Liste seiner Werke, die
vermutlich dem Katalog der sagenumwobenen Bibliothek von Alexandria entstammt, beginnt wie folgt: »Er
hat eine Unmenge an Büchern geschrieben, die es allesamt wert sind, in diesen Katalog aufgenommen zu werden, da er in all diesen Erkenntnisbereichen exzellent
war: Gerechtigkeit; Dichter; Philosophie; Staatsmänner;
Rhetorik (oder Gryllus) …«.
Die Liste setzt sich fort mit Einträgen zur Ethik, Politik, Logik, Wissenschaft, Metaphysik, Dichtkunst, Physik,
[20]
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