Jahrbuch 2005/2006 | Lachmann, Michael | Die Evolution der mRNS-Expression bei Mensch und Schimpanse Die Evolution der mRNS-Expression bei Mensch und Schimpanse The evolution of mRNA expression in humans and chimpanzees Lachmann, Michael Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie w urde die Evolution der mRNS-Expression in mehreren unterschiedlichen Gew eben des Menschen und Schimpansen untersucht. Diese Daten deuten darauf hin, dass die meisten der tausenden von Veränderungen in der Genexpression nicht w egen ihrer vorteilhaften Ausw irkungen selektiert w urden. Selektion gegen nachteilige Effekte ist jedoch stark ausgeprägt. Es scheint so zu sein, dass verschiedene Gew ebe sich in unterschiedlichem Maße von der Selektion beeinflussen lassen. So ist die Leber am w enigstens eingeschränkt und lässt mehr Veränderungen zu, w ährend das Gehirn die w enigsten zulässt. Es gibt auch Hinw eise darauf, dass sich in der Genexpression im Gehirn in der Evolution des Menschen mehr Veränderungen vollzogen haben als in der Evolution des Schimpansen. Summary Using the human genome sequence, the just published chimpanzee genome sequence, and measured expression levels of genes in several different tissues, the Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology has been studying the evolution of mRNA expression in these closely related species. The data indicates that most of the thousands of observed changes in gene expression have not been selected due to beneficial effects. Selection against deleterious effects show s a strong pattern. Curiously, it seems that tissues differ in the level that they are affected by mutations: thus liver is least constrained, and allow s most changes, w hereas brain allow s least. We also see indications that more changes in gene expression occurred in brain during the evolution of humans than occurred during the evolution of chimpanzees since both of them diverged from their last common ancestor. Der Mensch ist in vielerlei Hinsicht eine interessante Spezies. Kulturelle Leistungen, soziale Strukturen sow ie eine Reihe anderer Adaptationen haben sie in die Lage versetzt, sich in der jüngeren evolutionären Vergangenheit über den gesamten Erdball auszubreiten. Die Abteilung Evolutionäre Genetik am Max-PlanckInstitut für evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) w ill die biologischen Veränderungen verstehen, die dieser Spezies jüngst w iderfahren sind, insbesondere die Adaptationen, denen der Mensch seine besonderen sozialen und kognitiven Fähigkeiten zu verdanken hat. Die Publikation der Sequenz des menschlichen Genoms und des Schimpansengenoms und Hilfsmittel zum gleichzeitigen Messen der Eigenschaften von tausenden von Genen vermitteln neue Einblicke in das W irken der Evolution. © 2006 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/7 Jahrbuch 2005/2006 | Lachmann, Michael | Die Evolution der mRNS-Expression bei Mensch und Schimpanse Mutationen akkumulieren sich regelmäßig in der DNS Die Duplikation der DNS w ährend der Zellteilung verläuft nicht fehlerfrei. Die Fehlerquote beträgt etw a 1 in 10 8 , das entspricht einem falschen Buchstaben beim Abschreiben von einhundert Büchern. Da aber die Gesamtlänge des menschlichen Genoms in der Größenordnung von 10 9 Buchstaben liegt, hat jeder einzelne Mensch Dutzende von Mutationen, sodass an vielen Stellen das Genom w eder so w ie das Genom des Vaters noch w ie das der Mutter aussieht. Da der Mensch, w ie die meisten anderen Tiere auch, zw ei Exemplare jedes Gens besitzt – eins von der Mutter und eins vom Vater – haben Geschw ister eine fünfzigprozentige Chance, dass das mütterliche Gen bei beiden von der gleichen Version der Mutter stammt, nämlich dass entw eder beide vom Großvater oder von der Großmutter (mütterlicherseits) stammen. Also w ird bei Geschw istern ungefähr die Hälfte der Gene von der gleichen Version eines Gens des gleichen Elternteils kopiert. Der letzte gemeinsame Vorfahre dieser Gene existierte vor einer Generation. In ähnlicher Weise hat jedes Gen von zw ei beliebigen Menschen einen letzten gemeinsamen Vorfahren, der im Durchschnitt vor ungefähr einer halben Million Jahren lebte. Unterschiede zw ischen den heutigen Genen sind Mutationen, die seit diesem gemeinsamen Vorfahren aufgetreten sind. Bei einer Mutationsrate von einem je 10 8 Buchstaben pro Generation w ird über 10 5 Generationen einer von 10 3 Buchstaben einen Unterschied aufw eisen; dies ist der durchschnittliche Sequenzunterschied oder die Divergenz zw ischen Menschen [1]. Es könnte auch sein, dass sich bei einem Individuum, das vor 200.000 Jahren lebte, eine vorteilhafte Mutation in diesem Gen ereignet und sich durch Selektion auf alle lebenden Menschen übertragen hat. In diesem Fall hat der letzte gemeinsame Vorfahre dieses Gens vor höchstens 200.000 Jahren gelebt. Wenn sich aber in einem Gen bei einem vor einer Million Jahren lebenden Individuum eine nachteilige Mutation vollzog, ist es sehr unw ahrscheinlich, dass dieses Individuum heute noch irgendw elche Nachkommen hat, da gegen sie selektiert w orden w äre (Abb. 1). © 2006 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/7 Jahrbuch 2005/2006 | Lachmann, Michael | Die Evolution der mRNS-Expression bei Mensch und Schimpanse Sche m a tische Da rste llung de r Ak k um ula tion von Muta tione n in e ine r P opula tion. Muta tione n rie se ln in de r Größe nordnung von e inige n Dutze nd pro Individuum a uf die Be völk e rung he ra b. Einige ve rschwinde n we ge n ihre r schä dliche n Auswirk unge n ode r ge he n zufä llig ve rlore n, wä hre nd a nde re von de r ge sa m te n P opula tion Be sitz e rgre ife n und sich m a nife stie re n. © Ma x -P la nck -Institut für e volutionä re Anthropologie Die meisten Mutationen haben jedoch w eder einen nutzbringenden noch einen schädlichen Effekt. Viele dieser neutralen Mutationen verschw inden, w eil keines der Individuen, die sie besitzen, das Gen auf die nächste Generation überträgt. Nur selten breiten sie sich in der gesamten Bevölkerung aus. Sequenzunterschiede zw ischen den Individuen geben Auskunft darüber, w ie viel Zeit seit dem letzten gemeinsamen Vorfahren vergangen ist. Sie berichten auch von den Eigenschaften der Gene. In einem sehr w ichtigen Gen kann jede einzelne Mutation eine schädliche W irkung haben, und darum sieht man keine Unterschiede in der Sequenz. In einem anderen Teil des Genoms könnte die Hälfte aller Mutationen schädlich sein, w as dazu führen w ürde, dass die Hälfte der erw arteten Anzahl von Mutationen zu sehen w äre. Wie verändert sich die Genexpression? Seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms [2] sow ie des Schimpansengenoms [3] w issen die Forscher mehr über ihre Sequenzunterschiede. Sie kennen das Tempo der Mutationsprozesse und w ie sich die © 2006 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/7 Jahrbuch 2005/2006 | Lachmann, Michael | Die Evolution der mRNS-Expression bei Mensch und Schimpanse Mutationen über die Population verbreiten. W ie viele und w elche dieser Sequenzveränderungen sind aber w ichtig? Um das zu beantw orten, untersuchen W issenschaftler am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie die Effekte der Unterschiede. DNS w ird in mRNS-Moleküle transkribiert (kopiert). Diese mRNSMoleküle w erden später gelesen, um Proteine herzustellen. Die Mikroarray-Technologie ermöglicht es, das Niveau von tausenden von mRNS-Sequenzen gleichzeitig zu messen. So können die Forscher untersuchen, w ie sich die Expression über evolutionäre Zeit verändert und w ie unterschiedlich sie in den zw ei eng miteinander verw andten Spezies Mensch und Schimpanse ist (Abb. 2). Evolutionä re Dista nz ve rsus Unte rschie d in de n Ex pre ssionsnive a us von m R NS be i Me nsche n, Schim pa nse n und O ra ng-Uta ns in de r Le be r. R e chts e ine sche m a tische Da rste llung de s e volutionä re n Ba um s, link s die e ntspre che nde n Entfe rnunge n. Die Ziffe rn in de r Da rste llung link s die ne n a ls Be schriftung zum le ichte re n Auffinde n de r e ntspre che nde n Dive rge nz im Ba um a uf de r re chte n Se ite . © Ma x -P la nck -Institut für e volutionä re Anthropologie Natürlich muss man berücksichtigen, dass sich die Expression w ährend der Lebenszeit eines Individuums und sogar im Verlauf eines Tages verändert und in unterschiedlichen Zellen unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Daher müssen die Expressionsunterschiede zw ischen Menschen und Schimpansen nicht in allen Gew eben gleich sein, w ährend DNS-Sequenz-Unterschiede zw ischen den Spezies in allen Zellen gleich sind. So könnte es sein, dass die menschliche Leber das gleiche Niveau von mRNS exprimiert w ie Schimpansenleber, dass sich aber mRNS-Expression im menschlichen Gehirn sehr stark von der Expression im Schimpansengehirn unterscheidet (Abb 3). Durchschnittliche r Ex pre ssionsunte rschie d zwische n e inze lne n Me nsche n und Schim pa nse n da rge ste llt a ls Absta nd in e ine m Ba um . In je de m Ba um ste llt je de r Knote n e in Individuum da r und de r Absta nd zwische n de n Knote n spie ge lt die durchschnittliche Entfe rnung zwische n de n Ex pre ssionsnive a us de r Ge ne de r Individue n wide r. Auf de r link e n Se ite je de s Gra phe n be finde n sich Schim pa nse n und a uf de r re chte n Me nsche n. Es sind fünf Gra phe n für fünf Ge we be zu se he n. Ma n be a chte , da ss unte rschie dliche Ge we be unte rschie dliche durchschnittliche Entfe rnunge n a ufwe ise n. © Ma x -P la nck -Institut für e volutionä re Anthropologie © 2006 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/7 Jahrbuch 2005/2006 | Lachmann, Michael | Die Evolution der mRNS-Expression bei Mensch und Schimpanse Vergleich der Evolution von Genexpression mit Sequenzevolution Um die Evolution von mRNS-Expressionsniveaus zu verstehen, verglichen die W issenschaftler mehrere Gew ebe (Herz, Leber, Niere, Hoden und unterschiedliche Teile des Gehirns) von Menschen, Schimpansen, Orang-Utans und Rhesusaffen. Sie kamen zu einigen interessanten Ergebnissen. Erstens: Offenbar scheinen sich Expressionsunterschiede, genau w ie Sequenzunterschiede, in der evolutionären Zeit langsam zu akkumulieren [4]. Abbildung 2 zeigt als Beispiel den bei allen Genen in der Leber betrachteten durchschnittlichen Expressionsunterschied zw ischen Menschen, Schimpansen und Orang-Utans. Ein w eiteres Ergebnis der Beobachtungen w ar, dass sich Differenzen in verschiedenen Gew eben mit unterschiedlichem Tempo anhäufen, in der Leber geschieht dies schnell und im Gehirn langsam. Überraschenderw eise führt das zu dem Schluss, dass Menschen und Schimpansen hinsichtlich der Genexpression im Gehirn ähnlicher sind als in der Leber. Ist das gleiche Muster bei der Sequenz zu beobachten? Dazu w urden Gene betrachtet, deren mRNS nur in einem spezifischen Gew ebe vorzufinden ist. Hier kam es zu ähnlichen Ergebnissen: Bei Genen, deren mRNS nur im Gehirn vorzufinden w ar, ist der Sequenzunterschied zw ischen Menschen und Schimpansen kleiner als bei denen, die nur in der Leber vorzufinden w aren. Die Forschungen deckten ein w eiteres interessantes Muster auf: In je mehr Gew eben ein Gen exprimiert ist, umso konservierter ist es, und zw ar sow ohl hinsichtlich Expression als auch hinsichtlich der DNS-Sequenz. Es w ird deutlich, dass Genexpression und Sequenz sich in ähnlicher Weise verhalten. In beiden Fällen liefern die meisten Mutationen keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie w egen irgendw elcher vorteilhafter Effekte selektiert w orden w ären. Es gibt aber durchaus Hinw eise darauf, dass gegen manche Mutationen selektiert w ird. Es scheint auch so zu sein, dass es für eine Mutation in einem Gen leichter ist, Schaden zu verursachen, w enn dieses Gen im Gehirn exprimiert ist, als w enn es in der Leber exprimiert w äre. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutation Schaden verursacht, ist größer, w enn sie in mehreren Gew eben exprimiert ist; das w iederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus der Population verschw indet. Dies ist der Grund dafür, dass Gene, die in nur einem Gew ebe exprimiert sind, schneller divergieren als solche, die in mehreren Gew eben exprimiert sind (Abb. 4). Effe k t de r Ex pre ssion e ine s Ge ns in unte rschie dliche n Ge we be n a uf die R a te de r Ak k um ula tion von Muta tione n, die da s Ge n be e influsse n. © Ma x -P la nck -Institut für e volutionä re Anthropologie Manche Gewebe weisen mehr Eigenarten auf als andere © 2006 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/7 Jahrbuch 2005/2006 | Lachmann, Michael | Die Evolution der mRNS-Expression bei Mensch und Schimpanse In zw eien der Gew ebe gab es Hinw eise auf eine intensive evolutionäre Aktivität in den Hoden. Hier ist eine stärkere Selektion gegen schädliche Mutationen im Gange als in allen anderen Gew eben. Gleichzeitig ist der Unterschied sow ohl bei Sequenz als auch bei Expression zw ischen Menschen und Schimpansen in den Hoden sehr groß. Dies und andere Belege führen zu der Schlussfolgerung, dass in Hoden eine aktive Selektion hinsichtlich der günstigen Ausw irkungen mancher Mutationen zu beobachten ist. Andere Studien haben ähnliche Ergebnisse hervorgebracht. Die Gründe solch starker Effekte bei Hoden sind noch ungeklärt. Möglicherw eise sind es die Ausw irkungen eines intensiven evolutionären Wettlaufs zw ischen den Spermien und um die Kompatibilität mit dem w eiblichen Ei. Des Weiteren w urde eine Asymmetrie zw ischen Menschen und Schimpansen bezüglich Veränderungen im Gehirn entdeckt. W ie oben erw ähnt, ist Gehirn eines der meist konservierten Gew ebe. Menschen sind anderen Primaten in der Gehirnexpression ähnlicher und einzelne Menschen haben im Gehirn ähnlichere Expressionsmuster als in anderen Gew eben. Aber diese w enigen Veränderungen sind allem Anschein nach asymmetrisch, denn auf der menschlichen Linie haben sich mehr Veränderungen ereignet als auf der Schimpansenlinie. Es w äre äußerst interessant, w enn man zeigen könnte, dass dies zutrifft, w eil eine Selektion für Gehirnaktivität den Menschen zu der kulturbegabten Spezies gemacht hat, die er heute ist. Das Max-Planck-Institut für evolutionäre Genetik arbeitet zurzeit daran herauszufinden, ob dies der Fall ist, und w enn dem so ist, diejenigen Gene und Prozesse zu identifizieren, die selektiert w urden. Originalveröffentlichungen Nach Erw eiterungen suchenBilderw eiterungChanneltickerDateilisteHTML- Erw eiterungJobtickerKalendererw eiterungLinkerw eiterungMPG.PuRe-ReferenzMitarbeiter Editor)Personenerw eiterungPublikationserw eiterungTeaser (Employee mit BildTextblockerw eiterungVeranstaltungstickererw eiterungVideoerw eiterungVideolistenerw eiterungYouTubeErw eiterung [1] M. Kimura: The neutral theory of m olecular ev olution. Cambridge University Press, Cambridge (1983). [2] International Human Genome Sequencing Consortium: Initial sequencing and analy sis of the hum an genom e. Nature 409, 860–921 (2001). [3] The Chimpanzee Sequencing and Analysis Consortium: Initial sequence of the chim panzee genom e and com parison with the hum an genom e. Nature 437, 69–87 (2005). [4] P. Khaitovich, G. Weiss, M. Lachmann, I. Hellmann, W. Enard, B. Muetzel, U. Wirkner, W. Ansorge, S. Pääbo: A neutral m odel of transcriptom e ev olution. PLoS Biology 2, 682–689 (2004). © 2006 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 6/7 Jahrbuch 2005/2006 | Lachmann, Michael | Die Evolution der mRNS-Expression bei Mensch und Schimpanse [5] P. Khaitovich, I. Hellmann, W. Enard, K. Nowick, M. Leinweber, H. Franz, G. Weiss, M. Lachmann, S. Pääbo: Parallel patterns of evolution in the genomes and transcriptomes of humans and chimpanzees. Science 309, 1850–1854 (2005). © 2006 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 7/7