Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 11. Die ln-Funktion und die e-Funktion 11.1 Die ln-Funktion 11.1.1 Definition der ln-Funktion Wir haben früher bereits Potenzfunktionen f mit der Funktionsgleichung f(x) = xr betrachtet und festgestellt, dass, wenn r -1, die zugehörige Stammfunktion F eine Gleichung der Form aufweist. Das bedeutet, dass für die Kehrfunktion k mit dem Term k(x) = x-1 = über diese Formel eine Stammfunktion ermittelt werden kann. Gleichwohl besitzt aber auch die Kehrwertfunktion eine Stammfunktion, denn sie ist auf dem Definitionsbereich D = ú({0} stetig. Wir definieren nun zunächst für den positiven Zweig der Kehrwertfunktion eine Stammfunktion über eine Integralfunktion, formulieren also den Stammfunktionsterm als Integral. Dazu legen wir fest: Def: (Integralfunktion) Ist f eine auf I = [a,b] RIEMANN- integrierbare Funktion und ist c0[a,b], dann ist die auf I definierte Funktion F mit eine Integralfunktion zu f. Nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung ist eine Integralfunktion F Stammfunktion von f, wenn f stetig auf [a,b] ist. Ist nämlich F* irgendeine Stammfunktion von f, dann gilt: F(x) = F*(x) - F*(c) und F'(x) = (F*(x) - F*(c))' = F*'(x) - 0 = f(x) Def: (ln-Funktion) Gegeben ist die für positive x definierte und dort stetige Kehrwertfunktion f mit der Gleichung Eine Stammfunktion von f ist die ln-Funktion mit der Gleichung 178 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 11.1.2 Die numerische Abschätzung von Werten der ln-Funktion 1.) Für Zahlen x>1 lassen sich die Funktionswerte ln (x) als Flächenmaße der jeweiligen Flächen zwischen dem Graph der Kehrwertfunktion und der x-Achse über dem Intervall [1,x] interpretieren: 2.) Für Zahlen x mit 0<x<1 erwartet man negative Funktionswerte der ln-Funktion, weil die entsprechende in der folgenden Zeichnung angedeutete Fläche A gemessen wird durch: Also ist ln (x) = - |A| < 0 für 0<x<1, weil |A| als Flächenmaß einer Fläche, deren Inhalt nicht 0 ist, positiv sein muss. 3.) Die ln-Funktion hat an der Stelle x=1 eine Nullstelle, weil . Erste Zusammenfassung ln ist eine auf ú+ definierte Funktion, die für x,]0,1[ negative, für x, ]1,4[ positive Werte aufweist; außerdem gilt ln(1) = 0. Für einen genaueren Eindruck des Verhaltens des ln-Funktion nehmen wir uns vor, einige Funktionswerte zu schätzen. Dazu betrachten wir zwei Hilfsfunktionen h1 und h2 mit: Der Graph der Funktion h1 (in der folgenden Skizze gepunktet) verläuft für kleine Zahlen , und x>1 knapp oberhalb des Graphen der Kehrwertfunktion, der Graph von h2 (in der folgenden Skizze gestrichelt) ein wenig darunter; für 0<x<1 verläuft h1 knapp unterhalb und h2 knapp oberhalb des Graphen der Kehrwertfunktion (in der folgenden Skizze durchgezeichnet). 179 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Die jeweiligen Maße der Flächen zwischen den Funktionsgraphen von h1 und h2 und der x-Achse lassen also eine Eingrenzung der Funktionswerte von ln zu. Man rechnet für x>1: Also ist für x>1: Für 0<x<1 findet man: Also gilt auch für 0<x<1: An der Stelle x=1 findet man H1(x) = H2(x) = ln (x) = 0. Insgesamt haben die Betrachtungen den folgenden Satz bewiesen: Satz: (Abschätzung von Werten der ln-Funktion) Für alle x0ú+ und alle ,>0 gilt: Die Computer-Auswertung für ,=0,01 liefert den folgenden Überblick, aus dem man die Werte der lnFunktion an den ausgewählten Stellen mit einer Genauigkeit von etwa 0,01 ablesen und damit ein geschätztes Bild des Graphen erstellen kann. 180 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion x 0,1 0,4 0,7 1,0 1,3 1,6 1,9 2,2 2,5 2,8 3,1 3,4 3,7 4,0 4,3 4,6 4,9 5,2 5,5 5,8 H 1 (x) -2,27628 -0,91211 -0,35604 0,00000 0,26271 0,47111 0,64392 0,79157 0,92050 1,03494 1,13783 1,23129 1,31693 1,39595 1,46930 1,53776 1,60193 1,66232 1,71936 1,77340 H 2 (x) -2,32930 -0,92050 -0,35731 0,00000 0,26202 0,46890 0,63980 0,78536 0,91211 1,02434 1,12503 1,21632 1,29981 1,37673 1,44803 1,51447 1,57667 1,63514 1,69030 1,74250 Statt kleine Zahlen mit , zu bezeichnen, verwendet man auch gerne die Ersetzung , = (n 0ù), wobei für große n die Zahl , wie gewünscht sehr klein wird. Damit formen wir den obigen Abschätzungssatz um: Insgesamt erhält man folgende Schätzung von Werten der ln Funktion: Satz: (Abschätzung von Werten der ln-Funktion über natürliche Zahlen) Für alle x0ú+ und alle n 0ù gilt: 11.1.3 Untersuchung der ln-Funktion mit Mitteln der Kurvendiskussion Definitionsbereich und Symmetrie Die ln-Funktion ist auf ú+ definiert; sie weist aufgrund der Asymmetrie des Definitionsbereiches keine einfache Symmetrie auf. 181 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Ableitungen Die ln-Funktion ist Stammfunktion der Kehrwertfunktion; also gilt: Monotonie und Extrema Für die Ableitung der ln-Funktion gilt: , denn Also ist ln eine auf ihrem ganzen Definitionsbereich ú+ streng monoton steigende Funktion, deren Graph folglich keine relativen Extrema aufweist. Krümmung und Wendepunkte Für die zweite Ableitung der ln-Funktion gilt: Also ist ln eine auf ihrem ganzen Definitionsbereich ú+ rechtsgekrümmte Funktion, die folglich keine Wendepunkte aufweist. Nullstelle ln (1) = 0; also hat die ln-Funktion bei x=1 eine Nullstelle. Sie hat keine weitere, weil die Funktion auf ihrem ganzen Definitionsbereich streng monoton steigt. Grenzwerte Die Grenzwerte der ln Funktion für x64 und x60 sind an dieser Stelle noch nicht schlüssig bestimmbar. Das Bild des Graphen lässt vermuten, dass die Funktion in der Nähe der y-Achse unter alle Grenzen fällt; der Grenzwert für x64 dagegen ist unklar: Zwar wissen wir schon, dass die Funktion streng monoton steigt, aber nicht, ob alle Grenzen überschritten werden. Ein Test mit dem Taschenrechner zeigt, dass die ln-Funktion auf jeden Fall sehr gemächlich ansteigt, denn ln (1 000 000) zum Beispiel liefert den Wert 13,8155. Eine Entscheidung über das Grenzwertverhalten ist damit auch „per Indiz“ noch nicht zu treffen und wird deshalb vertagt. 11.1.4 Die Funktionalgleichung der ln-Funktion und verwandte Formeln Auf die Funktionalgleichung der ln-Funktion stößt man nach Untersuchung der Funktion g mit der Gleichung g(x) = ln (ax) - ln (x) (a, x > 0). Leitet man g ab, findet man: Also ist g eine konstante Funktion mit der Gleichung g(x) = c für alle x 0 ú+. Wie groß c tatsächlich ist, ermittelt man an der Stelle x=1: c = g(1) = ln (a@1) - ln (1) = ln (a) - 0 = ln (a) Damit findet man für alle a, x 0 ú+ : ln (a) = g(x) = ln (a@x) - ln (x) ] ln (a@x) = ln (a) + ln (x) Nach Ersetzen der Variablen x durch b erhält man damit: Satz: (Funktionalgleichung der ln-Funktion) Für alle a, b 0 ú+ gilt: 182 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Die Funktionalgleichung der ln-Funktion ist Basis der Beweise folgender Formeln: Satz: (Formeln in Zusammenhang mit der Funktionalgleichung der ln-Funktion) Für alle a, b 0 ú+ und für alle r0 ú gilt: 1. 2. 3. Bew: 1. 2. 3. ln (xr) = r @ ln (x) ] ln (xr) - r @ ln (x) = 0 Wir betrachten deshalb die Funktion g mit der Gleichung g(x) = ln (xr) - r @ ln (x) mit x > 0, r 0 ú mit dem Ziel, den Nachweis zu erbringen, dass g(x) = 0 für alle x>0, r 0 ú. Die Ableitung von g ergibt: Also ist g eine konstante Funktion mit der Gleichung g(x) = c für alle x0 ú+ . An der Stelle 1 findet man schließlich c = g(1) = ln (1r) - r @ ln (1) = ln (1) - r @ 0 = 0 - 0 = 0 11.1.5 Grenzwerte der ln-Funktion Mit Hilfe der aus der Funktionalgleichung gefolgerten Formeln findet man eine Möglichkeit, die noch nicht geklärten Grenzwerte der ln-Funktion nachzuweisen, indem man „spezielle Wege“ für x64 beziehungsweise x60 wählt. 183 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Satz: (Grenzwerte der ln-Funktion) Bew: Aus dem Satz über die Grenzwerte der ln-Funktion folgert man direkt, dass die Bildmenge der ln-Funktion gleich der Menge ú aller reellen Zahlen ist, weil die ln-Funktion als stetige Funktion alle Werte zwischen -4 und 4 annehmen muss. 11.1.6 Die ln-Funktion als Logarithmusfunktion Betrachtet man die Funktionalgleichung der ln-Funktion und die daraus hergeleiteten Formeln näher und erinnert man sich zusätzlich noch an den Mathematik-Stoff der Mittelstufe, dann fallen Parallelen zur Logarithmus-Funktion auf; die Formeln zur ln-Funktion entsprechen nämlich exakt den Logarithmengesetzen. Zur Erinnerung: Logarithmus Ist logb(x) der Logarithmus der positiven reellen Zahl x zur Basis b (b>0,b 1), dann kann man x darstellen durch: In Worten: logb (x) ist diejenige Zahl, mit der man b potenzieren muss, um x zu erhalten. Beisp: (Logarithmen zu verschiedenen Basen) Um den Zusammenhang zwischen den Logarithmen-Funktionen und der ln-Funktion herzustellen, wenden wir die ln-Funktion auf ein x in logarithmischer Schreibweise an und erhalten: Also unterscheiden sich ln (x) und logb(x) nur durch den Faktor ln(b). Falls es folglich eine Zahl b gibt, für die ln(b)=1, dann wäre ln Logarithmus zu dieser Basis b; es würde nämlich dann gelten: 184 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Eine entsprechende Zahl b muss es eindeutig geben, weil die ln-Funktion jeden Wert aus ú genau einmal annimmt, insbesondere also auch den Wert 1. Def: (Eulersche Zahl e) Die Zahl e mit der Eigenschaft ln(e) = 1 heißt nach dem Mathematiker Leonhard Euler (17071783) die Eulersche Zahl. Ihr Wert auf 5 Stellen genau ist: e = 2,71828 Die Zahl e ist, ähnlich wie B, eine nichtrationale, reelle Zahl. Wir fassen zusammen: Satz: (Logarithmus-Eigenschaft der ln-Funktion) Die ln-Funktion ist die Logarithmus-Funktion zur Basis e. Nach diesen Betrachtungen zur ln-Funktion ist auch ihr Name, der ausgeschrieben logarithmus naturalis (natürlicher Logarithmus) heißt, zumindest im Namensteil „logarithmus“ verständlich. Die Zahl e ist jedoch bisher lediglich angegeben; ihre Ermittlung gelingt durch folgendes Verfahren, das sich auf den Abschnitt zur näherungsweisen numerischen Bestimmung von Werten der ln-Funktion bezieht. Dort haben wir feststellen können, dass für x>0 und x 1 gilt: Für die Zahl e>1 ergibt sich damit folgende Schätzung: Man löst die beiden enthaltenen Ungleichungen jeweils nach e auf: Also gilt: 185 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Der Computer liefert in diesem Zusammenhang folgende Schätzungen für e auf 10 Stellen gerundet: n 10 2,5937424601 2,8679719908 100 2,7048138295 2,7319990263 1.000 2,7169239328 2,7196422163 10.000 2,7181459077 2,7184177304 100.000 2,7182681690 2,7182953629 Das Zahlenmaterial lässt über die linke der beiden Abschätzungen der Zahl e vermuten, dass man die Zahl e durch folgenden Grenzwert darstellen kann: Diese Vermutung trifft zu, wie man sich ausgehend von der Beziehung der Kehrwertfunktion zur lnFunktion und unter Verwendung der Definition der Differenzierbarkeit überlegen kann. Es gilt für alle x0 0 ú+ : Setzt man für die Differenz x-x0 die Zahl )x, dann erhält man daraus: Da dieser Grenzwert sicher existiert, ist es gleichgültig, auf welchem „Weg“ )x gegen 0 läuft. Für den jetzigen Zweck setzen wir . Der betrachtete Grenzwert wird damit umgeschrieben und weiter bearbeitet. Satz: (Die Zahl e als Folgengrenzwert) Es gilt: 186 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 11.1.7 Die Berechnung beliebiger Logarithmen mit Hilfe des natürlichen Logarithmus Der folgende Satz zeigt den Zusammenhang beliebiger Logarithmen mit dem natürlichen Logarithmus. Satz: (Berechnung beliebiger Logarithmen mit Hilfe der ln-Funktion) Für positive reelle Zahlen b 1 berechnet man den Logarithmus zur Basis durch: Bew: Der Beweis verwendet, ähnlich wie in früheren Vorgehensweisen, eine Umformung der Variablen x in eine Logarithmus-Schreibweise. Auf Grundlage des eben gezeigten Satzes kann man mit dem Taschenrechner Logarithmen zu beliebigen Basen ausrechnen, wenn dieser Werte der ln-Funktion berechnen kann. 11.1.8 Definitionsbereich logarithmischer Terme Den Definitionsbereich logarithmischer Terme findet man mit Hilfe der Überlegung, dass man die lnFunktion nur auf positive Zahlen beziehungsweise positive Ausdrücke anwenden darf. Beisp: (Definitionsbereich von zwei logarithmischen Termen) 11.1.9 Nullstellenbestimmung bei logarithmischen Termen Mit Hilfe der Formel ln (1) = 0 bestimmt man die Nullstellen logarithmischer Terme. Beisp: (Nullstellenbestimmung logarithmischer Terme) Bestimme die Nullstellen der Funktion f mit f(x) = ln (x2+4x+1)! 187 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 11.1.10 Eine Stammfunktion der ln-Funktion Auf der Suche nach einer Stammfunktion F der ln-Funktion setzen wir ein unbestimmtes Integral an und rechnen mit partieller Integration unter Anwendung des Faktors 1: Damit ist der folgende Satz bewiesen: Satz: (Eine Stammfunktion der ln-Funktion) Die Funktion F mit der Gleichung 11.1.11 ist eine Stammfunktion der ln-Funktion. Eine Stammfunktionsterm für die auf ú\{0} definierte Kehrwertfunktion Logarithmische Integration Für den positiven Zweig der Kehrwertfunktion haben wir die ln-Funktion als Stammfunktion kennen gelernt. Für den negativen Zweig dieser Funktion muss es aufgrund der Stetigkeit der Kehrwertfunktion über ihrem gesamten Definitionsbereich ebenfalls eine Stammfunktion geben. Zur Erkundung eines passenden Stammfunktionsterms orientieren wir uns - entsprechend dem Vorgehen bei der Definition der ln-Funktion - an Flächen zwischen dem Graph der Kehrwertfunktion und der x-Achse. Für x0]-4,-1[ findet man die in der Zeichnung dargestellte linke Fläche, die maßgleich der zusätzlich dargestellten rechten Fläche ist. Das Maß Arechts der rechten Fläche ist entsprechend der Definition der lnFunktion gleich der Zahl ln (-x). Das Maß Alinks der linken Fläche ergibt sich angesichts ihrer Lage unterhalb der x-Achse durch: Aus der Flächenmaßgleichheit der beiden Flächen ergibt sich: Da durch den rechten Teil dieser Gleichung eine Integralfunktion und damit eine Stammfunktion der auf ]-4,-1[ stetigen Kehrwertfunktion vorgegeben ist, muss auch ln (-x) Term einer Stammfunktion dieser Funktion sein. Wir verallgemeinern das Ergebnis unserer Betrachtungen auf alle x0ú- und prüfen die Ableitung der auf ú- definierten vermeintlichen Stammfunktion F mit der Gleichung F(x) = ln (-x). 188 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion für alle x 0 ú- Es ergibt sich: Fasst man weiter die Ergebnisse der Stammfunktionsbildung der beiden Zweige der Kehrwertfunktion in ein Ergebnis zusammen, findet man: Satz: (Stammfunktion der Kehrwertfunktion mit D = ú({0}) Die auf ú({0} definierte Kehrwertfunktion besitzt die Stammfunktion G mit G(x) = ln ( | x | ). Anhand dieses Ergebnisses verifiziert man das Verfahren der logarithmischen Integration. Wir betrachten zunächst ein einfaches Beispiel: Beisp: (Logarithmische Integration) Gegeben sind die Funktionen f und g mit den Gleichungen Eine Stammfunktion zu g ist G mit der Gleichung , denn Das einführende Beispiel ist deshalb als einfach zu bezeichnen, weil x2 + 3 grundsätzlich positiv und der entstehende Stammfunktionsterm G(x) deshalb überall definiert ist; außerdem ist G überall differenzierbar. Im Allgemeinen kann die Bildung der Stammfunktion G zu g mit auf diese Art dadurch vereitelt werden, dass f negative Werte annimmt oder Nullstellen besitzt. Mit Hilfe des im letzten Satz formulierten verallgemeinerten Stammfunktionsterms der ln-Funktion findet man eine Möglichkeit, Stammfunktionsterme zu g dann anzugeben, wenn g im Definitionsbereich keine Nullstellen aufweist. Satz: (Logarithmische Integration) Ist f eine auf ihrer Definitionsmenge D differenzierbare Funktion, und ist weiter f(x) 0 für alle x0 D, dann findet man zum Funktionsterm g mit einen Stammfunktionsterm G durch: Bew: Wo f(x) > 0, findet man: Wo f(x)<0, gilt: 189 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Beisp: (Logarithmische Integration) 11.2. Die Exponentialfunktion (e-Funktion) Ähnlich, wie der rechte Zweig der Quadratfunktion eine Umkehrung in der Wurzelfunktion findet, besitzt auch die ln-Funktion eine Umkehrfunktion, die wir nun auffinden wollen. Einleitend dazu werden einige allgemeine Eigenschaften von Umkehrfunktionen dargestellt. 11.2.1 Umkehrfunktionen Umkehrfunktion (erste Beschreibung) Die Umkehrfunktion f -1 zu einer Funktion f gibt eine Abbildungsvorschrift, die ermöglicht, aus einem Wert y der Funktion f die auf eben dieses y abgebildete Zahl x wiederzugewinnen kann. In Formeln: Man findet den Term von f -1, indem man, wenn möglich, die Gleichung y = f(x) nach x auflöst. Um zu einer üblichen Schreibweise zu kommen, ersetzt man nach der Auflösung x durch y und y durch x und erhält y = f -1(x). Beisp: (Auffinden des Terms einer Umkehrfunktion) Gegeben ist die Funktion f durch: Der Graph der Funktion f bildet eine Gerade mit Steigung 2 und y-Achsenabschnitt 7; als Funktionswerte werden alle Zahlen aus dem Intervall [ -9, 9] angenommen. Der Term der zugehörigen Umkehrfunktion f -1 errechnet sich in folgenden Schritten: Notiert man die entstandene Funktion f -1 wie üblich in Abhängigkeit von der Variablen x, das heißt, vertauscht man die x- und die y-Koordinate der Geradenpunkte, findet man: Die Vertauschung der Variablen x und y äußert sich grafisch so, dass der Graph von f Graphen von f durch Spiegelung an der ersten Winkelhalbierenden entsteht. 190 -1 aus dem Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Nicht alle Funktionen lassen sich umkehren, wie das folgende Beispiel zeigt: Beisp: (Eine nicht umkehrbare Funktion) Gegeben ist die Funktion f durch: Die Umkehrung führt hier nicht zu einer Umkehrfunktion, weil sie zweideutig ist. Denn ein wesentliches Merkmal von Funktionen im Allgemeinen und damit auch von Umkehrfunktionen ist, dass jeder Zahl ein eindeutiger Funktionswert zugeordnet wird. Nach den Vorbetrachtungen definieren wir nun genau den Begriff der Umkehrfunktion. Def: (Umkehrbarkeit und Umkehrfunktion) f sei eine Funktion mit Definitionsbereich D und Bildbereich B. Ist die Gleichung y=f(x) eindeutig nach x auflösbar, dann heißt f umkehrbar. Die Funktion f -1, die entgegen der Abbildungsrichtung der umkehrbaren Funktion f jedem y 0 B eindeutig ein x 0 D zuordnet, heißt Umkehrfunktion zu f. Es ist also in diesem Fall x = f -1(y) genau dann wenn y = f(x). Der folgende Satz gibt einen Kriterium an die Hand, mit dessen Hilfe man in der Regel die Umkehrbarkeit differenzierbarer Funktionen nachweist. Satz: (Umkehrbarkeit streng monotoner Funktionen) Streng monoton fallende beziehungsweise streng monoton steigende Funktionen sind umkehrbar. Bew: Streng monotone Funktionen können nicht zweimal denselben Funktionswert aufweisen; deshalb gehört zu jedem Funktionswert y = f(x) ein eindeutiges Urbild x. Im Einzelnen begründet man mithilfe der Definition der Eigenschaft der strengen Monotonie unter Anwendung des Beweisverfahrens der Annahme des Gegenteils: Zur Erinnerung: f heißt streng monoton fallend, wenn zu irgend zwei Zahlen x1, x2 0 Df mit x1< x2 191 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion immer gilt: f(x1)>f(x2). f heißt streng monoton steigend, wenn zu irgend zwei Zahlen x1, x2 0 Df mit x1< x2 immer gilt: f(x1)<f(x2). Wir nehmen an, es sei möglich, dass f eine streng monotone Funktion sei und zugleich zwei ungleiche Zahlen x1, x2 den selben Funktionswert y von f hätten. Unter dieser Annahme ist also f(x1) = f(x2), gleich ob x1< x2 oder x1>x2. Also kann f nicht streng monoton sein, weil weder die Anforderung für streng monotones Fallen noch die für streng monotones Steigen erfüllt ist. Damit haben wir einen Widerspruch erzeugt, die Annahme ist nicht haltbar. Beisp: (Umkehrbarkeit streng monotoner Funktionen) Untersuche die Funktion f mit der Gleichung f(x) = x5 + 4 x3 + 6x. auf Umkehrbarkeit. f ist eine differenzierbare Funktion mit der Ableitungsfunktion f '; deren Gleichung lautet f '(x) = 5 x4 + 12 x2 + 6 > 0 für alle x 0ú Mithilfe des Monotoniekriteriums für differenzierbare Funktionen findet man, dass f überall streng monoton steigend und damit umkehrbar ist. Den Abschluss der allgemeinen Betrachtungen zu Umkehrfunktionen bildet eine Rechenregel zur Berechnung ihrer Ableitung. Satz: (Berechnung der Ableitung der Umkehrfunktion (Umkehrregel)) f sei eine auf ihrem Definitionsbereich D differenzierbare Funktion mit Werten in der Menge W mit Umkehrfunktion f -1 . Dann ist auch f –1 differenzierbar und es lässt sich zwischen der Ableitung der Funktion f an einer Stelle x und der Ableitung der Funktion f -1 an der Stelle y = f(x) eine Beziehung herstellen, wenn f'(x) 0. Es gilt: Bew: Für ein y0 = f(x0) errechnet man die Ableitung f -1' (y0) über den Differenzenquotienten und nützt die Eigenschaften Differenzierbarkeit und damit Stetigkeit der Funktion f aus: Ein Beispiel verdeutlicht den Zusammenhang und macht den Satz weiter plausibel: Beisp: (Berechnung der Ableitung der Umkehrfunktion (Umkehrregel)) Wir betrachten die Funktion f:[0,4 [6[0,4 [ mit der Gleichung y = f(x) = x2, deren Umkehrfunktion f-1 die Wurzelfunktion ist, für die gilt: f -1(y) = x = 192 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Wir betrachten die Stelle x = 2 mit y = f(2) = 4; f '(2) = 2A2 = 4. Dann gilt für die Ableitung der Wurzelfunktion f -1 an der Stelle 4: Verallgemeinert man das Beispiel, errechnet man die vertraute Formel der Ableitung der Wurzelfunktion: 11.2.2 Die exp-Funktion als Umkehrfunktion der ln-Funktion Wir bilden nun die Umkehrfunktion ln-1 zur ln-Funktion; dabei berücksichtigen wir, dass die ln-Funktion umkehrbar ist, weil sie überall streng monoton steigt. Die Umkehrfunktion der ln-Funktion ist auf der Menge ú aller reellen Zahlen definiert und ihre Werte liegen in ú +, weil die ln-Funktion auf ú + definiert ist und Werte auf ganz ú annimmt. Def: (exp-Funktion, e-Funktion) Die Umkehrfunktion der ln-Funktion heißt e-Funktion oder Exponentialfunktion mit Kürzel exp. exp: ú6ú + x µ exp (x) Die Exponentialfunktion und die ln-Funktion sind Umkehrfunktionen voneinander, also gilt: Satz: (Zusammenhang zwischen der Exponential- und der ln-Funktion; Version 1) exp (ln(x)) = x für alle x0ú + ln (exp (x)) = x für alle x0ú Der Graph der e-Funktion lässt sich durch Spiegelung des Graphen der ln-Funktion an der ersten Winkelhalbierenden leicht zeichnen. Speziell weiß man: exp (0) = 1, weil ln (1) = 0. exp (1) = e, weil ln (e) = 1. 193 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 11.2.3 Die exp-Funktion als Exponentialfunktion zur Basis e Satz: (Exponentialeigenschaft der e-Funktion) für alle x0ú Bew: Die Grundformeln, die aus der Tatsache entstehen, dass die ln- und e-Funktion Umkehrfunktionen voneinander sind, kann man damit auch so notieren: Satz: (Zusammenhang zwischen der Exponential- und der ln-Funktion; Version 2) eln( x) = x für alle x0ú+ ln (ex) = x für alle x0ú y = ex ] x = ln y für alle y,ú+ und für alle x0ú 11.2.4 Die Funktionalgleichung der e-Funktion und verwandte Formeln Der Funktionalgleichung der ln-Funktion entspricht die Funktionalgleichung der e-Funktion: Satz: (Funktionalgleichung der e-Funktion) Für alle x, y 0ú gilt: Bew: Auch die übrigen Formeln aus dem Umkreis der Funktionalgleichung der ln-Funktion finden eine Entsprechung in Formeln, die sich auf die e-Funktion beziehen: Satz: (Formeln in Zusammenhang mit der Funktionalgleichung der e-Funktion) Für alle x, y 0 ú gilt 1. 2. 3. Bew: 1. 194 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 2. 3. Man erkennt so, dass für die e-Funktion die üblichen Gesetze der Potenzrechnung gelten. 11.2.5 Die allgemeinen Potenzgesetze Mit Hilfe der Festsetzung von beliebigen Potenzen der Zahl e lassen sich jetzt auch allgemeine Potenzen zu irgendeiner reellen, positiven Basis a erklären; man definiert: Def: (Allgemeine Potenz) Unter einer Potenz ax zur Basis a (a0ú+) versteht man: Bemerkung: ax = ex ln a Mancher wird sich fragen, warum man hier eine solch merkwürdige Definition liest, weil man doch meint, dass der Term ax etwas „ganz Normales” sei. Für natürliche Zahlen x ist er das auch, für ganze und rationale Zahlen x kann man sich vergleichsweise einfach eine Erklärung des Terms ax herleiten. Für reelle nichtrationale Zahlen aber ist der Ausdruck ax bisher zwar verwendet, aber nicht explizit begründet worden. Diese Lücke im Aufbau des Zahlensystems ist hiermit ergänzt. Nun kann man die allgemein schon bekannten, jetzt aber mathematisch abgesicherten Potenzgesetze für beliebige Exponenten nachweisen. Satz: (Potenzgesetze) Für alle a,b 0 ú+ und für alle x,y 0 ú gilt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. Bew: 1. 2. Mit Hilfe der Regeln 1. und 2. beweist man 3.: 3. 195 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 4. 5. 6. 11.2.6 Die numerische Abschätzung von Werten der e-Funktion Wir haben früher die ln -Funktion numerisch abgeschätzt und gefunden, dass für alle x0ú+ gilt Wir wollen diese Abschätzung dazu verwenden, auch die e-Funktion zu schätzen und setzen x=ey (y0ú) damit - und nach Division der Ungleichungskette durch n - ergibt sich: Auf dem Weg zu einer Abschätzung der e-Funktion lösen wir beide Ungleichungen dieser Ungleichungskette separat nach ey auf. - Links ergibt sich: Da, wie wir aus dem letzten Abschnitt wissen, dass die in dieser Behandlung verwendete allgemeine Potenz nur für positive Basen definiert ist, gilt die gefundene Ungleichung zur Abschätzung von ey nur, falls - Rechts findet man: Auch hier wurde die allgemeine Potenz als Mittel der Umformung verwendet; die gefundene Ungleichung gilt nur, falls Fasst man die beiden Ergebnisse “links” und “rechts” zusammen, erhält man den folgenden Satz zur Schätzung von Werten der e-Funktion: 196 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Satz: (Abschätzung von Werten der e-Funktion über natürliche Zahlen) Für alle x0ú mit | x |<n gilt: Beisp: (Abschätzung von Werten der e-Funktion) Interpretiert man den obigen Satz für verschiedene Werte von n, findet man: Für n=1 und | x | < 1 gilt: Für n=2 und | x | < 2 findet man: Setzt man die Reihe der Einsetzungen für n im eben gezeigten Beispiel beliebig lange fort, bildet also n64, vermutet man anhand der linken der beiden Ungleichungen des letzten Satzes folgenden Grenzwert: Satz: (Werte der e-Funktion als Grenzwert über natürliche Zahlen) Es gilt für alle x0ú Bew: Zunächst stellen wir fest, dass die Formel für x=0 erfüllt ist und wenden uns dann dem Beweis für x 0 zu. Dabei verwenden wir den früher bereits ermittelten Grenzwert in einer etwas verallgemeinerten Version. Es gilt: Wenn xn von n abhängige Zahlen mit der Eigenschaft sind, dann ist . Für alle x >0 mit | x | < n findet man dann: Wir versuchen ein vergleichbares Verfahren für | x | < n und x < 0: 197 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 11.2.7 Analytische Eigenschaften der e-Funktion Wir untersuchen jetzt die e-Funktion auf Eigenschaften, welche in einer Kurvendiskussion interessant sind; die meisten sind nur noch rechnerisch zu bestätigen, denn der Graph der e-Funktion ist bereits gezeigt. Gleichwohl werden an dieser Stelle alle Eigenschaften der Funktion noch einmal zusammengefasst: Definitionsbereich und Symmetrie Df = ú; es liegt keine einfache Symmetrie vor Ableitungen Wir benutzen die Ableitungsregel für Umkehrfunktionen und schließen mit y = ln (x) und x = ey auf die Ableitung der e-Funktion an einer Stelle y. Für alle y 0ú gilt: Damit gilt: Satz: (Ableitungsfunktion und Stammfunktionen der e-Funktion) Die Ableitungsfunktion der e-Funktion ist die e-Funktion selbst. Damit ist auch klar, dass die zweite und jede weitere Ableitung der e-Funktion gleich der e-Funktion ist, und dass die eFunktion sich selbst als Stammfunktion hat. Nullstellen Die e-Funktion hat keine Nullstellen, weil sie nur positive Werte annimmt, denn ihre Umkehrfunktion, die ln-Funktion, ist nur für positive Zahlen definiert. Monotonie und Extrema Die Ableitung der e-Funktion ist die e-Funktion selbst, also ist auch die erste Ableitung der e- 198 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Funktion überall positiv; damit ist die e-Funktion überall streng monoton steigend und besitzt folglich keine relativen Extrema. Krümmung und Wendepunkte Die zweite Ableitung der e-Funktion ist die e-Funktion selbst, also hat auch die zweite Ableitung nur positive Werte; der Graph der e-Funktion ist folglich überall linksgekrümmt und weist keine Wendepunkte auf. Grenzwerte 11.3 Rechnen mit der e- und ln-Funktion 11.3.1 Lösen von Exponential- und Logarithmus-Gleichungen Wie man quadratische Gleichungen durch Ziehen der Wurzel oder Wurzelgleichungen durch Quadrieren, also jeweils durch Anwendung der Umkehrfunktion zu lösen sucht, so geht man auch Logarithmus- und Exponentialgleichungen nach folgendem Verfahren an: - Bestimmen des Definitionsbereiches der Gleichung - Isolieren des Logarithmus- oder des Exponentialterms - Anwendung der Umkehrfunktion - Lösen der Gleichung - Untersuchung der Zulässigkeit der Lösung (Definiertheit bzw. Probe) Beisp: (Logarithmusgleichungen) 1. Löse: ln (x2-4) = 0 D = { x0ú | x2-4 > 0 } = ú ( [-2,2] Der Logarithmus-Term ist bereits isoliert, also formt man unter Anwendung der e-Funktion um: Beide errechnete Lösungen liegen innerhalb des Definitionsbereiches. 199 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 2. Löse: ln (x2) - ln (2x-1) = 1 D = { x0ú | x2 > 0 v 2x-1 > 0} = ] ,4[ Man rechnet innerhalb des angegebenen Definitionsbereiches: Weiter mit quadratischer Ergänzung: Beide Lösungen liegen innerhalb des ermittelten Definitionsbereiches. Beisp: (Exponentialgleichungen) 1. Löse: 2 e-x = ex+1 D=ú Multipliziere beide Seiten mit ex: 2. Löse: e2x - 2ex = 3 D=ú Man setzt und erhält nach quadratischer Ergänzung die Lösung einer quadratischen Gleichung in Abhängigkeit von der Variablen y: Die Rückersetzung y = ex führt zur Lösung: Die Gleichung ex=-1 hat wegen der Positivität von ex keine Lösung und fällt deshalb heraus. 200 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 11.3.2 Grenzwertberechnungen in Zusammenhang mit der e- und ln-Funktion Die Berechnung von uneigentlichen Grenzwerten von Funktionen, die aus der Verknüpfung einer ebeziehungsweise ln-Funktion mit Potenzfunktionen entstehen. Wir stellen die auftretenden Fragen an zwei Beispielen konkreter: - Setzt sich x 6 0 oder ln (x) 6- 4 durch? - Setzt sich ex 6 4 oder 6 0 durch? Eine erste Antwort auf solche Fragen liefert der folgende Satz: Satz: (Unendliche Grenzwerte von Exponential- und Potenzfunktionen im Vergleich) Eine Exponential-Funktion mit dem Term f(x) = eax (a>0) übertrifft für zunehmend große x jede Potenzfunktion beliebig. Genauer: Für alle a>0 und alle n0ù gilt: Bew: Aus den Betrachtungen zur Abschätzung von Werten der e-Funktion wissen wir Also ist auch Bei „anderer“ Zählweise kann man dafür auch schreiben: Wir erweitern diese Ungleichung in eine Ungleichungskette und schließen weiter: Nun wird diese Ungleichung durch xn dividiert und auf beiden Seiten der Grenzwert gebildet: Da man auf der linken Seite der letzten Ungleichung den Grenzwert 4 errechnet, muss sich erst recht auf der rechten Seite der Grenzwert 4 ergeben. 201 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Dieses Ergebnis kann man noch verallgemeinern: Satz: (Unendliche Grenzwerte von Exponential- und Potenzfunktionen im Vergleich) Eine Exponential-Funktion mit dem Term f(x) = eax (a>0) übertrifft für zunehmend große x jede Potenzfunktion mit reellem Exponenten beliebig. Genauer: Für alle a>0 und alle r0 ú gilt: Bew: Ist n eine natürliche Zahl, für die gilt n>r, dann ist für x >1 auch xn > xr und man findet: Das Ergebnis über Grenzwerte von Potenzfunktionen im Zusammenhang mit Exponentialfunktionen lässt sich auch auf Betrachtungen mit Polynomfunktionen ausweiten. Satz: (Unendliche Grenzwerte von Exponential- und Polynomfunktionen im Vergleich) Eine Exponential-Funktion mit dem Term f(x) = eax (a>0) übertrifft für zunehmend große x jede Polynomfunktion beliebig. Genauer: Für alle a>0 und alle Polynomfunktionen p mit der Gleichung (n0ù , a0 ...an 0 ú ) gilt Bew: Für jede Polynomfunktion p der oben angegebenen Form gibt es eine Potenzfunktion q mit q(x) = xm (m > n) so, dass q(x) > p(x) für alle x oberhalb einer gewissen Schranke x0>0; denn für x>0 gilt: Diese Ungleichung wird für sehr große x bestätigt, weil Also ist: 202 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Unter Zuhilfenahme dieser Ergebnisse findet man weitere Grenzwerte in Zusammenhang mit e- und lnFunktionen: Satz: (Grenzwerte im Zusammenhang von Exponential-, Logarithmus-, Potenz- und Polynomfunktionen) 1. Für alle a>0 für alle Polynomfunktionen p gilt: 2. Für alle Polynome p, deren Grad nicht 0 ist, und alle n0ù gilt: 3. Für alle Polynome p mit unendlichem Grenzwert 0 und alle positiven m0ù gilt: Bew: 1. Zunächst zeigen wir die Behauptung für p(x) = xn (n0ù) mithilfe des vorangegangenen Satzes: Mit dem im Beweis des letzten Satzes bereits verwendeten Argument, dass es zu jedem Polynom p eine Potenzfunktion q mit q(x) = xn gibt, deren Werte die von p für große x übertreffen, schließt man auf die Behauptung des Satzes. Dabei berücksichtigt man, dass |p(x)| ein Polynomterm mit positivem Vorzeichen ist. 2. Auch hier weicht man zunächst auf einen Beweis für Potenzfunktionen aus. Im Verlauf dieses Beweises wird die Variable x durch den Term ez dargestellt. Nun schließt man weiter, wobei man berücksichtigt, dass x>0: 203 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Man ersetzt, wie schon oben, die Variable x durch den Term ez ; an Stelle der Grenzwertbildung x60 tritt dann z6- 4. 11.3.3 Die Reihenentwicklung der e-Funktion Über den Satz von TAYLOR ergeben sich weitere Möglichkeiten, Werte der e-Funktion sehr genau zu schätzen und schließlich als unendliche Reihe darzustellen. Satz: (TAYLOR-Polynome und TAYLOR-Reihe zur e-Funktion) Der Term der Exponentialfunktion ist darstellbar als Bew: Da die e-Funktion beliebig oft differenzierbar ist, kann man ihren Funktionsterm für ein n0ù zerlegen in ein Polynom pn n-ten Grades und ein Restintegral Rn.(nach TAYLOR). exp (x) = pn(x) + Rn(x) Dabei ist für x0 0ú: Wählt man die Entwicklungsmitte x0 = 0, ergibt sich weil exp (0) = 1 und damit auch jede Ableitung exp(k) (0) = exp(0) = 1: Man stellt fest, dass . Deshalb ist 204 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 11.4 Lösen von Differentialgleichungen im Zusammenhang mit der e- und ln-Funktion 11.4.1 Die Differentialgleichung des stetigen Wachstums bzw. des stetigen Zerfalls Zunächst wird anhand des Beispiels “radioaktiver Zerfall” eine zentrale Gleichung zur rechnerischen Bewältigung vieler Wachstums- und Zerfallsvorgänge hergeleitet. Beisp: (Radioaktiver Zerfall) Der Zerfall eines radioaktiven Stoffes erfolgt unabhängig von äußeren Einflüssen räumlich und zeitlich ungeordnet. Trotzdem sind statistische Aussagen über die Anzahl der zerfallenen Atomkerne in einer gewissen Zeitspanne möglich, das heißt, man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, wie viele Kerne in einer Zeiteinheit zerfallen. Wir wollen die Gleichung einer Funktion f ermitteln, die angibt, wie viele Atomkerne zu einer bestimmten Zeit t in einem radioaktiven Präparat vorhanden sind. Experimentelle Grundlage der Ermittlung sind Messergebnisse, die aussagen, dass die Anzahl der zerfallenden Kerne pro Zeitintervall T = [t0 ,t] proportional abhängig ist von - der Anzahl der insgesamt zur Zeit t0 vorhandenen Kerne der Länge des Zeitintervalls T Also: Je mehr Kerne vorhanden sind und je länger man misst, desto mehr Kerne zerfallen. Folgende Bezeichnungen werden im Folgenden verwendet: Beschreibung Anzahl der zu Beginn des Intervalls T vorhandenen Kerne Anzahl der nach dem Intervall T noch vorhandenen Kerne Anzahl der im Intervall T zerfallenden Kerne Länge des Zeitintervalls Formalisierung f(t0) f(t) f(t0) - f(t) t - t0 Die Proportionalität des atomaren Zerfalls zur momentanen Anzahl der zerfallenden Kerne und zur Länge des betrachteten Zeitintervalls drückt man in Formeln so aus: Stellt man sich nun die Beobachtung des radioaktiven Zerfalls auf einen Moment reduziert vor, also untersucht man das Zerfallsverhalten auf einem beliebig kurzen Zeitintervall T = [t0, t] dadurch, dass man den Grenzwert t6t0 bildet, findet man: 205 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Die Aufgabe wird also gelöst durch eine Funktion f, für die gilt f '(t) + k f(t) = 0 für alle t0D. Die Funktion f mit der Gleichung f(t) = e-kt (k0ú) erfüllt die gestellte Bedingung, denn mit ihr ist f '(t) + k f(t) = 0 ] -k e-kt + k e-kt = 0. Auf der Suche nach weiteren Funktionen, die gleichfalls die gefundene Bedingung erfüllen, stößt man zunächst auf den allgemeineren Term f(t) = a e-k@t (a,ú). Auch hier gilt: f '(t) + k f(t) = 0 ] a (-k) e-kt + a k e-kt = 0 Die Zahl a lässt sich noch konkreter fassen, wenn man die Funktion f an der Stelle t=0 betrachtet: f(0) = 'Anzahl der zur Zeit 0 vorhandenen Kerne' = a@e-k@0 = a. Also wird das gestellte Problem gelöst durch die Funktion f mit der Gleichung f(t) = f(0) e-k@t. Die Frage nach weiteren Funktionen, welche die Bedingung erfüllen können, kann abschlägig beantwortet werden. Denn wäre g eine weitere geeignete Funktion, ergäbe sich für die Quotientenfunktion h von f und g: Also ist h eine konstante Funktion; damit hat g den Funktionsterm g(t) = b e-kt = g(0) e-kt = f(0) e-kt = f(t) Def: (Differentialgleichung des stetigen Wachstums, Wachstumsgleichung) Die Gleichung f '(t) + kAf(t) = 0 (k0ú), die in anderer Schreibweise oft auch als y’ + kAy = 0 notiert wird, heißt Differentialgleichung des stetigen Wachstums. Die Lösung der Differentialgleichung des stetigen Wachstums heißt die Wachstumsgleichung. Bem: Eine Differentialgleichung beschreibt also mit Mitteln der Differentialrechnung Bedingungen, die man an eine Funktion stellt. Das Auffinden der Terme von Lösungsfunktionen von Differentialgleichungen ist eine der großen Aufgaben der heutigen Mathematik. Der Name „Differentialgleichung des stetigen Wachstums“ deutet schon an, dass nicht nur der radioaktive Zerfall mit dieser Gleichung modelliert werden kann. Auch andere Prozesse, bei denen sich die Änderung einer Gesamtheit proportional zur momentan vorhandenen Menge verhält, werden durch diese Differential- 206 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion gleichung beschrieben. In praktischer Formulierung erkennt man die Wesensgemeinschaft verschiedener Wachstums- und Zerfallsprozesse: - Je mehr radioaktives Material vorhanden ist, desto mehr wird pro Zeitintervall zerfallen. - Je mehr Kapital jemand besitzt, desto mehr Zinsen wird es pro Zeiteinheit abwerfen. - Je mehr Bakterien sich in einer ausreichenden Nährlösung befinden, desto mehr Zellteilungen wird es pro Zeiteinheit geben. Alle diese und verwandte andere Prozesse haben unmittelbare Beziehungen zur Wachstumsgleichung, deren Term nun in allgemeiner Form angegeben wird. Satz: (Wachstumsgleichung) Wachstums- beziehungsweise Zerfallsprozesse auf einer Menge, die sich proportional zur Anzahl der Elemente der Menge verhalten, werden beschrieben durch die Wachstumsgleichung: Ist 8>0 liegt ein Wachstumsprozess vor, bei 8<0 Zerfall. Bew: Der Beweis wird vergleichbar dem Vorgehen im einführenden Beispiel „Radioaktiver Zerfall“ erbracht. Der Unterschied im Vorzeichen der Wachstumskonstante 8 ergibt sich dadurch, dass bei Zerfallsprozessen für die Anzahl A der im Zeitintervall T = [ t0 ,t ] zerfallenden Teile A = f(t0) - f(t) gesetzt wird und bei Wachstumsprozessen statt dessen für die Anzahl B der in der Zeit T nachgewachsenen Teile B = f(t) - f(t0) in die Rechnung einfließt. Wir vertiefen unsere Erkenntnisse zum radioaktiven Zerfall und zur Wachstumsgleichung anhand von Beispielen: Beisp: (Radioaktiver Zerfall) Nach 120 Stunden sind von 1023 Atomen eines radioaktiven Präparates 1,9 @ 1022 zerfallen. a) b) c) Berechne die Zerfallskonstante der radioaktiven Substanz! Nach welcher Zeit sind von diesem Präparat 8,5A1020 Kerne noch nicht zerfallen? Berechne die Halbwertszeit des Präparates! Zu a) Wir legen den Zeitpunkt 0 dann fest, wenn im Präparat 1023 Kerne vorhanden sind. Die Zerfallsgleichung lautet damit in diesem speziellen Fall: Zur Ermittlung der Konstante 8 werten wir die Vorinformation anhand der gefundenen Gleichung aus und setzen ein: 207 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Zu b) Gesucht ist die Zeit t, so dass f(t) = 8,5A1020 Die gesuchte Zeit beträgt rund 2715 Stunden, also etwa 113 Tage. Zu c) Die Halbwertszeit eines radioaktiven Präparates ist die Zeit, zu der noch die Hälfte der ursprünglich vorhandenen Kerne übrig ist. Allgemein berechnet man die Halbwertszeit tH wie folgt: In unserem Beispiel: Das Präparat zerfällt also nach jeweils 394,73 Stunden, das entspricht etwa 16,45 Tagen auf die Hälfte. Beisp: (Zins und Zinseszins mit einjähriger und unterjähriger Verzinsung) Normalerweise werden Zinsen einmal im Jahr gezahlt. Gelegentlich aber werden Zinsen öfter als einmal im Jahr gezahlt; man spricht dann von unterjähriger Verzinsung. Dabei rechnet man so: Werden die Zinsen k-mal pro Jahr gezahlt, dann wird jedesmal der k-te Teil des vereinbarten Zinssatzes fällig; bei halbjähriger Verzinsung wird somit zweimal im Jahr ein Zins von , bei k-facher Zinszuteilung k-mal ein Zins von berechnet. Wir untersuchen den Sachverhalt anhand der Situation, dass ein Geldbetrag K0 zu p% Zinsen pro Jahr auf drei beziehungsweise allgemein auf n Jahre angelegt wird. Dabei soll die Verzinsung jährlich, halbjährlich beziehungsweise allgemein nach Jahren erfolgen. 1. Bei alljährlicher Verzinsung registriert man nach einem Jahr nach der Zinszahlung folgendes Kapital K1: Nach zwei Jahren hat man: Nach drei Jahren schließlich ergibt sich: Im Allgemeinen ist das Kapital nach n Jahren auf Kn angewachsen mit: 208 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Streng genommen müsste dieser Schluss auf n Jahre mithilfe vollständiger Induktion bewiesen werden. Wir verzichten jedoch darauf, weil der Sachverhalt offensichtlich ist. 2. In ähnlicher Weise rechnet man bei halbjähriger Verzinsung mit dem Zinssatz 3. Bei der Betrachtung der k-maligen Zinszahlung pro Jahr erkennt man näherungsweise den Bezug zur Wachstumsgleichung und damit zur Exponentialfunktion: Für den Zinsempfänger ist unterjährige Verzinsung günstiger, als die übliche jährliche; wir betrachten dazu ein Kapital K0 = 100 000 welches auf 5 Jahre zu 7% angelegt ist: Jährliche Verzinsung: Halbjährliche Verzinsung: Monatliche Verzinsung: Treibt man den Gedanken der unterjährigen Verzinsung auf die Spitze und stellt sich vor, dass die Zinsen in jedem Moment berechnet würden, dass das Jahr also in unendlich viele kleine Teile unterteilt sei, erhält man das Modell der stetigen Verzinsung. Mathematisch entspricht diese Vorstellung der Bildung des Grenzwertes für k64 in der oben ermittelten Formel; man rechnet und stellt fest, dass stetige Verzinsung exakt durch die Wachstumsgleichung beschrieben wird: 209 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Betrachtet man nicht nur ganze Jahre n, sondern beliebige Zeitpunkte t, ergibt sich damit: Satz: (Stetige Verzinsung) Wird ein Kapital K0 stetig zu p% verzinst, dann errechnet man seinen Wert kt zum Zeitpunkt t durch Wir greifen die oben verwendeten Zahlen K0=100000, p=7, und t=5 wieder auf und stellen fest, dass stetige Verzinsung für den Zinsempfänger das günstigste Modell bietet (weshalb es wohl in der Praxis nicht verwendet wird). 11.4.2 Gewöhnliche lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung Hinter der rechnerischen Behandlung des Beispiels „Wachstumsgleichung“ verbergen sich mathematische Grundbegriffe. Def: (Differentialgleichung) Eine Gleichung, die abhängt von - einer Variablen x einer Funktion mit der Gleichung f(x) von den Ableitungen f '(x), f ''(x) ... f (n)(x) von f heißt eine gewöhnliche Differentialgleichung n-ter Ordnung. Lösungen einer Differentialgleichung sind, wenn sie überhaupt existieren, Funktionsterme. Die Theorie der Differentialgleichungen ist eines der großen Fachgebiete der höheren (Universitäts-) Mathematik. Dass diese Theorie auch heute noch grundlegend bearbeitet und erweitert wird, liegt daran, dass es kein einheitliches Lösungsverfahren gibt, auf dessen Basis man alle Differentialgleichungen behandeln könnte. Vielmehr beziehen sich die Kenntnisse immer auf einzelne Formen beziehungsweise Gruppen gleichartig gebauter Differentialgleichungen. Im Zusammenhang mit dem Auffinden von Lösungen von Differentialgleichungen ergeben sich zwei typische Fragestellungen, die auch im obigen Beispiel zum radioaktiven Zerfall behandelt worden sind: 210 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Def: (Existenz- und Eindeutigkeitsproblem für Differentialgleichungen) Das Existenzproblem für Differentialgleichungen wirft die Frage auf, ob eine gegebene Differentialgleichung überhaupt Lösungen aufweist. Das Eindeutigkeitsproblem für Differentialgleichungen beschäftigt sich mit der Frage, ob eine gefundene Lösung der Differentialgleichung die einzige ist oder ob es noch weitere geben kann. Unabhängig von den Problemen zur Existenz und Eindeutigkeit stellt sich dann noch die Aufgabe, eine Lösung auch wirklich zu errechnen. Anhand des Typs „lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung“ werfen wir nun einen Blick auf das Fachgebiet „Differentialgleichungen“. Def: (Lineare Differentialgleichungen) Eine lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung stellt folgende Bedingung für die Gleichung einer Funktion f: f(n) (x) + an-1(x) f(n-1) (x) + ... + a1 (x) f '(x) + a0 (x) f(x) = s(x) Man schreibt häufig unter Verwendung der Identität y = f(x): y(n) + an-1(x) y(n-1) + ... + a1 (x) y ' + a0(x) y = s(x) Falls die Funktionen ai (i= 0, ..., n-1) konstante Funktionen sind, erhält man eine lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten. y(n) + cn-1 y(n-1) + ... + c1 y ' + c 0 y = s(x) Ist s(x) = 0 für alle x, heißt die Differentialgleichung homogen, sonst inhomogen. Die folgenden Sätze zeigen den Bezug zwischen dem Lösen von linearen Differentialgleichungen 1.Ordnung der Form y' + a(x) y = s(x) und bisherigen Erkenntnissen. Dabei wird darauf geachtet, Betrachtungen zur Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen genau zu trennen. Satz: (Die lineare Differentialgleichung y' + a(x) y = s(x) mit a(x) = s(x) = 0) Die Gleichung y'= 0 f '(x) = 0 oder wird eindeutig gelöst durch Funktionen der Form f(x) = c, wobei c 0 ú konstant ist. Bew: Existenz Jede Funktion der Form y = f(x) = c löst die angegebene Differentialgleichung, denn für solche Funktionen ist y = f '(x) = 0. 211 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Eindeutigkeit Ist jede Lösung der Gleichung y'= 0 von der Form y = f(x) = c oder gibt es noch weitere Funktionen mit dieser Eigenschaft? Eine eindeutige Antwort gibt der Satz von TAYLOR: Bemerkung: Normalerweise beantwortet man diese Frage nicht mit dem Satz von TAYLOR, sondern greift auf den so genannten Mittelwertsatz für differenzierbare Funktionen zurück, der unmittelbar mit dem TAYLORschen Satz zusammenhängt. Es wird hier aber darauf verzichtet, den Mittelwertsatz eigens nachzuweisen. Wir stellen eine Funktion f mit f '(x) = 0, für welche also die erste und damit alle weiteren Ableitungen identisch den Wert 0 für alle x haben, als Taylor-Reihe mit beliebiger Entwicklungsmitte x0 dar und finden, dass für alle x 0 ú gilt f(x) = f(x0), weil Also ist f eine konstante Funktion mit der Gleichung f(x) = c. Satz: (Die lineare Differentialgleichung y' + a(x) y = s(x) mit a(x) = 0 Differentialgleichung der Stammfunktionsbildung) Ist s eine auf einem Intervall [c, d] stetige Funktion mit einer Stammfunktion S, dann wird die Differentialgleichung y' = f '(x) = s(x) nur gelöst durch Funktionen f, die Stammfunktion von s sind; also f(x) = S(x) + C (C0ú) Bew: Existenz Die oben angegebene Funktion f löst die Differentialgleichung, weil y' = f '(x) = ( S(x) + C )' = S'(x) = s(x) Eindeutigkeit Gibt es noch andere Funktionen, welche die Differentialgleichung lösen? Nehmen wir an, die Funktion g sei eine andere Lösung der Differentialgleichung y'= s(x). Betrachtet man die Differenzfunktion h mit h(x) = g(x) - f(x), dann findet man: h'(x) = g'(x) - f '(x) = s(x) - s(x) = 0 für alle x0[a,b] Also ist h eine konstante Funktion, g und f unterscheiden sich nur durch eine Konstante. Damit ist gezeigt, dass die Gleichung von g ebenfalls von der Form g(x) = S(x) + C sein muss, also gibt außer der angegebenen keine weiteren Lösungen. 212 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Satz: (Die lineare Differentialgleichung y' + a(x) y = s(x) mit s(x) = 0) (homogene lineare Differentialgleichung 1. Ordnung)) a sei eine auf einem Intervall [c, d] stetige Funktion mit Stammfunktion A. Die homogene lineare Differentialgleichung 1. Ordnung der Form y' + a(x) y = 0 oder f '(x) + a(x) f(x) = 0 wird gelöst durch den Ansatz Daraus ergeben sich nur Lösungsterme f der Form Bew: Existenz Wir formen die Differentialgleichung für f(x) 0 geeignet um: Man bildet beiderseits die Stammfunktion; auf der linken Seite der Gleichung verwendet man logarithmische Integration: Damit ist die Existenz der angegebenen Lösung gesichert. Diese Lösung beinhaltet auch den vorher ausgeschlossenen Fall der Nullfunktion mit der Gleichung y = f(x) = 0, die ebenfalls Lösung der homogenen linearen Differentialgleichung 1. Ordnung ist. Eindeutigkeit Gibt es weitere Lösungen der Differentialgleichung y' + a(x) y = 0? Wir nehmen an, es gebe eine weitere Funktion g, für die gelte g'(x) + a(x) @ g(x) = 0. Für die Quotientenfunktion h von f und g gilt dann: Also ist h eine konstante Funktion, g(x) ist Vielfaches von f(x) für alle x0[c,d]. Also wird durch g keine andere als die schon bekannte Lösung aufgezeigt. Beisp: (Homogene Differentialgleichungen 1. Ordnung) a) Die Differentialgleichung des stetigen Wachstums y' + k y = 0 ist eine lineare homogene Differentialgleichung 1. Ordnung mit konstantem Koeffizienten k. Sie wird gelöst durch die Wachstumsgleichung. 213 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion 2. Löse die Differentialgleichung Man erhält per Division dieser Gleichung durch y und die Setzung y = f(x): Zur Ermittlung von f benötigt man eine Stammfunktion A von a. Man rechnet unter Zuhilfenahme der Substitution u = 1+x2: Da man nur eine Stammfunktion benötigt, setzt man C1 = 0. Damit ergibt sich entsprechend dem obigen Satz die Lösung der Differentialgleichung: Häufig stellt sich das Problem, dass man statt an der Lösungsgesamtheit einer Differentialgleichung mehr daran interessiert ist, eine spezielle Lösung aufzufinden. Meistens ist dabei ein Punkt des Graphen der Lösungsfunktion f oder eine vergleichbare Vorbedingung gegeben. Man nennt eine solche Differentialgleichungsaufgabe ein Anfangswertproblem. Beisp: (Lineare homogene Differentialgleichung 1. Ordnung mit Anfangsbedingung) Löse die Differentialgleichung x2 f '(x) = f(x) mit der Anfangsbedingung f(1) = . Wir stellen die Differentialgleichung mit dem Ziel um, das Verfahren der logarithmischen Integration anwenden zu können. Es ergibt sich für x 0 und f(x) 0: Wie wir aus der gestellten Anfangsbedingung wissen, muss eine Lösungsfunktion an der Stelle 1 definiert sein. Wir bilden also beiderseits die Stammfunktion per Integralfunktion mit unterer Grenze 1 und finden: Links substituiert man u = f(t), du = f '(t) dt und findet: Da nach der Anfangsbedingung f(1)>0 und f(x) 0 nach der oben formulierten Einschränkung, ist also f(x)>0. Damit kann man die Einschränkung durch die Betragsstriche ignorieren und schreibt weiter: 214 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Das im Beispiel verwendetete Verfahren zur Lösung einer Differentialgleichung mit Anfangsbedingung wird auch allgemein verwendet: Satz: (Lineare homogene Differentialgleichung 1. Ordnung mit Anfangsbedingung) a sei eine auf einem Intervall [c, d] stetige Funktion mit Stammfunktion A. Die homogene lineare Differentialgleichung 1. Ordnung der Form f '(x) + a(x) f(x) = 0 beziehungsweise y' + a(x) y = 0 mit der Anfangsbedingung f(x0) = y0 wird eindeutig gelöst durch den Ansatz Dabei ergibt sich die eindeutige Lösung Bew: Wir haben oben die Lösungsgesamtheit der linearen homogenen Differentialgleichung 1.Ordnung bestimmt und gefunden, dass ausschließlich Funktionen f mit f(x) = C e-A(x) diese Gleichung lösen. Setzt man hier die Anfangsbedingung ein und bestimmt damit C, ergibt sich die angegebene Lösung des Anfangswert-Problems. Zur Lösung der inhomogenen linearen Differentialgleichung 1. Ordnung zeigen wir zunächst: Satz: (Zusammenhang zwischen Lösungen einer linearen homogenen und einer linear inhomogenen Differentialgleichung 1. Ordnung Gegeben ist die inhomogene lineare Differentialgleichung 1. Ordnung y' + a(x) y = s(x) f '(x) + a(x) f(x) = s(x) Kennt man irgendeine Lösung f* dieser inhomogenen linearen Differentialgleichung, dann erhält man alle Lösungen dadurch, dass man die Lösungen der zugehörigen homogenen Differentialgleichung (s(x) = 0) hinzuaddiert. Bew: Sind f1 und f2 irgendwelche Lösungen der inhomogenen linearen Differentialgleichung 1. Ordnung, dann ist deren Differenzfunktion h mit der Gleichung h(x) = f1 (x) - f2 (x) eine Lösung der zugehörigen homogenen linearen Differentialgleichung 1. Ordnung, denn: Also erhält man, wenn man nur irgendeine Lösung der inhomogenen linearen Differentialgleichung kennt, alle Lösungen der inhomogenen linearen Differentialgleichung dadurch, dass man die Lösun215 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion gen der homogenen hinzuaddiert. Wie aber findet man eine spezielle Lösung der homogenen linearen Gleichung 1. Ordnung? In vielen Fällen, so auch hier, bewährt sich ein Ansatz mit der Methode der Variation der Konstanten, der darauf spekuliert, dass eine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung Ähnlichkeiten mit der Lösung der zugehörigen homogenen Differentialgleichung aufweist. Die Methode der Variation der Konstanten Ist f eine Lösung der linearen homogenen Differentialgleichung 1. Ordnung, dann ist auch c@f eine Lösung. Man versucht, eine Lösung der zugehörigen inhomogenen Differentialgleichung dadurch zu finden, dass man c durch einen Funktionsterm c(x) ersetzt. Die konstante Zahl c wird durch diese Setzung also zu einer variablen Funktion. Dieser Vorgang gibt der Methode, die häufig bei Lösungen von Differentialgleichungen angewendet wird, den Namen „Variation der Konstanten“. Die so modifizierte Gleichung für f wird in die inhomogene Differentialgleichung eingesetzt; die Lösung ergibt sich, wenn es gelingt, daraus für c(x) einen Funktionsterm zu ersehen. Beisp: (Differentialgleichung 1. Ordnung, Methode der Variation der Konstanten) Bestimme die Lösung der Differentialgleichung Die zugehörige homogene Gleichung haben wir bereits gelöst: Variation der Konstanten liefert folgenden veränderten Funktionsterm für f: Die Einsetzung dieses Terms in die inhomogene Differentialgleichung ergibt: Also ist die inhomogene Differentialgleichung zum Beispiel gelöst, wenn , wenn also Die Lösungsgesamtheit der inhomogenen Gleichung ergibt sich, wenn man zu der gefundenen speziellen Lösung der inhomogenen Gleichung die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung hinzuaddiert. Funktionen f der folgenden Form lösen also die untersuchte Differentialgleichung 1.Ordnung: 216 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Wir halten das Lösungsverfahren für lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung im Allgemeinen fest: Satz: (Die inhomogene lineare Differentialgleichung y' + a(x) y = s(x)) a sei eine auf einem Intervall [c, d] stetige Funktion mit Stammfunktion A, s sei eine dort stetige Funktion. Die lineare Differentialgleichung 1. Ordnung der Form y' + a(x) y = s(x) oder f'(x) + a(x) f(x) = s(x) wird eindeutig gelöst durch Funktionen f mit der Gleichung wobei B Stammfunktion der Funktion b mit der Gleichung Bew: Die Lösung der inhomogenen linearen Differentialgleichung 1. Ordnung setzt sich - wie wir oben schon gesehen haben - additiv zusammen aus der allgemeinen Lösung der zugehörigen homogenen und irgendeiner speziellen Lösung der inhomogenen Gleichung. Die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung ist eindeutig gegeben durch Variiert man die Konstante C, ergibt sich Die Einsetzung dieses verallgemeinerten Terms in die inhomogene Gleichung y' + a(x) y = s(x) liefert eine Bedingung für C(x); man findet: y' + a(x) y = s(x) ] C'(x) e-A(x) + C(x) e-A(x) @(-A'(x)) + a(x) C(x) e-A(x) = s(x) ] C'(x) e-A(x) - C(x) e-A(x) @a(x) + a(x) C(x) e-A(x) = s(x) ]C'(x) e-A(x) = s(x) ] C'(x) = s(x) eA(x) Also ist C Stammfunktion der Funktion b mit b(x) = s(x) eA(x). Die Existenz dieser Stammfunktion ist - unabhängig von ihrer Berechenbarkeit - gesichert durch die Stetigkeit von b. 11.4.3 Logistisches Wachstum Leider ist die Anwendung der Differentialgleichung des stetigen Wachstums und ihrer Lösungsfunktion bei vielen Wachstumsaufgaben nicht angemessen. Denn bei Wachstumsaufgaben - besonders aus der Biologie - ist es in der Regel so, dass es unrealistisch ist, 217 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion anzunehmen, dass eine untersuchte Population immer weiter wachsen könne. Fische in einem kleinen Fischteich oder eine Bakterienkultur in einem Reagenzglas haben eben nur einen beschränkten Lebensraum, so dass die Population nicht über eine bestimmte Schwelle wachsen kann, die zum Beispiel durch das Nahrungsangebot oder den beschränkten Lebensraum festgelegt ist. Die Erfahrung bestätigt, dass die Anwendung der Wachstumsgleichung solange gute Prognosen für die Entwicklung einer Population liefert, wie ein genügendes Raum- und Nahrungsangebot zur Verfügung steht. Je näher der Lebensraum an den Grenzen seiner Kapazität genützt wird, desto ungeeigneter ist das Wachstumsmodell, welches durch die Differentialgleichung des stetigen Wachstums vorgegeben ist. Der Mangel des Modells des stetigen Wachstums ist, dass die Wachstumsrate k konstant und nicht an den augenblicklichen Stand der Auslastung des Lebensraumes angepasst ist. Eine Möglichkeit, eine relative Wachstumsrate r unter Berücksichtigung der uns bekannten konstanten Wachstumsrate k zu konstruieren, die an die Grenzkapazität M des Lebensraumes angepasst ist, findet man durch: Man erkennt, dass diese relative Wachstumsrate r bei sehr kleinen Beständen, also kleinen Werten von f(t), etwa gleich k ist; also wird für kleine Bestände in einem großen Lebensraum mithilfe von r statt k das Wachstum ungefähr so beschrieben, wie es unser bisheriges Modell über die Wachstumsgleichung vorgab. Nähert sich der Bestand der Population und damit f(t) aber der Grenzkapazität M, dann wird r fast 0 und es ist kaum noch Wachstum festzustellen. Setzt man in der Differentialgleichung des stetigen Wachstums die relative Wachstumsrate r statt der konstanten Rate k ein, findet man folgende Differentialgleichung: oder Ein ähnliches Modell erhält man, wenn man die Kapazität M des Lebensraumes nicht unmittelbar abschätzen, dafür aber eine zum Bestand proportionale Sterberate in einer Population feststellen kann. Unter einem solchen Blickwinkel ergibt sich eine modifizierte Wachstumsrate s, die sich aus einer konstanten Wachstumsrate k und der Sterberate k* @ f(t) zusammensetzt: s = k - k* f(t) s verhält sich vergleichbar der oben untersuchten Wachstumsrate r. Wenn der Bestand f(t) sehr klein ist, ist s etwa gleich dem aus der Betrachtung des stetigen Wachstums bekannten konstanten Wachstumsfaktor k. Wenn sich s dem kritischen Wert nähert, ist kaum noch Wachstum festzustellen, weil die Wachstumsrate s annähernd 0 ergibt. Ersetzt man in der Differentialgleichung des stetigen Wachstums die k durch s, ergibt sich: f '(t) = ( k - k* f(t) ) @ f(t) oder y' = ( k - k* y ) @ y Die in beiden Ansätzen zur differenzierteren Betrachtung biologischer Wachstumsvorgänge gefundene Form der Differentialgleichung wird namentlich bezeichnet: 218 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Def: (Differentialgleichung des logistischen Wachstums) Eine Gleichung der Form f ' (t) = ( k - k* f(t) ) @ f(t) oder y' = ( k - k* y) @ y heißt Differentialgleichung des logistischen Wachstums, kurz logistische Gleichung. k ist die zugehörige Wachstumsrate, k* die Zerfallsrate. Eine Lösung der logistischen Differentialgleichung zeigt der nächste Satz auf: Satz: (Lösung der Differentialgleichung des logistischen Wachstums) Die Differentialgleichung y' = ( k - k* y) @ y wird gelöst durch Unter Berücksichtigung des Anfangsbestandes f(0) ergibt sich: Bew: Wir erklären eine Funktion g mit , für die folgende Differentialgleichung ergibt: Setzt man nun eine Funktion h ein mit dann stellt man fest, dass diese die Differ- entialgleichung des stetigen Wachstums erfüllt: Aus der Lösung für h, der Wachstumsgleichung, entwickeln wir die Lösung für f durch Rückwärtseinsetzen: Berücksichtigt man den Zusammenhang C = h(0), ergibt sich: 219 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Unter Verwendung der Beziehung zwischen k, k* und der maximalen Auslastung M ergeben sich andere Schreibweisen: Beisp: (logistisches Wachstum im Vergleich zum stetigen Wachstum) Wir vergleichen nun das logistische Wachstumsmodell mit dem bisher verwendeten Modell des stetigen Wachstums. Eine Bakterienkultur hat zu Beginn der Beobachtung einen Bestand von 12000 Keimen, 2 Stunden werden 45000 Keime festgestellt. Mit dem Modell des stetigen Wachstums ergibt sich daraus die folgende Wachstumsfunktion: f(t) = 12.000 @ e0,660878 @t Also: f(0) = 12.000 k = 0,660878 Für die Handhabung der logistischen Gleichung nehmen wir an, dass die Nährlösung, in der die Bakterien sich befinden, M = 500.000 Bakterien unterhalten kann. Die zugehörige logistische Kurve lautet dann: Mithilfe eines Computers stellt man fest: Der zugehörige Graph hat als markanten Punkt einen Wendepunkt in W ( 5,61 / 249.998 ).Wir vergleichen die Entwicklung beider Kurven mit Hilfe einer computererstellten Wertetabelle: Zeit (h) Anzahl Bakterien Modell stetiges Wachstum Anzahl Bakterien Modell logistisches Wachstum 0 12.000 12.000 1 23.237 22.727 2 45.000 42.214 3 87.142 75.757 220 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion Zeit (h) Anzahl Bakterien Modell stetiges Wachstum Anzahl Bakterien Modell logistisches Wachstum 4 168.750 128.474 5 326.783 200.534 6 682.813 282.301 7 1.225.440 357.596 8 2.373.050 414.717 9 4.595.390 452.001 10 8.898.930 474.006 11 17.232.700 486.231 12 33.371.000 492.794 13 64.622.700 496.253 11.4.4 Die C14-Methode, eine praktische Anwendungen der Wachstums-Differentialgleichungen Beisp: (Die C-14- Methode) Die Luft enthält das Gas CO2. Der Kohlenstoffbestandteil dieses Gases zusammen mit dem Stickstoffisotop N14 erzeugt in der Atmosphäre durch kosmischen Neutronenbeschuss das radioaktive Kohlenstoffisotop C14 mit 14 Neutronen im Atomkern, wogegen Kohlenstoff normalerweise als C12-Isotop mit 12 Neutronen vorliegt. C14 zerfällt mit einer Halbwertszeit von 5730 ± 40 Jahren. In der Atmosphäre stehen Erzeugung und Zerfall von C14 im Gleichgewicht, so dass die Luft ständig einen gleichbleibenden Anteil C14 enthält. Nimmt ein Organismus Kohlenstoff über seinen Stoffwechsel auf, so befindet sich also immer ein gewisser Anteil C14 in der aufgenommenen Menge. Stirbt der Organismus, dann kommt auch sein Stoffwechsel zum Erliegen, und es wird kein weiteres C14 eingelagert; das vorhandene C 14 zerfällt ab dann stetig. Damit kann man in der Archäologie anhand von aufgefundenen Holzresten oder anderen organischen Funden, bei denen die Anzahl der Zerfälle von C14 registriert werden kann, nachprüfen, wie alt der Fund etwa sein könnte. Diese Methode heißt Radiokarbon-Methode oder C14-Methode; leider ist sie nicht ganz genau, weil sie durch äu$ere Einflüsse (unterschiedliche Höhenstrahlung, Kohlenstoffteile aus Verbrennungen) gestört werden kann. In der Höhle von Lascaux in Frankreich, genauer bei Montignac im Département Dordogne, fand man 1940 Wandgemälde und Gravierungen der jüngeren Altsteinzeit, die vorwiegend Tierdarstellungen zeigten. Die Steinzeitmenschen, welche die Höhle bewohnt haben, benutzten Holzkohle zur Zeichnung. An dieser Holzkohle wurde 1950 ein Zerfall von 0,97 C- Atomen pro Gramm und pro Minute ermittelt. 1950 wurden dagegen in frischen Pflanzen 6,68 C14-Zerfälle pro Gramm pro Minute gemessen. Heute haben sich - nebenbei bemerkt - diese Verhältnisse durch Kernwaffenversuche und andere vermehrte Strahlungsemissionen nach oben verändert. Man setzt die Betrachtungen zur Anzahl f(t) der vorhandenen C14-Atome zur Zeit t über die Wachs- 221 Kapitel 11 Die ln-Funktion und die e-Funktion tumsgleichung an, wählen den Zeitpunkt t=0 zur Zeit der malenden Steinzeitmenschen. Also: f(t) = f(0) e-kt Man ermittelt die für den Zerfallsprozess typischen Größen k und f(0) durch folgende Überlegungen: 1. Die Änderungstendenz der Anzahl der zur Zeit t noch vorhandenen Kerne wird durch die Ableitung f ' (t) beschrieben; es gilt: f '(t) = -k f(0) e-kt Zur Zeit 0, als die Höhle bewohnt wurde, hat man: f '(0) = -k f(0) = -6,68 ] f(0) = 2. Aus den gegebenen Informationen zur Halbwertszeit tH ermittelt man weiter: tH = Also ist nach 1. Wir bezeichnen den Zeitpunkt im Jahr 1950, als die C14-Zerfälle gemessen wurden mit t*; die Zahl 1950 kann ja nicht direkt eingesetzt werden, weil die Zeit 0 nicht nach unserer Zeitrechnung festgelegt ist. Zu dieser Zeit t* gilt nach den Ergebnissen der Messung: Das heißt, die Gemälde sind im Jahr 1950 etwa 15951 Jahre alt, stammen also aus der Zeit um 14.000 vor Christus nach unserer Zeitrechnung. 222