Manuskript

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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion:
Dr. Regina Oehler
Wissenswert
Wilder Wandel im Genom
(2) Die Macht der Umwelt
von
Malte Jessl
Dienstag, 15. Dezember 2009, 08.30 Uhr, hr2-kultur
Dienstag, 13. Juli 2010, 08.30 Uhr, hr2-kultur
Freitag, 19. Oktober 2012, 8.40 Uhr, hr2-kultur
Sprecherin:
Zitator:
09-157
COPYRIGHT:
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Zitator:
18. Mai 1994: Die Anti-Matsch-Tomate kommt auf den Markt
– das erste Gentech-Nahrungsmittel.
27. Februar 1997: Schaf „Dolly“ ist da - das erste geklonte
Säugetier.
6. April 2000: Das menschliche Genom ist entschlüsselt –
verkündet Craig Venter.
Sprecherin: Die Zeitungen sind voll mit Schlagzeilen aus der Welt der
DNA. Keine Frage, wir leben im Zeitalter der Genetik. (00:20)
O-Ton Joachim Klose: Genetik ist ganz einfach die Vererbung bestimmter
Eigenschaften des Menschen, also sagen wir einmal die Haarfarbe, oder
seinen Gesichtsschnitt, aber auch Begabungen für Musik, Mathematik,
aber natürlich auch Krankheiten. Diese Eigenschaften sind molekular
verankert in den so genannten Genen. Wenn man’s einfach sagt, kann man
sagen, jedes Charakteristikum oder jede Eigenschaft ist in Genen
festgelegt. Gut, und was ist ein Gen? Ein Gen ist im Grunde genommen
eine kleine, molekulare Einheit, aber der Mensch besitzt ungefähr so
20.000 Gene….Also eine ungeheure Menge. Und diese Gene bilden eine
lange Kette. Also, wenn man die ausziehen würde, dann wäre das 2 Meter
lang. Aber natürlich, in der Zelle, die ja winzig klein ist, ist das enorm
aufgeknäult, und da liegen jetzt die Gene drauf. Diese lange Kette, kann
man vielleicht mal sagen, wird als DNA bezeichnet,
Desoxyribonukleinsäure, das ist diese lange Kette von Genen.
(MJE Klose 1b, 01:05)
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Sprecherin: Der Genetiker Joachim Klose von der Charité, der Berliner
Universitätsklinik. In dieser Kette sind vier chemische
Bausteine in immer neuen Kombinationen
aneinandergereiht, vier „Basen“: Adenin, Thymin, Guanin
und Cytosin – so heißen die Buchstaben, mit denen der
genetische Code geschrieben ist. Die DNA gilt als Bauplan
des Lebens, als Notenblatt für das Orchester der Moleküle
im Innern jeder Zelle. Wer die Genetik versteht, der versteht
auch den Menschen – so dachten auch viele Genetiker lange
Zeit. Dieser Gedanke aber war zu simpel, sagt der
Evolutionsbiologe Axel Meyer von der Uni Konstanz. (00:40)
O-Ton Axel Meyer: Ich weiß noch, als vor ungefähr zehn Jahren die ersten
Wetten gemacht wurden, wie viele Gene das menschliche Genom enthält,
und wie gesagt, die Erwartung war, dass, wenn eine Fliege, ich weiß nicht,
was die letzte Zahl ist, 16.000 Gene hat, und ein Wurm 18.000 Gene hat,
dann haben die Menschen bitteschön sehr viel mehr Gene zu haben, weil
wir uns natürlich an den meisten Tagen komplexer als eine Fliege, eine
Maus oder ein Wurm fühlen. Und da gab’s eben Schätzungen, dass das
menschliche Genom 100.000 oder vielleicht noch sehr viel mehr Gene
enthält. Die letzten Zahlen liegen wahrscheinlich eher so um die 20.000, 23
oder 24.000 Gene. Das ist eine interessante Feststellung, zu sagen, dass
unser gesamtes Genom nicht so sehr viel mehr Gene enthält, als viele
Organismen, die sehr viel weniger komplex sind.
(MJE Axel Meyer 7, 00:41)
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Sprecherin: Der Mensch, die selbst ernannte Krone der Schöpfung, hat
nur ein paar Gene mehr als eine gemeine Stubenfliege. Diese
Tatsache verwundert. Woher kommen dann die
Unterschiede? Woher kommt unsere Komplexität?
Bestimmt in unserem Körper wirklich nur die DNA? (00:15)
O-Ton Wolfgang Nellen: Man hat herausgefunden, dass die DNA-Sequenz,
wo ja alles codiert ist, tatsächlich nicht alles ist. Es gibt zusätzliche
Informationen im Genom, die ganz wesentliche Einflüsse zum Beispiel auf
die Entwicklung und auch Reaktionen auf Umwelteinflüsse darstellen.
(MJE Nellen 1, 00:19)
Sprecherin: … sagt der Kasseler Genetiker Wolfgang Nellen. Er
beschäftigt sich mit genau dieser zusätzlichen Information,
einem zweiten Code, der über dem DNA-Code liegt. Diese
Wissenschaft hat einen Namen: Epigenetik. Der britische
Genetiker Conrad Waddington brachte diesen Begriff schon
in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts auf. Durch
Epigenetik wollte Waddington Beobachtungen erklären, vor
denen Biologen vorher vollkommen ratlos standen. (00:25)
O-Ton Joachim Klose: Um mal ein Beispiel zu nennen: Wenn man
Fruchtfliegen, oder Drosophila, wie man wissenschaftlich sagt, wenn man
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die einer erhöhten Temperatur aussetzt, dann bekommen die plötzlich
rötliche Augen. Und die Drosophila-Fliegen, die sind deswegen so
attraktiv, weil die sehr große, diese langen Ketten, diese Gen-Ketten, die
man dann als Chromosomen bezeichnet, die haben sehr große
Chromosomen. Und man kann unterm Mikroskop schon sehen, welche
Gene irgendwie aktiv werden, und welche nicht. Und wenn man diese
Fliegen jetzt unter eine erhöhte Temperatur setzt, sieht man: Aha, das Gen
wird jetzt angeschaltet, und das Gen, und dann bekommen die rote Augen.
(MJE Klose 2, 00:41)
Sprecherin: Über welche Hebel schaffen es die Informationen aus der
Umwelt, die Vorgänge im Zellkern zu verändern? Diese Rolle
übernehmen epigenetische Schalter. Sie bestimmen
darüber, welche Gene aktiv werden – sie knipsen die
Erbanlagen an und aus. Und damit ist der epigenetische
Code mindestens so wichtig wie der genetische Code selbst.
Wie sieht er aus, dieser zweite Code? (00:15)
O-Ton Wolfgang Nellen: Da gibt es drei Gruppen, wenn man das so
einteilen möchte. Das eine ist die Modifizierung, eine Veränderung von
DNA, die in der einen Zelle passieren kann, in der anderen Zelle nicht
passieren kann, also eine zusätzliche Information. Das ist eine
Veränderung eines der vier Buchstaben, nämlich der Base C, Cytosin, und
da wird eine ganz einfache zusätzliche chemische Gruppe drangehängt.
Man bezeichnet dieses methylierte Cytosin dann oft auch als die fünfte
Base, also den 5. Buchstaben im genetischen Code.
(MJE Nellen 3, 00:33)
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Sprecherin: Wenn eine Methylgruppe an einem Gen hängt, ist dieses Gen
stumm: Die Maschinerie der Zelle kann dieses Gen nicht
ablesen. Nur durch diese Methylierung können überhaupt so
viele unterschiedliche Zelltypen entstehen. Denn egal ob
Nervenzelle, Blutkörperchen oder Hautzelle: In jeder Zelle
eines Menschen steckt der gleiche DNA-Code. Erst die
Methylgruppen bestimmen, welche Gene zum Zug kommen,
und welche im Hintergrund bleiben. Nur so können Zellen
mit einer Vielfalt an Formen und Funktionen entstehen.
(00:30)
O-Ton Wolfgang Nellen: Das ist die eine Gruppe von epigenetischen
Phänomenen. Eine zweite ist die Verpackung der DNA. Sie müssen sich
vorstellen, wir haben gut zwei Meter DNA in unserem Zellkern, die muss
verpackt werden, damit sie da überhaupt richtig reinpasst. Diese
Verpackung ist aber nicht nur einpacken, sondern auch da steckt
zusätzliche Information drin. Die DNA wird eingepackt in Proteine, in ganz
spezifische Eiweiße, die auch wieder modifiziert, verändert werden
können, an die praktisch Fähnchen drangesetzt werden, die Signale
setzen. Ganz vereinfacht kann man sich das so vorstellen, dass bestimmte
Gen-Abschnitte oder Chromosomenabschnitte, Ausschnitte aus dem
Genom, fest verpackt sind, so dass die Information da drin nicht zugänglich
ist, und andere Bereiche aufgedröselt sind, die sind zugänglich, und dort
können Gene abgelesen werden, das hängt von der Verpackung ab und
ändert sich von einer Zelle zur anderen.
(MJE Nellen 4, 00:59)
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Sprecherin:
„Chromatin“ nennen Genetiker diese Verpackung der DNA.
Dass das Erbmolekül in Proteine verpackt ist, wissen
Genetiker schon seit längerem. Erst im Jahr 1998 gab es
allerdings noch eine dritte Entdeckung in der Welt der
Epigenetik: Die kleinen RNAs. (00:10)
O-Ton Wolfgang Nellen: Das dritte Phänomen sind so genannte kleine
RNAs, die man sich auch vor ein paar Jahren noch nicht hat träumen
lassen. Das sind regulatorische Moleküle, die teilweise aus den Wüsten
des Genoms, also den Teilen, den man keine Funktion zuordnen konnte,
die dort codiert sind, die aber auch auf ganz andere Art und Weise
entstehen können. Diese kleinen RNA-Moleküle können wiederum Gene
einschalten, ausschalten, regulieren, und das wird auch in den Bereich der
epigenetischen Phänomene gezählt.
(MJE Nellen 5b, 00:36)
Sprecherin: Gene werden ständig reguliert – das ist ein wichtiges Prinzip
in der Genetik. Sonst würde die DNA einfach stumm in der
Zelle liegen. Ein Beispiel: Wenn wir etwas essen, braucht
der Körper bestimmte Genprodukte nur kurzfristig – zum
Beispiel ein Enzym, das die Verdauung erledigt. Am
laufenden Band knipsen spezielle Eiweiße die Gene an und
wieder aus. Das hat aber noch nichts mit Epigenetik zu tun.
Das Besondere an epigenetischen Phänomenen ist: Diese
Markierungen sind langfristig. Sie wirken über lange Zeit.
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Epigenetische Schalter werden oft schon sehr früh umgelegt,
oft schon im Mutterleib, während der Entwicklung des
Embryos. Und sie halten oft ein Leben lang.
Viele Umweltbedingungen können epigenetische
Markierungen bei einem Embryo verändern, zum Beispiel
die Ernährung. So bestimmt die Umwelt mit über das
Schicksal des Embryos. Der Genetiker Joachim Klose: (00:45)
O-Ton Joachim Klose: Wenn man, sagen wir, eine Maus eine bestimmte
Ernährung gibt, was ja ein Umweltfaktor ist, dann beobachtet man eben,
dass an den Genen sich diese Methylierung verändert oder diese
Chromatinstruktur. Und dann guckt man bei den Nachkommen, und dann
hat sich auf einmal die Fellfarbe verändert. Also, die Mäuse sind vielleicht
schwarz, und die Kinder haben dann eher eine bräunliche Fellfarbe. Und
das vererbt sich weiter. Also, dieser Umwelteinfluss, sagen wir, von der
Ernährung her, der kann an einzelnen Genen Veränderungen machen, die
dann eben stabil sind und durch die Keimbahn, das heißt über die Eizelle
und über die Spermazelle in die nächste Generation gehen. (MJE Klose 3,
00:44)
Sprecherin: Solche Erkenntnisse sind eine kleine wissenschaftliche
Revolution. Denn hier passiert etwas, was lange Zeit
niemand für möglich gehalten hätte: Erworbene
Eigenschaften können sich weiter vererben. Zumindest
manchmal. Die Gene bleiben zwar gleich – aber der
epigenetische Code ist veränderbar. Das ist nicht nur bei
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Mäusen so. Ganz ähnliche Effekte haben Wissenschaftler
auch schon bei Menschen beobachtet. (00:20)
O-Ton Joachim Klose: Was man bis jetzt eben nicht richtig verstehen
kann, ist, welche Gene reagieren denn auf die Umwelt und werden vererbt,
das machen durchaus nicht alle Gene, und außerdem, was geht denn
wirklich in die nächste Generation? Man weiß nämlich sehr genau, dass
wenn die Eizelle befruchtet ist, und der Embryo entwickelt sich, dann wird
erst mal alle diese epigenetische Regulation von Methylierung und
Genverpackung, das wird eigentlich erst mal alles abgeräumt. Weil, der
Embryo will ja nicht die Regulierung von Vater und Mutter haben, der will
seine eigene Regulierung, um jetzt eben zu entwickeln zu einem
differenzierten Organismus. Und dann fragt man sich: Na ja, aber es muss
ja doch irgendetwas bleiben auf diesem Chromosom oder diesem Gen, an
das sich dann dieser junge Embryo erinnert und sagt: Also, das Gen und
das, das muss ich jetzt wieder so einstellen wie vorher, weil, das möchte
ich weiter vererben. Und in diesem Mechanismus, was geht denn rüber in
die nächste Generation, und welche Gene sind es denn, die
umweltabhängig sind, das ist eigentlich Gegenstand und Ziel jetzt der
großen Forschung. (Klose 4, 01:07)
Sprecherin:
„Vererbung erworbener Eigenschaften“ – das klingt
verdächtig nach einem bekannten Biologen, dessen Bücher
eigentlich schon längst in der Mottenkiste gelandet waren.
Jean-Baptiste de Lamarck formulierte im 18. Jahrhundert
eine der ersten Evolutionstheorien. Nach Lamarck verändern
Lebewesen ihren Körper durch Übung, und diese
Veränderungen werden an die Nachkommen weitervererbt.
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Selbst Charles Darwin hielt das noch für möglich, später
haben Evolutionsbiologen diesen Gedanken aber verworfen.
Zu Unrecht? (25:00)
O-Ton Joachim Klose: Heute reden wieder alle von Lamarck. Ja, hat denn
Lamarck nicht doch Recht gehabt? Gibt es nicht doch eine Vererbung
erworbener Eigenschaften? Und da muss ich sagen, so, wie sich das
Lamarck vorgestellt hat, so in dieser Form sicherlich nicht. Also, es wird
nicht so sein, dass wir sagen: Wenn die Mutter jetzt viel Sport macht, und
der Vater macht auch viel Sport, und zwar schon als Kinder, und dann
kommen zwei kräftige Eltern zusammen, und die erzeugen jetzt ein Kind,
dann würden wir jetzt gefühlsmäßig vielleicht sagen: Na ja, wahrscheinlich
ist das Kind dann auch recht proper und stark, aber das ist überhaupt nicht
der Fall. Also so diese simple Vorstellung, Vererbung erworbener
Eigenschaften, ich muss nur fleißig sein, dann werden meine Kinder auch
fleißig, so ist das nicht. Und deswegen, nach wie vor, Lamarckismus ist
nicht die ganze Wahrheit. Aber trotzdem findet man eben, oder beobachtet
mehr und mehr, dass Umweltverhältnisse und auch Verhaltensweisen sich
durchaus in den Zellen verankern können und dort stabil bleiben. (MJE
Klose 5, 01:03)
Sprecherin: Und zu diesen Umweltverhältnissen zählt nicht nur die
Ernährung. Zum Beispiel kann sogar ein psychischer Stress
bis ins Innere der Zellen wirken und bestimmte Gene
abschalten. Selbst die Art und Weise, wie Mütter mit ihren
Säuglingen umgehen, hinterlässt einen Abdruck in den
epigenetischen Markierungen. Solche Entdeckungen machen
klar: Populäre Vorstellungen von einer Allmacht der Gene
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sind zu einfach. Die Umwelt bestimmt mit – bis hinein in den
Zellkern. (00:20)
O-Ton Wolfgang Nellen: Was in der Öffentlichkeit jetzt stärker
durchgedrungen ist, ist, dass es tatsächlich Umwelteinflüsse auf das
Genom gibt. Epigenetische Phänomene können durch die Umwelt durch
äußere Einflüsse verändert werden, und da gab es gerade in den letzten
Jahren ein paar Publikationen, die als revolutionär bezeichnet wurden. Ist
wunderbar, dass man die biochemischen, die molekularen Ereignisse, die
da stattfinden, jetzt versteht, und auch gezielt danach schauen kann, aber
ein seriöser Genetiker hat noch nie behauptet, dass die DNA-Sequenz
wirklich alles ist. Dass Umwelteinflüsse für die Individualität eines
Organismus eine Rolle spielen, ist jedem Genetiker klar, und es wird wohl
keinen geben, der eineiigen Zwillingen ihre Individualität abspricht und
sagt: Och, die können wir auch als eine Person betrachten. (MJE Nellen 6,
00:54)
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