Praxisfelder angewandter Ethik

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Revision / mentis – Steger, Hillerbrand (Hrsg.): Praxisfelder angewandter Ethik / typolibri 14.05.13 / Seite 3
Florian Steger,
Rafaela Hillerbrand (Hrsg.)
Praxisfelder
angewandter
Ethik
Ethische Orientierung in Medizin,
Politik, Technik und Wirtschaft
mentis
MÜNSTER
Revision / mentis – Steger, Hillerbrand (Hrsg.): Praxisfelder angewandter Ethik / typolibri 14.05.13 / Seite 4
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»Ethik und Praxis« (EUP) ist eine Buchreihe der AG »Ethik in der Praxis« der Jungen
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Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
ISBN 978-3-89785-753-7
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Florian Steger und Rafaela Hillerbrand
Einleitung: Das Spannungsfeld angewandter Ethik in der
Praxis angesichts pluraler Gesellschaften
Gleichwohl moderne demokratische Gesellschaften einen starken Fokus auf
das Individuum und seine Interessenverwirklichung legen, wird doch an vielen Stellen der Ruf nach ethischer Expertise und ethischen Entscheidungen laut. 1 Derartige Stimmen sind in nahezu jedem Bereich des öffentlichen Lebens zu hören: Es wird nach einer ethisch vertretbaren Energieversorgung, ethisch-nachhaltigem Wirtschaften oder ethisch-moralischen Kriterien für Wissenschaft und Forschung verlangt. Ebenso wünschen wir uns
in eher privaten Bereichen ethische und damit nicht zuletzt allgemeinverbindliche Standards, wenn andere in unser Leben eingreifen, etwa im Bereich
der Gesundheitsversorgung oder der Pflege.
Dabei besteht ein deutliches Spannungsfeld zwischen einer individualistisch orientierten Gesellschaft und dem Wunsch nach ethischer Orientierung. Wenn man von einer kontraktualistischen Engführung absieht, so hat
Ethik den Anspruch – zumindest in gewissen Grenzen – allgemeingültige
und für alle verbindliche Handlungsprinzipien abzuleiten und zu begründen. 2 In modernen demokratischen Gesellschaften wird erwartet und muss
erwartet werden, dass ethische Richtlinien – zumindest im Prinzip – allen
gegenüber zu rechtfertigen sind. Bei der Ableitung ethischer Verpflichtungen kann und muss verlangt werden, dass sowohl die Prämissen als auch die
1
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Wo im Folgenden die maskuline Endung verwendet wird, sind Frauen wie Männer gleichermaßen gemeint. Die Wahl der männlichen Schreibweise geschieht nur, um einen lesefreundlichen Sprachgebrauch zu ermöglichen.
Diesem Anspruch widerspricht auch nicht die Vielzahl bestehender gruppenspezifischer Normen. Auch ethische Regeln gelten zum Teil, wie die Haftung von Eltern für das Handeln
ihrer im Rechtssinn nicht erwachsenen Kinder, nur ceteris paribus. Die ethischen Verpflichtungen, die aus berufsspezifischen Anforderungen an den Ingenieur oder den Gesundheitsund Krankenpfleger erwachsen, stellen sich nur für diese qua Berufsgruppe. Dennoch zeichnet sich Ethik, neben der Kodierung von Handlungen in einen binären Schematismus von
gut /richtig /erlaubt versus schlecht /böse /verboten sowie der Formulierung von Handlungsanweisungen (es ist erlaubt, es ist geboten, es ist verboten, . . .) gerade dadurch aus, dass die
ethischen Normen für alle verbindlich gelten und prinzipiell gegenüber allen begründbar sind.
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Ableitung der Verpflichtungen aus diesen rational nachvollziehbar und intersubjektiv begründbar sind. Wie John Rawls mit seinem Begriff des Überlegungsgleichgewichtes aufmerksam macht (vgl. hierzu den Beitrag von Kessler und Braune in diesem Band), können zwar abgeleitete Normen niemals frei von vortheoretischen Intuitionen 3 oder metaphysischen Annahmen 4 sein; es zeichnet aber eine philosophisch-angewandte Ethik gegenüber
anderen Formen der Moralbegründung – etwa theologischer – aus, dass sie
eben sowohl bei der Ableitung als auch in den getroffenen Annahmen (Voraussetzungen) sich um intersubjektive Vermittelbarkeit bemüht.
Beide formulierten Ansprüche, universelle Gültigkeit und universelle
Rechtfertigbarkeit, bilden die Gründe, aufgrund derer nach ethischen Richtlinien verlangt wird. Jedoch stellen gerade diese Ansprüche zwei Pole dar,
die ein extremes Spannungsfeld für die angewandte Ethik heute aufspannen.
Die zentrale Frage, deren sich jede Form angewandter Ethik heute stellen
muss, sei es im Bereich der Gesundheitsvorsorge oder bei der Regulierung
wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Handelns, ist folgende: Wie lassen
sich diese Ansprüche, die mit dem Begriff der Ethik verbunden werden, in
einer pluralistischen Gesellschaft verwirklichen?
Ohne den Antworten vorweg zu greifen, die in den Beiträgen zu diesem Band aus verschiedenen Blickrichtungen gegeben werden, ist anzumerken, dass eine Ethik, die in Anbetracht eines Wertepluralismus auf eine normative Letztbegründung verzichtet, notwendigerweise einen weiten Handlungsspielraum offen lässt. Sie wird sogar verzichten müssen, wenn sie sich
in einer wertepluralen Gesellschaft in sittliche Praxis umsetzen soll. Das handelnde und entscheidende Individuum kann nicht auf eine Kasuistik vertrauen, die ihm für konkrete Situationen spezifisch vorgibt, wie es sich denn
zu entscheiden hat. Das Individuum muss zwischen allgemein gehaltenen
ethischen Prinzipien und Werten sowie der konkreten Einzelsituation vermitteln. Dies erfordert eine spezifische Expertise von einzelnen, die es gezielt
zu schulen gilt. Einen Lösungsansatz für dieses keineswegs neue Problem
für die angewandte Ethik bietet bereits Aristoteles mit seinem Konzept der
Phronesis – jener praktischen Urteilskraft, die im Gegensatz zur Urteilskraft
bei Immanuel Kant und anderen Ethikern der Moderne der Moral ursächlich verpflichtet ist. 5 Die Phronesis sorgt für eine Sensibilisierung und für das
Einhalten von Normen, sowie für die Ausdifferenzierung von anerkannten
Grundwerten und vermittelt so zwischen allgemeinen Regeln und spezifischen Handlungssituationen. Als dianoetische Tugend lässt sich Aristoteles
zufolge die Phronesis ebenso wie moralische Tugenden, etwa die Gerechtig3
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Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit.
Patzig, Die logische Form praktischer Sätze in Kants Ethik.
Höffe, Moral als Preis der Moderne.
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keit, erlernen. Jedoch mehr als diese formale Bestimmung der Phronesis, die
kaum mehr als eine Problemanzeige bietet, findet sich bei Aristoteles nicht. 6
Heute bedürfen wir mehr denn je dieser Tugend, dieses Wissens und dieser Fähigkeit, derer moralisch richtiges Handeln so dringlich bedarf: eine auf
das Ethische verpflichtete Klugheit. Die Kluft zwischen ethischen Grundlagen auf der einen und praktischer Entscheidungssituation auf der anderen Seite wird durch die Komplexität von aktuellen Handlungs- und Entscheidungssituationen noch verschärft. Eine Kasuistik ist heute bereits aufgrund der Komplexität des Gegenstandsbereiches vieler angewandter Ethiken, sei es in der Umwelt- und Technik-, aber auch zumindest in Ansätzen in der Medizinethik, nahezu unmöglich. Institutionelle oder technische Rahmenbedingungen machen es oftmals für Außenstehende unmöglich, die ethisch relevanten Folgen einer Entscheidung zu überblicken. Aber
die erwähnte Komplexität erfordert auch eine Rückbesinnung auf einen weiteren Aspekt der aristotelischen Phronesis. Oftmals kann nur das handelnde
Individuum selbst in komplexen Handlungszusammenhängen ethisch relevante Entscheidungssituationen überhaupt erst als solche ausmachen. Hier
vermag die Phronesis als eine vorab auf Moral verpflichtete Urteilskraft zu
helfen, ethisch relevante Entscheidungssituationen als solche ausfindig zu
machen. Die praktische Urteilskraft enthält ein stark pragmatisches Element,
da sie kontextvariant ist. 7 Als Urteilskraft variiert die Phronesis mit Zeit,
Ort und Themenfeld – so unterscheidet sich ihre spezifische Ausdifferenzierung in der Umweltethik signifikant von der in der Medizinethik. Aber lassen sich jenseits dieser situations- und anwendungsspezifischen Bestimmung
allgemeine Aussagen darüber ableiten, wie es zur praktischen Urteilskraft
kommt oder wie genau diese erlernt werden kann? Sind allgemeine Strategien der Vermittlung jenseits kontextspezifischer Verpflichtungen denkoder gar beschreibbar?
Der vorliegende Sammelband, der den Auftakt der Monographienfolge
mit dem Titel »EuP – Ethik und Praxis« bildet, entstand aus Beiträgen zweier
Workshops, die 2010 in Berlin von der Arbeitsgruppe »Ethik in der Praxis«
der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina
veranstaltet wurden. Ziel war und ist es, die Ethik von der akademischen
Forschung an Universitäten und Forschungseinrichtungen in die Praxis zu
tragen und dabei diverse Anwendungsfelder ethischer Theorie – von Ethikkommissionen in der Politikberatung und in der Forschung bis hin zu Ethikkomitees im klinischen Alltag – miteinander zu verbinden. Die spezifischen
Probleme sind dabei sehr unterschiedlich gelagert. Einerseits ist das han6
7
Höffe, Universalistische Ethik und Urteilskraft.
Van der Scheer, Widdershoven, Integrated empirical ethics.
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delnde Individuum im Vordergrund; und gerade dort, wo etwa durch Krankenhäuser institutionelle Rahmen geschaffen sind, ist Ethik in die Praxis
umzusetzen. Hier ist der Fokus auf die Fähigkeiten und Expertisen gerichtet, die das handelnde Individuum braucht, sowie auf das Erlernen derselben.
Andererseits geht es in der Politikberatung oder auch in der Technikbewertung vielmehr darum, einen einheitlichen Rahmen für ethisches Handeln zu
ermöglichen. Trotz der unterschiedlich gelagerten Probleme und Spezifizierungen erwachsen doch heute die zentralen Probleme angewandter Ethik in
nahezu jeder Form der Praxis aus dem Spannungsfeld, dem Wertepluralismus zu genügen und gleichzeitig allgemeinverbindliche Regeln aufzustellen.
Im ersten Teil »Praktische Urteilskraft in der Praxis des Gesundheitsund Pflegesystems« dieses Sammelbands steht das handelnde Individuum im
Vordergrund. Es wird der Frage nachgegangen, welche spezifischen Anforderungen im Sinne von Fähigkeiten dieses haben oder erlernen muss, wenn
es sich im institutionellen Rahmen der klinischen Versorgung oder der Krankenpflege befindet. Wie kann man nun dieses ursprünglich antike Konzept
angesichts moderner Probleme mit Inhalten füllen? Ist das antike Konzept
genau das, was uns heute fehlt, um die dringlichen Probleme der Moderne
zu lösen? Vor diesem Hintergrund wird insbesondere gefragt, inwieweit sich
allgemeine inhaltliche Aussagen über die Phronesis machen lassen.
Wolfgang Strube und Florian Steger stellen in ihrem Beitrag »Handlungsund Entscheidungskompetenz. Ethische Ausbildung bei Medizinstudierenden und Pflegeauszubildenden« empirische Daten zur Diskussion. Hintergrund ihrer Erhebung ist die Überlegung, dass Ethikunterricht Auszubildenden ermöglicht, sich in ihrer zukünftigen Tätigkeit in der Auseinandersetzung mit medizin- und pflegeethischen Fragestellungen und Problemen
in die gemeinsame Entscheidungsfindung des Behandlungsteams einzubringen. Dabei können Strube und Steger in ihrer Untersuchung den Einfluss
ethischer Ausbildung auf die Entwicklung individueller moralischer Positionen und medizin- bzw. pflegeethischer Kenntnisse von Medizinstudierenden und Pflegeauszubildenden zeigen. Anhand der in diesem Rahmen
exemplarisch untersuchten Ausbildungskonzepte wurde deutlich, dass eine
intensivierte Ausbildung in Medizin- und Pflegeethik das Potential besitzt,
individuelle ethische Kenntnisse zu vermitteln und so eine individuelle ethische Kompetenzentwicklung positiv zu beeinflussen.
In ihrem Beitrag »Fallorientierung, Situationsorientierung und Erfahrungsorientierung in der Vermittlung von Ethik in der Pflege« setzt sich
Marianne Rabe mit der Einübung von moralischer Urteilskraft im Pflegeberuf – etwa durch Geschichten oder szenisches Spiel – auseinander. So
wird mit der Einbeziehung von Geschichten und praktischer Erfahrungen im Ethikunterricht versucht, Brücken zwischen Theorie und Praxis zu
bauen. Allerdings ist eine bruchlose Übertragung des einen in das andere
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unmöglich, wie Rabe aus Jahren der praktischen Unterrichtserfahrung im
Bereich Angewandter Ethik konstatiert. Vielmehr ist es eine Herausforderung für Bildung, Urteilskraft einzuüben und ethische Kompetenz als Teil
einer professionellen Grundhaltung in Helferberufen zu entwickeln. Rabe
legt in ihrem Beitrag einen phänomenologisch-anthropologischen Ethikansatz zugrunde, der ethische Prinzipien und die menschliche Grundsituation
als Orientierungsrahmen hat. Ein darauf aufbauendes Modell zur ethischen
Reflexion wird anhand eines konkreten Falles erläutert. Die Themenauswahl
für den Ethikunterricht kann im Curriculum verschiedenen handlungsorientierten Lerneinheiten zugeordnet werden. Das szenische Spiel wird als erfahrungsorientierte, nichtkognitive Methode im Ethikunterricht vorgestellt.
Die in den letzten Jahren zu beobachtende Zunahme an Gründung und
Inanspruchnahme ethischer Beratungsorgane auf mehreren Ebenen unserer Gesellschaft bildet den Ausgangspunkt für Eva Winklers Beitrag »Praktische Urteilskraft und institutionelle Ethik als Voraussetzungen für eine
gute Entscheidungspraxis in der Klinik«. Diese wird häufig als Antwort auf
zwei Phänomene interpretiert: (1) die moralische Unsicherheit, die mit der
Beschleunigung unseres Wissenszuwachses, einer wachsenden Eingriffstiefe
und einer Vielzahl der Handlungsmöglichkeiten einhergeht; (2) die Vielfalt
von Moralvorstellungen in wertepluralistischen liberalen Demokratien, die
sich auch nach der Aufklärung von moralischer Unsicherheit nicht immer
auflösen lässt. Beide Phänomene tragen entscheidend zu den Situationen bei,
die in der Medizin als ethisch problematisch wahrgenommen werden – beispielsweise die Rettung von Patienten, die ohne Technikwissen gestorben
wären oder die Einbeziehung und Mitbestimmung des Patienten in der ArztPatienten-Beziehung. Da in der Wertorientierung und in Fragen nach dem
guten Leben nicht einfach auf einen gesellschaftlichen Konsens zurückgegriffen werden kann, darf es auch nicht mehr der fürsorglichen Bewertung
des Arztes allein überlassen werden zu sagen, worin das Wohl des Patienten besteht. An einem Beispiel aus der Praxis zeigt Winkler, wie praktische
Urteilskraft und Organisationsethik ineinandergreifen.
Tatjana Grützmanns Beitrag »Interkulturalität in der klinisch-ethischen
Praxis: Bedarf und Möglichkeiten zum Erwerb von interkultureller Kompetenz für den Umgang mit Patienten mit Migrationshintergrund« geht das
Problem des Wertepluralismus von einem spezifischen Blickwinkel aus an
und setzt sich mit interkulturellen Differenzen auseinander, wie sie zu ethischen Problemen im Klinikalltag führen können. In der vorgestellten Arbeit
wird untersucht, welche Arten von interkulturell basierten ethischen Konflikten in der klinischen Praxis auftreten und wie sich der Umgang mit
diesen Fällen gestaltet. Grützmann untersucht sowohl den Bedarf an Ausbzw. Weiterbildungen zu interkultureller Kompetenz als auch eine mögliche inhaltliche Ausgestaltung von Trainingsmodulen. Die erhobenen Daten
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