18 5. Neuansatz christlicher Sexual- und Beziehungsethik: Verantwortungsethisches Begründungsmodell 5.1 Ansatz einer Verantwortungsethik ● Ergebnis der bisherigen Überlegungen - Aus den natürlichen Gesetzen und Zeiten der Fruchtbarkeit lässt sich normativ nichts unmittelbar ableiten. Aus der Natürlichkeit oder Künstlichkeit bestimmter Verfahren folgt normativ nichts. - Die ein-eindeutige normative Bindung von leiblicher Ganzhingabe an personale Ganzhingabe und personaler Ganzhingabe an leibliche Ganzhingabe bleibt ohne überzeugende Begründung. → Entflechtung der Beziehungs- und Fruchtbarkeitsdimension in der sexuellen Begegnung Beides ist allerdings ethisch verantwortet zu gestalten und zu leben. ● Verantwortungsethische Begründung - Voraussetzung: Alles Wollen und Handeln geschieht um eines Gutes (um etwas Erstrebenswertem) willen. Mit der Verwirklichung des Guten werden zugleich immer auch Schäden und Übel verursaczugelassen. Die Grundfrage ethischen und verantwortlichen Handelns besteht darin, wie hoch der Preis sein darf. - Grundlage verantwortungsethischer Bewertung ist eine Güter- und Übelabwägung. - Unverantwortlich sind Handlungen, die unverhältnismäßig oder kontraproduktiv sind, und dies langfristig und im Ganzen. Es kann verantwortlich sein, einen Schaden zu verursachen oder zuzulassen, um langfristig und im Ganzen noch größeren Schaden zu verhindern. → entsprechender Grund - Damit eine Handlung unverantwortlich ist, muss ein Übel oder ein Schaden entstanden sein. Aber selbst dann kann dieser Schaden gerechtfertigt sein, wenn es einen entsprechenden Grund gibt. Das bedeutet: - Ethische Normen werden nicht unmittelbar aus anthropologischen Voraussetzungen (Sexualität ist Ausdruck der Liebe) abgeleitet. Das eigentliche Kriterium des Verantwortlichen ist vielmehr die Güter- und Übelabwägung. - Dennoch haben anthropologische Aussagen (etwa Leib-Seele-Einheit) für die Abwägung von Gütern und Übeln Relevanz. - Natur wird nicht verstanden als positive Zielvorgabe ethischer Normen, sondern als Grenze des Verantwortbaren. ● Anwendung auf die Sexual- und Beziehungsethik - Grundlegendes Ziel und erstrebtes Gut ist eine erfüllend und beglückend gelebte Sexualität. - Eine verantwortliche Verwirklichung dieses Ziel bedeutet, dieses Ziel auch langfristig und im Ganzen zu verwirklichen. Im Blick auf dieses Ziel darf das eigene Handeln langfristig und im Ganzen gesehen nicht unverhältnismäßig oder kontraproduktiv werden. - Dabei ist es unverzichtbar, anthropologische Aussagen, aber auch human- und sexualwissenschaftliche Einsichten in die ethischen Überlegungen einzubeziehen. Erste Konsequenzen: - Die Verwirklichung der eigenen Sexualität darf nicht auf Kosten der erfüllenden Verwirklichung der Sexualität anderer gesucht werden. - Ehe als gesellschaftliche Institution – Stabile Paarbeziehung als erfahrungsgemäß beste Form, Sexualität langfristig und im Ganzen erfüllend zu leben. 19 - Achtung des anderen als Person – Sexualität richtet sich auf eine Person, nicht – wie etwa Hunger und Durst – auf Dinge. - Verbot aller Formen von sexueller Gewalt - Sexualität berührt immer auch die eigene Person und die des anderen. - Nicht alles, worauf man sich einigt, ist langfristig erfüllend. - Achtsamkeit für langfristigen „Raubbau“ an der eigenen Bindungsfähigkeit und Emotionalität und der des anderen - Sexualität wird erst im Rahmen einer erotischen Beziehung und im Rahmen verlässlicher Liebe als wirklich erfüllend erfahren. - Verlässlichkeit und Treue - Problematik von Pornographie, Prostitution, Selbstbefriedigung: Kann letztlich das, was man sich davon verspricht, nicht halten. Es fehlt die Dimension personaler und leiblich erfahrbarer Liebe 5.2 Beispiel Empfängnisverhütung ● Ausgangspunkt: Grundkriterium von „Humanae vitae“: Offenheit der ehelichen Liebe für die Weitergabe des Lebens. Weitergabe des Lebens schließt auch die Sorge für die Erhaltung und Erziehung der Kinder mit ein. ● Anwendung verantwortungsethischer Kriterien: 1) Wenn Eheleute in der Lage sind, Kinder gesund und in Geborgenheit aufzuziehen und ihnen eine angemessene Bildung zukommen zu lassen, sollten sich dieser Aufgabe nicht willkürlich, also ohne rechtfertigenden Grund (egoistisch) entziehen. 2) Es kann aber sein, dass gerade die Verantwortung für die Weitergabe des Lebens im konkreten Fall den Verzicht auf die Weitergabe des Lebens erfordert. Etwa wenn ein Paar noch nicht angemessen für Kinder sorgen kann. In diesem Fall wäre es kontraproduktiv und in sich schlecht, dennoch eine Schwangerschaft zu riskieren. Es ist aus der Natur der Sache geboten, eine Schwangerschaft zu vermeiden. 3) Wenn periodische Enthaltsamkeit (natürliche Empfängnisverhütung) mit geringeren Übel verbunden ist als künstliche EV, ist diese Methode sicher vorzuziehen. → Verhältnismäßigkeit! 4) Wenn dagegen periodische Enthaltsamkeit keine genügende Sicherheit bietet, gibt es keinen tragfähigen Grund, auch künstliche Mittel zu verbieten. Vielmehr ist ihre Anwendung gerade in der Verantwortung für die Weitergabe des Lebens begründet. Sie ist auch dann aus der Natur der Sache geboten. 5) Auf periodischer Enthaltsamkeit als einzig zulässiger Methode um jeden Preis zu bestehen, kann kontraproduktiv werden. Denn: Wenn der eheliche Akt die personale Liebe zum Ausdruck bringt, sie verwirklicht und vertieft, kann es unverantwortlich sein, dieser Aufgabe ohne rechtfertigenden Grund nicht zu entsprechen.