Schutz gegen den Zelltod im Gehirn

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Wissenschaft und Forschung – Lehre und Studium
Schutz gegen den Zelltod im Gehirn
Phosphatasen und neuronale Apoptose: Erfolgreiche Kooperation in der Pharmazie führt zur Entdeckung neuer Mechanismen
Das menschliche Gehirn zählt etwa
100 Milliarden Nervenzellen. Jede
dieser Nervenzellen ist im Schnitt
mit 10 000 anderen verbunden,
d. h. im Gehirn liegen 1015 Verschaltungen zwischen Nervenzellen (Synapsen) vor. Die große Zahl der Synapsen ebenso wie die Besonderheit
der Vernetzung machen die Komplexität des menschlichen Gehirns
aus und sind verantwortlich für
Kreativität, Emotion, Intelligenz
und Sprache. Das menschliche Gehirn dürfte das komplizierteste System im ganzen Universum sein.
Man sollte meinen, dass das Gehirn ein sehr robustes Organ ist,
und bis zu einem gewissen Grade ist
es das auch. Man kann einige Milliarden Nervenzellen verlieren, ohne
dass es klinisch erkennbar wird.
Doch es gibt auch Erkrankungen
des Gehirns, die durch einen massiven Ausfall von Hirnleistungen gekennzeichnet sind. Beim Morbus
Alzheimer beispielsweise gehen
über Jahrzehnte in bestimmten Gebieten des Gehirns bis über 50 %
der Nervenzellen zu Grunde. Die
Folge sind Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, Störungen der
Affektivität bis hin zum völligen
Verfall der Persönlichkeit und elementarer körperlicher Funktionen.
Beim Schlaganfall dagegen ist der
Untergang von mehr oder weniger
großen Anteilen des Gehirns ein
akutes Problem: Innerhalb von
Stunden können Teile des Gehirns
absterben. Die beiden Beispiele zeigen, wie komplex und gleichzeitig
anfällig das menschliche Gehirn ist.
Hohe Pflegekosten
In Deutschland gibt es rund eine
Million Alzheimerpatienten. Hinzu
kommen jährlich etwa 200 000
Schlaganfälle. Das immense Leid
Krankheiten sein können. Kein
Wunder also, dass die pharmazeutische Industrie an diesen Ergebnissen großes Interesse zeigt und nun
neben der Deutschen Forschungsgemeinschaft das Forschungsprogramm finanziell unterstützt.
Schutz von Nervenzellen im Gehirn durch einen Wachstumsfaktor: Die Nervenzellen im CA1-Band des Hippocampus der Ratte wurden durch eine reversible Unterbrechung der Blutzufuhr (Ischämie) weitgehend zerstört
(links). Eine gesteigerte Expression des Wachstumsfaktors TGF-bβ1 schützt
die Neurone (Zhu et al., rechts).
dieser Patienten, die enorme Belastung der Angehörigen und die hohen Kosten für Pflege und Therapie
signalisieren akuten Handlungsbedarf. Die Kenntnisse der Funktion
des Zentralnervensystems wurden
während der letzten 20 Jahre zwar
geradezu revolutioniert. Es wurden
Pharmaka entwickelt, die im Experiment Nervenzellen vor einer Schädigung schützen können. Doch
brachten diese ersten Entdeckungen
keinen Durchbruch in der Therapie
der genannten Krankheiten. In der
Forschung werden deshalb weltweit
neue Wege gesucht, um Nervenzellen gegen pathologische Schädigungen zu schützen.
In Marburg untersuchen Arbeitsgruppen des Fachbereichs
Pharmazie die neuroprotektive Potenz von Wachstumsfaktoren.
Wachstumsfaktoren sind körpereigene Stoffe, die das Gehirn selbst
synthetisieren kann, um unter anderem Neurone vor einer Schädigung zu schützen. Da es sich um
große Proteinmoleküle handelt,
sind sie nur schwer als Pharmaka
ins Gehirn zu bringen; sie können
die Bluthirnschranke nicht passieren. Wir haben deshalb versucht,
die endogene Synthese dieser Faktoren mit Arzneistoffen zu stimulieren, und konnten nachweisen, dass
ihre Expression tatsächlich gesteigert und dadurch das Gehirn vor einer Schädigung geschützt werden
kann. Wachstumsfaktoren wirken
insbesondere anti-apoptotisch, d. h.
sie hemmen den programmierten
Zelltod, die so genannte Apoptose.
Wir waren natürlich daran interessiert, den Eingriff der Wachstumsfaktoren in die Kaskade des
programmierten Zelltodes zu definieren. Die Apoptose wird durch
pro-apoptotische Faktoren der Zelle
vorangetrieben und durch antiapoptotische Faktoren gehemmt.
Diese Faktoren sind meist spezifische Proteine, deren Wirkung die
Zelle an- und abschalten kann. Dieses An- und Abschalten erreicht sie
durch Phosphorylierung und Dephosphorylierung der Proteine.
Besonders an dieser Stelle zahlte
sich die Zusammenarbeit der Neurowissenschaftler mit den Phosphatase-Forschern aus. Die Neurowissenschaftler beschrieben die
Proteine, die an der Regulation der
neuronalen Apoptose beteiligt sind,
die Phosphatase-Forscher charakterisierten die für das An- und Abschalten der Proteine verantwortlichen Enzyme. Diese Untersuchungen führten zu völlig neuen Erkenntnissen, die Grundlage für eine
kausale Therapie der genannten
Neues Enzym entdeckt
Einen besonderen Glanzpunkt stellt
unsere Entdeckung der Protein-Histidin-Phosphatase dar. Es handelt
sich dabei um ein Enzym, das
bisher im Säugerorganismus nicht
bekannt war. Jetzt wissen wir, dass
dieses Enzym in vielen Organismen
und Geweben vorkommt und in
Neuronen sogar angereicht zu sein
scheint. Nach dem ersten Stand der
Untersuchungen hat es dort offenbar eine besondere Funktion. Man
darf gespannt sein, was sich daraus
entwickeln wird.
Die Phosphorylierung eines spezifischen Proteins kann darüber
entscheiden, ob eine Nervenzelle
weiterlebt oder nicht, ob sich eine
Demenz entwickelt und die Persönlichkeit eines Menschen zerstört.
Inzwischen konnten sechs Patente
angemeldet und die Ergebnisse in
wissenschaftlichen Spitzenjournalen
publiziert werden. Die Kooperation
von zwei wissenschaftlichen Arbeitsgruppen hat somit zu einer außerordentlich erfolgreichen Lösung
von enormer praktischer Bedeutung
geführt.
Josef Krieglstein / Susanne Klumpp
Frau Professor Klumpp hat soeben
einen Ruf nach Münster angenommen. Ihre Marburger Kollegen hoffen, dass sich die ertragreiche Kooperation auch in der neuen Konstellation fortsetzen lässt.
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