Leseprobe aus: David J. Linden Das Gehirn - ein Unfall der Natur Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg I n HaLt Vorwort Eins Das Gehirn, erklärt Das keinesweGs eleGante DesiGn Des Gehirns Zwei 11 15 ein Gehirn aus uralten teilen 40 Drei eine Gewisse MontaGe ist vonnöten . . . Vier sensorisches eMpfinDen unD Gefühl Fünf lernen, GeDächtnis unD Menschliche Sechs Sieben Acht Neun inDiviDualität 125 liebe unD sex 168 schlafen unD träuMen Der reliGiöse iMpuls 212 254 Das keinesweGs intelliGente DesiGn Des Gehirns 270 Nachwort Dieses Mittelstück 283 Weiterführende Literatur und Quellen 293 Danksagung 303 Register 307 62 96 Das große Gehirn ist wie eine große Regierung unter Umständen nicht in der Lage, einfache Dinge auf einfache Weise zu tun. Donald O. Hebb Nun sagt der Präsident, das letzte endgültige Urteil über Evolution sei noch nicht gesprochen . . . hier in New Jersey zählen wir darauf. Bruce Springsteen e Vorwort Das Gehirn, erklärt Der Vorteil, ein Hirnforscher zu sein, besteht darin, dass man in einigen Situationen so tun kann, als könne man Gedanken lesen. Nehmen Sie zum Beispiel Cocktailpartys. Ein Glas Chardonnay in der einen Hand, stellt Ihr Gastgeber Sie so vor: «Das ist David. Er ist Hirnforscher.» Viele Leute sind dann klug genug, sich einfach umzudrehen und nach einem Bourbon mit Eis Ausschau zu halten. Bei denjenigen, die nicht ausreißen, kann man davon ausgehen, dass rund die Hälfte erst einmal eine Pause macht, den Blick nach oben richtet und dann die Augenbrauen hebt, um etwas zu sagen. «Sie wollen mich fragen, ob es stimmt, dass wir nur zehn Prozent unseres Gehirns benutzen, nicht wahr?» Nicken mit erstaunt aufgerissenen Augen. Ein verblüffendes Beispiel für «Gedankenlesen». Sobald wir diese Sache mit den zehn Prozent des Gehirns hinter uns haben (die, nebenbei gesagt, jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt), wird deutlich, dass viele Menschen sehr neugierig sind, was die Gehirnfunktion angeht. Gleich darauf kommen wirklich grundlegende und schwierige Fragen. «Wächst das Gehirn meines Babys wirklich besser, wenn ich ihm klassische Musik vorspiele?» «Gibt es einen biologischen Grund dafür, dass das, was ich in meinen Träumen erlebe, so bizarr ist?» «Unterscheiden sich die Gehirne von Schwulen physisch von den Gehirnen von Heterosexuellen?» Das Gehirn, erklärt 11 «Warum kann ich mich nicht selbst kitzeln?» Das sind alles gute Fragen. Einige lassen sich wissenschaftlich ziemlich klar beantworten, andere eher ausweichend (ich, mit meiner besten Bill-Clinton-Stimme: «Was genau meinen Sie mit ‹Gehirn›?»). Es macht Spaß, sich mit Nicht-Hirnforschern zu unterhalten, weil sie sich nicht scheuen, die schwierigen Fragen zu stellen und einen darauf festzunageln. Oft fragen die Leute, wenn die Unterhaltung vorüber ist: «Gibt es ein gutes Buch über Gehirn und Verhalten, das Sie Laien empfehlen können?» An dieser Stelle wird’s schwierig. Es gibt einige Bücher, wie Joseph LeDoux’ Das Netz der Persönlichkeit: Wie unser Selbst entsteht, die wissenschaftlich ausgezeichnet sind, aber keine einfache Lektüre, wenn Sie nicht wenigstens einen Universitätsabschluss in Biologie oder Psychologie haben. Und dann gibt es andere, wie Oliver Sacks’ Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte sowie Die blinde Frau, die sehen kann: Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins von V. S. Ramachandran und Sandra Blakeslee, die faszinierende und aufschlussreiche, auf neurologischen Fallstudien beruhende Geschichten erzählen, aber kein umfassendes Verständnis der Hirnfunktion vermitteln und Moleküle und Zellen weitgehend ignorieren. Es gibt auch Bücher, in denen es um Moleküle und Zellen im Gehirn geht, doch viele davon sind so trocken, dass Sie spüren können, wie Ihre Seele Ihren Körper verlässt, bevor Sie auch nur die erste Seite zu Ende gelesen haben. Schlimmer noch ist, dass viele Bücher über das Gehirn und noch mehr Wissenschaftssendungen im Fernsehen ein fundamentales Missverständnis über neuronale Funktionen zementieren. Sie stellen das Gehirn als ein wunderbar konstruiertes, optimales Instrument dar, den absoluten Gipfel der Designkunst. Wahrscheinlich haben Sie so etwas schon einmal gesehen: ein menschliches Gehirn, dramatisch von der Seite beleuchtet, während die Kamera darüber kreist, als schieße sie eine Helikopteraufnahme 12 Das Gehirn, erklärt von Stonehenge, und eine wohlmodulierte Baritonstimme, die in ehrfürchtigem Ton das elegante Design des Gehirns preist. Das ist völliger Unsinn. Das Gehirn ist keinesfalls ein eleganter Entwurf, vielmehr ist es ein zusammengeschustertes Durcheinander, das es erstaunlicherweise trotz all seiner Mängel schafft, eine Reihe höchst eindrucksvoller Funktionen auszuüben. Wichtiger noch, der schrullige, ineffiziente und bizarre Plan des Gehirns und seiner einzelnen Komponenten ist für unser menschliches Erleben von grundlegender Bedeutung. Die besondere Struktur unserer Gefühle, Wahrnehmungen und Handlungen rührt großteils von der Tatsache her, dass das Gehirn eben keine optimierte, generische Problemlösungsmaschine ist, sondern vielmehr eine seltsame Ansammlung von Ad-hoc-Lösungen, die sich im Lauf vieler Millionen Jahre Evolutionsgeschichte angehäuft haben. Ich möchte in diesem Buch Ihr Führer in dieser seltsamen und oft unlogischen Welt neuronaler Funktionen sein. Dabei möchte ich besonders auf die ungewöhnlichsten und der Intuition widersprechenden Aspekte von Gehirn und neuronalem Design hinweisen und erklären, wie sie unser Leben beeinflussen. Insbesondere möchte ich Sie gern davon überzeugen, dass die Zwänge eines verschrobenen, im Lauf der Evolution entwickelten Gehirndesigns letztlich zu vielen transzendenten und einzigartigen menschlichen Merkmalen geführt haben: unserer langen Kindheit, unserem umfassenden Gedächtnis (dem Substrat, auf dem durch Erfahrung unsere Individualität geschaffen wird), unserer Suche nach langfristigen Liebesbeziehungen, unserem Bedürfnis, fesselnde Geschichten zu erzählen, und schließlich dem universellen kulturellen Impuls, die Welt religiös zu erklären. Auf dem Weg werde ich kurz die biologischen Hintergründe skizzieren, die Sie brauchen, um die Dinge zu verstehen, von denen ich vermute, dass sie Sie interessieren. Sie wissen schon, all die spannenden Sachen über Gehirn und Verhalten: Emotionen, Gedächtnis, Träume, Liebe, Sex und natürlich abgefahrene ZwilDas Gehirn, erklärt 13 lingsstorys. Dann werde ich mein Bestes versuchen, die großen Fragen zu beantworten, und ehrlich sein, wenn es noch keine Antworten gibt oder diese Antworten noch unvollständig sind. Wenn ich nicht all Ihre Fragen beantworte, besuchen Sie doch die Website des Buches, accidentalmind.org. Ich möchte die Reise so gestalten, dass Sie Spaß daran haben, aber ich werde nicht «alles Wissenschaftliche rauswerfen». Es wird also nicht, wie auf einem Etikett der Bio-Anbieterkette Whole Foods zu lesen, «100 Prozent molekülfrei» zugehen. Max Delbrück, ein Pionier der molekularen Genetik, meinte einmal: «Stell dir vor, dein Publikum hat null Wissen, aber eine unendlich große Intelligenz.» Das scheint mir ein gutes Motto, und darum werde ich davon bei dieser Reise ausgehen. Brechen wir also auf. e Kapitel 1 Das keinesweGs eleGante DesiGn Des Gehirns Als ich in den 1970er Jahren in Kalifornien in die Middle School ging, macht eine Scherzfrage die Runde: «Willst du 6 Pfund fieses Fett loswerden?» Wenn der Angesprochene bejahte, wurde ihm empfohlen: «Dann hack doch deinen Kopf ab! Hahaha!» In der kollektiven Wertschätzung meiner Klassenkameraden nahm das Gehirn eindeutig keinen hohen Rang ein. Wie so mancher war ich erleichtert, als die Middle School zu Ende ging. Viele Jahre später stört mich die entgegengesetzte Sichtweise genauso. Vor allem, wenn ich Bücher oder Zeitschriften lese oder Wissenschaftssendungen im Fernsehen anschaue, verblüfft mich eine Art geradezu mystischer Gehirnverehrung. Diskussionen über das Gehirn werden meist mit belegter, ehrfürchtiger Stimme geführt. Das Gehirn, heißt es dann, sei «ein erstaunlich effizientes 1,5 kg schweres Stück Gewebe, leistungsfähiger als der größte Supercomputer» oder «der Sitz des Geistes, der Gipfel allen biologischen Designs». Was ich an diesen Aussagen problematisch finde, ist nicht die tief empfundene Erkenntnis, dass das Gehirn der Sitz der geistigen Fähigkeiten ist, was in der Tat erstaunlich ist. Vielmehr ist es die Annahme, dass Bau und Funktion des Gehirns zwangsläufig elegant und effizient sein müssen, da der Geist im Gehirn haust und eine große Errungenschaft ist. Kurz gesagt, viele nehmen an, das Gehirn sei gut konstruiert. Nichts könnte falscher sein. Das Gehirn ist, um einen meiner Das keineswegs elegante Design des Gehirns 15 Lieblingsbegriffe zu gebrauchen, eine Behelfslösung, ein Konstrukt, das ineffizient, keineswegs elegant und unauslotbar ist, aber dennoch funktioniert. Um es mit den Worten des Militärhistorikers Jackson Granholm zu sagen, ist eine Behelfslösung «eine schlecht sortierte Sammlung schlecht zusammenpassender Teile, die ein trauriges Ganzes bildet». Ich möchte hier zeigen, dass das Gehirn auf allen Ebenen seiner Organisation, von Hirnarealen und Schaltkreisen bis zu Zellen und Molekülen, eine unelegante und ineffiziente Materialansammlung darstellt, die nichtsdestotrotz überraschend gut funktioniert. Das Gehirn ist kein genialer Allzweck-Supercomputer. Es wurde nicht von einem Genie auf dem Reißbrett aus einem Guss entworfen. Vielmehr ist es ein höchst eigenartiges Konstrukt, das Millionen Jahre Evolution widerspiegelt. In vielen Fällen hat das Gehirn in ferner Vergangenheit Lösungen für bestimmte Probleme entwickelt, die die Zeiten überdauert haben und zu anderen Zwecken recycelt wurden oder die Möglichkeiten für weitere Veränderungen stark eingeschränkt haben. Wie der Molekularbiologe und Nobelpreisträger François Monod schon meinte: «Die Evolution ist ein Bastler, kein Ingenieur.» Was das Gehirn angeht, ist an dieser Aussage nicht nur wichtig, dass sie die Vorstellung von einem optimalen Entwurf in Frage stellt. Vielmehr kann uns ein besseres Verständnis der eigenwilligen Konstruktion des Gehirns Einblicke in einige der tiefsten und besonders menschlichen Aspekte unserer Erfahrung gewähren, sei es im Hinblick auf unser Alltagsverhalten wie auch im Fall von Verletzung und Krankheit. Dies im Hinterkopf, wollen wir einen Blick auf das Gehirn werfen und sehen, was wir über seinen Bau lernen können. Welche Organisationsprinzipien kristallisieren sich heraus? Zu diesem Zweck nehmen wir an, wir hätten ein frisch präpariertes Gehirn eines erwachsenen Menschen vor uns (Abbildung 1.1). Vor Ihnen 16 Das keineswegs elegante Design des Gehirns Abb. 1.1: Das menschliche Gehirn. oben das intakte Gehirn, blick auf die linke seite. unten ein blick auf die rechte hirnhälfte, nachdem das Gehirn in der Mitte durchtrennt und die linke hälfte entfernt wurde. Joan M. K. Tycko, Illustratorin. liegt also ein eiförmiges, graurosa gefärbtes, etwa 1,5 kg schweres Objekt. Seine Oberfläche, die Großhirnrinde oder der Cortex cerebri, ist von dicken Windungen bedeckt, die tiefe Furchen bilden. Das Muster dieser Windungen und Furchen sieht so aus, als könnte es individuell so verschieden sein wie ein Fingerabdruck, Das keineswegs elegante Design des Gehirns 17 doch es ist bei allen menschlichen Gehirnen sehr ähnlich. Am hinteren Pol des Gehirns befindet sich eine etwa tennisballgroße Struktur mit kleinen, kreuzweise angeordneten Furchen. Das ist das Kleinhirn oder Cerebellum. Das Gehirn sitzt auf einem dicken Nervenfaserstrang, dem sogenannten Hirnstamm. Die Basis des Hirnstamms ist dort abgeschnitten, wo er sich zuspitzt und in das Rückenmark übergeht. Am Hirnstamm sitzen zahlreiche Nerven, die Hirnnerven, die Information von Augen, Ohren, Nase, Zunge und Gesicht zum Hirnstamm leiten. Eine auffällige Eigenschaft des Gehirns ist seine Symmetrie: Ein Blick von oben zeigt eine lange, von vorn nach hinten ziehende Furche, die die Großhirnrinde in zwei gleiche Hälften teilt. Wenn wir das Gehirn an dieser Furche durchtrennen und dann auf die rechte Schnitthälfte schauen, erhalten wir die Ansicht in Abbildung 1.1 unten. Wenn man sich die Abbildung ansieht, wird deutlich, dass das Gehirn keine homogene Masse ist. Verschiedene Hirnregionen unterscheiden sich in Form, Färbung und Textur, doch das sagt nichts über die Funktion dieser Regionen. Am ehesten erfährt man etwas über die Funktionen bestimmter Areale, wenn man Menschen mit lokalisierten Hirnschäden studiert. Derartige Untersuchungen sind durch Tierexperimente ergänzt worden, bei denen kleine Hirnareale chirurgisch oder medikamentös gezielt zerstört und Körperfunktionen sowie Verhalten der Tiere anschließend sorgfältig analysiert wurden. Der Hirnstamm enthält Zentren, die ganz fundamentale Regelprozesse im Körper kontrollieren und nicht unter bewusster Kontrolle stehen; dazu gehören so überlebenswichtige Funktionen wie Regulation von Herzschlag, Blutdruck, Atemrhythmus, Körpertemperatur und Verdauung. Er enthält zudem die Kontrollzentren für einige wichtige Reflexe, wie Niesen, Husten und Erbrechen. Der Hirnstamm beherbergt Relaisstationen für sensorische Signale von Haut und Muskeln, die das Rückenmark 18 Das keineswegs elegante Design des Gehirns hinaufwandern, wie auch für Kommandos aus dem Gehirn, die zur Muskulatur hinabgeschickt werden. Er enthält auch Zentren, die daran mitwirken, ein Gefühl der Wachheit bzw. der Schläfrigkeit zu erzeugen. Pharmakologisch wirksame Substanzen, die ihren Wachheitszustand beeinflussen, wie Schlaftabletten oder Narkosemittel auf der einen Seite oder Koffein und Amphetamine auf der anderen Seite, wirken auf diese Hirnstammregionen. Wenn eine kleine Region Ihres Hirnstamms geschädigt wird (durch Verletzung, Tumor oder Schlaganfall), können Sie ins Koma fallen, aus dem Sie kein Reiz erwecken kann, während ausgedehntere Hirnstammschädigungen stets zum Tod führen. Das Kleinhirn (Cerebellum), das mit dem Hirnstamm durch zahlreiche Nervenbahnen verbunden ist, spielt eine Rolle für die Bewegungskoordination. Vor allem nutzt es Feedback-Informationen Ihrer Sinne darüber, wie sich Ihr Körper im Raum bewegt, um Befehle für Feinkorrekturen an die Muskeln zu schicken, damit Sie sich flüssig und wohlkoordiniert bewegen. Diese cerebelläre Feinabstimmung spielt nicht nur bei besonders anspruchsvollen Formen der Koordination wie beim Tennis- oder Geigespielen eine Rolle, sondern auch bei alltäglichen Aktivitäten. Eine Schädigung des Kleinhirns hat subtile Folgen. Sie führt nicht zu einer Lähmung, sondern zieht eher eine gewisse Ungeschicklichkeit bei der Durchführung einfacher Aufgaben nach sich, wie gezielt nach einer Tasse Kaffee greifen oder normalen Schrittes gehen; dieses Phänomen wird als Ataxie bezeichnet. Das Kleinhirn ist auch wichtig, wenn es darum geht, «erwartete» von unerwarteten Empfindungen zu unterscheiden. Wenn Sie eine Bewegung einleiten und Sinnesempfindungen verspüren, die aus dieser Bewegung resultieren, tendieren Sie im Allgemeinen dazu, diesen Empfindungen wenig Aufmerksamkeit zu zollen. Wenn Sie beispielsweise die Straße entlanggehen und Ihre Kleidung an Ihrem Körper reibt, ignorieren Sie dies weitgehend. Wenn Sie jedoch stillstehen und das Gefühl haben, etwas reibt Das keineswegs elegante Design des Gehirns 19 an Ihrem Körper, drehen Sie sich höchstwahrscheinlich rasch um, um zu sehen, wer Sie begrapscht. In vielen Situationen ist es sinnvoll, Empfindungen zu ignorieren, die von Ihrer eigenen Bewegung herrühren, und genau auf andere Empfindungen zu achten, die von außen kommen. Das Kleinhirn empfängt Signale aus denjenigen Hirnregionen, die die Kommandos für die Körperbewegung aussenden, und bedient sich ihrer, um die sensorischen Empfindungen vorherzusagen, die wahrscheinlich aus dieser Bewegung resultieren werden. Dann schickt das Kleinhirn hemmende (inhibitorische) Signale an andere Hirnregionen, um die «erwarteten» Empfindungen von den «Gesamtempfindungen» zu subtrahieren; dadurch verändert sich die Weise, wie sich diese Empfindungen für Sie anfühlen. Das klingt vielleicht alles ein wenig abstrakt, daher ein Beispiel. Es ist wohlbekannt, dass man sich nicht selbst kitzeln kann. Das gilt nicht nur für bestimmte Kulturen, sondern weltweit. Was ist der Unterschied zwischen gekitzelt werden, was zu einer sehr starken sensorischen Empfindung führen kann, und sich selbst kitzeln, was ohne Wirkung bleibt? Als Forscher in Daniel Wolperts Gruppe am University College London die Köpfe von Freiwilligen in ein Aufnahmegerät legten, das Ort und Stärke der Gehirnaktivität abbildet (sogenannte funktionelle kernspintomographische Aufnahmen oder fMRI-Scans), und ihre Versuchspersonen dann kitzelten, fanden sie eine starke Aktivierung in einer Hirnregion, die dem Berührungsempfinden gewidmet ist und als somatosensorischer Cortex bezeichnet wird. Als die Freiwilligen aufgefordert wurden, sich an derselben Körperstelle selbst zu kitzeln, zeigten sich ein Aktivierungsfleck im Kleinhirn und eine reduzierte Aktivität im somatosensorischen Cortex. Die Forscher interpretierten dieses Ergebnis so: Kommandos zur Aktivierung der Handbewegungen beim Selbstkitzeln aktivieren das Kleinhirn, das dann eine Vorhersage der zu erwartenden Empfindung macht und Signale ausschickt, die diese Vorhersage 20 Das keineswegs elegante Design des Gehirns codieren, um den somatosensorischen Cortex zu hemmen. Die verringerte Aktivierung des somatosensorischen Cortex liegt dann unterhalb der Schwelle, die zur Auslösung einer Kitzelempfindung nötig ist. Interessanterweise gibt es inzwischen Studien, die belegen, dass einige Menschen mit einer Kleinhirnschädigung keine Voraussagen über zu erwartende Empfindungen machen können und sich daher tatsächlich selbst kitzeln können! Daniel Wolpert und seine Kollegen am University College London haben zudem ein einfaches und elegantes Experiment entwickelt, um die Rolle des Kleinhirns bei der Eskalation einer Rangelei zu demonstrieren (Abbildung 1.2). Wenn zwei Kontrahenten beginnen, einander hin und her zu schubsen, passiert es häufig, dass die Kraft der Stöße ständig zunimmt, sodass es nicht selten zu einer ausgewachsenen Schlägerei kommt. Das haben wir bisher in der Regel als Folge einer sozialen Dynamik angesehen: Keiner der Kontrahenten will sich als Schwächling zeigen, indem er zurückweicht. Das mag erklären, warum der Konflikt andauert, aber nicht unbedingt, warum die Kraft eines jeden Stoßes bei einer solchen «Wie du mir, so ich dir»-Runde ständig zunimmt. Das Experiment von Wolpert und seinen Kollegen lief so ab: Zwei erwachsene Versuchspersonen standen sich gegenüber, wobei der linke Zeigefinger, die Handfläche nach oben, in einer Mulde lag. Dann wurde ein kleiner, gelenkig angebrachter Metallstab auf der Fingerspitze einer jeden Versuchsperson platziert. Das Gelenk war mit einem Sensor ausgestattet, um die Kraft zu messen, mit der der Stab niedergedrückt wurde. Beide Männer erhielten dieselbe Anweisung: Wer an der Reihe war, sollte die Fingerspitze des anderen mit genau derselben Kraft niederdrücken, wie sie der andere auf seine Fingerspitze ausgeübt hatte. Keiner der beiden Männer wusste, welche Instruktionen der andere erhalten hatte. Als die Versuchspersonen abwechselnd die Fingerspitze des Das keineswegs elegante Design des Gehirns 21