Quo vadis, liturgische Gregorianik?

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Liebe Besucher,
ich heiße Sie willkommen auf Quo vadis, liturgische Gregorianik ?
Sie bekommen hier Informationen über die Restaurierung des genuinen Gregorianischen Chorals
vor 100 Jahren durch Dom Joseph Pothier, dem „Champollion der Gregorianik“, dem die Katholische Kirche die Editio Typica 1908, die normative Ausgabe der liturgischen Bücher verdankt.
In einem historischen Abriß werden Ihnen die Etappen dieser Restaurierung dargelegt. Anhand
von zeitgenössischen Berichten werden Sie erfahren wie Haß und Neid auch bei den Ordensmännern anzutreffen sind und welche verheerenden Folgen eine unzureichende musikalische
Ausbildung haben kann. Sie werden Dom André Mocquereau, den Erzfeind der Editio Vaticana
(Editio Typica) kennenlernen, der ein ausgetüfteltes rhythmisches System aufgebaut und dieses
dem frisch restaurierten Gregorianischen Choral geimpft hat. Ferner werden Sie ausführlich darüber informiert, wie Dom Eugène Cardine durch die Einführung der Semiotik als Grundlage der
Erforschung der alten Handschriften die Gesänge durch die Mannigfaltigkeit der Tonfiguren
interpretieren will und ihre Textgebundenheit ignoriert. Seine Nachfolger gehen in diese Richtung noch einen Schritt weiter und verlangen die Umsetzung der Befunde aus der Paléographie
Musicale Dom Mocquereaus in die liturgische Praxis der Gegenwart. Der Countdown läuft bereits: Die Beiträge zur Gregorianik, eine Publikationsreihe zum Zweck der Bereitstellung aller
Gesänge der Vaticana (Editio Typica) in „restituierter Form“ meldet die mit Erfolg beendete
Arbeit an. Die ganze Aktion wird als Auftrag des 2. Vatikanischen Konzils verstanden und zwar
nach einem Hinweis im Text des Art. 117 der Liturgiekonstitution, wo es heißt:
„Compleatur editio typica librorum cantus gregoriani; immo paretur editio magis critica librorum jam editorum post instaurationem sancti Pii X. Expedit quoque ut paretur editio simpliciores modos continens, in
usum minorum ecclesiarum.“
Auf Deutsch: „Die ‚editio typica‘ der Bücher des Gregorianischen Gesanges soll zu Ende geführt
werden; darüber hinaus soll eine kritischere Ausgabe der seit der Reform des heiligen Pius X.
bereits herausgegebenen Bücher besorgt werden. Es empfiehlt sich ferner eine Ausgabe zu schaffen mit einfachere Melodien für den Gebrauch der kleineren Kirchen.“
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Historischer Abriß
Um das Jahr 1837 hat Dom Prosper Guéranger (1805-1875), Abt des Klosters Solesmes aus
Frankreich die Abschaffung der neugallikanischen und die Einführung der römischen Liturgie
eingeläutet. In seinem Hauptwerk Institutions liturgiques (1840) hat er angekündigt, daß gleichzeitig mit der Liturgiereform auch die Reform des liturgischen Gesangs stattfinden sollte. Weil
die damals gängigen Ausgaben des liturgischen Gesangs eine verkürzte und stark entstellte Version des Chorals darstellten, hat er beschlossen für sein Kloster den genuinen liturgischen Gesang Gregor des Großen (590-604) ausfindig zu machen. Um dieses Projekt zu verwirklichen,
hat er sogleich eine Gruppe von Archäologen, Paleographen und Musikern um sich versammelt.
So ist damals die sogenannte Schule von Solesmes entstanden. Zu Beginn hat Dom Guéranger
1856 den jungen Mönch Paul Jausion (1834-1870) mit der Durchsicht und Auswertung der
Handschriften aus den Bibliotheken von Paris und Le Mans beauftragt. Die Kleriker der Diözese
Le Mans haben die Benediktiner von Solesmes bei der Arbeit mit den Handschriften aus ihrer
Diözese kräftig unterstützt. Einer von ihnen, der Kanoniker Augustin-Maturin Gontier (18021881) zum Beispiel, hat 1859 eine Studie mit der Überschrift: Méthode raisonnée de plain-chant
veröffentlicht. Die Grundsätze dieser Studie wurden anfangs als Richtschnur für die praktische
Aufführung der liturgischen Gesänge in Solesmes angewandt. (Anmerkung: Nach dieser Studie
hat sich 1908 auch die Singmethode der Editio Vaticana, Editio Typica, gerichtet).
Ab 1860 auf Anordnung von Dom Guéranger wurde auch der Priester und Mönch Dom Joseph
Pothier (1835-1923) mit der Vergleichsanalyse der alten Codices und mit der Leitung des liturgischen Gesangs der Mönche aus Solesmes beauftragt. Aus einem Brief des Kanonikers Gontier
erfahren wir, daß Dom Pothier über eine solide theoretische und praktische Kenntnis des genuinen Gregorianischen Chorals verfügte und daß er den Kirchengesang in Solesmes leitete. (Quelle: Pierre Combe, Histoire de la Restauration du Chant Grégorien, Solesmes 1969, Seite 44):
„Il y a à Solesmes un Père que peut-être vous n’avez pas vu, Dom Pothier, plein de savoir, d’intelligence
et d’humilité, qui comprend admirablement le plain-chant. C’est lui que le Père Abbé a mis à la tête de la
classe de chant et les vieux maîtres sont mis sous sa direction. Le plain-chant à Solesmes n‘ est pas
reconnaissable. Quelle est sa manière ? Il fait chanter ses élèves sur l’ancienne notation.“
Auf Deutsch: „Es gibt in Solesmes ein Pater, den Sie vielleicht nicht gesehen haben, Dom
Pothier, voll Weisheit, Einsicht und Demut, der den Gregorianischen Choral wunderbar versteht.
Er ist es, den der Pater Abt mit der Leitung der Gesangschule beauftragt hat und die alten Kirchensänger wurden unter seine Leitung gestellt. Der Gregorianische Choral in Solesmes ist nicht
wiederzuerkennen. Wie ist seine Vorgehensweise ? Er unterrichtet seine Schüler in der alten
Notenschrift.“
Nach dem Tod von Paul Jausions (1870) hat Dom Pothier allein die Restauration des traditionellen Gregorianischen Chorals vorangetrieben. Nach dem Tod von Dom Guéranger (1875)
wurde Dom Charles Couturier zum Abt gewählt. Dieser hatte vom Gregorianischen Choral wenig verstanden. Im selben Jahr 1875 ist Dom André Mocquereau ins Kloster eingetreten. Alle
einschlägigen Literaturquellen geben an, daß er als Kaufmann ausgebildet worden war. Hier ein
Zitat aus Riemann Musik-Lexikon, Stichwort „Mocquereau“:
“...zunächst Kaufmann, nahm nach 1871 in Paris als Violoncellist an Danclas klassischen Kammermusikübungen teil, trat 1875 zu Solesmes in den Benediktinerorden ein und vertiefte sich unter Dom
Pothiers Leitung in das Studium des gregorianischen Chorals. Bald wurde er zum Lehrer des Choralgesangs an der Abtei Solesmes ernannt.“
Dom Pothier wurde 1879 zum 1. Kongreß des Gregorianischen Chorals eingeladen, der in der
Zisterzienser Abtei Aiguebelle stattgefunden hat. Dort hat er seine Singmethode des liturgischen
Gesangs vielen kirchlichen Würdenträgern und weltlichen musikalischen Persönlichkeiten er-
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läutert. Ein Jahr später (1880) hat er Vorträge in der Zisterzienser Abtei Bellefontaine gehalten.
Im selben Jahr (1880) erschien sein Monumentalwerk Les Mélodies Grégoriennes d’après la
tradition (deutsche Übersetzung von Pater Ambrosius Kienle 1881).
Der Abt von Solesmes, Dom Couturier, beeindruckt von dem internationalen Ruhm Dom
Pothiers hat ihm 1880 oder 1881 (das genaue Datum kann nicht festgestellt werden) 4 Mönche
zur Hilfe gegeben: Dom Raphael Andoyer, Dom Albert Schmitt, Dom Paul Cagin und Dom André Mocquereau.
Die Befürworter einer Choralreform trafen sich 1882 im Rahmen eines internationalen Kongresses für Kirchenmusik in Arezzo.
Anmerkung: Die Authentizität der Editio Medicaea, der offiziellen Ausgabe des Gregorianischen Chorals war zur Zeit angezweifelt und die Kirchenmusiker hofften, daß Dom Pothier, der
durch Vergleichsanalyse der alten Handschriften den genuinen Gesang Gregor des Großen entdeckt hatte nunmehr diesen Gesang weltweit durchsetzen könnte.
Im Rahmen dieses Kongresses hat Dom Pothier 3 Referate gehalten: De la virga dans les neumes, Une petite question de grammaire à propos du plain-chant und La tradition dans la notation du plain-chant. Als erster von den 4 Mönchen, die Dom Pothier auf Anordnung seines Abtes
(Dom Couturier) als Schüler bekommen hatte, Dom Albert Schmitt, hat im Rahmen dieses Kongresses auch ein Referat gehalten: Propositions sur le chant grégorien d’après les faits universellement admis par les archéologes. Diese 4 Referate haben den höchsten Stand der gregorianischen Forschungen in Solesmes dokumentiert und Dom Pothier und Dom Schmitt haben viel
Beifall bekommen. Dom Schmitt gab in seinem Referat 5 Grundsätze der neuen Singmethode
von Solesmes bekannt:
1. Nous possédons dans les manuscrits la vraie version du chant grégorien; les quelques variantes
légères et inévitables qui s’y rencontrent ne peuvent nous induire en erreur sur le sens vrai de la version primitive.
2. Les manuscrits nous donnent la hauteur relative de notes.
3. En nous donnant des sons déterminés pour leur hauteur respective, les manuscrits nous les représentent aussi réunis ou séparés par groupes.
4. La forme des neumes n’indique pas une valeur proportionelle de durée ni de force.
5. Le rythme du chant grégorien est le rythme du discours.
Auf Deutsch: 1. Wir besitzen in den Handschriften die wahre Version des Gregorianischen Chorals; die wenigen Varianten, welche anders lauten, können uns nicht in die Irre führen, was die
ursprüngliche Version anbetrifft. 2. Die Handschriften geben nur eine relative Tonhöhe wieder.
3. Die Tonhöhen werden in den Handschriften durch Tonfiguren ablesbar. Sie werden dort zusammen oder getrennt dargestellt. 4. Die Gestalt einer Neume wiedergibt weder ihre Dauer noch
ihre Betonung und 5. Der Rhythmus des Gregorianischen Chorals ist der des Textes. (discours=Textvortrag).
Papst Leo XIII (1878-1903) hat die Teilnehmer am Kongreß von Arezzo begrüßt und den Benediktinern von Solesmes, namentlich Dom Pothier viel Erfolg bei der Restauration des Gregorianischen Chorals gewünscht.
Im Oktober 1882 gleich nach dem Ende des Kongresses von Arezzo hat Dom Couturier eine
folgenschwere Änderung im Kloster Solesmes vorgenommen: Er hat Dom Mocquereau mit der
Leitung des liturgischen Gesangs betraut und Dom Pothier dadurch von der musikalischen Praxis
seines Klosters entfernt. Dom Mocquereau hat sofort eine Eliteschola gegründet, die seinen Vorstellungen entsprach: Schöne Stimmen und Akzeptanz seiner rhythmischen Theorie. Ab jetzt
stritten Dom Pothier und Dom Mocquereau über die Grundsätze des liturgischen Gesangs: Dom
Pothier bestand darauf, daß alle Mönche singen dürfen unabhängig von der Qualität ihrer Stim-
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me und Dom Mocquereau vertrat die Meinung, daß nur schöne Stimmen fähig wären die Schönheit des Gregorianischen Chorals ins rechte Licht zu stellen.
Wie war es möglich, daß Dom Mocquereau eine so verantwortungsvolle Stellung bekam ? Zunächst ist festzustellen, daß der Abt keine musikalischen Kenntnisse hatte, weder im profanen,
noch im religiösen Bereich. Dom Mocquereau, der in der profanen Musik geübt war (ausgebildet
als Violoncellist) strebte nach Anerkennung und Ruhm im religiösen Bereich und hat dem Abt
seine Dienste gut anbieten können (ausgebildet als Kaufmann). Mit einer gut trainierten Eliteschola und mit ihm als Dirigent war er fest davon überzeugt, daß auch die liturgische Musik, die
von Dom Pothier als den genuinen Gregorianischen Choral des Papstes Gregor des Großen wieder entdeckt wurde als musikalische Kunst Anerkennung finden könnte. In seinem Hauptwerk Le
Nombre Musical Bd. II, Seite 712 schreibt er:
„Mais nous ne pouvons pas taire combien nous gémissons, en traitant un sujet destiné, en somme, à
révéler la beauté, la vie de nos célestes mélodies, de n’avoir à notre disposition qu’un papier, et, sur ce
papier, que des lignes ondulées, courbes, froides, muettes, disons le mot, mortes, quand, pour en faire
comprendre les qualités artistiques, il aurait fallu l’action, et l’action en face d’un choeur bien formé, souple, sensible, disposé à obéir aux plus légères indications, et à se laisser entraîner. C’est alors seulement
qu’apparaît l’utilité, la valeur bienfaissante de ces gestes: dans la chaleur de l’action ils s’animent, se
déroulent dans l’espace, s’élancent, s’abaissent, s’illuminent et illuminent; devenus parlants et éloquents,
ils exercent sur le choeur un pouvoir magique qui le discipline, l’entraîne, le soulève, le mène et le
ramène au gré du chef.“
Auf Deutsch: „Aber wir können nicht verheimlichen wie sehr wir seufzen, wenn wir zur Behandlung eines Thema, das im Ganzen die Schönheit, das Leben unseren himmlischen Melodien
darstellen soll bloß ein Papierstück zur Verfügung haben, und, auf dieses Stück Papier allein
wellenförmige Linien, Kurven, kalte, stumme, das Wort sprechend, tote [Linien, Kurven], denn,
damit die kunstvollen Qualitäten verstanden werden könnten eine Aktion notwendig wäre, eine
Tätigkeit gegenüber eines gut zusammengesetzten Chores, biegsam, sensibel, bereit Folge zu
leisten selbst zu den leichtesten Winken und der sich bewegen läßt. Allein darin erscheint das
Nutzen, der wohltuende Wert dieser Handbewegungen: welche in der Wärme der Tätigkeit ins
Leben gerufen würden, sich im Raum entfaltend, schwingend, fallend, erleuchtend und leuchtend; sprechend und beredsam werdend, sie auf den Chor eine magische Kraft ausübend, die ihn
diszipliniert, ihn beseelt, ihn erhebt, ihn führt und hinführt zum Willen des Leiters.“
Hier stellte er ganz und gar sein Ziel dar: Eine Eliteschola zu haben und sie zu dirigieren. Allein
unter solchen Bedingungen sah er die Möglichkeit aus der liturgischen Musik ein Kunstwerk zu
machen.
Nun kann liturgische Musik aber nur unter einer einzigen Bedingung als musikalische Kunst
gelten, nämlich, wenn sie als solche komponiert und ausgeführt wird. Mozart zum Beispiel hat
das Kýrie eléison in seinen Orchester-Messen zum Kunstwerk gemacht. Sein Kýrie eléison ist
jedoch von der Gregorianik meilenweit entfernt. In seiner einfachen Form als gregorianische
Melodie gilt Kýrie eléison nicht als Kunstwerk, sondern als Gebet (Herr, erbarme dich !). Gesungen in den großen Basiliken oder in den schlichten Dorfkirchen bleibt Kýrie eléison immer
ein Gebet, denn es wurde nicht zum Zweck einer musikalischen Darbietung komponiert.
Am 11. Juli 1883 zum Fest des hl. Benedikt hat Dom Pothier sein erstes Werk des restaurierten
Gregorianischen Chorals, das Graduale veröffentlicht. Es trug den vollständigen Titel: Liber
Gradualis a S. Gregorio Magno olim ordinatus postea Summorum Pontificum auctoritate recognitus ac plurimum auctus – cum notis musicis ad majorum tramites et codicum fidem figuratis
ac restitutis – in usum Congregationis Benedictinae Galliarum praesidis ejusdem jussu editus.
Diese Überschrift wurde von Dom Pothier absichtlich gewählt, um öffentlich zu belegen, daß
sein Graduale nur in den Klöstern der Benediktinern verwendet wird und daß die Gültigkeit der
Editio Medicaea, der offiziellen Ausgabe der Kirche dadurch nicht in Frage gestellt sei. Das Er-
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scheinen des Graduale wurde weltweit als Sieg der gregorianischen Forschungen gefeiert. Papst
Leo XIII. schrieb am 3. März 1884 Dom Pothier einen Brief, in dem er die geleistete Arbeit der
Benediktiner von Solesmes würdigte.
Als Leiter seiner Eliteschola benötigte Dom Mocquereau eine präzise rhythmische Notation für
die Melodie. Mit dem deklamatorischen Rhythmus des Textes (nach der Singmethode von Gontier) konnte er offensichtlich nichts anfangen. Wie in der modernen vokalen Musik jede Melodie
einem zweier oder dreier Takt Folge leistet, so soll sich auch die gregorianische Melodie einem
Taktmaß unterordnen, beschloß er. Diesbezüglich erfahren wir später aus seinem Hauptwerk Le
Nombre Musical Bd. II (Seite VI) folgendes:
„S’il s’agit de RYTHMIQUE GENERALE, tous les principes solesmiens sont puisés dans la plus haute
antiquité:
a) L’idée, la définition du rythme, soit : ‚l’ordonnance du mouvement‘, nous l’empruntons à Platon. Cet
axiome est à la base de toute notre théorie.
b) Avec tous les auteurs anciens, nous réduisons à deux tous les mouvements rythmiques : l’arsis ou
élèvation, elevatio, du rythme ; la thésis ou repos. positio, depositio ; comme eux, nous ignorons
l’anacrouse.
c) Avec eux, nous plaçons à la base du rythme le temps premier indivisible : la brève.
d) Avec eux, nous admettons que les innombrables et capricieuses combinaisons métriques, poétiques
ou musicales, reposent, en dernière analyse, sur des temps composés binaires et ternaires :
e) Comme eux, nous croyons que le rythme antique est quantitatif, c’est-à-dire basé sur la seule durée
des syllabes et des sons, et que le rythme iambique est le rythme primordial et naturel : la brève à
l’arsis, la longue à la thésis :
f)
Comme eux, nous enseignons l’indifférence de l’arsis et de la thésis pour l’intensité : et nous associons celle-ci tantôt à l’élan, tantôt à la thésis.
g) A leur exemple, nous revendiquons pour les mélodies grégoriennes la liberté rythmique, qu’ils pratiquaient dans leur poésie et leur musique.
h) Ce sont les anciens encore qui nous ont appris la prédominance de la musique sur le texte : ils reconnaissaient au rythme musical une valeur supérieure au rythme verbal.
Auf Deutsch: Wenn es sich von dem GANZEN RHYTHMUS handelt, alle Grundsätze von Solesmes basieren auf dem sehr frühe Altertum:
a) Die Idee, die Bestimmung des Rhythmus, ist die „Ordnung in der Bewegung“, wir übernehmen dies von Platon. Diese Wahrheit steht als Grundlage unserer ganzen Theorie.
b) Mit allen alten Autoren, setzen wir alle rhythmischen Bewegungen bis auf 2 herab: arsis,
oder Aufheben des Rhythmus, elevatio, und thesis, oder Senkung, positio, depositio; wie sie
lassen wir den Auftakt beiseite.
c) Mit ihnen stellen wir als Grundlage des Rhythmus die ungeteilte Dauer einer Achtelnote.
d) Mit ihnen akzeptieren wir, daß die ungezählten und unbestimmten metrischen Kombinationen, seien sie poetisch oder musikalisch in letzter Instanz zusammengesetzte Zweier- und
Dreiergruppen sind:
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e) Wie sie glauben wir, daß der Rhythmus der Antike quantitativ ist, das heißt, daß er die Dauer
einer einzelnen Silbe und eines einzelnen Tones einnimmt, und daß der Jambus der ursprüngliche und natürliche Rhythmus ist: die kurze Note beim arsis und die lange Note beim
thesis:
f) Wie sie merken wir, daß arsis und thesis für die Betonung nicht relevant sind und wir verbinden dies bald im Aufheben, bald im Senken.
g) Nach ihrem Beispiel verlangen wir die rhythmische Freiheit für die gregorianischen Gesänge, da sie dies in ihrer Poesie und Musik praktiziert haben.
h) Das sind wiederum die Alten, die uns belehren, daß die Musik die Herrschaft über den Text
hat: sie haben dem musikalischen Rhythmus einen höheren Wert als dem sprachlichen
Rhythmus beigemessen.
Diese Vorbedingungen sollten eine rhythmisch präzise Aufführung der Gesänge garantieren.
Aber die Frage war nun: Gibt es in den Handschriften Hinweise auf Dauer oder auf Betonung
der Neumen ? Und wenn ja, wie kann man eine solche als Rhythmus deuten ?
Der berühmte Kenner der Gregorianik, Dr. Peter Wagner hat die Theorie Mocquereaus in seinem
Buch Einführung in die gregorianischen Melodien, Bd. II „Neumenkunde“ (Leipzig: Breitkopf,
1912) s. 411 wie folgt taxiert:
„Daraus folgert er, [Mocquereau], daß der Rhythmus des gregorianischen Gesanges in der konsequenten
Verbindung von zwei- und dreiteiligen Gruppen bestehe. Das sei sein Wesen und seine Eigenart. Da
diese Verkettung zwei- und dreiteiliger Glieder sich für ihn von selbst versteht, im Mittelalter so gut wie
heute, so sucht er sie in den Neumendenkmälern wiederzufinden; zu diesem Zwecke legt er dem sanktgallischen Längezeichen die zweite Bedeutung eines rhythmischen Iktuszeichens bei, das die erste Note
der zwei- und dreiteiligen Gruppen markiere. Diese ‚Stützpunkte‘ trägt er weiter in seine eigenen Choralbücher hinein und versieht die Quadratschrift mit zahlreichen kleinen Strichelchen, sogenannten ‚Episemen‘, nach Analogie der sanktgallischen Zusatzstriche. Zuerst waren diese mit den Quadratnoten zu
einer einzigen Figur zusammengedruckt. Da jedoch so die Integrität der offiziellen Choralschrift angetastet war, entschloß er sich dazu, die ‚Stützpunkte‘ so über und unter die Quadratnoten zu setzen, daß sie
als fremde Zutat sogleich ins Auge fallen. Der Rechtfertigung seiner theoretischen Aufstellungen und
praktischen Neuerungen ist namentlich Dom Mocquereaus Nombre Musical gewidmet, ein Werk, das die
Systematisierungs- und Konstruktionsgabe des Verfassers in helles Licht rückt.“
Die Gelegenheit zu einer Reise in die Schweiz kam für Mocquereau 1888 unerwartet, als Dom
Pothier dorthin reisen wollte, um Informationen für sein Werk Variae preces zu sammeln. So
reisten sie beide nach St. Gallen, wo sie dort dann getrennt gearbeitet haben: Dom Pothier hat
Prosen und Sequenzen gesammelt; Dom Mocquereau hat sich eifrig die litterae significativae
aus den Handschriften Kodex 339 und Kodex 359 notiert. Über das Vorhaben Dom Mocquereaus berichtet Dom Pierre Combe in seinem Werk Histoire de la Restauration du Chant Grégorien (Solesmes: Abbaye Saint-Pierre, 1969), Seite 138 folgendes:
„La question principale qui s’agite en ce moment entre les musicistes n’est pas la question de la traduction du neume, tout le monde reconnaît aujourd’hui la possibilité de cette transposition au moyen des
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comparaisons avec les manuscrits guidoniens et alphabétiques. Bien plus, elle est faite dans plusieurs
revues et spécialement dans le Liber Gradualis. Le problème qui occupe aujourd’hui les esprits, c’est le
rythme... Or les manuscrits les plus anciens, c’est-à-dire les manuscrits in campo aperto conservent avec
une fidélité plus parfaite que les plus modernes le groupement des notes. Les manuscrits de Saint-Gall
ont en outre les lettres et les signes attribués à Romanus auxquels nous attribuons une très grande importance pour la détermination du rythme et des nuances expressives... Nous avons soumis de nouveau
le 359 de Saint-Gall (Lambillotte) et le 339 à une analyse minutieuse qui a amené des découvertes
vraiement sérieuses et absolument certaines sur l’emploi de ces signes. Elles seront exposées dans une
brochure qui paraîtra sans doute dans les premiers mois de 1889 et sera, nous l’espérons, la justification
la plus complète du choix que nous faisons des manuscrits sangalliens-romaniens.“
Auf Deutsch: „Die Hauptfrage, welche die Musiker zur Zeit beschäftigt, ist nicht die Fixierung
der Tonhöhen der Neumen; die ganze Welt kennt heute die Möglichkeit dieser Fixierung durch
das Mittel des Vergleichs mit der Handschrift des Guido [von Arezzo] und der Handschrift mit
Buchstabennotation. Dieser Vergleich ist bereits in mehreren Zeitschriften und im Graduale
[von Dom Pothier veröffentlicht] vorhanden. Das Problem, welches die Geister heute beschäftigt
ist der Rhythmus...Und die älteren Handschriften, nämlich die Handschriften in campo aperto
haben die Gruppierungen der Neumen besser behütet als die später entstandenen Handschriften.
Die Handschriften von St. Gallen haben zudem die Buchstaben und Zeichen, welche dem Romanus zugeschrieben wurden, und die wir für sehr wichtig halten für die Festsetzung des Rhythmus
und der Agogik... Wir haben Kodex 359 von St. Gallen (Lambillotte) und Kodex 339 gründlich
untersucht und diese haben todsichere Enthüllungen über die Verwendung dieser Zeichen hervorgebracht. Diese Erkenntnisse werden in den ersten Monaten des Jahres 1889 in einer Broschüre dargelegt und sie werden bald, wir hoffen, die vollständige Rechtfertigung unserer Vorgehensweise sein, was die sanktgallisch-romanischen Handschriften anbetrifft.“
Die Benediktiner von Solesmes gründeten 1888 die Paléographie Musicale eine umfangreiche
Sammlung von Fotos der alten Handschriften. Inwieweit diese Initiative auf Dom Pothier oder
Dom Mocquereau zurückzuführen ist, läßt sich heute schwer einschätzen: Amédée Gastoué in
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seinem Buch L’Art grégorien (Paris: Alcan, 1920 ), Seite 111 ff. behauptet, daß die vollständige
Führung und Kontrolle anfangs beim Dom Pothier war und erst ab dem 3. Band von Mocquereau
übernommen wurde. Dagegen behauptet Pierre Combe in seinem Buch Histoire de la Resaturation du Chant Grégorien (Solesmes: Abbaye Saint-Pierre, 1969) Seite 119 ff., daß gleich ab dem
1. Band, dem Mocquereau eine umfangreiche Einführung voranstellte, die ganze Arbeit in dessen Händen lag. Die Sammlung diente und dient heute noch ausschließlich als archäologisches
Material für gregorianische Studien. Das war also Dom Mocquereaus erstes Werk als Wissenschaftler.
Im Jahre 1889 hat Dom Pothier mit Hilfe von Dom Andoyer ein Processionale Monasticum herausgegeben. Das Buch (382 Seiten) wurde überall freudig angenommen. Seine weiteren Veröffentlichungen waren Liber Antiphonarius (1891); Principes pour la bonne exécution du chant
grégorien (ebenfalls 1891) und eine zweite Auflage von Variae Preces (1892).
Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Dom Pothier und Dom Mocquereau wurden immer
größer und führten schließlich dazu, daß Dom Pothier 1893 das Kloster Solesmes verließ und die
Abtei Ligugé als Prior übernahm. Das bereits zitierte Buch von Dom Combe Histoire de la Restauration du Chant Grégorien (Solesmes 1969) erwähnt nicht die Ursache des Streites zwischen
Dom Pothier und Dom Mocquereau. Es ist aber anzunehmen, daß die falsche Interpretation der
sogenannten litterae significativae Hauptgrund des Streites war. Darüber berichtet ausführlich
ein Zeitzeuge, Amédée Gastoué (1873-1943) in seinem Buch L’art Grégorien (Paris, Felix
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Alcan, 1920 , Seite 147) folgendes:
„Diverses classes de manuscrits, ou, pour mieux dire, les diverses écoles entre lesquelles se partageait
l’Occident, ont modifié en divers sens la forme originale des neumes, pour en faciliter la lecture ou
l’interpretation. On y a adjoint des signes secondaires, destinés à faciliter l’application des règles du
phrasé (épisèmes et lettres significatives). Des modernes ont même cru y trouver des signes
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d’interpretation rythmique, marquant la place de certains ‚ictus‘; en réalité, ni le nom ni la chose ne se
trouvent dans les documents , et on convient actuellement que ce n’est qu’un système personell et hypothétique, et non autre chose. Les signes et lettres prétendus ‚rythmiques‘, dans les manuscrits de
Saint-Gall, par exemple, n’indiquent que des nuances, précisent certains cas douteux, ou encore se rattachent au genre des intervalles formés par les notes.“
Auf Deutsch: „Verschiedene Sorten von Handschriften, oder, besser gesagt, die verschiedenen
Schulen, die das Abendland teilten, haben die ursprüngliche Form der Neumen mit verschiedenen Absichten geändert, um das Lesen oder die Interpretation zu erleichtern. Es wurden zusätzliche Zeichen hinzugefügt, um die Anwendung der Phrasierungsregeln zu erleichtern (Episeme
und litterae significativae). Die Modernen [Dom Mocquereau] haben dabei geglaubt, Zeichen
einer rhythmischen Interpretation gefunden zu haben, die den Platz des bestimmten ‚Ictus‘ markieren; in Wirklichkeit weder der Name, noch die Sache ist in den Dokumenten zu finden und
man geht zur Zeit davon aus, daß dies nur ein vermeintliches und persönliches System darstellt
und nichts anderes. Die Zeichen und Buchstaben aus den Handschriften von St. Gallen zum Beispiel, die angeblich ‚rhythmisch“ seien, zeigen nichts anderes als Abstufungen, bestimmen manche vieldeutigen Stellen, oder wirken bindend auf die Abstände, welche zwischen den Noten
entstehen.“
Ein anderer, sehr wichtiger Zeitzeuge, Peter Wagner (1865-1931) urteilt ähnlich in seinem Buch
Der Kampf gegen die Editio Vaticana – eine Abwehr, (Graz und Wien: Styria, 1907, Seite 62):
„Es wird einer förmlicher Umgestaltung der Choralschrift von Grund aus bedürfen, sollen z. B. die St.
Gallischen Nüancen im Rhythmus darin zur Darstellung kommen. An Versuchen dazu hat es ja nicht
gefehlt. Vieles dabei ist aber willkürliches Produkt und manches sogar direkte Fälschung der Tradition
vermittels neuer rhythmischer Theorien. Jedenfalls ist die katholische Kirche ein schlechtes Experimentierfeld für unreife wissenschaftliche Liebhabereien.“
Nach dem Tod des Abtes Dom Couturier 1890 wurde zum Abt Dom Paul Delatte gewählt. Dieser verstand ebenfalls wenig vom Gregorianischen Choral.
Als Oberhaupt der „neuen“ Solesmer Schule (ohne Dom Pothier) veröffentlichte Dom Mocquereau 1895 eine Studie mit dem Titel: La psalmodie romaine et l’accent tonique latin.
Seine rhythmische Theorie ist im bereits zitierten Buch von Dom Combe Histoire de la Restauration du Chant Grégorien (Solesmes 1969, Seite 235) wie folgt dargelegt:
„Dans le domaine pratique, les premières indications rythmiques apparurent en 1897, dans un fascicule
publié par dom Mocquereau aux éditions de la Schola Cantorum et contenant un choix de pièces grégoriennes et du moyen âge extraites des livres de dom Pothier et transcrites en notation moderne par dom
Mocquereau. Le rythme y est transcrit à l’aide d’un système compliqué de points surmontant les mélodies.“
Auf Deutsch: „Auf dem praktischen Gebiet waren die ersten rhythmischen Hinweise 1897 in
einem Aufsatz von Dom Mocquereau zu den Editionen der Schola Cantorum erschienen. Darin
wurde eine Auswahl von gregorianischen Gesängen und denen des Mittelalters aus den Büchern
von Dom Pothier angeboten, wobei die Gesänge von Dom Mocquereau in moderner Notation
übertragen wurden. Der Rhythmus wurde durch ein kompliziertes System von Punkten über die
Melodien angezeigt.“
Nach der Inthronisation von Dom Pothier 1898 als Abt des Klosters St. Wandrille wurde die
Trennung zwischen ihm und Dom Mocquereau definitiv vollzogen. Aber die Ereignisse um die
Restauration des Gregorianischen Chorals durch den Papst Pius X. (1903-1914) haben die beiden
wieder in Verbindung gebracht (siehe dazu das Kapitel „Die Kommission).
Mittlerweile wurde Dom Mocquereau als Chef der Schule von Solesmes bzw. als Herausgeber
der Paléographie Musicale bejubelt. Sein Ruhm als Dirigent und Gregorianiker vom Rang hat
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sich in der ganzen Musikwelt verbreitet. Er gründete und leitete Elitescholen auch in Italien
(Rom, Mailand, Venedig). Bald gab er seine Méthode du Chant Grégorien heraus (1899), um
seinem rhythmischen System auf die Sprünge zu helfen. 1892 anläßlich der Festlichkeiten in
Lourdes (Erinnerung an die 1. Erscheinung der Muttergottes im Jahre 1858) hat Mocquereau das
von Dom Pothier dazu eigens komponierte Meßformular uraufgeführt und dirigiert. Die Gesänge
Dom Pothiers hat er zuvor natürlich mit seinen rhythmischen Zeichen versehen.
Zusammenfassung:
Die Singmethode der Schule von Solesmes (Dom Pothiers) wurde nur in den ersten Jahren, also
bis zum Tod des Gründers, Dom Guéranger (1875), praktiziert. Dom Mocquereau hat gleich
nach seiner Ernennung zum Scholaleiter die Singpraxis umgestaltet. Mit seiner Eliteschola hat er
die Gesänge nicht mehr als Text-, sondern als Musikvortrag aufgeführt. Seine Theorien hat er als
Dirigent überall verbreitet. Die „neue“ Schule von Solesmes ist somit seine Schule. Für die
rhythmische Gestaltung der Melodien hat er die litterae significativae der Handschriften von St.
Gallen als „rhythmische Zeichen“ umgedeutet. Diese „Zeichen“ sind seither allgegenwärtig in
den Ausgaben des Klosters Solesmes bis einschließlich Graduale Triplex (1979).
Die Kommission
Der heilige Papst Pius X. (1903-1914) hat im Jahre 1904 per Dekret pontifikal eine Kommission
eingesetzt (Bild), die den restaurierten Gregorianischen Choral verpflichtend für die ganze Kirche einführen sollte. Die Kommission bestand aus 10 Mitglieder und 10 Konsultanten. Als Präsident dieser Kommission hat er den Benediktiner Dom Joseph Pothier (1835-1923) ernannt.
Mitglieder:
Dom Joseph Pothier (als Präsident), Carlo Respighi, Lorenzo Perosi, Antonio Rella, Dom André
Mocquereau, Dom Laurent Janssens, Angelo De Santi S.J., Baron Rudolf Kanzler, Dr. Peter
Wagner, M.G.H. Worth.
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Konsultanten:
Raffaello Baralli, François Perriot, Alexander Grospellier, René Moissenet, M. Norman Holly,
Dom Ambrogio Amelli, Dom Hugues Gaisser, Dom Michael Horn, Dom Raphael Molitor,
Amédée Gastoué.
Um die Ereignisse im Umfeld dieser Maßnahme des Papstes Pius X. besser zu verstehen, muß
zunächst folgendes festgehalten werden:
1. Die 30jährige Lizenz des Verlegers Pustet aus Regensburg für die Editio Medicaea war 1901
abgelaufen. Papst Leo XIII. (1878-1903) hatte den Antrag auf Verlängerung der Lizenz auf
weitere 30 Jahre abgelehnt. Zwischen 1901 und 1908 gab es daher keine offiziellen Ausgaben des Gregorianischen Chorals.
2. Am 9. Oktober 1903 hat Dom Mocquereau in Solesmes sein Liber Usualis (eigentlich Paroissien Romain betitelt) herausgegeben. Aus den Büchern Dom Pothiers hat er die Gesänge
abgeschrieben, sie mit seinen rhythmischen Zeichen versehen und als sein eigenes Werk veröffentlicht. Quelle: Dom Pierre Combes Histoire de la Restauration du Chant Grégorien,
(Solesmes: Abbaye Saint-Pierre, 1969), Seiten 258-261.
3. Am 18. Oktober 1903 empfing Papst Pius X. den Verleger Pustet, dem er die Erneuerung des
Privilegs für die Editio Medicaea auf weitere 30 Jahre ebenfalls ablehnte.
4. Am 22. November 1903 ist das Motu proprio des Papstes erschienen, das die gesetzliche
Grundlage der Reform des Gregorianischen Chorals bildet. Es wurde per Dekret im Januar
1904 für die ganze katholische Kirche verpflichtend gemacht. Ebenfalls 1904 wurde die Vatikanische Kommission eingesetzt.
5. Im Rennen um die Nominierung zum Alleinverleger des Hl. Stuhles waren nur noch 2 Verleger geblieben: Maison Poussielgue (Paris) und Desclée & Socii (Tournai-Belgien). Der Verlag Pustet aus Regensburg war bereits ausgeschieden (wegen der Editio Medicaea)
6. Um Streitereien zwischen den Verlegern zu vermeiden, hat der Papst beschlossen die offiziellen Ausgaben des Gregorianischen Chorals im Vatikan selbst herauszugeben (Editio Vaticana, Editio Typica)
7. Der Papst hat den Jesuiten Angelo De Santi als Mitglied der Kommission eingesetzt, um die
Interessen des Vatikans zu wahren. Seine Position und Wirkung sollte die Handhabung der
künftigen liturgischen Bücher für die universale Kirche gewährleisten.
Anmerkung: Der Jesuit Angelo De Santi (1847-1922) hatte Literatur und Musikwissenschaft studiert. Im
Jahre 1887 wurde er zum Priester geweiht. Unter dem Pontifikat Pius X. war er Redakteur der Zeitschrift
La Civiltà Cattolica und in dieser Eigenschaft sein enger Berater in Sachen Kirchenmusik. Als Mitglied der
Päpstlichen Kommission schlug er sich auf die Seite Mocquereaus gegen Dom Pothier. Darüber wird
später ausführlicher berichtet.
8. Ein gewisser H. Bewerunge (Musiklehrer am Kollegium in Maynooth bei Dublin) hat in den
damaligen Zeitungen Europas Essays veröffentlicht, in denen er Kritik und Tadel an die
Adresse der Vatikanischen Kommission übte.
Nun mußten die beiden verfeindeten Mönche, Dom Pothier und Dom Mocquereau an einem
Tisch sitzen, um eine einheitliche Ausgabe des Gregorianischen Chorals herauszugeben. Der
Streit um die von Mocquereau willkürlich eingeführten „rhythmischen Zeichen“ wurde vertagt,
da bereits bei der 1. Sitzung der Kommission folgender Beschluß (auf Anordnung des Papstes)
gefaßt wurde:
1. L’édition vaticane ne comportera pas les signes rythmiques des dernières éditions bénédictines, mais
s’en tiendra à la méthode déjà suivie dans les premières éditions de dom Pothier, en maintenant
seulement les signes relatifs aux groupement des notes et des membres de phrase.
2. On imprimera d’abord les feuilles du Kyriale, pour que les éditeurs puissent le reproduire aussitôt
comme extrait.
3. L’impression du Liber Gradualis et celle du Liber Antiphonarius seront simultanées, pour permettre
aux éditeurs de faire aussitôt les extraits qui leur conviendraient.
11
Auf Deutsch:
1. Die Editio Vaticana (Editio Typica) wird nicht die rhythmischen Zeichen der letzten benediktinischen Ausgaben aufweisen, sondern sich an die schon in den ersten Ausgaben von
Dom Pothier befolgte Methode halten; lediglich die Notengruppen-Zeichen und jene für die
Satzglieder werden beibehalten.
2. Man editiert zuerst die Folien des Kyriale, damit die Verleger sie als Auszug nachdrucken
können.
3. Liber Gradualis und Liber Antiphonarius sollen gleichzeitig herausgegeben werden, damit
die Verleger Auszüge daraus machen können, welche ihnen passen.
Anmerkung: Der Papst hatte per Dekret pontifikal (am 25. April 1904) beschlossen, daß die Editio Vaticana (Editio Typica) Eigentum des Heiligen Stuhles ist; den Verlegern aller Nationen wurde aber das
Recht eingeräumt Teile daraus auszugsweise, oder auch die liturgischen Bücher vollständig herauszugeben, vorausgesetzt, daß sie die Texte und die Melodien nicht ändern.
In den ersten 6 Sitzungen (29. April bis 27. Juni 1904) hat sich die Kommission meistens mit
organisatorischen Fragen beschäftigt. De Santi hat sich als Berichterstatter des Papstes zu erkennen gegeben. Zugleich hat er angekündigt, daß er die Beschlüsse der Kommission begutachten
wird, bevor er sie dem Papst vorlegt. Ferner hat er bekannt gegeben, daß der Papst die Redaktion
der Gesänge für die Editio Vaticana (Editio Typica) den Mönchen von Solesmes anvertraut hat.
Die Kommission hat Carlo Respighi einstimmig zum Sekretären gewählt.
Für den 06.09.1904 lud Dom Mocquereau (innerhalb der Kommission war er der Redakteur) alle
Mitglieder und Konsultanten der Vatikanischen Kommission nach Appuldurcombe (England) zu
weiteren Verhandlungen ein (dort befanden sich die Mönche von Solesmes nach ihrer Vertreibung aus Frankreich).
Es gibt leider spärliche Informationen über den Verlauf der Sitzungen und vor allem über die zur
Diskussion stehenden Themen. Die Kommission hatte beschlossen Stillschweigen über die gefaßten Beschlüsse zu wahren. Erst während des 2. Vatikanischen Konzils (1962-1965) wurden
etliche Dokumente aus dem Vatikanischen Geheimarchiv zur Forschung frei gegeben.
Anmerkung: Der erste Papst, der das Vatikanische Geheimarchiv für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, war Papst Leo XIII. (1878-1903). Danach wurden in regelmäßigen Abständen weitere Bestände zur wissenschaftlichen Forschung frei gegeben.
Der Begriff „Vatikanisches Geheimarchiv“ soll jedoch nicht mißverstanden werden. Die italienische Bezeichnung „Archivio Segreto Vaticano“ hat mit Geheimhaltung wenig zu tun, denn das
Wort „segreto“ bedeutet in diesem Falle „privat“. Das Archivio Segreto Vaticano ist also kein
öffentliches Archiv im gewöhnlichen Sinne, sondern einfach das Privatarchiv des Papstes.
Um ein wenig Licht in die Wirrnisse der Zeitspanne 1904-1912 hinein zu bringen, wollen wir
also einige Dokumente aus dem Archiv des Vatikans studieren, zumal die Veröffentlichung Dom
Pierre Combes unter dem Titel Histoire de la Restauration du Chant Grégorien (Solesmes,
1969) leider nicht unparteiisch ist. Dort wird Dom Mocquereau über Gebühr gelobt und als großer „Wissenschaftler“ dargestellt. Kein Wunder, daß Combe die Dinge tendenziös darstellt, da
sein Buch, wie er selbst zugibt, eine „Publication rendue possible grâce a un Don de la ‚Dom
Mocquereau Foundation‘“ ist. Das Sprichwort: „Wessen Brot ich esse, dessen Lob ich singe“
fand hier musterhafte Anwendung. Ich zitiere daher im folgenden aus der Zeitschrift La Civiltà
Cattolica, Jahrgang 1963, Bd. I. die Ausführungen von Padre Francesco M. Bauducco S.J. „Il
Padre Angelo de Santi S.J. e l’edizione Vaticana dei libri gregoriani dal 1904 al 1912“ (Seiten
240-253), damit sich der Leser nach dem Motto audiatur et altera pars eine möglichst neutrale
Meinung bilden kann (eigene Übersetzung aus dem Italienischen):
12
„Die Kommission hielt einige Sitzungen in Rom ab; aber vom 6. Bis zum 9. September 1904 finden wir sie
nach England übersiedelt, und zwar in Appuldurcombe-House auf der Insel Wight, dem Verbannungsort
der Abtei von Solesmes. Der Vorschlag zu einer solchen Zusammenkunft stammte wohl von den Solesmesner oder von einem ihrer Sympathisanten, z. B. von Padre De Santi selbst, der dann eigenhändig
den Rechenschaftsbericht [für den Papst] abfaßte – mit häufigen Wortmeldungen des Jesuiten. Hier einige Entscheidungen: die Königsmesse von Dumont soll nicht in die vatikanische Ausgabe Eingang finden;
die Messe De Angelis hingegen schon; die Kommission bestätigt das Vertrauensvotum, das sie schon in
Rom den Benediktinern von Solesmes als den Redakteuren der Ausgabe ausgesprochen hat; Dom Laurent Janssens schlägt vor, daß in jenen Fällen, in denen die paläographische Forschung keine sichere
Lösungen liefere, die ästhetischen Gründe die schönste Fassung nahelegen könnten, auch wenn das
Studium der Handschriften eher einer anderen den Vorzug geben würde. Dieser Vorschlag wurde von
der Kommission angenommen; aber in Wirklichkeit war er der Beginn einer Richtung, die sich in der Folge als verderblich herausstellen sollte. Die Kommission war nämlich die Synthese zweier Richtungen,
zweier Parteien, die man ‚Pothier‘ und ‚Solesmes‘ nennen könnte, die schon seit dem Kongreß, der im
ersten Aprildrittel 1904 in Rom anläßlich der gregorianischen Feiern [wohl zum Todesjahr Gregor des
Großen vor 1300 Jahren] stattgefunden hatte, ihre Meinungsverschiedenheiten zu erkennen gegeben
hatten, die, wenn auch nicht allzu offenkundig, so doch leider tatsächlich gegeben waren.
Um den Ablauf der Ereignisse zu verstehen, muß man sich die Haltung Pius‘ X. und des Padre De Santi
gegenüber Dom Pothier vergegenwärtigen. Pius X. hatte den Benediktiner auf dem Kongreß von Arezzo,
an dem er selbst als einfacher Priester von Treviso teilgenommen hatte, kennengelernt und seither bewundert; zum Papst gewählt, setzte er sein volles Vertrauen in Dom Pothier für die Wiederherstellung des
Gregorianischen Chorals, so daß er den Widerstand gegen ihn für eine ungerechte Verfolgung hielt und
ihn bis Ende 1912 mit seiner hohen Gunst und seinem Schutz deckte. Nach Mons. Pescini, einem der
Sekretäre Pius' X. hatte Dom Pothier ‚das Herz des Papstes gewonnen, indem er sich als Opfer hinstellte.‘ Auch Padre De Santi war ein Bewunderer Pothiers gewesen. Als er im April 1893 nach Rom zur Segnung des Grundsteins des neuen Klosters auf dem Aventin gekommen war, hatte er am Tage des hl.
Paul vom Kreuz eine Begegnung mit Kardinal Aloisi. Dieser, so erzählt De Santi, erteilte Dom Pothier in
Anwesenheit etlicher anderer Personen eine feierliche Abfuhr, indem er sagte, daß er ihn nicht liebe, daß
er sein Verhalten mißbillige, daß er nichts wissen wolle von Reformatoren und daß er als Präfekt der
Ritenkongregation an der Überlieferung festhalten müsse; er schalt ihn auch, weil er den Padre De Santi
bekehrt habe, den er im übrigen als einen Jesuiten ohne Geist bezeichnete, unbotmäßig gegen seine
Vorgesetzten; und tausend andere Dinge. Dom Pothier ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und entgegnete, daß er sich gerade damit beschäftigt habe, wie man die Traditionen der Kirche wieder aufblühen
lassen könne. Aber als De Santi die großartigen Arbeiten Mocquereaus sah und auf der anderen Seite
einen sowohl gegenüber Solesmes als auch gegenüber den Mitgliedern der Kommission unabhängigen,
selbstherrlichen und diktatorischen Pothier erlebte, distanzierte er sich immer mehr von ihm und näherte
sich immer mehr Solesmes an. Auch innerhalb der Kommission zählte die Solesmes günstige Mehrheitspartei 13 Mitglieder, während die von Pothier geführte Minderheitspartei nur 5 Mitglieder zählte und
weitere 3 Mitglieder unsicher waren.*
*An dieser Stelle ist in der Fußnote des Textes die von De Santi verwendete Übersichtstabelle
der päpstlichen Kommission eingeführt, wo er bei den einzelnen Namen mit Bleistift folgende
Bezeichnungen vermerkt hat: cont (gegen Solesmes); fav (für Solesmes) und inc (unsicher oder
unbeständig):
Mitglieder der Kommission: G. Pothier, Abt von St. Wandrille, Vorsitzender, cont; C. Respighi, päpstlicher
Zeremoniemeister, fav; L. Perossi, ständiger Direktor der Sixtina, inc; A. Rella, Rom, fav; A. Mocquereau
OSB, Prior von Solesmes, fav; L. Janssens OSB, Rektor von S. Anselmo de Urbe, cont; A. De Santi, fav;
Prof. Baron R. Kanzler, Rom, fav; Prof. Dr. P. Wagner, Freiburg, (Schweiz), cont; Prof. H.G. Worth, London, fav; Mons. G.Mercati (mit Bleistift hinzugefügt), fav.
Berater der Kommission: R. Baralli, Lucca, fav; F. Perriot, Langres, fav; A. Grospellier, Grenoble, fav; R.
Moissenet, Dijon, cont; N. Holly, New York, fav; A. Amelli OSB, Prior von Montecassino, inc; U. Gaisser
OSB, vom Griechischen Kolleg, Rom, fav; M. Horn OSB, Kloster Seckau, cont; R. Molitor OSB, Kloster
Beuron, fav; Prof. A. Gastoué, Paris, inc.
Es folgt nun die Fortsetzung des Zitats von Padre Francesco M. Bauducco S.J. „Il Padre Angelo
de Santi S.J. e l’edizione Vaticana dei libri gregoriani dal 1904 al 1912“:
„Die beiden von Padre De Santi vorgeschlagenen Geschäftsordnungen zur guten Regelung der Kommissionstätigkeit wurden wegen des Widerstandes von Dom Pothier nicht angenommen. Nach dem, was aus
dem Vatikanischen Geheimarchiv hervorgeht, schrieb dieser [Pothier], sehr wahrscheinlich infolge eines
Briefes von Dom Mocquereau am 29. März 1905 an den Kardinalstaatssekretär, um sein Verhalten zu
rechtfertigen. Gegen die Behauptung Mocquereaus, die Arbeitsweise der Schriftleitung (Solesmes) sei
13
wissenschaftlich, jene der Kommission jedoch willkürlich, berief sich Pothier auf die nicht nur archäologische, sondern auch lebendige Überlieferung und fügte hinzu, daß auch die Kunst und die Ästhetik ein
Wörtchen mitzureden hätten, um zu einer nicht archäologischen, sondern künstlerischen, intelligenten
(praktischen) Wiederherstellung des traditionellen alten Gesangs der Kirche zu gelangen. Im selben Ton,
wenigstens was die Ablehnung einer archäologischen Wiederherstellung betrifft, waren die Stellungnahmen von A. Gastoué, M. Horn, P. Wagner, die der päpstlichen Kommission angehörten, abgefaßt. Am 3.
April 1905 antwortete Kard. Merry Del Val mit einem Brief, in dem er auf die innerhalb der Kommission
entstandenen Meinungsverschiedenheiten hinwies und bemerkte, daß der Hl. Vater sehr wohl die Rückkehr zum alten Gregorianischen Choral in die Wege geleitet habe, aber ohne jene Varianten ausschließen zu wollen, die im Laufe der Jahrhunderte angenommen werden konnten; man kann nicht beweisen,
daß der älteste Gesang notwendigerweise der beste für die Praxis sei. Nach De Santi war dieser Brief
bestrebt, die im Motu proprio vom 24. April 1904 klar ausgedrückten wissenschaftlichen Richtlinien abzuändern. Nicht viel später (am 24. Juni) sandte der Kardinalstaatssekretär einen anderen Brief an Dom
Pothier, fast ganz nach der von Dom Lucien David, dem Sekretär Pothiers, angefertigten Vorlage. Darin
wurde gesagt, daß die Editio Vaticana sich auf die Ausgabe von Solesmes von 1895 gründen und daß
der Vorsitzende der Kommission sie durchsehen und verbessern solle, mit Unterstützung der Mitglieder
der Kommission und unter der Benützung der wertvollen, vom Abt von Solesmes erstellten paläographischen Studien. Nach De Santi ließ dieses Dokument das Motu proprio vom 24. April 1904 dem Anschein
nach unversehrt; in Wirklichkeit stellte es dieses auf den Kopf. Abt Dom P. Delatte sah in diesem Brief
den Widerruf des Redaktionsauftrags, der Solesmes erteilt worden war; deshalb sandte er am 28. Juni
1905 ein Schreiben nach Rom, in dem er seinen Rücktritt als Abt von Solesmes und als Generaloberer
der Benediktinerkongregation Frankreichs erklärte. Kardinal Merry Del Val antwortete Dom Delatte am 3.
Juli, daß sich nichts geändert habe, weil die Leitung der Kommission weiterhin bei Dom Pothier lag; die
Ausgabe aber müsse, wie schon gesagt, auf die in Solesmes 1895 veröffentlichte benediktinische Ausgabe gründen und die wertvollen, unter der weisen Leitung des Abtes von Solesmes erstellten paläographischen Studien berücksichtigen. Aber Dom Delatte ergab sich nicht, und in einem langen, in Appuldurcombe mit Hand geschriebenen Brief an Kard. Merry Del Val vom 6. Juli blieb er bei seinem Standpunkt
und bei seinem Entschluß, um den Rücktritt anzusuchen. Dieser Brief, der im Vatikanischen Geheimarchiv aufbewahrt wird, ist am oberen Rand mit einer Anmerkung des Kardinals versehen: ‚Man antworte
nicht !‘*
*An dieser Stelle taucht in der Fußnote des Textes folgende Bemerkung auf:
„Um den Standpunkt des Abtes Dom Delatte besser zu verstehen, kann das nützlich sein, was De Santi
(vgl. Carte De Santi, VIII, Tagebuch 1905, 4. Dezember) berichtet, nachdem er einen Besuch Delattes,
der nach Rom gekommen war, erwidert hatte: ‚Bemerkenswert ist ein Satz aus dem Munde des Abtes. Er
hat gesagt, eine erste capitis deminutio für Solesmes sei es gewesen, daß man ihnen eine Kommission
aufgezwungen habe. Sie hätten genügend Ansehen in der Welt, um es alleine zu machen und um es gut
zu machen !‘ Man versteht, daß die deminutio noch viel stärker empfunden wurde, weil der Vorsitz der
Kommission einer so mißliebigen Person wie Dom Pothier anvertraut worden war ! Das Mißbehagen
mußte noch größer erscheinen, als man mit dem Dokument vom 24. Juni 1905 die Betonung auf den
Vorsitzenden der Kommission legte als den Revisor und Korrektor, wenn auch unterstützt von der Kommission und von den Studien von Solesmes: Die Unabhängigkeit des Pothier war bekannt.“
Nach diesem langen Exkurs nun zurück zu den Sitzungen der Kommission, welche im ersten
Quartal 1905 abgehalten wurden. Aus der 12. Sitzung (am 12. März 1905) erfahren wir, daß die
Kommission wegen des Vorschlages der Redaktion (Mocquereau) im 3. und 8. Kirchenton si
anstelle des do als Rezitationston zu verwenden zerstritten war. (Quelle: Pierre Combe, Histoire
de la Restauration du Chant Grégorien, (Solesmes: Abbaye Saint-Pierre, 1969), Seite 356:
„On revient sur la discussion au sujet du si et du do; Wagner et Dom Gaisser apportent plusieurs raisons
valable pour la préférence à donner au do.“
Auf Deutsch: Man ist auf die Diskussion betreffs si und do zurückgekommen; Wagner und Dom
Gaisser bringen mehrere gültige Argumente für die Bevorzugung des do.
Welche Gesänge in Betracht kamen, weiß man nicht. Peter Wagner schreibt in seiner Apologetischen Schrift Der Kampf gegen die Editio Vaticana – eine Abwehr, (Graz und Wien: Styria,
1907), Seite 38, daß Bewerunge, den er als „Mittels- oder vorgeschobene Person“ der Benediktiner von Solesmes entlarvt hat, unter anderem die „Bevorzugung des do anstelle des si im Kyriale
(Vidi aquam) bei den Worten et omnes ad quos pervénit aqua...bemängelt hatte:
14
Ein anderer Streitpunkt war die Behandlung des Wortakzentes in den Kadenzen der Psalmen der
Intróiten im 6. Modus. (Zitat Wagner: Seiten 50 und 51 aus seiner Schrift):
15
Anmerkung: Es ist merkwürdig, daß nach 100 Jahren seit Erscheinen der Vaticana (Editio Typica) und
der Stellungnahme Peter Wagners zu diesem Thema eine Veröffentlichung in Deutschland (als „Restitution“ der Vaticana, Editio Typica angepriesen) die Schlußformel immer noch schädlich für den Text angibt
(Introitus Cantáte Dómino aus „In Hymnis et Canticis“, Carus-Verlag, Stuttgart, 2007, Seite 31):
            
Ps. Sal-vá-vit si- bi déx- te- ra e- ius :
Wobei selbst das Graduale Triplex (das sich auch nach den Sanktgallischen Neumen orientiert) die für
den Text korrekte Version angibt (Intróitus Cantate Dómino, Seite 225):
16
            
Ps. Sal-vá-vit si- bi déx- te- ra e- ius :
Anmerkung: Die Noten habe ich nicht fotokopiert, sondern selbst mit meinem Font geschrieben. Damit
möchte ich dem Autor und dem Verlag von „In Hymnis et Canticis“ keine Gelegenheit geben gegen mich
gerichtlich wegen Kopierschutz vorzugehen.
Kurz gesagt: In seinem Buch Der Kampf gegen die Editio Vaticana – eine Abwehr hat Peter
Wagner bereits 1907 (ein Jahr vor dem Erscheinen des Graduale der Editio Vaticana, Editio
Typica) alle Einwände und Beanstandungen gegen die normative Ausgabe des Gregorianischen
Chorals ausgeräumt.
Da der Streit innerhalb der Kommission nicht mehr zu schlichten war, hat der Papst beschlossen
Dom Pothier allein für die Redaktion und die Herausgabe der liturgischen Bücher zu beauftragen. Durch den Brief des Staatssekretärs Kardinal Merry Del Val am 3. April 1905 wurde Dom
Pothier mit der Redaktion der Editio Vaticana (Editio Typica) beauftragt und diese gleichzeitig
dem Dom Mocquereau entzogen. Die letzte Sitzung der Kommission hat am 7. Mai 1905 stattgefunden. Im August 1905 hat Dom Pothier das Kyriale der Editio Vaticana (Editio Typica) in
Rom herausgegeben. Im Oktober desselben Jahres hat Dom Mocquereau in Solesmes sein Kyriale mit rhythmischen Zeichen herausgegeben. Im März 1908 hat Dom Pothier das Graduale
der Editio Vaticana (Editio Typica) in Rom herausgegeben. Im selben Jahr 1908 hat Dom
Mocquereau sein Graduale mit rhythmischen Zeichen in Solesmes herausgegeben. Die ganze
katholische Welt war nun gespalten: „Hie Pius X., hie Solesmes !“ (Peter Wagner).
Fortan haben die Mitglieder (und die Konsultanten) den Streit auf die rhythmische Ebene des
Gregorianischen Chorals versetzt. Um dem Leser eine quasi unparteiische Lektüre anzubieten
(das Buch Pierre Combes Histoire de la Restauration du Chant Grégorien (Solesmes, 1969) ist
wie bereits erwähnt nicht unparteiisch), zitiere ich aus Padre Francesco Bauducco S.J., „Il Padre
Angelo De Santi, s.j., e la questione dei „segni ritmici“ dal 1904 al 1912“, erschienen in Bolletino Ceciliano, 1964, Seiten 75-92 folgendes: (eigene Übersetzung aus dem Italienischen):
„Heute sprechen – oder hören wenigstens sprechen – glücklicherweise nicht nur Priester, sondern auch
Laien wegen der immer stärkeren Teilnahme an der hl. Liturgie von ‚rhythmischen Ausgaben‘ hinsichtlich
des Gregorianischen Chorals. Wir möchten nach einer kurzen Einführung für jene, die mit der Materie
nicht so vertraut sind, ein Stück Geschichte über die mit den ‚rhythmischen Zeichen‘ geschmückten Ausgaben darstellen, wie man es der Carte del Padre De Santi entnimmt, der für die Reform der Kirchenmusik eine hervorragende Bedeutung hat. So scheint es uns in diesem Konzilsklima [wohl des 2. Vatikanums] des brennenden Eifers für die Liturgie und im 60. Jahr seit dem berühmten Motu Proprio des hl.
Pius X. (22.11.1903), eine nicht uninteressante und auch nicht ganz nutzlose Arbeit geleistet zu haben.
Die Musik gehört zu den dynamischen oder kinetischen Kunstarten, das heißt zu den Bewegungskünsten. Die Seele der Musik ist der Rhythmus, von Platon tiefsinnig als ‚die Ordnung der Bewegung‘ und
vom hl. Augustinus als ‚die Kunst der schönen Bewegung‘ definiert. Die Musiknoten sind für sich allein
gleichsam die ‚Trockenen Knochen‘, wie sie vom Propheten Ezechiel gesehen wurden (Kap. 37); der
Rhythmus teilt ihnen die Bewegung mit, das Leben. Der Rhythmus kann gemessen, oder frei sein, je
nachdem die Ordnung der Bewegung streng eingeteilt, abgemessen, symmetrisch, mathematisch wie in
einer Strophe von Settenari oder Endecasillabi, oder weiter, flexibler, elastischer ist wie in einer mit einem
bestimmten Tonverlauf (cursus) gebauten Prosa, einer Prosa, in der im Grunde die heute in Mode befindliche Poesie besteht. Den gemessenen Rhythmus findet man in der Regel in der figurierten Musik (ich
sage: in der Regel, denn in dieser unserer Zeit, in der man sehr viel von Freiheit spricht, bevorzugt auch
die figurierte Musik manchmal einen weniger gebundenen und gelöster Rhythmus); der freie Rhythmus,
der bald in Zweier-, bald in Dreiertakten voranschreitet, ist jedenfalls nach der am besten begründeten
und allgemein verbreitesten Auslegung dem Gregorianischen Choral eigen. [Wohl nach der Theorie
Mocquereaus]. Im Gregorianischen Choral muß man dann die melodischen von den rhythmischen Zeichen unterscheiden. Erstere stellen die Melodie dar; letztere geben den Ausdruck und vor allem die Ordnung der Bewegung der Melodie an. Diese Zeichen sind keine moderne Erfindung, sondern knüpfen an
17
eine uralte Tradition an. Wie es eine melodische Tradition gibt, so gibt es eine rhythmische, der die Solesmer mit dem Studium der vergleichenden Paläographie nachgegangen sind. In den alten Codices
findet man nämlich zwei Arten von rhythmischen Zeichen: die einen ändern die melodische Neume selbst
in ihrer Form, gewöhnlich um eine Verlängerung zu bezeichnen; die anderen, die in der Regel Buchstaben des Alphabets sind, werden der Neume beigefügt, um ihr eine bestimmte Ausdrucksbedeutung zu
verleihen. Ein unter diesem Gesichtspunkt sehr wichtiges Zeugnis ist der Brief Notkers, eines Mönchs
von St. Gallen (+ 912) an Lantbert, in dem er diesen über verschiedene ‚bedeutungsvolle Buchstaben‘ in
Kenntnis setzt, die bestimmt sind, die Zurückhaltung (ritenuto), Geschwindigkeit, Intensität anzugeben.
Die Solesmer Ausgaben wurden zu Unrecht rhythmische genannt, als ob nicht auch die Vatikanische
Ausgabe rhythmisch wäre. Denn die Ritenkongregation erklärte 1910, daß in der Vaticana die Melodien
augenscheinlich nach dem System des sogenannten freien Rhythmus angeordnet seien. Der Unterschied
besteht in den rhythmischen Zeichen, die zunächst vorsichtig, dann freier und großzügiger von Solesmes,
nicht jedoch von der Vaticana angewandt wurden.*
*Anmerkung: An dieser Stelle ist in der Fußnote folgender Text eingefügt:
„L. Augustoni in Elementi di Canto Gregoriano, Padova 1959, Seite 11 lehnt mit Recht die Bezeichnung
‚Rhythmische Ausgaben‘ ab, die er ersetzt haben möchte durch ‚Ausgaben mit zusätzlichen Zeichen‘
oder ‚der Mönche von Solesmes‘. Wir werden sie weiterhin ‚Ausgaben mit rhythmischen Zeichen‘ oder
auch ‚Ausgaben von Solesmes‘ nennen. Denn es gibt keinen Grund, einen Ausdruck auszuwechseln,
der, positiv aufgefaßt, nicht falsch ist und mittlerweile vom Gebrauch bestätigt ist. Im übrigen hat die Instructio de musica sacra von 1958 keine Hemmung, von ‚rhythmischen Zeichen‘ zu sprechen. (siehe AAS
1958, Seite 649). Die ‚rhythmischen Zeichen‘ von Solesmes sind im wesentlichen folgende drei: ein senkrechtes Strichlein oder Iktus, unter oder über einer bestimmten Note, das in Zweifelsfällen die rhythmische Betonung anzeigen soll gemäß der Anweisung von Dom Mocquereau [Erfinder des Iktus]; ein waagerechtes Strichlein unter oder über einer oder mehreren Noten, das eine Verlangsamung oder eine bestimmte Rundung der Stimme über diesen Noten bedeuten soll; ein Pünktchen oder mora vocis, unmittelbar nach einer Note, um deren Dauer zu verdoppeln. Außer diesen Zeichen gebraucht man seltener la
virgola [Komma] auf der letzten Linie der Notenzeile, um eine kleine gedankliche Trennung der Melodie
anzuzeigen, wo der einzelne Sänger, nicht der Chor, ganz kurz Atem holen kann, indem er von der vorhergehenden Note Zeit stiehlt; die legatura [Bindestrich], ein halbrunder Strich zur Vereinigung zweier
logischer incisi oder melodischen Glieder. (Aus P. Patuelli, Cantiamo, Corso completo per la scuola di
musica nei Seminari ed Instituti Ecclesiastici, Bologna, Ed. ‚Marianum‘, 1963, Seiten 129-130).
Es folgt nun die Fortsetzung des Zitats aus Padre Francesco Bauducco S.J., „Il Padre Angelo De
Santi, s.j., e la questione dei ‚segni ritmici‘ dal 1904 al 1912“, erschienen in Bolletino Ceciliano,
1964, Seiten 75-92:
„Man kann diese Lücke der Vaticana nicht übersehen, eine Lücke, die als praktische Folge die Unsicherheit hinterläßt, in der sich manchmal der hinsichtlich des Rhythmus weniger erfahrene Sänger (Kantor)
befindet. Zur Rechtfertigung dieses Zustands der Vaticana kann man allerdings u.a. die jedenfalls damals
noch bestehende Unausgereiftheit der Solesmer Lösung anführen, eine Unausgereiftheit, die uns wohl
eine gediegene Wahrscheinlichkeit, nicht aber volle Sicherheit gewährt.
Auf einem so umstrittenen und schwierigen Gebiet, wie es wenigstens damals der Gregorianische Choral
war, darf es einen nicht wundern, daß Padre De Santi manchmal seine Auffassung geändert hat: auch
dies ist unter bestimmten Umständen ein Zeichen von Weisheit, nachdem bekannten Sinnspruch: Es ist
ein Zeichen von Weisheit, seine Meinung (den Plan, Rat) zu ändern. Auch hinsichtlich der Frage der
rhythmischen Zeichen machte De Santi eine gewisse Entwicklung durch. Denn im Brief vom 20.12.1903,
in dem er dem Abt Delatte eine neue Ausgabe [des Liber Usualis Mocquereaus] vorschlug, riet er auch,
die rhythmischen Zeichen wegzulassen, die ‚wenigstens zu Zweifeln Anlaß geben‘. Später aber, nachdem er durch die beachtlichen Arbeiten Mocquereaus gewonnen worden war, näherte er sich auch in der
Frage der rhythmischen Zeichen immer mehr den Solesmensern, so daß er zu ihren Gunsten gegen Dom
Pothier ankämpfte. Die nicht seltenen und nicht unerheblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den
beiden hinsichtlich der Vatikanischen Ausgaben sind mittlerweile bekannt. Aber hinsichtlich derselben
Ausgabe ergibt sich aus den Schriften des Padre De Santi in der Frage der rhythmischen Zeichen keine
Spur von Gegensatz.
Und tatsächlich hatte man in dieser Hinsicht keine Meinungsverschiedenheiten zu beklagen. Denn als am
29.07.1904 nach Beendigung der Arbeiten der ersten sechs Sitzungen der päpstlichen Kommission für
die vatikanischen Ausgaben deren Ergebnisse mitgeteilt wurden, welche in Form von Vorschlägen (Wünschen, Richtlinien – wörtlich: Voten) abgefaßt waren, konnte man im ersten lesen: ‚Die vatikanische Ausgabe wird nicht die rhythmischen Zeichen der letzten benediktinischen Ausgaben aufweisen, sondern
sich an die schon in den ersten Ausgaben von Dom Pothier befolgte Methode halten; lediglich die Noten-
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gruppen-Zeichen und jene für die Satzglieder werden beibehalten‘. Die achte Richtlinie lautete: ‚In der
vatikanischen Ausgaben werden die morae vocis mit dem leeren Raum einer einzigen Länge angegeben,
und man verwende vier Formen von Balken: den kleinen, den mittleren, den großen und den doppelten.
Den Doppelbalken nach den Intonationen läßt man weg und verwendet an seiner Statt das Sternchen
oder den Asteriskus‘. Das Problem der Ausgaben mit den rhythmischen Zeichen wurde sodann folgendermaßen angegangen: ‚Man wünscht die Meinung aller in Erfahrung zu bringen hinsichtlich der später
zu erteilenden Gutheißung der Bücher, die zwar den Gesang der Vatikanischen Ausgaben enthalten,
aber noch andere rhythmische Zeichen hinzufügen oder die Melodien in moderner Notenschrift wiedergeben. Die Frage wurde in verschiedenen Sitzungen diskutiert, und unsere Meinung ist bisher, daß diese
Ausgaben nur von den Bischöfen und nicht von der Ritenkongregation genehmigt werden sollen. Denn
das Motu Proprio vom 25.04.1904 sieht nur zwei Arten von Genehmigung vor: die absolute Gleichförmigkeit mit der Vaticana und die Gleichförmigkeit mit einigen Varianten aus verschiedenen Codices. Wenn
man anfängt, die rhythmischen Zusätze und die Überlieferungen zu genehmigen, kann man nicht nur bei
den Solesmer Ausgaben stehenbleiben‘. Ob bei der Genehmigung der rhythmischen Zeichen in den Solesmer Ausgaben diese Richtlinie befolgt wurde, darauf wird sogleich eingegangen werden. Es ist nicht
unwahrscheinlich daß De Santi, der Sekretär der Kommission, die obigen Bestimmungen selbst abgefaßt
hat, wofür auch der Stil spricht.
Die erste Ankündigung eines Gegensatzes zwischen De Santi und Dom Pothier hinsichtlich der ‚rhythmischen Zeichen‘ findet man anläßlich der Ausgaben von Solesmes, wie wir dem Tagebuch [von De Santi]
vom 21.11.1905 entnehmen: ‚Ich erfuhr auch, daß Dom Pothier sich in Bewegung gesetzt hat, um die
Ausgaben und die rhythmischen Zeichen verbieten zu lassen. Die Congregatio hatte sie genehmigt; er
aber begab sich zur Congregatio, um die Zurückziehung der Genehmigung zu erwirken. Und das alles
gegen Solesmes !‘ Unter dem 26. desselben Monats lesen wir: ‚Mons. Respighi sagt mir, daß die Congregatio die Druckerlaubnis für die Ausgabe mit den rhythmischen Zeichen zurückgezogen hat. Aber weil
sie andere dazu aufforderten; Dom Pothier ist bis zum Papst gegangen, und von dort kam der Befehl‘. In
der Ritenkongregation war man also dabei, das Verdammungsdekret vorzubereiten. Am 31 Januar 1906
traf Padre De Santi im Haus der Civiltà Cattolica den Kardinal Tripepi, den Pro-Präfekten der Ritenkongregation, der ihn um seine Meinung über das schon fertige Dekret fragt, welches die Ausgaben mit den
rhythmischen Zeichen verbietet. Der Kardinal, fügt das Tagebuch hinzu, ‚erklärt sich äußerst angewidert
durch die Ränke, in die er verwickelt ist, da er gemäß dem Befehl des Papstes tun muß, was Dom
Pothier will, und gleichzeitig ganz klar sieht, wie Dom Pothier aus dem Gleichgewicht gerät. Er hat mich
um meinen Rat gefragt und danach, ob die Kommission [für die Vatikanischen Ausgaben] zusammentritt
und befragt wird. Ich sagte, was ich dachte, und flehte Seine Eminenz an, das Dekret nicht zu veröffentlichen und wenigstens die Einholung des Gutachtens der Kommission abzuwarten.“
Fortan muß ich leider aufhören weitere Zitate aus der Schrift „Il Padre Angelo De Santi, s.j., e la
questione dei ‚segni ritmici‘ dal 1904 al 1912“ aufzuführen, da auch diese Informationen nicht
unparteiisch sind. Hier wird nun De Santi über Gebühr gelobt und als den „Retter“ der Ausgaben
von Solesmes im Kampf gegen den Papst (bzw. Dom Pothier) vorgestellt. Mit einer Unmenge
von vermeintlichen und tatsächlichen Stellungnahmen der Hauptkontrahenten Dom Mocquereau,
De Santi und Dom Pothier wird die Frage erörtert, ob die rhythmischen Zeichen vom Heiligen
Stuhl genehmigt oder nicht genehmigt worden seien. Sie waren nicht genehmigt, sondern toleriert worden. Bis auf den heutigen Tag toleriert Rom die rhythmischen Zeichen, die mit den Ausgaben von Solesmes weltweit verbreitet wurden. Um seiner Aussage bezüglich der „Notwendigkeit“ der rhythmischen Zeichen für die Aufführung der Gesänge mehr Gewicht zu verleihen
schreckt der Jesuit Padre Francesco Bauducco davor nicht zurück zu behaupten, daß auch die
Editio Vaticana (Editio Typica) den Rhythmus Mocquereaus hätte, nur, daß sie ihn nicht „explizit“ darlegte. In dem oben zitierten Fragment seiner Schrift „Il Padre Angelo De Santi, s.j., e la
questione dei ‚segni ritmici‘ dal 1904 al 1912“ schrieb er (Seite 76):
„Die Solesmer Ausgaben wurden zu Unrecht rhythmische genannt, als ob nicht auch die Vatikanische
Ausgabe rhythmisch wäre. Denn die Ritenkongregation erklärte 1910, daß in der Vaticana die Melodien
augenscheinlich nach dem System des sogenannten freien Rhythmus angeordnet seien. Der Unterschied
besteht in den rhythmischen Zeichen, die zunächst vorsichtig, dann freier und großzügiger von Solesmes,
nicht jedoch von der Vaticana angewandt wurden. Man kann diese Lücke der Vaticana nicht übersehen,
eine Lücke, die als praktische Folge die Unsicherheit hinterläßt, in der sich manchmal der hinsichtlich des
Rhythmus weniger erfahrene Sänger (Kantor) befindet.“
Angesichts solcher Aussagen steht einem der Verstand still ! Singt der „hinsichtlich des Rhythmus weniger erfahrene Sänger“ in der Vaticana (Editio Typica) die Melodie oder den Text ?
Wenn er „die Melodie“ singt, dann braucht er natürlich das System des „freien Rhythmus“
19
Mocquereaus. Wenn er aber „den Text“ singt (interpretiert), so singt er nicht nach dem „System
des sogenannten freien Rhythmus“, sondern nach dem System des oratorischen Rhythmus. Sein
Gesang ist dann Textvortrag und nicht Musikvortrag. Aber leider ist es damals niemandem eingefallen, daß der Gregorianische Choral eigentlich als Textvortrag gesungen werden muß.
Solche vollständig unbegründete Aussagen von Seiten der Jesuiten und der Benediktiner von
Solesmes haben die Editio Vaticana (Editio Typica) von Dom Pothier diskreditiert. Vergeblich
hat sich Peter Wagner mit seiner Apologetischen Schrift Der Kampf gegen die Editio Vaticana –
eine Abwehr, (Graz und Wien: Styria, 1907) an die Öffentlichkeit gewandt. Vergeblich haben die
Verlage Schwann (Düsseldorf) und Pustet (Regensburg) das Graduale der Editio Vaticana (Editio Typica) in ihren Verlagsprogrammen mit Billigung Roms sofort aufgenommen und haargenau veröffentlicht. Ihre Ausgaben wurden nicht verkauft und sind Ladenhüter geblieben. Das
„Graduale“ mit rhythmischen Zeichen Mocquereaus dagegen hat sich weltweit durchgesetzt.
Seither hört man von allen berufenen und unberufenen „Gregorianiker“ den Vorwurf, daß die
Vaticana (Editio Typica) Fehler hat, weil sie die „rhythmischen Zeichen“ Mocquereaus nicht
„explizit“ darlegt.
Viele haben sich mit dem Rhythmus des Gregorianischen Chorals befaßt und nur wenige von
ihnen haben begriffen, daß nicht er, sondern sein Gerüst – die Sprache – die Oberhand behält. In
den liturgischen Texten in lateinischer Sprache werden die Silben, die den Akzent tragen,
schriftlich mit einem Akzentzeichen gekennzeichnet, eben deshalb, weil Latein als tote Sprache
keinen lebensweltlich erfahrbaren Rhythmus mehr hat. Ihr Rhythmus existiert nur noch schriftlich, wie auch selbst die lateinische Sprache eigentlich nur noch schriftlich existiert. Derjenige,
der sich in dieser Sprache äußern möchte, muß sich unweigerlich nach den mit dem Akzent gekennzeichneten Silben richten, sonst kann diese tote Sprache nicht wieder lebendig gemacht
werden. Diese Akzentfolge gilt nun automatisch als die rhythmische Struktur des Gregorianischen Chorals. In der Reihenfolge der Akzente, die an sich gleichwertig sind, soll der Sänger
nach den Regeln der Deklamation ordnend eingreifen, um den Text verständlich zu machen. Das
ist eigentlich der Sinn des Gregorianischen Chorals.
Der Rhythmus der Ausgaben von Solesmes als 2+3 oder 3+2 Zeiteinheiten vom Mocquereau
„wissenschaftlich definiert“ (Le Nombre Musical), hat seine Gültigkeit als „freier Rhythmus“
spätesten seit 1938 (durch Béla Bartók) eingebüßt. Die Benediktiner von Solesmes waren mit
ihren „Paläographischen Studien“ so beschäftigt, daß sie die Entdeckung Bartók’s, was den
„asymetrischen Rhythmus“ (Rhythmus der Bulgarischen Tänze) anbetrifft nicht rechtzeitig zur
Kenntnis genommen haben. Lesen Sie bitte dazu die Studie Die Rhythmisierung des Gregorianischen Chorals (ISBN 3-89501-267-X), um ein bißchen Klarheit in der Frage des Rhythmus des
Gregorianischen Chorals zu gewinnen.
Zusammenfassung
Die Vatikanische Kommission hat keine Arbeit geleistet, sondern nur Streit verursacht. Die Editio Vaticana (Editio Typica) wurde von Dom Pothier im Alleingang aufgrund seiner wissenschaftlichen Studien (Les Mélodies Grégoriennes) und unter Zuhilfenahme der Studie AugustinMathurin Gontier’s (Méthode raisonnée de plain-chant) herausgegeben. Papst Pius X. hat ihn,
als einen treuen und zuverlässigen Sohn der Katholischen Kirche (und des Benediktinerordens)
zum Vorsitzenden der päpstlichen Kommission eingesetzt. Dadurch wurde er von vielen seinen
Mitbrüder beneidet und gehaßt.
Die liturgischen Bücher der Editio Vaticana (Editio Typica), sowohl die originalen aus dem Vatikan, als auch die in Deutschland nachgedruckten; Schwann in Düsseldorf und Pustet in Regensburg, wurden in die Praxis nicht umgesetzt. Statt dessen sind nunmehr seit 100 Jahren die
Ausgaben von Solesmes im Umlauf – Ausgaben, die dem Gregorianischen Choral einen fremden
Rhythmus erzwungen haben.
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Die Notation
Motto
Da stieg Jahwe herab, um die Stadt und den Turm anzusehen,
den die Menschen gebaut hatten. Und Jahwe sprach: „Siehe,
sie sind ein Volk und sprechen alle eine Sprache.
Das ist erst der Anfang ihres Tuns. Fortan wird für sie nichts
mehr unausführbar sein, was immer sie zu tun ersinnen.
Wohlan, wir wollen hinabsteigen und dort ihre Sprache verwirren, so daß keiner mehr die Sprache des anderen versteht !“
Das Buch Genesis: 11, 5-7
Glossar:
„Die Stadt“ – das ist Solesmes; „Der Turm“ – das ist die Gregorianik; „Das Volk“ – das sind die
Benediktiner von Solesmes (und alle, die mit ihnen zusammenarbeiten); „Die Sprache“ – das ist
die liturgische Gregorianik, bzw. die liturgische Musik; „Ersinnen“, heißt „Erfinden“; Die „verwirrte Sprache“ – das ist Etwas, was aus dem folgenden Beispiel ersichtlich wird. (Zitat aus Semiotik des liturgischen Gesanges, ein Beitrag zur Entwicklung einer integralen Untersuchungsmethode der Liturgiewissenschaft, Verlag Peeters, Leuven, 2004, Seite 80:
„Die Liturgie in ihrem Vollzug („in actu“) wurde in der Liturgiewissenschaft lange Zeit als sekundär gegenüber dem primären Objekt des geschriebenen Szenarios oder Drehbuches (in der Liturgie: z.B. Messbuch, Gesangbuch) eingestuft. Tatsächlich ist aber das liturgische Objekt des Szenarios/Drehbuches
gegenüber der Liturgie „in actu“ ein reduziertes semiotisches Objekt. Der Unterschied zwischen Drehbuch/Szenario und „in actu“ tritt besonders in der Enunziation hervor. Geschriebene Texte und Gesänge
stellen eine andere Enunziationsform dar als gesprochene oder gesungene; erstere synkretisieren eine
literarische und musikalische Semiotik, letztere eine Vielzahl an Semiotiken, bzw. ‚Aktoren‘. Aber auch
Text und Musik werden ‚breiter‘: z.B. entfaltet sich die musikalische Semiotik von einer Analyse der Noten
der Melodie zu einer komplexeren Beschreibung mit Harmonisierung, Dynamik, Instrumentation u. dgl.
Weiters ist die Enunziationsinstanz, die aus dem Enunziator (Quelle, Autor, Sender) und dem Enunziatär
(Empfänger) besteht, in geschriebenen Texten viel weniger involviert als in gesungenen oder gesprochenen.“
Aus diesem Text verstehe ich zunächst, daß die Liturgie in ihrem Vollzug („in actu“) in der Liturgiewissenschaft (lange Zeit) nicht gebührend beachtet wurde. Die Liturgie in actu, das soll die
Definition der liturgischen Tätigkeit sein. Die Verwendung des lateinischen Ausdrucks in actu
soll die liturgische Tätigkeit in die Nähe der Bühnentätigkeit (Theater, Oper) heranbringen. Denn
die Handlung im Schauspiel wird eben durch Akte dargestellt. Die Verwendung der Paarbegriffe
„Drehbuch“ und „Szenario“ bekräftigen die Absicht des Autors die Liturgie als „Schauspiel“ zu
definieren. Es sind aber noch die Begriffe „Enunziation“ und „Semiotik“, die das Verstehen dieses Textes erschweren. „Enunziation“ wird zum Glück durch Gleichstellung des Begriffs „Enunziator“ mit Quelle, Autor, Sender und „Enunziatär“ mit Empfänger erklärt. „Enunziation“ aus
dem Lateinischen „enuntiare“ soll hier also als eine „Aussage“ verstanden werden. Dieses Zitat
sagt nun folgendes aus:
„Die Liturgie besteht aus einem Vollzug („in actu“) und einem Szenario/Drehbuch. Das Szenario/Drehbuch ist das Messbuch. Das Messbuch synkretisiert eine literarische Semiotik und das Gesangbuch eine musikalische Semiotik. Man unterscheide aber die „Enunziationsform“ (Aussageform) des geschriebenen Textes von dem des gesungenen Textes. Denn die „Enunziationsinstanz“ (Aussageinstanz),
die aus dem Enunziator (Quelle, Autor, Sender) und dem Enunziatär (Empfänger) besteht, viel weniger
involviert sei in geschriebenen Texten als in gesungenen oder gesprochenen.“
Es bleibt mir nur noch das Wort „Semiotik“ zu erklären, um den Sinn des Textes vollständig zu
erschließen.
Was ist also „Semiotik“ ?
Im Wahrig Deutsches Wörterbuch, Bertelsmann 1988 gibt es dazu folgende Definition: „Die
Semiotik ist die Lehre von den Zeichensystemen (z.B. Verkehrszeichen, Bilderschrift, Formeln,
Sprache) in ihren Beziehungen zu den dargestellten Gegenständen.“ Ältere Wörterbücher (z.B.
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Mackensen, Deutsches Wörterbuch, Fackelverlag, 1977) erklären Semiotik mit: „Erforschung der
Krankheitsmerkmale“. Dieser Begriff scheint also eine Umwandlung durchgemacht zu haben,
denn für die medizinische Symptomatologie gibt Wahrig (1988) den Begriff Semiologie an. Semiotik und Semiologie scheinen also nicht identisch zu sein. Im Wörterbuch Mackensen’s taucht
der Begriff Semiologie überhaupt nicht auf. Aus dem Buch Semiotik – zur Einführung (Hamburg: Junius Verlag GmbH, 1999, Seite 7) erfahre ich, daß Semiotik tatsächlich „die allgemeine
Theorie der Zeichen, Zeichensysteme und Zeichenprozesse“ ist.
Nun zurück zu unserem Text (mit Zuhilfenahme der neuen Feststellungen):
„Die Liturgie besteht aus einem Vollzug („in actu“) und einem Szenario/Drehbuch. Das Szenario/Drehbuch ist das Messbuch. Das Messbuch synkretisiert einen literarischen Zeichenprozeß (Semiotik)
und das Gesangbuch einen musikalischen Zeichenprozeß (Semiotik). Man unterscheide aber die „Enunziationsform“ (Aussageform) des Messbuches (literarischer Zeichenprozeß) von dem des Gesangbuches
(musikalischer Zeichenprozeß), denn die „Enunziationsinstanz“ (Aussageinstanz), die aus dem Enunziator (Quelle, Autor, Sender) und dem Enunziatär (Empfänger) besteht, viel weniger involviert sei in geschriebenen Texten als in gesungenen oder gesprochenen.“
Es ist nun alles klar, oder ?
Nein, leider nicht ! Denn die Liturgie besteht nicht aus einem Vollzug („in actu“) und einem
Szenario- oder Drehbuch (Messbuch). Als Jesus im Abendmahlsaal die Liturgie stiftete hat er
kein Messbuch (Szenario/Drehbuch) benutzt. Das ist freilich allbekannte Sache. Das Messbuch
war Er selbst. Zugleich war Er „Enunziator“ und, da Er „in actu“ gehandelt hat, Seine „Enunziationsform“ war offensichtlich voll „involviert“, denn Paulus, der Apostel der Völker, weiß davon
folgendes zu berichten: „Denn ich habe es vom Herrn her so überkommen, wie ich es euch auch
überliefert habe: Der Herr Jesus nahm in der Nacht, in der er verraten wurde, Brot, sagte Dank,
brach es und sprach: Dieses ist mein Leib für euch.“ [Und als „Zeichen“ sagte Er weiter:] „Tut
dies zu meinem Gedächtnis“. (1. Kor 11, 23-24). Das ist also „Liturgie“. Die „Enunziatäre“ von
damals (die Jünger) haben daraus verstanden, daß sie den Auftrag bekommen haben diesen „Zeichenprozeß“ (Eucharistie) in eigener „Regie“ (mit oder ohne Drehbuch) weiter (einzeln oder
gemeinsam) „in actu“ zu vollziehen. Wir haben mit diesem Text also ein klares Beispiel für die
„verwirrte Sprache“ der Liturgiewissenschaft.
Und das „Zeichen“ ?
Die Semiotik setzt bei der Behauptung an, daß ein Zeichen etwas sei, was für etwas anderes stehe, weil es von einem Dritten interpretiert (gedeutet) werde. Schematisch wird diese Behauptung
wie folgt dargestellt:
Legende:
M ist das Zeichen, das sich auf ein Objekt O bezieht.
O ist das Objekt, worauf das Zeichen M hinweist.
I ist der Interpret, der das Zeichen M in Beziehung zum
Objekt O stehend interpretiert.
Folgendes Beispiel erklärt am besten das oben Gesagte:
Das Zeichen A weist bekanntlich auf den Laut A hin. Alle Menschen, die das Zeichen A sehen,
sprechen laut A.
Alle ?
Nein. Die Analphabeten erkennen dieses Zeichen nicht als den Laut A. Sie sehen zwar das Zeichen, können es aber nicht interpretieren, weil sie das ABC nicht gelernt haben. Der Interpret
muß also geschult sein, damit er das Zeichen M in Beziehung zum Objekt O stehend interpretiert.
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Nun zurück zu unserem Text: Das Gesangbuch enthält Noten. Nicht alle „Interpreten“ aber können die Lieder aus dem Gesangbuch singen, sondern nur solche, welche das „Noten lesen“ gelernt haben (oder wiederum solche, die „nach dem Gehör“, bzw. durch mehrmalige „mündliche“
Unterweisung die Lieder gelernt haben). Im Endeffekt aber werden nur die musikalisch ausgebildeten „Interpreten“ imstande sein, die im Text für die musikalische Semiotik vorgesehene Entfaltung (Harmonisierung, Dynamik, Instrumentation) zu verwirklichen.
Worum geht es aber in diesem Text ? Warum wird die Liturgie (und implizit auch der liturgische
Gesang) unter Inanspruchnahme der Semiotik untersucht ?
Die Antwort finden wir später und zwar auf Seite 334 unter Kapiteleinteilung 10.1.1:
„Die semiotische Analyse kann dazu beitragen, auf den ‚springenden Punkt‘ zu kommen. In semiotischer
Terminologie bedeutet dies zunächst, daß es darum geht, die richtigen/relevanten Oppositionen zu finden, d.h. die entscheidende Grunddifferenzen festzustellen. Diese Grunddifferenz erschließt aber zugleich das eigentliche Problem/Ziel/Anliegen. Somit gibt sie Antwort auf die grundlegende Frage nach
dem WAS: Was ist der springende Punkt, was ist die Fragestellung, was ist die Streitfrage, was ist das
Thema, was ist der Grundgedanke, wo(rin) liegt die Schwierigkeit ?
Dieser ‚springende Punkt‘ ist für die Beurteilung neuer liturgischer Gesänge besonders relevant. Die Frage nach einer liturgisch-adäquaten Musikkultur ist bei neuen Gesängen in Gefahr, von einem idealisierten
Kulturbegriff der Tradition her beantwortet zu werden; diese Kulturfrage wird bisweilen zu einer Glaubensfrage überhöht. Dazu sei als konkretes Beispiel die latente Kontroverse um die Aussagen des 2.
Vatikanums zur Kirchenmusik angeführt, die bei der Beurteilung des ‚neuen geistlichen Liedgutes‘ (die
beiden analysierten Gesänge sind hier einzuordnen) eine Rolle spielen: Die Verteidigung eines ästhetischen Programms (‚Musica Sacra‘) wurde bisweilen zu einem Programm der Verteidigung der ‚Orthodoxie‘ hochstilisiert, wobei dem liturgischen Programm des 2. Vatikanums (und in der Folge dem ‚Neuen
geistlichen Lied‘) ‚Unorthodoxie‘ vorgeworfen wird/wurde.
In unserem Beispiel ‚Segne dieses Kind‘ versucht der Komponist, Elemente der gegenwärtigen (populären) Musikkultur zu integrieren und zu einem bedeutungsvollen Gesang zu formen; die Analyse bezeugt
einerseits den (hier zutagetretenden) ‚springenden Punkt‘ und andererseits die Kompetenz des Komponisten, diesen zu erkennen. In ähnlicher Weise war dies bei ‚Hände, die schenken‘ der Fall.“
Das ist also das Thema des Buches, das ist der „springende Punkt“: Es geht um die „Streitfrage“
in der liturgischen Musik, ob die Musica Sacra („Orthodoxie“ ?) ihre Vorrangstellung in der
Liturgie hat oder haben soll. Denn das 2. Vatikanum hat bekanntlich auch dem „Neuen geistlichen Lied“ („Unorthodoxie“ ?) gleiche Rechte für die liturgische Praxis eingeräumt.
Analog zu diesem Fall gibt es auch in der Gregorianik eine „Streitfrage“. Die Benediktiner von
Solesmes wollen nicht hinnehmen, daß die Editio Vaticana, Editio Typica, (die „Orthodoxie“ der
liturgischen Gregorianik ?) die Vorrangstellung in der Liturgie hat. Gleich nach der Reformierung des Gregorianischen Chorals durch den Papst Pius X. und die Herausgabe der normativen
liturgischen Bücher (Editio Typica 1908) haben die Benediktiner ihre rhythmischen Ausgaben
herausgegeben und überall verbreitet. In meiner ersten Abhandlung (Historischer Abriß) habe
ich aufgezeigt, wie Mocquereau sein rhythmisches System in die Notation des reformierten Gregorianischen Chorals „eingepflanzt“ hat. In meiner zweiten Abhandlung (Die Kommission) habe
ich die Studie Der Kampf gegen die Editio Vaticana vorgeführt, in der Peter Wagner bewiesen
hat, daß die sogenannten Fehler der Editio Vaticana (Editio Typica) gar keine Fehler sind. Da die
Ausgaben mit den rhythmischen Zeichen zur Zeit „obsolet“ geworden sind, haben die Solesmer
nach anderen Mitteln und Wegen gesucht, um die Interpretation der Gesänge, ohne die Methode
der Editio Vaticana (Editio Typica) sicherzustellen. Anhand der vielen Handschriften aus dem
Mittelalter, die Mocquereau unter dem Namen Paléographie Musicale gesammelt und systematisiert hat, wollen sie nun mit Hilfe der Semiotik beweisen, daß die vielen Neumen durch ihre
Stellung und Beschaffenheit eine „getreue“ Interpretation der Gesänge gewährleisten. Zu diesem
Zweck haben sie die Gregorianische Semiologie ins Leben gerufen. Diese wurde von Dom
Eugène Cardine (1905-1988) begründet. Sein Hauptwerk heißt eben Gregorianische Semiologie.(Deutsche Übersetzung, Solesmes, 2003, ISBN 22-85274-049-4). Bereits 1966 hat er mit
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seinem Graduel neumé, die Weichenstellung für die Einführung der Semiotik in die Erforschung
der Paléographie Musicale gesetzt. Er ist auch der Initiator der AISCGre, der Internationalen
Gesellschaft für Studien des Gregorianischen Chorals.
Wir wollen nun sein Hauptwerk Gregorianische Semiologie gründlich untersuchen, um herauszufinden, wie er das Instrumentarium der Semiotik im Sonderfall Gregorianik anwendet.
1. Bereits in der Einleitung (Überschrift: Paläographie und Semiologie, Seite 1) schreibt Cardine, daß der Torculus in den verschiedenen Handschriften des Mittelalters durch 5 verschiedene Zeichen dargestellt wird
und daß die Vaticana (Editio Typica) für alle dasselbe Zeichen verwendet.

Und folgert daraus, Zitat: „Dadurch, daß die Vaticana für alle dasselbe Zeichen verwendet,
bringt sie ihre unterschiedliche Bedeutung nicht zur Geltung. Diese muß von interpretatorischer
Art sein, da es sich ja immer um das gleiche Phänomen handelt.“
Kommentar: Die Semiotik als Wissenschaft von den Zeichen belehrt uns, daß für „das gleiche
Phänomen“ das gleiche Zeichen verwendet werden muß. Zitat: „Der semiotische Normalfall ist
als Zusammenwirken von Denotation und Klassifikation zu charakterisieren. Wir beziehen uns
nicht nur mit Hilfe eines Mittels auf ein Objekt, sondern repräsentieren es zugleich als ein Soundso.“ (Semiotik, zur Einführung, Seite 41). Das hat die Vaticana (Editio Typica) also genau
nach den Vorschriften der Semiotik getan: Dem einen Phänomen (Torculus) entspricht ein Zeichen.
Auf das Beispiel mit dem Buchstaben A bezogen: Ob „a“ oder „A“; das unterschiedlich geschriebene Zeichen weist immer auf den Laut A „als ein Soundso“ hin. Sieht der Interpret die
Minuskel „a“, so spricht er „a“; sieht er die Majuskel „A“, so spricht er ebenfalls „A“. Das unterschiedlich geschriebene Zeichen gilt nur für den Text. Denn nur im Text werden die Worte nach
ihrer Funktion im Satz unterschiedlich geschrieben. Substantive werden mit der Majuskel und
Adjektive mit der Minuskel am Anfang des Wortes geschrieben.
Fazit: Wenn heute ein Interpret (wohlgemerkt in der Notation der Handschriften bereits geschult) eines von den 3 Zeichen für Torculus sieht, wie das Beispiel aus Ambrosius Kienle OSB,
Choralschule. Ein Handbuch zur Erlernung des Choralgesanges, (Freiburg im Breisgau: Herdersche Verlagshandlung, 1884), Seite 13 zeigt:
dann singt er nicht die ersten 2 Zeichen, die ihm nicht „explizit“ die 3 Töne des Torculus versinnbildlichen können, sondern das dritte Zeichen, das „einen Podatus mit einem dritten, tieferen
Ton“ veranschaulicht. Dieses Zeichen wurde von der Editio Vaticana (Editio Typica) als das
„standardmäßige“ Zeichen des Torculus verwendet, weil es das Zeichen ist, das auf das „Soundso“ des Torculus „explizit“ hinweist.
Schauen wir uns folgendes Beispiel an, den Anfang des Intróitus Réspice, Dómine, wo die ersten
2 Torculi als Neumen durch identischen Zeichen in den Handschriften dargestellt wurden. (Das
Beispiel wurde aus dem Internet entnommen, und zwar aus den kostenlos zur Verfügung gestellten „restituierten“ Gesänge der Vaticana (Editio Typica) unter www.gregor-und-taube.de ):
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Der Torculus über der Silbe ce im Wort Réspice und der Torculus über der Silbe te im Wort testaméntum sind als Neumen-Zeichen gleichförmig. Was würde nun ein Sänger singen, wenn er
nur auf die Neumen-Zeichen angewiesen wäre und ihm die „explizite“, in Quadratnotation darunter wiedergegebene Tonfolge re-fa-mi im ersten Fall und re-mi-re im zweiten Fall fehlt ? Seien wir also ehrlich: Ohne die Quadratnotation darunter sind diese „semiologischen Befunde“
nutzlos. Eindrucksvoll sagt hier der Text, was von einer solchen „semiologischen Interpretation“
zu halten wäre: „Schau doch, Herr, auf Deine Diener“ (und gib uns Mut zur Wahrheit !).
Anmerkung: Der „standardmäßige“ Torculus wurde nicht durch die Vaticana (Editio Typica)
aus dem Jahre 1908, sondern viel früher eingeführt, eben um Mißverständnisse wegen seiner
unvollständigen Darstellung durch die Neumen zu vermeiden.
Und die Interpretation ?
Die Editio Vaticana (Editio Typica) schreibt vor, daß der Text und nicht die Musik interpretiert
werden muß (Textvortrag). Die Benediktiner von Solesmes dagegen interpretieren die Musik
und nicht den Text. Sie machen aus dem Gregorianischen Choral einen Musikvortrag und interpretieren dann den Torculus, oder den Podatus, oder irgendeine andere Tonfigur nach ihrer
Form und Stellung unabhängig von dem darunter stehenden Text. Ein Beispiel aus Gregorianische Semiologie, Seite 32:
Dom Cardine bemängelt hier die Notation der Vaticana (Editio Typica), die für den Torculus
über der Silbe bé im Wort erubéscam und ebenfalls für den Torculus über der Silbe dén im Wort
confundéntur keine besondere Zeichen angibt außer dem “standardmäßigen“ Torculus. Er
schreibt in seinem Buch (Seite 32), Zitat:
„Um dieses gewundene Zeichen zu schreiben, konnte der Schreiber die Feder nicht mit der gleichen Lockerheit und Schnelligkeit [...] führen. Das bedeutet für die Interpretation eine Verlangsamung der melodischen Bewegung. So erklärt sich, daß dieses Zeichen vor allem für die verschiedenen Kadenztypen verwendet wird.“
Es stellt sich die Frage: Ist die Interpretation einer Tonfigur von der Fähigkeit des Schreibers
abhängig ?
Keineswegs. Der Schreiber schrieb die Zeichen über den Text, indem er die Melodie sang, die er
auswendig kannte und zeichnete den Torculus im Wort erubéscam nicht mehr „flüssig“ oder
„schnell“, sondern „gewunden“, „verlangsamt“ ab, weil er wußte, daß dieses Wort am Ende des
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ersten Teil des Psalmes steht (im Sprachgebrauch der Vaticana, Editio Typica, dort ist mora vocis):
Ad te levávi ánimam meam:
Deus meus, in te confído; non erubéscam.
Legende:
= mora vocis
Mit dem Wort erubéscam und dem Punkt danach wird der 1. Teil dieses Gesangs abgeschlossen.
Dann schrieb er weiter den Torculus im Wort confundéntur ebenfalls „gewunden“, oder auch
„verlangsamt“, weil er wiederum wußte, daß dieses Wort am Ende des zweiten Teil des Psalmes
steht (im Sprachgebrauch der Vaticana, Editio Typica, dort ist mora últimae vocis):
Neque irrídeant me inimíci mei,
étenim univérsi, qui te exspéctant, non confundéntur.
Legende:
= mora
últimae vocis
Mit dem Wort confundéntur und dem Punkt danach ist der 2. Teil des Psalmes abgeschlossen.
Der Schreiber wußte also, daß mora vocis und mora últimae vocis am Ende des Textes stattfinden müssen und darum hat er die Torculi „verlangsamt“ geschrieben. Wie hätte er sonst anders
diese „Verlangsamung“ der Ausführung deutlich machen können ? Die Vaticana (Editio Typica)
weiß auch daß am Ende eines Textes das Phänomen mora vocis für alle Tonfiguren (nicht nur für
Torculus) stattfinden muß. Ob Cardine diese gregorianische allgemeine Regel kannte ? Er kannte
sie anscheinend nicht, weil er die „Interpretation“ der Torculi mit seinen eigenen „semiologischen Befunde“ begründen will.
In seiner Choralschule, ein Handbuch zur Erlernung des Choralgesanges (Freiburg im Breisgau:
Herdersche Verlagshandlung, 1884), Seite 66 schreibt Pater Ambrosius Kienle folgendes:
„Eine wirkliche Dehnung findet nur am Schluß der Sätze statt. Man kann die Regeln dafür mit Pothier also
fixieren:
1) Stehen über dem Text nur einfache Töne, so beginnt die verzögerte Bewegung mit der letzten Akzentsilbe;
2) Steht auf der Akzentsilbe e i n e Notengruppe, so wird diese gedehnt;
3) Stehen auf der Akzentsilbe mehrere Notengruppen, so wird nur die letzte gedehnt.“
und gibt dafür 3 Beispiele:
*
*
*
                    
1. Al- le- lú- ia.
2. in ae- tér- num.
3. su-
mus.
Cardine ignoriert aber die Anweisungen des Dom Pothier. Er hat offensichtlich diese Choralschule überhaupt nicht gelesen. Er interpretiert nicht die Akzentsilben des Textes, sondern will
die mora vocis durch „gewundene“ Zeichen erklären. Die mora vocis ist aber allein aus dem
Text zu erschließen und nicht aus der Notenschrift.
Daß die mora últimae vocis allen Schreibern des Mittelalters bekannt war, bezeugt auch eine
Handschrift aus dem 11. Jahrhundert (das Graduale der Schreibstube von St. Peter aus Salzburg)
veröffentlicht erstmals 1931 in Leipzig von Robert Haas in Aufführungspraxis der Musik (Leipzig: C.G. Röder Verlag 1931, Seite 33). Hier wurden solche „gewundene“ Torculi ebenfalls nur
über die Silben des letzten Wortes Angelus geschrieben:
26
2. Ein anderer, gravierender Fehler ist Cardine in seiner Gregorianische Semiologie unterlaufen
und zwar auf Seite 57. Dort beschäftigt ihn die sogenannte „Neumentrennung“, ein Phänomen, das nur die Semiologen beschäftigt. Er vergleicht dort zwei unterschiedliche Tonfiguren, um zu recherchieren, warum die „Neumentrennung“ meist bei den Kadenzen vorkommt.
Sein erstes Beispiel ist das letzte Wort aus dem Intróitus Ex ore infántium (Seite 57, Beispiel
144 – letzte Zeile):
Dabei merkt er gar nicht, daß gleich danach eine Doppelbarre steht. Das Wort tuos ist somit das
letzte Wort des Intróitus (wiederum das „Phänomen“ mora últimae vocis):
Legende: O = das Beispiel Cardines,
(siehe oben).
   
tu-
os.
Er wundert sich, daß der Schreiber in diesem Fall die zusammengesetzte Tonfigur (bestehend
aus 2mal Podatus, einmal Torculus und einmal Pressus) getrennt und nicht „vereint“ geschrieben hat.
Er vergleicht dann diese mit einer völlig anders strukturierte Tonfigur (bestehend aus einmal
Torculus und 2mal Clivis) aus dem Offertorium Benedíctus qui venit (ebenfalls Seite 57; diese
Tonfigur steht über der Silbe mi im Wort Dóminus):
Seiner Meinung nach hätte der Schreiber auch im ersten Beispiel (tuos) ein „vereintes“ Zeichen
schreiben müssen, wie hier, weil die „Ähnlichkeit“ der beiden Tonfiguren mit demselben Verlauf der Melodie begründet sei (von ihm als eine Folge tief-hoch-tief-hoch, usw. „übersetzt“):
Aber auch hier merkt er gar nicht, daß diese Tonfigur nicht am Schluß, sondern mitten im Satz
steht:
      
Dó-
mi-
nus,
Legende:
= das Beispiel von Cardine.
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Kommentar: Der Schreiber hat hier die Tonfiguren nicht getrennt, sondern vereint geschrieben,
weil er wußte, daß hier keine Kadenz folgt. Zudem war es dem Schreiber sicherlich auch bekannt, daß die Silbe mi als eine unbetonte Silbe im Wort Dóminus mit ihren 10 Einzeltönen nicht
in Konkurrenz mit der betonten Silbe Dó (mit nur 6 Einzeltönen) treten darf. Das bedeutet folglich, daß alle 10 Einzeltöne so rasch wie möglich gesungen werden müssen. Darum hat er alle
Neumen in ein „vereintes“ Zeichen notiert.
Cardine kümmert sich aber nicht um die korrekte Aussprache des Wortes „Dóminus“ im Gesang.
Wichtiger sind für ihn die „semiologischen Befunde“ aus dem „Studium“ der Paléographie Musicale. Denn für ihn hat nicht der Text, sondern die Musik den Vorrang. Darum hat er das ganze
Buch Gregorianische Semiologie geschrieben. Und darum präsentiert er diesbezüglich folgende
Schlußfolgerung. Zitat (Seite 57):
„Der Schreiber empfindet, daß sie [die von ihm definierten Folge tief-hoch-tief-hoch-tief-hochtief] zwei wichtige Noten enthält, die er schreibenderweise entsprechend hervorheben will. Darin
folgt er zweifellos der Geste des Dirigenten, der seinerseits mit einer bestimmten Gebärdensprache sowohl die Bewegung der Melodie als auch die rhythmische Struktur [!] und den Ausdrucksgehalt nachzeichnet. Und so hält die Hand (wie auch die Feder) des Schreibers beim
Schreiben einzelner Noten in der Bewegung inne, um sie von den folgenden, so weit wie möglich zusammenhängend geschriebenen Noten abzutrennen.“
Fazit: Hier ist also der „springende Punkt“. Hier ist die „Streitfrage“ Cardines zutage getreten:
Die „Geste des Dirigenten“ hat nach ihm Form und Gehalt der Tonfiguren bestimmt. Die „Gebärdensprache“ soll im Mittelalter die Interpretation des Gregorianischen Chorals zustande gebracht haben. Aber fragen wir im Ernst: Kann die „semiologische Forschung“ soweit gehen, daß
sie eine „Gebärdensprache“ aus den Neumen erschließt ?
Cardine hat hier die Semiotik wahrhaftig mißbraucht, denn weder die „Geste des Dirigenten“,
noch die „Gebärdensprache“ haben den Schreiber veranlaßt hier die „Neumentrennung“ durchzuführen, sondern allein das Wissen um die mora últimae vocis.
Abschließend soll hier nun auch das Problem des „Dirigieren“ des Gregorianischen Chorals erörtert werden. Das Mittelalter hat das „Dirigieren“ nicht gekannt und nicht praktiziert. Es gibt
keine Beweise, keine Aufzeichnungen oder Hinweise, daß der liturgische Gesang durch einen
Scholaleiter dirigiert worden sei. Das Dirigieren des Gregorianischen Chorals hat erstmals mit
der „Cheironomie“ angefangen, eine „Wissenschaft“, die Mocquereau eingeführt hat, um den
von ihm „erfundene Rhythmus“ zustande zu bringen. Ein Zitat aus seinem Lebenswerk Le Nombre Musical Grégorien, 2. Band (Solesmes: Abbaye Saint-Pierre, 1927), Seite 748 belegt diese
Aussage:
„La chironomie bien comprise n’est point une affaire d’improvisation; bien loin de là : elle doit être soigneusement préparée, et jusque dans les petits détails; car elle est l’expression vivante de toutes les beautés de la mélodie. Elle repose tout d’abord sur une science parfaite de la composition grégorienne.
Sans cette science, le directeur est exposé à ne tracer, devant ses chanteurs troublés, déconcertés, que
des gestes bizzares, grotesques souvent, vides de sens, crochets, cercles, triangles, etc., etc., sans relation ni avec les paroles ni avec les mélodies, ou même en contradiction manifeste avec les unes et les
autres.
Avec elle, au contraire, une conduite intelligente, artistique, pieuse d’un choeur est presque assurée. Il
importe, en effet, pour le choix des gestes, de savoir:
- les cas où la prééminence de la musique sur les paroles s’affirme décidément;
- les cas où, au contraire, le texte domine la mélodie;
- les cas enfin où une transaction s’établit entre la mélodie et le texte.
Sans cette connaissance, rien ne peut réussir; toute direction sera entachée de maladresse et de gaucherie; adieu l’art, adieu la prière.
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Auf Deutsch: „Die Cheironomie gut verstanden ist keineswegs Sache der Improvisation; weit
weg davon: sie soll sorgfältig vorbereitet und zwar bis ins kleine Detail; denn sie ist der lebendige Ausdruck aller Schönheiten der Melodie. Sie gründet in erster Linie auf das vollständige Wissen um die gregorianische Komposition. Ohne dieses Wissen kann der Dirigent vor seinen verwirrten Sängern nichts anderes als seltsame Gesten, meist lächerliche, sinnlose Haken, Kreise,
Dreiecks usw., usw., ohne Entsprechung weder mit dem Text noch mit der Melodie, oder gar im
krassen Gegensatz zu dem einen und dem anderen aufführen.
Mit ihnen aber im Gegenteil eine intelligente Führung, kunstvoll, ein frommer Chor ist fast gesichert. Für die Wahl der Gesten (Handbewegungen) muß man daher wissen:
- den Fall, wo die Musik endgültig den Vorrang vor dem Text hat.
- den Fall, wo im Gegenteil der Text die Melodie beherrscht;
- den Fall endlich, wo sich eine Transaktion (Verständigung) zwischen dem Text und der Melodie aufbauen läßt.
Ohne diese Kenntnis kann nichts gelingen, alles Dirigieren wird von Unbeholfenheit und Unschicklichkeit beladen. Lebewohl Kunst ! Lebewohl Gebet !“
Einen kurzen Kommentar dazu: Das „Wissen um die gregorianische Komposition“ ist zunächst die Feststellung, daß dieser Gesang ein Gebet und keine Kunstvorführung ist. Die Aufgabe der „gregorianischen Komposition“ ist nicht den Menschen als Konsumgut zu dienen, sondern ihnen die heilige Schrift zu verkünden. Darum wurde im Mittelalter der Chor (Schola) nicht
dirigiert. Anfangs gab es bekanntlich nur den Text und gar keine musikalische Notation. Darum
kam niemand auf die Idee die Scholaren zu dirigieren. Denn einen Text zu „dirigieren“ wäre
wahrhaftig lächerlich. Allein Mocquereau hat Text und Musik gewaltsam getrennt, indem er der
Musik einen Rhythmus gab, der die Melodie unabhängig von dem Text macht. In allen seinen
liturgischen Bücher (bis hin zum Graduale Triplex) passen die beiden Text und Melodie nicht
mehr zueinander.
Als der Papst Gregor der Große (590-604) den Gregorianischen Choral ins Leben gerufen hat,
gab es keinerlei musikalische Notation. Es gab nur den Text. Und der wurde gesungen. Die Sänger lernten das ganze Repertoire der liturgischen Gesänge auswendig und orientierten sich an
dem jeweiligen Text. Die liturgischen Gesänge wurden mündlich weitergegeben: Der Lehrer
sang den Text vor und die Schüler (Scholaren) wiederholten den Gesang solange, bis der Lehrer
feststellen konnte, daß der Text musikalisch (gesanglich) korrekt gesungen wurde. Damit wurde
sichergestellt, daß die Schüler (Scholaren) künftig als Lehrer für kommende Generationen gut
ausgebildet waren und ihrerseits die Gesänge weiterzugeben vermochten.
Die erste Notation (Neumen in campo aperto) entstand um das Jahr 800 und diente als Gedächtnisstütze für die Schüler beim Erlernen des Gregorianischen Chorals. Diese Neumen konnten
weder die Tonhöhe noch die Tondauer einwandfrei wiedergeben. Damals nicht und heute auch
nicht. Die Gesänge mußten wie bisher mündlich weitergegeben werden. Die Neumen (einfache
Striche und Bögen) wurden nach ihrer Ausrichtung benannt: Podatus (die Melodie bewegt sich
nach oben), Clivis (die Melodie bewegt sich nach unten) usw.
Weil die Intervalle unbekannt waren, wußte man auch nicht ob mit dem Podatus z.B. eine Sekunde, eine Terz, eine Quarte oder sogar eine Quinte nach oben gesungen werden muß. Damals
nicht und heute auch nicht. Erst die geniale Erfindung Guidos von Arezzo, der die Neumen aus
dem in campo aperto Zustand befreit hat, hat dem Gregorianischen Choral einen sicheren Halt
gegeben.
Und das ist nun das Problem: Wie sang die Schola damals, wenn sie nicht dirigiert wurde ?
Die liturgischen Erneuerungen des Papstes Gregor des Großen sind uns aus seinem Brief an Johannes von Syracus bekannt. Dort schreibt er, daß er sich mit dem liturgischen Gesang und den
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Zeremonien beschäftigt und beabsichtigt (Zitat): „die alten Traditionen wiederherzustellen oder
neue Praktiken einzuführen.“ Das Zitat ist entnommen aus: Robertson & Stevens (Hrsg), Geschichte der Musik, Bd. 1, (München: Prestel, 1990), Seite 187.
Im Zuge dieser liturgischer Reform hat er die in Rom bereits bestehende Schola Cantorum neu
begründet, dem Kantor eine neue Funktion und Würde als Primicerius (Scholaleiter) gegeben
(Zitat): „die kunstreichen Solostücke der Messe (Graduale und Allelúia) dem Subdiakon zugewiesen und das dreimalige Christe eléison in den Anrufungen zu Beginn der Messe eingefügt“.
Das Zitat ist entnommen aus: Peter Wagner, „Der Gregorianische Gesang“ in Handbuch der
Musikgeschichte I, Hrsg. Guido Adler, (Tutzing: Schneider, 1961), Seite 82.
Uns interessiert nun was der Primicerius zu tun hatte. Neben seiner ursprünglichen Aufgabe die
Gesänge anzustimmen, mußte er die Schola leiten, das heißt konkret, daß er demjenigen, der das
Graduale und demjenigen, der das Allelúia singen sollte, rechtzeitig ein Zeichen geben mußte.
(Zitat): „Der Primicerius rangierte nach Gregors Bestimmung unter den höchsten Würdenträgern; er leitete Zeremonie und Musik und überwachte Lehre und Vortrag des Gesanges.“ Das
Zitat ist entnommen aus: Georg Schünemann, Geschichte des Dirigierens, (Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1965), Seite 16.
Die einzige mittelalterliche Quelle, die die Aufgabe des Primicerius ausführlich beschreibt ist
die Ausgabe einer Sammlung unter der Überschrift Vetus disciplina monastica des Autors Herrgott, Marquard (Hrsg.), (Parisiis: Typis Caroli Osmont, 1726), wo auf Seite 169 folgender Text
zu lesen ist:
Zitat aus Caput XVII, De Notitia Signorum:
[...] „De his autem quae ad divinum maxime pertinent officium: primo, pro signo Lectionis, manui vel pectori digitum impinge, et paululum attractum ita fac resilire, quasi qui folium codicis
vertit.
Pro signo Responsorii, articulo digiti pollicem suppone, et ita fac eum quasi desilire.
Pro signo Antiphonae, vel versus Responsorii, articulo digiti pollicem suppone, et hoc quod
praemissum est desilire adde.
Pro signo alleluia, leva manum et summitates digitorum inflexos, quasi ad volandum move,
propter Angelos, quia ut creditur, ab Angelis cantatur in coelo.
Pro signo Prosae, vel quod à Teutonicis Sequentia* nominatur, leva manum inclinatam, et a
pectore amovendo eam inverte, ita ut quod prius erat sursum, sit deorsum.
*Prosa, Sequentia: Oratio, quae in Missa ante Evangelium in majoribus festis canitur.
Pro signo Tractus, trahe manum per ventrem de deorsum, quod longum semper significat, et
contra os applica manum quod cantum.“
Auf Deutsch: (Überschrift), Kapitel XVII: „Erklärung der Zeichen“
„Über diese aber (der Zeichen), welche sich auf den Gottesdienst beziehen: erstens für das Zeichen der Lesung (Epistel) den Zeigefinger gegen die Hand oder die Brust stoßen und ein bißchen
zusammengezogen so herbeiziehen gleichsam wie man ein Blatt einer Handschrift dreht.
Für das Zeichen des Responsoriums das Fingerglied des Daumens nach unten schieben und so
machen, daß sich dieses nach unten bewegt.
Für das Zeichen der Antiphon oder des Responsoriumsverses das Fingerglied des Daumens nach
unten schieben und füge hinzu, daß dieses herabgesprungen sei.
Für das Zeichen des Allelúia hebe die Hand und mit allen gebeugten Fingern bewege sie gleichsam wie Flügel, ähnlich wie die Engel, weil man glaubt, daß die Engel im Himmel dies singen.
Für das Zeichen der Prosa, oder welche von den Germanen (Deutschen) Sequentia* genannt
wird, hebe die Hand geneigt und diese von der Brust entfernt umdrehe, so daß was früher nach
oben war nunmehr nach unten sei.
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* Fußnote im Text: Prosa, Sequentia: Gebet, das im Gottesdienst in den großen Festen vor dem
Evangelium gesungen wird.
Für das Zeichen des Tractus ziehe die Hand am Bauch nach unten, welches immer die Länge des
Gesangs bedeutet und richte die Hand gegen den Mund.
Der Primicerius (Scholaleiter) hat also die Aufgabe Zeichen zu geben, damit sich die Scholaren
merken, was gesungen werden muß. Es waren also Zeichen für den Anfang des Gesangs und
keine „Cheironomie“ des ganzen Gesangs.
Wie wurden diese Vorschriften „interpretiert“ ? Was erfahren wir diesbezüglich aus dem Mittelalter ?
Einzig und allein Ekkehard IV (980-1060) berichtet in seiner Chronik Casus sancti Galli folgende Begebenheit:
Hinweis: Der Text im original ist lateinisch; die Übersetzung hat erstmals 1858 Anselm Schubiger in Die Sängerschule St. Gallens, (Einsiedeln und New-York: Gebrüder Benzinger, 1858),
Seite 82 geliefert. Zitat:
„Als nämlich Kaiser Konrad II. im Jahre 1030 zu Ingelheim das Osterfest feierte, und in glänzendem Ornate, umgeben von der Fürsten des Reiches, dem Gottesdienste beiwohnte, da traf es
den Ordensmann von St. Gallen, in der Mitte des Chores, dem kaiserlichen Throne gegenüber,
die Sequenz des hohen Festes zu singen. Kaum hatte er vorschriftsgemäß seine Hand zur Intonation des Gesanges in die Höhe erhoben, als drei Bischöfe, die dem Throne des Kaisers am nächsten saßen, ihre Sitze verließen, zum Monarchen sich wandten und zu ihm sprachen: ‚Herr ! wir
gehen, um dem Meister in jenem Fache unsern Beistand zu leisten, in dem er selber uns einst
unterrichtet hat‘. So stiegen sie dann herab, nahten sich in reichem Pontifikalschmucke dem
Mönche von St. Gallen, neigten sich mit Ehrfurcht vor ihm, und halfen ihm den Gesang, den er
sie selber einst gelehrt, bis zu seinem Schluß vortragen.“
Dieselbe Begebenheit und derselbe Text (im original lateinisch) wurde 1965 von Georg Schünemann in Geschichte des Dirigierens, (Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1965, Seite 17) wie
folgt „übersetzt“, Zitat:
„So findet sich in einem Bericht über eine Osterfeier in Ingelheim, die im Jahre 1030 abgehalten wurde,
eine interessante Bemerkung über die Direktion einer Sequenz. Ekkehard IV. aus St. Gallen, der nach
Mainz als Dirigent einer Singschule berufen war, mußte in Ingelheim vor Kaiser Konrad und vielen Bischöfen und Fürsten die Ostersequenz Laudes Salvatori dirigieren. Der Chronist gibt davon folgende
Beschreibung: ‚Mitten im Chore, dem kaiserlichen Throne gegenüber, stand der choralkundige Mönch
von St. Gallen, um den Gesang zu leiten. Als nun nach dem Allelúia Pascha nostrum die Sequenz beginnen sollte und der Kantor die Hand erhoben hatte, um, wie es sich gebührt, die Weisen der Sequenz mit
der Hand zu malen, da ereignete sich das dem Kantor so Ehrenvolle, daß drei Bischöfe im Pontifikalschmuck in den Chor hinabstiegen, um mit ihm die Gesänge zu singen, die er sie in St. Gallen selber
gelehrt hatte.“
Da hier 2 grundsätzlich verschiedene Übersetzungen des einen und desselben Textes liegen, muß
der lateinische Originaltext herangezogen und untersucht werden. Um auf Nummer sicher zu
gehen, habe ich den ersten, im Jahre 1877 gedruckten Text genommen, und zwar den Ekkeharti
(IV.) Casus sancti Galli aus St. Gallische Geschichtsquellen, neu herausgegeben durch G. Meyer
von Knonau, (St. Gallen: Verlag Huber & Co, 1877), Seiten 238-239, den ich hier vorlege:
[...] „ Chuonrado imperatore in Ingilinheim pascha agente, sancti Galli monacho scolas Magontiae curante, officium, ut solitum est, in medio chori crebro coronati inspectu agere. Cumque manum ille ad modulos
sequentiae pingendos rite levasset, tres episcopi, hominis quondam discipuli, imperatori in throno proximi: Ibimus, ajunt, domine, et magistrum in eo, quod ipse nos docuit, juvabimus.“
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Auf Deutsch: (meine Übersetzung):
„Als Kaiser Konrad zu Ingelheim Ostern feierte, der Ordensmann von St. Gallen, der die Mainzer Schule leitete, hatte sein Amt, wie gewöhnlich in der Mitte des Chores unter den Augen der
zahlreichen Gekrönten zu leisten. Als dieser, vorschriftsgemäß, die Hand erhob, um für den
rhythmischen Gesang Sequenz das Zeichen zu geben, drei Bischöfe, ehemalige Schüler dieses
Mannes, die in der Nähe des Thrones des Kaisers saßen, sagten: ‚Wir gehen, Herr, um dem Meister zu helfen, in dem, was er uns selbst unterrichtet hat.“
Fazit: Die Übersetzung von Anselm Schubiger (1858) ist richtig.
Die Übersetzung von Georg Schünemann (1965) ist nicht richtig. Er verwendet Begriffe,
die im Originaltext nicht vorkommen:
„Choralkundiger“ Mönch = alle Mönche waren damals „Choralkundige“. Im Text ist keine Rede
davon.
„Den Gesang zu leiten“ = der Gesang wurde damals nicht „geleitet“. Das Wort agere heißt ausführen, vortragen und nicht leiten.
„Allelúia Pascha nostrum“ = Im Text ist keine Rede davon.
„Die Weisen der Sequenz mit der Hand zu malen“ = Im Text wird anders berichtet: „Er (der Ordensmann) erhob (levasset) die Hand, um für den rhythmischen Gesang Sequenz (modulos sequentiae) Zeichen zu geben (pingendos).
Das Wort modulus, das „gewöhnlich“ mit Weise, Tonfolge (eines Gesangs) übersetzt wird, hat
auch die Bedeutung: rhythmischer Gesang, wie G. Meyer von Knonau (den ich oben zitiert habe) in der Fußnote zum lateinischen Text erklärt hat. Zitat: „Zu ‚modulus‘ vgl. Ducange, ed.
Henschel, Bd. IV. Seite 462: ‚cantus rhythmicus‘, wo als Zeugnis angemerkt ist: ‚Modulus dicitur cantus, qui praecinitur in principio missae vel horarum, et dicitur etiam tropus“.
Modulus kann also hier nicht mit „Weise“ übersetzt werden, sondern mit cantus rhythmicus.
Warum aber dieser Wirrwarr mit diesem lateinischen Text ?
Das ist wiederum der „springende Punkt“ die „Streitfrage“ der Benediktiner von Solesmes.
Nachdem die ganze Welt erfahren hat, daß die „rhythmischen Zeichen“ Mocquereaus keine wissenschaftliche Grundlage haben und damit das ganze rhythmische System „obsolet“ geworden
ist, brauchen sie einen Nachweis, eine historische Quelle, daß der Gregorianische Choral im
Mittelalter dirigiert wurde. Darum wurde dieser einzige mittelalterliche Text manipuliert.
Das Dirigieren des Gregorianischen Chorals bleibt weiterhin müßig. Selbst Eugène Cardine in
seiner kurzen Abhandlung mit der Überschrift: Dirigieren des Gregorianischen Gesangs, Deutsche Übersetzung von Johannes Berchmans Göschl, (Solesmes: Abbaye Saint-Pierre, 2003),
Seite 4 gibt zu, Zitat: „Mit Sicherheit wurde der Gregorianische Gesang nicht dafür geschaffen,
mit der Hand dargestellt zu werden.“ Das Dirigieren hat also keine historische Grundlage.
Und die „Cheironomie“ ? „La chironomie bien comprise“ Mocquereaus ?
Eine präzise Ortung der Cheironomie gibt es bei JSTOR in Revue de Musicologie, Vol.49e,
No.127 (Dec., 1963) Seiten 155-171, Zitat:
„Les méthodes contemporaines de chant grégorien enseignent une manière pratique de diriger le chant
qui porte le nom de „chironomie“. Dans ces manuels, la chironomie est présentée comme un mouvement
de la main, souple et précis, qui tente de traduire d’une manière plastique, au moyen de courbes et
d’ondulations, le rythme sonore de la mélodie : en un mot, „la projection dans l’espace du rythme sonore“.
Inutile de s’étendre ici sur le détail des règles de la chironomie moderne. Remarquons seulement, pour
demeurer dans la ligne de notre recherche historique, que le mot „chironomie“ – au sens musical – apparaît pour la première fois en France dans le premier volume de la Paléographie Musicale, en 1889, à
propos de l’origine des notations neumatiques.*
(* Paléographie Musicale, I, pp.96 et ss. Ni le chanoine Gontier (1859), ni Dom Pothier ne paraissent
avoir employé le mot avant Dom Mocquereau, auteur principal de ce tome I.)“
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Auf Deutsch: „Die gegenwärtigen Methoden des gregorianischen Gesangs lehren einen praktischen Stil im Dirigieren des Gesangs, welcher „Cheironomie“ genannt wird. In diesen Lehrbüchern ist die Cheironomie wie eine Handbewegung vorgestellt, geschmeidig und präzise, welche
versucht anhand von Kreisen und Wellen den hörbaren Rhythmus der Melodie zu übertragen:
mit einem Wort: „Die räumliche Projektion des tönenden Rhythmus“.
Zwecklos ist, daß man sich hier über die Einzelheiten der Regel der modernen Cheironomie lange aufhält. Merken wir nur an, um auf unsere historische Linie zu bleiben, daß das Wort „Cheironomie“ – im musikalischen Sinn – zum ersten Mal 1889 in Frankreich im ersten Band von
Paléographie Musicale 1889, in Verbindung mit dem Ursprung der Neumen als Notation erschienen ist.
*Fußnote: Paléographie Musicale, I. Seite 96 ff.: “Weder der Kanonikus Gonthier (1859), noch
Dom Pothier scheinen dieses Wort vor Dom Mocquereau, dem Hauptverfasser dieses I. Bandes
benutzt zu haben.“
In der Tat: Allein Dom Mocquereau hat auch diese Prozedur erfunden. Ihm verdankt die Kirche
seit nunmehr 100 Jahren eine Aufführungspraxis des Gregorianischen Chorals in krassem Gegensatz zur mittelalterlichen Praxis: Mit einem fremden Rhythmus und einer seltsamen Chordirektion. Folgendes Beispiel aus seinem Hauptwerk Le Nombre Musical Grégorien ou Rythmique
Grégorienne, Seite 587 zeigt wie seiner Meinung nach, eine „kunstvolle“ Aufführung sein soll:
Der Text sagt eindrucksvoll was von dieser Aufführung zu halten ist:
„Rette uns, Herr, wenn wir wach sind, behüte uns, wenn wir schlafen :
damit wir wach sind mit Christus, und ruhen in Frieden.
Der Rhythmus sei durch die „Ikten“ (mit den vertikalen Zeichen unter den Noten) und die „Cheironomie“ durch die wellenförmige Linie dargestellt. Durch solche „Gebärden“ dirigiert der
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Scholaleiter gegenwärtig die liturgischen Gesänge aus dem Liber Usualis oder aus dem Graduale Triplex. Kein Kommentar !
Hinweis: Die wellenförmige Linie für die Chordirektion ist eigentlich nicht die „Erfindung“
Mocquereaus, sondern einer Nonne aus dem Kloster Sankt Michael von Kergonan, die aber „anonym“ bleiben wollte. Zitat aus dem Vorwort zum Le Nombre Musical:
„Les dessins chironomiques qui ornent un grand nombre d’exemples de ce volume sont dus à
une moniale de l’Abbaye de St. Michel de Kergonan, qui veut rester anonyme.“
Auf Deutsch: „Die cheironomischen Zeichnungen, welche in großer Zahl die Beispiele dieses
Bands schmücken, sind von einer Nonne aus der Abtei St. Michel de Kergonan gemacht, die
anonym bleiben will.“
Zusammenfassung
Die Ausführung eines Gesangs, eines Musikstückes mit Text ist von seiner Notation abhängig.
Man singt aber nicht „die Notation“, sondern „den Text“ darunter. Das heißt aber, daß man die
Singmethode dazu lernen muß, eine Singmethode, die mit Hilfe von Deklamation (des Textes)
und Solmisation (der Melodie) den Gregorianischen Choral als Textvortrag präsentiert. Diese
zwei Grundprozeduren sind ausführlich hier in meiner Homepage dargestellt.
Die „standardmäßige“ Notation des Gregorianischen Chorals ist die Notation der Editio Vaticana
(Editio Typica 1908). Alle Versuche diese Notation durch „Restitutionen“ nach den Handschriften der Paléographie Musicale zu ersetzen, werden im Endeffekt zwangsläufig zur Entstellung
der traditionellen Fassung des Gregorianischen Chorals führen. Auch besteht die Gefahr, daß
jede Handschrift der Paléographie Musicale zu einer eigenen Version führen wird, die sich natürlich wiederum als „Musikvortrag“ und nicht als Textvortrag etablieren möchte.
Die Nombre Musical Grégorien Mocquereaus und die Gregorianische Semiologie Cardines haben dem Gregorianischen Choral offensichtlich einen „Bärendienst“ erwiesen.
Ausblick
Es ist soweit.
Hiermit will ich allen Lesern meiner Homepage mitteilen, daß ich auch einen „springenden
Punkt“, eine „Streitfrage“ habe. Sie lautet: Quo vadis, liturgische Gregorianik ? Diese Frage betrifft den Rhythmus und die Interpretation des Gregorianischen Chorals.
Der erste „springende Punkt“ ist die Frage des Rhythmus: Hat der Gregorianische Choral einen
Rhythmus ? Und wenn ja, was für einen Rhythmus ? Die Antwort auf diese Frage habe ich ausführlich in meiner veröffentlichten Studie Die Rhythmisierung des Gregorianischen Chorals
(Frankfurt/Main: R.G.Fischer Verlag 1995) gegeben.
Hier der Inhalt meines Buches in Kurzfassung:
Die Reformierung des liturgischen Gesangs durch den Papst Pius X. wurde mit der Veröffentlichung des Graduale der Editio Vaticana (Editio Typica 1908) abgeschlossen. Das Graduale der
Editio Vaticana (Editio Typica 1908) sollte nun als die normative Ausgabe der katholischen Kirche weltweit eingeführt werden. Das ist nicht geschehen. Diese Ausgabe wurde von den Benediktinern von Solesmes bekämpft und durch eine melodisch identische aber rhythmisch entstellte
Ausgabe ersetzt. Diese „wissenschaftliche“ Arbeit wurde von Dom André Mocquereau „geleistet“. Er hat das Graduale von Dom Joseph Pothier übernommen, darin seine „rhythmischen
Zeichen“ eingepflanzt und die Ausgabe seines „Graduale“ als das Graduale der Editio Vaticana
(Editio Typica) weltweit eingeführt. Die offizielle Ausgabe der katholischen Kirche, das Graduale der Editio Vaticana (Editio Typica 1908), das von Dom Pothier in Rom (daher der Name
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Vaticana) veröffentlicht wurde, ist seither weltweit verschwunden (es gibt nur noch ein paar Exemplare davon). Statt dessen wird weltweit ein falsches Graduale gebraucht, das Graduale von
Solesmes, welches unrechtmäßig Graduale der Editio Vaticana (Editio Typica) genannt wird.
Seit 100 Jahren also befindet sich die liturgische Gregorianik auf einem falschen Weg. Ihr wurde
ein Rhythmus aufgezwungen, der ihr wesensfremd ist: Der Rhythmus der Bulgarischen Tänze.
Anmerkung: Spätestens 1938 hätten die Benediktiner von Solesmes die rhythmische „Korrektur“ ihrer Ausgaben vornehmen und die Vaticana (Editio Typica) übernehmen müssen. Béla
Bartók (1881-1945) hatte nämlich 1938 in einem in Budapest gehaltenen Vortrag mit dem Titel
Der sogenannte Bulgarische Rhythmus den asymmetrischen Rhythmus (2+3 Zeiteinheiten) als
den Rhythmus der Bulgarischen Tänze definiert. (Quelle: Stichwort „Bulgarischer Rhythmus“,
Lübbes Bartók Lexikon (Bergisch-Gladbach: Gustav Lübbe, 1984), Seite 35.
Der zweite „springende Punkt“ ist die Frage der Interpretation: Soll im Gregorianischen Choral
der Text (Textvortrag) oder die Melodie (Musikvortrag) im Vordergrund stehen ? Die Editio
Vaticana (Editio Typica) will den Text; die Benediktiner von Solesmes wollen die Melodie interpretieren.
Bereits 1948 hat Dom Eugène Cardine (1905-1988) die ersten Weichen für die Erforschung der
Paléographie Musicale gestellt. 1966 hat er sein Graduel neumé herausgegeben, in dem die
sanktgallischen Neumen als „Garant“ einer „authentischen“ Interpretation gepriesen werden. Ich
will nun Cardine auf den Zahn fühlen und sein Graduel neumé kritisch untersuchen. Ich will
damit endgültig die Position der Vaticana (Editio Typica) in der Frage der Interpretation des
Gregorianischen Chorals klarstellen.
Anmerkung: Zu diesem Entschluß wurde ich durch mehrere Äußerungen von Besuchern meiner
Homepage gedrängt, von denen ich im folgenden zwei mir zugeschickten E-mails bekanntgebe:
Eine Besucherin schrieb mir am 18. November 2008:
„Ich habe Ihre Website mit Interesse gelesen. Seit Anfang der siebziger Jahre hat sich in weiten Teilen
Europas die sog. gregorianische Semiologie verbreitet, die die Ausführung des Gesangs an den alten
Codices und den darin enthaltenen Neumenhandschriften ausrichtet, d.h. an seinen Wurzeln. Wie stehen
Sie zu diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die vorwiegend in der Benediktinerabtei von Solesmes
vorbereitet und durch Eugene Cardine im Pontificio Instituto di Musica Sacra Rom grundlegend erarbeitet
worden sind ?“
Ein Besucher schrieb mir am 10. Juni 2009:
„Darf ich Sie fragen, ob Sie die Gregorianischen Melodien tatsächlich nach den Ikten der Vaticana singen
? Wenn ja: Wir befinden uns mittlerweile im Jahr 2009 und ein Godehard Joppich, ein Franz Prassl, ein
Stefan Klöckner – alles namhafte Professoren im Fach Gregorianik haben bereits eindrucksvoll bewiesen, dass man sich zwingend an den Neumen zu orientieren hat, wie sie z.B. im Graduale Triplex stehen,
um der richtigen Singweise dieser Melodien wenigstens einigermaßen nahe zu kommen ! Wie können
Sie dann eine solche Internetseite veröffentlichen, solche Bücher herausgeben und sich mit dem Imprimatur einer römischen Behörde schmücken, bei der diese neuen Entwicklungen auch noch nicht angekommen sind ?“
Der Tenor aller Einwände gegen meine Homepage und implizit gegen die Singmethode der Editio Vaticana (Editio Typica) ist offensichtlich die Nichtbeachtung der „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ Cardines & Co.
Was für „Erkenntnisse“ verkündet Cardine ? Schauen wir mal nach:
Begonnen hat er seine „wissenschaftliche Forschung“ 1966 mit seinem Graduel neumé. Gleich
im Vorwort unter der Überschrift Avertissement gibt er das Ziel seines Werkes bekannt: Er will
damit die Editio Vaticana (Editio Typica) gegenüber der Neumen-Notation der sanktgallischen
Handschriften 339 und 359, der Einsiedeln 121 und Bamberg stellen. Die Welt soll dadurch er-
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fahren und mit den eigenen Augen sehen, daß die Editio Vaticana (Editio Typica) Fehler hat. Die
„Fehler“ hat er fein säuberlich in einer Liste nach dem Titelbild des als „Editio Vaticana“ 1908
von Mocquereau in Solesmes herausgegebenen „Graduale“ eingetragen. Dieses „Graduale“
benennt er nun Graduel neumé, das heißt „Graduale mit Neumen“ und meint, daß die Neumen
zeigen werden, wo die Editio Vaticana (Editio Typica) Fehler hat. Damit hat er aber auch einen
Fehler gemacht. Denn man kann nicht über ein Werk urteilen ohne das Werk „im Original“ zu
verwenden. Die von ihm verwendete Ausgabe ist nicht die Editio Vaticana (Editio Typica) von
Dom Pothier im Jahre 1908 im Vatikan herausgegeben, sondern eine von Dom Mocquereau in
Solesmes „nachgemachte“ (ad exemplar editionis typicae concinnatum) Ausgabe, wie im folgende Gegenüberstellung der beiden Ausgaben ersichtlich ist. Links Editio Vaticana (Editio Typica), rechts das „Graduale“ Mocquereaus:
Beide Ausgaben sind 1908 erschienen: Die Editio Typica die normative Ausgabe (links) in Rom;
das „Graduale“ Mocquereaus (rechts) in Tournay (Belgien). Zunächst ist die historische Wahrheit festzuhalten, daß die Mönche von Solesmes im Jahre 1908 keine Lizenz hatten, die Editio
Vaticana bzw. Editio Typica im Verlag Desclée & Socii herauszugeben. Das „Graduale“
Mocquereaus, bzw. das Graduel neumé von Cardine ist demgemäß unrechtmäßig und kann und
darf nicht die Bezeichnung Graduale Sacrosanctae Romanae Ecclesiae im Titelblatt verwenden.
Frage: Wer gibt die Lizenz zur Herausgabe eines normativen Graduale ?
Antwort: Die Lizenz zur Herausgabe eines normativen Graduale (auch Imprimatur genannt)
wird nur von der römischen Behörde im Vatikan, zur Zeit die Congregatio de Cultu Divino et
Disciplina Sacramentorum (auf Deutsch: Gottesdienstkongregation) erteilt.
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Papst Pius X. hat per Dekret pontifikal (am 25. April 1904) beschlossen, daß die Editio Vaticana
(Editio Typica) Eigentum des Heiligen Stuhles ist; den Verlegern aller Nationen wurde aber das
Recht eingeräumt Teile daraus auszugsweise, oder auch die liturgischen Bücher vollständig herauszugeben, vorausgesetzt, daß sie die Texte und die Melodien nicht ändern und daß sie die Erteilung der Lizenz beantragen. Die Verleger Schwann aus Düsseldorf und Pustet aus Regensburg
haben die Erteilung des Imprimatur für das Graduale der Editio Vaticana (Editio Typica) in Rom
beantragt. Ihre Ausgaben wurden von der römischen Behörde genehmigt, da sie die Texte und
die Melodien der Editio Typica nicht geändert haben.
Der Verleger Desclée & Socii hat die Erteilung des Imprimatur nicht beantragt, weil er wußte,
daß die Melodien seines „Graduale“ durch Hinzufügen von „rhythmischen Zeichen“ grundsätzlich geändert wurden und darum hätte er bestimmt kein Imprimatur erhalten können.
Und so sieht ein Imprimatur aus:
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Dieses Imprimatur (Druckerlaubnis) wurde im Jahre 1908 von der römischen Behörde im Vatikan dem Graduale der Editio Vaticana, Editio Typica von Dom Pothier erteilt. Dreisprachig
wurde auf das Eigentumsrecht des Vatikans hingewiesen, wie folgt:
„Gemäß aller authentischen Dekrete die Vatikanische Druckerei behält sich alle Eigentumsrechte. Die Lizenz zum Nachdruck des Gesangs, welcher sich in diesem normativen Graduale befindet, kann auf die Verleger oder Herausgeber ausgedehnt (pertinet) werden, denen der Heilige
Stuhl die Erlaubnis dazu erteilt; eine solche Lizenz überträgt (confertur) jedoch keine Rechte
über diesen Gesang.“
Nun zurück zum Graduel neumé. Wie bereits erwähnt, hat Cardine dieses „Graduale“ benutzt,
um die „Fehler“ der Vaticana (Editio Typica) anzuzeigen. Hier nun zeige ich die gescannte Liste
der „Fehler“, die er in seinem Graduel neumé gleich nach dem Titel gedruckt hat:
38
Die Zahlen geben die Nummer der Seiten aus dem Graduel neumé an. Am Rand jeder Seite hat
Cardine durch zahlreiche Adnotationen und Vermerkungen die angeblichen „Fehler“ der Vaticana (Editio Typica) angezeigt.
Nun zur Untersuchung der „Fehler“ der Reihe nach. Da Cardine in seiner „Listes de comparaisons“ die von ihm genannten Stellen nicht numeriert hat, werde ich sie als „Zeile“ gefolgt von
Zahlen bezeichen. Jede Seite beginnt also mit Zeile 1.
Zeile 1 aus seiner „Liste“ (Seite 1): „Crases de 2 voyelles de même son : p. 93
39
Auf Deutsch: Zusammenstoß zweier Vokalen auf denselben Ton : Seite 93
Kommentar: Es handelt sich dabei um den Tractus De necesitátibus. Die beanstandete Stelle
befindet sich im Text bei den Worten: univérsi qui te expéctant. Der Vokal e von te stößt auf den
Vokal e von expéctant auf denselben Tonhöhe bemängelt Cardine:
Er weiß offensichtlich nicht, daß in diesem Fall die 2 Worte auseinander zu halten sind, da er
nicht den Text, sondern die Melodie analysiert. Die Vaticana (Editio Typica) richtet sich aber
nach dem Text. Zitat aus Ignaz Mitterer, Praktischer Leitfaden für den Unterricht im Römischen
Choralgesange, (Regensburg: Alfred Coppenraths Verlag, 1911), Seite 24:
„Auch die einzelnen Worte des Satzes sollen durch eine kleine, fast unmerkliche Pause (tempus latens
bei Quintiliánus) auseinander gehalten und nicht so eng zusammen gesprochen werden, wie die Silben
eines und desselben Wortes. Ganz besonders muß man sich diese Regel dann vor Augen halten, wenn
ein Wort mit einem Vokal auslautet, das nächste aber mit einem Vokal anlautet, zum Beispiel Kyrie | eléison, nicht Kyrieleison, Veni | elécta mea, nicht Venielectamea.“
Zeile 2 aus seiner „Liste“ (Seite 1): Crases de 2 voyelles de même son : p. 33 (adjonction malhereuse).
Auf Deutsch: Zusammenstoß zweier Vokale auf denselben Ton : Seite 33 (mißgeschickte Hinzufügung).
Kommentar: Es handelt sich um den Introitus Puer natus est, wo das Wort consílii angeblich
aus 3 Silben con-sí-lii und nicht aus 4 Silben con-sí-li-i bestehen soll. Dies wird damit begründet,
daß die Tonfigur Clivis praebipunctis allein für die Silbe li notiert wurde und die sanktgallische
Handschrift für das letzte i der Vaticana (Editio Typica) kein Zeichen angibt. Das Beispiel Cardines (Seite 33) deutet an, daß das letzte i mit dem i aus der Silbe li „verbunden“ werden muß:
40
Die lateinische Sprache kennt aber bestimmte Regeln, die man auch im Gesang einhalten muß:
Das Wort consílium wird in der Deklination immer aus 4 Silben zusammengesetzt. Diese sind
getrennt in Wortstamm und Wortendung wie folgt:
Nominativ: consíli- um (Wortstamm: consíli – Endung: um); 4 Silben: con-sí-li-um
Genitiv : consíli- i
(Wortstamm: consíli – Endung: i); 4 Silben: con-sí-li-i usw.
Die 2 i am Ende des Wortes consílii dürfen also nicht zusammen, sondern getrennt gesungen
werden, weil sie zwei getrennte Textsilben ausmachen.
Die Vaticana (Editio Typica) hat hier das Wort consílii nach den Regeln der lateinischen Sprache korrekt vertont:
Die Nachfahren Cardines aber, die sich mit der „Restitution“ der Gesänge der Editio Vaticana
(Editio Typica) nach den „semiologischen Befunden“ beschäftigen und die im Internet unter:
www.gregor-und-taube.de/html/materialien.htm
das ganze Graduale als pdf-Dateien zum runterladen kostenlos anbieten, haben der „Anweisung“
des „Meisters“ Cardine Folge geleistet und das Wort consílii im Puer natus est in nur 3 Silben
„zusammengezogen“:
Angesichts solcher Vorkommnisse kann ich nur raten, daß diejenigen, die mit dem Latein nicht
zurechtkommen, sich mit der Gregorianik auch nicht „beschäftigen“ sollten.
Zeile 3 aus seiner „Liste“ (Seite 1): In diesem Fall kann keine Analyse erfolgen, da die Vaticana
(Editio Typica) keine „Ikten“ hat.
Zeile 4 aus seiner „Liste“ (Seite 1): Crases de 2 voyelles de même son : p. 275 (un seul neume).
Auf Deutsch: Zusammenstoß zweier Vokale auf denselben Ton: Seite 275 (eine Neume).
Kommentar: Es handelt sich um das Wort allelúia. Die 2 Vokalen u und i sind zwar im Unison
aber durch einen Zwischenraum merklich getrennt, sodaß der Sänger mit einem neuen Stimmansatz hier keine Schwierigkeit hat diese Stelle auszuführen:
    
lú- ia.
41
Fall 5 aus seiner „Liste“ (Seite 1): mêmes textes = mêmes mélodies : 159
Auf Deutsch: Gleiche Texte = gleiche Melodien : (Seite) 159
Kommentar: Die Aussage Cardines ist hier nicht richtig. Die Texte sind nicht „gleich“:
Der erste Text lautet:
Pueri Hebraeórum, portántes ramos olivárum, obviavérunt Dómino,
clamántes, et dicéntes : Hosánna in excélsis.
Der zweite Text aber lautet:
Pueri Hebraeórum vestiménta prosternébant in via, et clamábant dicéntes :
Hosánna fílio David : benedíctus qui venit in nómine Dómini.
Fazit: Auch die Melodie kann hier also nicht „gleich“, sondern bestenfalls „ähnlich“ sein.
Es ist merkwürdig, daß Cardine auch diesen Fall als „Fehler“ der Vaticana (Editio Typica) angibt.
Zeilen 6, 7, 8 aus seiner „Liste“ (Seite 1): Alles Neumen „in campo aperto“.
Kommentar: Für die Vaticana (Editio Typica) sind alle diese „Fälle“ irrelevant. Sie kommt ohne Neumen „in campo aperto“ bestens aus.
Zeile 9 aus seiner „Liste“ (Seite 1): „emboîtement“ de motifs musicaux : [39], 35, 64, 55
Auf Deutsch: Ineinandergreifen von musikalischen Motiven. Seiten [39], 35, 64, 55
Kommentar: Was Cardine unter „emboîtement“ versteht, ist vorbildlich aus der Analyse des
Offertoriums Jubiláte Deo, Seite 55 seines Graduel neumé zu entnehmen:
Die von Cardine beanstandete Stelle ist im vorletzten System bei den Worten ipse est zu finden.
42
Seiner Meinung nach sollte die Vaticana (Editio Typica) die Textsilbe pse des Wortes ipse nur
mit der ersten Clivis (do-si) aus der Gruppe von 3 Clivis belegen. Die folgenden 2 Clivis (do-sido-la) sollte sie dann dem folgenden Wort est zuweisen, das dann auch den Porrectus cum Bipunctis (do-si-do-la-sol) miteinschließt. Als „Beweis“ für dieses „Ineinandergreifen“ sieht er die
2 (fast) identische Neumen, die „vereint“ vom Schreiber der Handschrift aufgezeichnet wurden.
Der Herausgeber des Graduale Triplex hat diese Stelle auf Seite 260 „korrigiert“, wie folgt:
Also genau nach den Angaben Cardines. Das Wort est von der Vaticana (Editio Typica) wurde
eingeklammert.
Die Sache hat aber einen Hacken und zwar den graphisch zu kurzen Abstand zwischen ipse und
est. Es reicht nämlich nicht aus, um die 2 Worte ipse und est auseinander zu halten. Es muß
nämlich heißen ipse | est und nicht ipseest. Dagegen die Lösung der Vaticana,(Editio Typica):
Dom Pothier hat die 2 „Motive“ do-si-do-la und do-si-do-la-sol den beiden Worte ipse und est
zugewiesen und somit sowohl melodisch als auch sprachlich dieses Problem korrekt erledigt:
Der beträchtliche Abstand zwischen den Neumen der Textsilbe pse und den Neumen des Wortes
est gewährleistet eine korrekte Aussprache des Textes. Denn durch den Gesang darf nicht verwischt werden, was mit den Worten ipse und est theologisch verkündet werden muß: Ipse steht
da für Dóminus und die theologische Aussage lautet: Dóminus est Deus ! Im Vordergrund der
Singmethode der Editio Vaticana (Editio Typica) steht der Text und nicht die Musik.
An dieser Stelle wiederhole ich das Zitat von Ignaz Mitterer aus seinem Buch Praktischer Leitfaden für den Unterricht im Römischen Choralgesange, (Regensburg: Alfred Coppenraths Verlag, 1911), Seite 24, um das Vorgehen der Vaticana (Editio Typica) zu rechtfertigen:
„Auch die einzelnen Worte des Satzes sollen durch eine kleine, fast unmerkliche Pause (tempus latens
bei Quintiliánus) auseinander gehalten und nicht so eng zusammen gesprochen werden, wie die Silben
eines und desselben Wortes. Ganz besonders muß man sich diese Regel dann vor Augen halten, wenn
ein Wort mit einem Vokal auslautet, das nächste aber mit einem Vokal anlautet, zum Beispiel Kyrie | eléison, nicht Kyrieleison, Veni | elécta mea, nicht Venielectamea.“
Zeilen 10 und 11 aus seiner „Liste“ (Seite 1): Eingereihte Neumen in campo aperto.
Kommentar: Für die Vaticana (Editio Typica) sind alle diese Neumen belanglos, da die Vaticana (Editio Typica) keine Neumen in campo aperto hat.
Zeile 12 aus seiner „Liste“ (Seite 1): (Bivirga) sur finale de mot „remontante“ : 128
Auf Deutsch: Bivirga (dargestellt als Neume) hinaufgehend am Ende des Wortes: Seite 128
Kommentar: Es handelt sich um den Introitus Laetáre Jerúsalem, wo beim Wort ubéribus der
Schreiber auf die letzte Silbe des Wortes bus eine Bivirga gezeichnet hat:
43
Cardine wundert sich, daß das Wort ubéribus mit einem Sprung nach oben endet. Für ihn wurde
der Melodie dadurch eine „verfremdende Ausdruckskraft“ gegeben. (Siehe dazu sein Hauptwerk
Gregorianische Semiologie, Seite 152.)
Nach der Singmethode der Vaticana (Editio Typica) aber soll hier der Text und nicht die Melodie untersucht werden. Der Text aus dem Buch Jesaja 66, 10-11 lautet:
„Freut euch mit Jerusalem und jubelt,
ihr alle, die ihr die Stadt liebt.
Seid fröhlich zusammen mit ihr,
alle, die ihr traurig wart über sie !
Saugt euch satt an ihrer tröstenden Brust,
schlürfen sollt ihr mit Wonne
an der Mutterbrust ihrer Herrlichkeit !“
Wenn Cardine das Buch Jesaja aufmerksam gelesen hätte, hätte er sich nicht mehr gewundert,
daß die Melodie bei ubéribus (Brust) mit einem Sprung nach oben endet. Es ist nämlich die
„Mutterbrust“ des himmlischen Jerusalems, die Jesaja in seiner Vision ganz oben gesehen hatte.
Denn gleich am Anfang seines Buches beklagt er das irdische Jerusalem, wie folgt (Jes 1, 21):
„Ach, sie ist zur Dirne geworden, die treue Stadt.
Einst galt dort das Recht,
die Gerechtigkeit war dort zu Hause,
jetzt aber herrschen die Mörder.“
Es tut mir Leid für Cardine sagen zu müssen, daß er mit seinen „semiologischen Befunde“ hier
nichts erklären kann. Komponist, Schreiber und Verfasser der Vaticana (Editio Typica) haben
hier durch eine „verfremdende“ Melodie das Wort des Propheten vertont, der vom himmlischen
Jerusalem spricht. Dies zeigt sich gleich am Anfang des Intróitus, wo das Wort Jerusalem melodisch ebenfalls steigend vertont wurde:
Intr.
V.
L   
AE-TA-
      
RE * Je-rú-sa-lem :
Weitere Zeilen aus seiner „Liste“ (Seite 1) und zwar 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21 und 22:
Kommentar: Alle sind Neumen in campo aperto, die für die Vaticana (Editio Typica) irelevant
sind, da sie keine Neumen in campo aperto hat.
Zeilen 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31 aus seiner „Liste“ (Seite 1): cadences oxytoniques, paroxytoniques, proparoxytoniques.
Auf Deutsch: oxytonische, paroxytonische, proparoxytonische Kadenzen.
Kommentar: Zunächst ist festzustellen, daß die Bezeichnungen „oxytonische, paroxytonische
und proparoxytonische Kadenzen“ in der Verslehre vorkommen und Versschlüsse definieren,
wie folgt:
44
Oxytonisch ist die Kadenz auf eine betonte Silbe (X) und paroxytonisch auf eine unbetonte Silbe
(Xx). Proparoxytonisch wäre dann ein Versschluß mit 3 Silben (Xxx) – eine betonte gefolgt von
2 unbetonten Silben.
Für den Fall von oxytonische und paroxytonische Versschlüsse gibt die Allgemeine Verslehre
das Beispiel des Gedichtes von Friedrich Schiller „Die Glocke“, wie folgt, an:
Fest ge | mauert | in der | Erde ------------ (paroxytonisch = Xx = Ér-de)
Steht die | Form aus | Lehm ge | brannt – (oxytonisch = X = ge-bránnt)
Heute | muß die | Glocke | werden ! ------ (paroxytonisch = Xx = wér-den)
Frisch, Ge | sellen | seid zur | Hand ! ------(oxytonisch = X = Hánd)
Legende: mit X sind betonte und mit x unbetonte Silben gekennzeichnet.
Kommentar: Diese von Cardine angegebenen „Fehler“ der Vaticana (Editio Typica) sind also
keine Fehler, da in der Gregorianik die Verslehre keine Anwendung findet.
Schauen wir uns dennoch zur Dokumentation die Zeilen 23 und 24 aus seiner „Liste“ (Seite 1)
an, wo er aus seinem Graduel neumé die Communio Illúmina fáciem tuam (Seite 66) mit der
Spezifizierung spéciales (auf Deutsch: besondere) und d’emprunt (auf Deutsch: ausgeliehene)
die letzten Worte des Textes als cadences oxytonique bezeichnet:
Illúmina fáciem tuam super servum tuum,
Et salvum me fac in tua misericórdia :
Dómine, non confúndar, quóniam invocávi te.
Er betrachtet diesen Text als „Gedicht“ und unterstreicht die letzten 3 Silben als „Kadenz“:
Auch wenn die nova vulgata diesen Text in „Versen“ einteilt, ist er dennoch kein Gedicht, sondern Prosa, weil darin keinen „gebundenen“ Rhythmus und keinen Reim zu finden ist.
17 illustra faciem tuam super servum tuum,
salvum me fac in misericordia tua.
18 Domine, non confundar, quoniam invocavi te.
In seinen Bemühungen „Fehler“ der Vaticana (Editio Typica) aufzuzeigen, ist Cardine mit diesen Beispielen zu weit gegangen. Das Graduale hat nur wenige Texte in „gebundener Sprache“
als Gedichte, wie zum Beispiel Lauda Sion Salvatórem oder Victimae pascháli laudes. Diese
aber haben keine Neumen und so konnte sie Cardine in seinen „semiologischen Untersuchungen“
nicht miteinbeziehen.
Zeile 1 aus seiner 2. Seite der Listes de comparaisons: accents faux : [43]
Auf Deutsch: falsche Akzente : [43]
Kommentar: An dieser Stelle bemängelt Cardine in seinem Graduel Neumé, daß im Graduale
der Vaticana (Editio Typica) beim Gradualgesang Justus ut palma das Wort Líbani mit Libáni,
45
falsch akzentuiert sei. Hiermit habe ich die betreffende Stelle aus der Vaticana (Editio Typica)
gescannt um zu zeigen, daß Cardine falsche Angaben gemacht hat:
Nicht die Vaticana (Editio Typica), sondern sein Graduel Neumé hat das Wort Libáni falsch akzentuiert, wie die betreffende Stelle (Seite [43]) zeigt, die ich ebenfalls gescannt habe:
Zeile 2 aus seiner „Liste“ (Seite 2): notes doubles culminantes : 97
Auf Deutsch: verdoppelte Noten als Höhepunkt : (Seite) 97
Kommentar: Die Angabe ist vieldeutig: Das Graduale Protector noster auf Seite 97 seines Graduel neumé hat mehrere Stellen mit Doppelnoten als Höhepunkte, so daß hier keine Analyse
möglich ist. Außerdem gibt es dazu keinen Textverweis, was für die Vaticana (Editio Typica)
von Belang wäre.
Zeile 3 aus seiner „Liste“ (Seite 2): salicus à l‘unisson : sur sol : [28]; sur la : 232
Auf Deutsch: salicus im Gleichklang : auf sol : [28]; auf la : 232
Kommentar: Beide Stellen können nicht als „Fehler“ bezeichnet werden. Die betreffenden
Neumen wurden in der Editio Vaticana (Editio Typica) korrekt in Quadratschrift übertragen.
Zeile 4 aus seiner „Liste“ (Seite 2): mots accentués sur la dernière syllabe : 94
Auf Deutsch: Betonte letzte Silbe im Wort : (Seite) 94
Kommentar: Es handelt sich um das Offertorium Bénedic ánima mea Dómino. Cardine bemängelt, daß die Vaticana (Editio Typica) falsch betont mit benedíc, statt bénedic.
Hiermit habe ich die betreffende Stelle aus der Vaticana (Editio Typica) gescannt um zu zeigen,
daß Cardine falsche Angaben gemacht hat:
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Über der Textsilbe DIC im Wort BENEDIC ist kein Akzent zu sehen. Übrigens die Vaticana
(Editio Typica) setzt keine Akzente über Worte in Großbuchstaben geschrieben (Majuskel).
Nicht in der Vaticana (Editio Typica), sondern in sein Gradualbuch, das er als „die Vaticana“
bezeichnet hat, steht das Wort Benedíc falsch akzentuiert, wie die betreffende Stelle aus seinem
Graduel neumé zeigt, die ich ebenfalls gescannt habe:
Zeilen 5, 6, 7, 8, 9 und 10 aus seiner „Liste“ (Seite 2): temps composés et rythme 593
- l’articulation syllab. Modifie |
- Auf Deutsch: silbenmäßige Lautbildung
- le groupement rythm. Élément. | 556 - Auf Deutsch: Gruppierung des rhythm. Elements
- (2 Neumen) en mélisme 365 | - Auf Deutsch: 2 Neumen in Melisma
- (4 Neumen, der Reihe nach) 301
- cadence sur si : 304
| - Auf Deutsch: Abschluß auf si : Seite 304
Kommentar: Alle diese „Fehler“ sind als rhythmische Fehler bezeichnet, wobei die Neumen
mehr oder minder die Gruppierungen der Vaticana (Editio Typica) nicht bestätigen. Da aber die
Vaticana (Editio Typica) für alle Gläubigen (nicht nur für „Spezialisten“) gemacht wurde, versteht sich von selbst, daß die Gruppierungen eng geordnet wurden, um für das Atemholen Platz
zu machen. Repräsentativ für alle diese „Fälle“ zeige ich das Graduale Dispérsit, dedit aus dem
Graduel neumé, Seite 556:
Cardine will das Melisma über der Textsilbe li im Wort saéculi ohne divisio minima (kurze
Atempausen) singen lassen. Im Melisma über der Textsilbe ter im Wort terra läßt er nur eine
divisio minima gelten und in den Melismen über ejus und rectórum sollen die Atempausen eben-
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falls wegfallen. Das Graduale Triplex (Seite 520) behält jedoch mit Ausnahme der zweiten
Atempause über der Textsilbe li im Wort saéculi alle Atempausen der Vaticana (Editio Typica)
bei. Man kann nämlich dem gewöhnlichen Sänger lange Strecken ohne Atmung nicht zumuten.
Zeile 11 aus seiner „Liste“ (Seite 2): í (faussement ?) accentués : 15
Auf Deutsch: í (falsch ?) betont : (Seite) 15
Kommentar: Es handelt sich um das Graduale Dómine Deus virtútum.
Die Suche in der Vaticana (Editio Typica) nach dem betreffenden Gesang hat mich zur Seite 14
geführt, wo im Graduale Dómine Deus virtútum (hier von mir gescannt) keine Rede von „Fehler“
ist. Das Wort érimus ist richtig betont:
Der Fehler ist leider wiederum in seinem Graduel Neumé und zwar auf Seite 15 (wie er angibt),
die ich hier ebenfalls gescannt zeige:
Zeilen 12, 13 und 14 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Vergleich zweier Neumen : 69
Répercussions „pratiquées“ : [50] z [70]
Kommentar: In allen 3 Fällen vergleicht Cardine verschiedene Neumen. Alle 3 Fälle sind für
die Vaticana (Editio Typica) irelevant. Sie hat keine Neumen in campo aperto.
Zeile 15 aus seiner „Liste“ (Seite 2): 2 accents de suite : 320
Auf Deutsch: 2 Betonungen nacheinander : Seite 320
Kommentar: Es handelt sich um die Communio Qui mandúcat. Cardine bemängelt die Tonfiguren der Vaticana (Editio Typica): Clivis+Climacus über der Textsilbe me im Wort meam. Es
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stimmt: An dieser Stelle sollte ein Porrectus cum Bipunctis stehen und nicht eine Kombination
von Clivis mit Climacus.
Das Graduale Triplex übernimmt jedoch getreu die Vorgabe der Vaticana (Editio Typica). Im
folgenden zeige ich die gescannte Communio aus dem Graduale Triplex, Seite 383:
Kommentar: Es ist anzunehmen, daß Dom Pothier für die musikalische Gestaltung der 2 Wörter
im Text: meam (carnem) und meum (sánguinem) 2 identische Tonfiguren verwenden wollte, weil
beide Worte theologisch gesehen gleichgewichtig sind: Der Leib und das Blut des Herrn. Es ist
nämlich bekannt, daß Dom Pothier nicht nur ein hervorragender Gregorianiker, sondern auch ein
großer Theologe war. So hat er die Neumenkombination Clivis+Climacus, die der Neumenschreiber über der Textsilbe me im Wort meum (sánguinem) „explizit“ dargestellt hat einfach
auch dem Wort meam (carnem) übertragen. Aus diesem Fall von Dom Pothier meisterhaft gelöst
sehen wir, daß in der Singmethode des Gregorianischen Chorals nach der Editio Vaticana (Editio
Typica) der Text und nicht die Musik den Vorrang hat.
Zeile 16 aus seiner „Liste“ (Seite 2): balancement sur fa, do, 559
Auf Deutsch: Hin- und herschwingen auf fa, do, Seite 559
Kommentar: Es handelt sich um das Offertorium Conféssio:
Die von Cardine „beanstandete“ Stelle ist die Tonfigur über der Textsilbe spé im Wort conspéctu. Für die dort vom Schreiber getrennt notierten Clivis und Clivis strophica schlägt er eine einzige Neume vor, die er über dem Wort conspéctu mit einem „geeinten“ Zeichen vorführt. Die
Vaticana (Editio Typica) hat in diesem Fall aber keinen „Fehler“, denn ob „getrennt“ oder „vereint“ die Tonfolge in Quadratschrift ist immer dieselbe.
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Zeilen 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23 und 24 aus seiner „Liste“ (Seite 2)
Kommentar: Alle diese Fälle sind für die Vaticana (Editio Typica) irelevant. Sie hat keine
Neumen in campo aperto.
Zeile 25 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 117-146
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten 117-146
Kommentar: Es handelt sich um die Communio Dóminus virtútum:
Cardine behauptet, daß das Wort est gleich nach ipse stehen muß und zwar unter dem Punctum
am Ende des 1. Systems, wo er die Stelle mit einem Kreuzchen gekennzeichnet hat. Das Graduale Triplex auf Seite 108 hat diese Communio nach den Hinweisen Cardines „verbessert“, das
est der Vaticana (Editio Typica) eingeklammert und es an 2 verschiedenen Orten „verschickt“:
Die Sache hat aber einen Hacken und zwar den graphisch zu kurzen Abstand zwischen ipse und
est. Für den Fall (Cardine), daß est eine einzige Quadratnote bekommt, reicht dieser Abstand
nicht aus, um die 2 Worte ipse und est auseinander zu halten. Es muß nämlich heißen ipse | est
und nicht ipseest. Auch im zweiten Fall, wenn dem Wort est die Clivis praepunctis do-do-si zugewiesen werden sollte, ist der Abstand zwischen Torculus sol-do-si und der Clivis praepunctis
do-do-si ebenfalls zu kurz, um die beiden Worte auseinander zu halten. Dagegen die Lösung der
Vaticana (Editio Typica): Dom Pothier hat die beiden Worte korrekt und quasi gleichgewichtig
mit Tonfiguren belegt. Im folgenden zeige ich gescannt die Communio aus der Vaticana, (Editio
Typica):
50
Auch hier (wie bereits auf Seite 42 ausführlich erklärt) ist die theologische Aussage des Textes
wichtiger als die Teilung der Melodie nach den „semiologischen Erkenntnisen“ Cardines. Im
Text steht das Wort ipse für Dóminus da und die theologische Aussage heißt: Dóminus est Rex.
Ich betone nochmals, daß die Singmethode der Editio Vaticana (Editio Typica) dem Text und
nicht der Musik den Vorrang gibt.
Zeile 25 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 582
Auf Deutsch: nicht mehr gebräuchliche Texte der Vaticana, (Editio Typica), Seite 582
Kommentar: Es handelt sich um das Allelúia concússum est, das zum Fest des hl. Erzengels
Michael vorgesehen war. Cardine bemängelt 1966, daß die Vaticana (Editio Typica) „nicht mehr
gebräuchliche“ Texte enthält. Hier ist anzumerken, daß diese „nicht mehr gebräuchliche“ Gesänge 1908 wohl im Gebrauch waren und sowohl in der Vaticana (Editio Typica) als auch im „Graduale“ von Mocquereau enthalten waren.
Übrigens im Ordo Cantus Missae vom 1972 wurden die Gesänge, die nicht mehr „gebräuchlich“
waren aus der Vaticana (Editio Typica) weggelassen.
Zeile 25 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 22
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite 22
Kommentar: Es handelt sich um das Allelúia Veni Dómine. Cardine bemängelt die falsche Betonung des Wortes facínora in der Vaticana (Editio Typica), die seiner Meinung nach facinóra
sein sollte. Demgemäß wäre eine Umverteilung des Melisma über dem Wort facínora notwendig:
In seinem hier gescannten Allelúia aus dem Graduel neumé ist klar zu sehen, daß er die korrekte
Betonung der Textsilbe cí im Wort facínora durchgestrichen hat. Daneben hat er geschrieben die
Textsilbe no mit einer Betonung versehen: nó. Die in der Vaticana (Editio Typica) am Ende des
Melisma geschriebene Textsilbe no hat er eingeklammert.
51
Die Herausgeber des Graduale Triplex haben diesen Gesang nach der Vorgabe Cardines „korrigiert“ und dabei in Kauf genommen, daß das Wort facínora durch Umverteilung des Melisma
tatsächlich falsche Betonung bekommt: facinóra:
Selbst nach den „semiologischen Erkenntnissen“ Cardines hätte man hier sehen können, daß die
mit einer starken Akzentuierung (mit einer Bivirga) versehene Textsilbe cí berechtigt ist das
ganze Melisma zu übernehmen.
Um diesen Fall als gänzlich verfehlte „Korrektur“ der Vaticana (Editio Typica) darzustellen,
scanne ich hier das Allelúia aus dem Graduale der Editio Medicaea aus dem Jahre 1901:
Das kleine Stümpfchen des Melisma (bekanntlich hat die Editio Medicaea alle Melismen beseitigt) ist hier ebenfalls über der Textsilbe cí und nicht über der Textsilbe no zu sehen. Hier heißt
es ebenfalls facínora und nicht facinóra.
52
Zeile 25 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 354
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite 354
Kommentar: Es handelt sich um das Allelúia Parátum cor meum.Cardine hat festgestellt, daß
das Wort tibi mit keine Neumen belegt werden konnte, weil in den Handschriften für dieses
Wort keine Neumen vorhanden sind. Darum will Cardine diesen Abschnitt aus dem Allelúia entfernen und zeigt dies durch Einklammerung des betreffenden Abschnitts:
Die Herausgeber des Graduale Triplex haben für diesen Abschnitt des Allelúia auch keine Neumen gefunden und das Wort tibi eingeklammert. Daneben haben sie ein in hinzugefügt.
Es stellt sich nun die Frage: Welchen theologischen Sinn bekommt der Text, wenn anstelle des
Wortes tibi (dir Herr) eine nichtssagende Präposition in eingeschoben wird ? Der Text der Vaticana (Editio Typica) lautet:
53
„Bereit ist mein Herz, o Gott, bereit ist mein Herz: Dir will ich singen und psallieren, der Du mein Ruhm
bist."
Der Text des Graduale Triplex lautet (nach der „Korrektur“):
„Bereit ist mein Herz, o Gott, bereit ist mein Herz: ich will singen und psallieren zu meinem Ruhm.“
Kein Kommentar!
Zeile 25 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 496
Auf Deutsch: nicht mehr gebräuchliche Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite 496
Kommentar: Es handelt sich um das Graduale Víndica Dómine, das zum Fest der hll. Märtyrer
Basilidius, Cyrinus, Naborius und Nazarius am 12. Juni vorgesehen war. Cardine bemängelt
1966, daß die Vaticana (Editio Typica) „nicht mehr gebräuchliche“ Texte enthält. Hier ist anzumerken, daß diese „nicht mehr gebräuchliche“ Gesänge 1908 wohl im Gebrauch waren und sowohl in der Vaticana (Editio Typica) als auch im „Graduale“ von Mocquereau enthalten waren.
Übrigens im Ordo Cantus Missae vom 1972 wurden die Gesänge, die nicht mehr „gebräuchlich“
waren aus der Vaticana (Editio Typica) weggelassen.
Zeile 25 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 359
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite 359
Kommentar: Es handelt sich um die Communio In salutári tuo. Cardine hat festgestellt, daß für
die Textsilbe um im Wort tuum die Handschriften keine Neumen enthalten. Darum will er die
beiden Textsilben tu und um zu einer „vereinten“ Textsilbe „tum“ machen:
Die lateinische Sprache kann und darf wegen „fehlenden Neumen“ nicht verstümmelt werden.
Die Vaticana (Editio Typica) hat die beiden Textsilben tu und um getrennt vertont, was auch im
Graduale Triplex unverändert übernommen wurde.
Zudem sieht es so aus, daß für die Textsilbe um im Wort tuum doch eine Neume „gefunden“
wurde und so konnte die lateinische Sprache von der Verstümmelung gerettet werden.
54
Zeile 26 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, [51]-167
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten [51]-167
Kommentar: Für diesen Fall hat Cardine falsche Angaben gemacht. Nicht die Texte, sondern
die Melodien seien seiner Meinung falsch. Denn der Vergleich der signalisierten Gesänge; Graduale Dilexísti, Seite [51] und Graduale Tenuísti, Seite 167 zeigt gemäß seiner Notizen am Rande, daß die Melodie der beiden durch nicht ganz „gleichen“ Neumen dargestellt sei:
Am Rande im ersten System notiert Cardine „+ 167“. Das Kreuzchen signalisiert die Stelle in
der Melodie bei der Textsilbe sti im Wort dilexísti. Im Graduale Tenuísti hat die Melodie an dieser Stelle andere Neumen:
Am Rande verweist Cardine mit einem „[51]“, daß die Neumen in den beiden Fällen nicht gleich
seien. Hier haben wir jedoch nicht mit einem „Fehler“ der Vaticana (Editio Typica) zu tun, denn
die Melodie ist tatsächlich gleich.
Zeile 26 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 582-[31]
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten 582-[31]
Kommentar: Für diesen Fall hat Cardine wiederum falsche Angaben gemacht. Denn die Analyse zeigt, daß nicht im Text, sondern in der Melodie des Gesangs Stetit Angelus und des Gesangs
Justórum ánimae an einer Stelle die Notation nicht „identisch“ ist, was Cardine bemängelt:
Zuerst das Offertorium Stetit Angelus, Seite 582:
Am Rande mit einem „+[31]“ verweist Cardine auf den Scandicus re-fa-la über der Textsilbe ha
im Wort habens.
55
Danach das Offertorium Justórum ánimae, Seite [31]:
Hier verweist Cardine am Rande durch „+582“ auf den Salicus re-fa-la über der Textsilbe und
Wort zugleich et. Es ist anzunehmen, daß er eine von den beiden Stellen als „falsch“ betrachtet.
Ob beide Stellen jeweils mit einem Scandicus, oder beide mit einem Salicus hätten belegt sein
sollten, sagt er nicht. Die Vaticana (Editio Typica) hat hier jedoch keinen „Fehler“ – weder in
der Melodie, noch im Text, denn die Melodiefolge ist immer gleich: re-fa-la.
Zeile 26 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 139
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite 139
Kommentar: Hier hat Cardine einen völlig falschen Hinweis gegeben: im Graduel neumé ist auf
Seite 139 kein Vermerk am Rande, der auf irgendeinen „Fehler“ hinweist.
Zeile 26 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 418-419
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten 418-419
Hinweis: Es tut mir Leid: Im Graduel neumé gibt es die Seiten 418 und 419 nicht.
In der Einleitung zum Graduel neumé schreibt Cardine:
„...on n’a reproduit ici que les pages du ‚Graduale‘ où figurent des neumes au-dessus des portées: il en
résulte des discontinuités dans la pagination.“
Auf Deutsch: „Man hat hier nur die Seiten des ‚Graduale‘ nachgedruckt, wo Neumen über der
Systeme vorhanden sind: darum ergeben sich zeitweilige Unterbrechungen in der Paginierung
(Seitenzählung).“ Nun, wenn er dies gewußt hat, warum weist er auf diese Seiten hin ?
Zeile 26 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 333-[55]
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten 333-[55]
Kommentar: Wiederum hat Cardine falsche Angaben gemacht: Nicht im Text, sondern in der
Melodie befindet sich ein B-Zeichen, das ihm Anlaß gibt gegen die Vaticana (Editio Typica)
vorzugehen. Die inkriminierte Stelle ist im Introitus Protéctor noster (Seite 333) beim Wort tui
in Verbindung mit fáciem Christi – also im Text: fáciem Christi tui:
Hier an der Stelle, wo er ein „+“ gesetzt hat, fehlt in der Vaticana (Editio Typica) ein B-Zeichen
meint Cardine und am Rande verweist er auf die gleiche Stelle aus der Communio Confundántur
56
supérbi [55], wo über der Textsilbe tu im Wort tuis die gleiche zusammengesetzte Tonfigur verwendet wird, die jedoch ein B-Zeichen davor hat:
Kommentar: Die Sache hat jedoch einen Hacken und zwar nicht nur aus musikalischer, sondern
mehr noch aus theologischer Sicht. Es ist nämlich bekannt, daß Dom Pothier nicht nur ein hervorragender Gregorianiker, sondern auch ein großer Theologe war. So hat er für den Text in
fáciem Christi tui die „hellere“ Ausführung der zusammengesetzte Tonfigur mit si naturale vorgesehen. Für die Aussage in mandátis tuis dagegen hat er eine „dunklere“ Ausführung mit si
bemolle gewählt. Der leidende Christus starb ja wegen unserer Missetaten (die Übetretungen des
Gesetzes). Es heißt dort ja: ego autem in mandátis tuis.....
Für Christus ein Si naturale
Für das Gesetz ein Si bemolle
Zeile 26 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, [7]-496
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten [7]-496
Kommentar: Hier geht es weder um fehlerhafte Texte, noch um die Melodien, sondern Cardine
weist nur darauf hin, daß die Neumen der Kadenz des Introitus Sacerdótes Dei die Form und
Beschaffenheit des „Liber Usualis Dom Mocquereaus aus dem Jahre 1895“ nachweisen.
Zeile 26 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 286
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite 286
Cardine macht hier darauf aufmerksam, daß das Offertorium Dómine Deus salútis identisch an
zwei Stellen im Graduel neumé zu finden ist: auf Seite 286 und auf Seite 99.
Kommentar: Das ist doch kein „Fehler“ der Vaticana (Editio Typica), denn das eine Mal ist das
Offertorium mit Allelúia versehen, das andere Mal jedoch ohne Allelúia.
Zeile 27 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 34-319
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten 34-319
57
Kommentar: Es handelt sich um 2 Gradualgesänge im Vergleich: Vidérunt omnes und Dómine
Dóminus noster. Beide enden vor dem Psalmvers mit dem Wort terra und beide verwenden dasselbe Melisma. Im Graduale Vidérunt omnes wird das Melisma über der Textsilbe ra im Wort
terra ununterbrochen gesungen:
Im Graduale Dómine Dóminus noster dagegen wird es durch eine divisio minima unterbrochen.
Das ist nach Cardine ein Fehler der Vaticana (Editio Typica):
Die Sache hat nun einen Hacken und zwar die Länge der hier gesungenen Abschnitts. Denn von
der letzten divisio minor vor dem Wort in aus dem Satz in univésa terra bis zur Doppelbarre
reicht einem die Luft aus der Lunge nicht aus, um diesen Abschnitts in einem Zug zu singen.
Dom Pothier, der ein guter Gesangpädagoge war, hat hier an der geeigneten Stelle für die Atmung der Sänger mit einer divisio minima Sorge getragen. Unsere Scholaren, die den Gregorianischen Choral nach der Singmethode der Vaticana (Editio Typica) singen, kennen aus dem
Graduale von Dom Pothier folgende Regel: (Zitat aus dem Graduale der Editio Vaticana Editio
Typica, Seite XIII):
„Pausa minima in morula vocis constat, sinitque, si opus sit, aërem haustu brevissimo renovare. Si frequentius cantor desideret pulmonibus indulgere, tunc spiritum quasi subripiendo colligat, ubi rinulae habentur in oratione vel in cantu, ne scindantur unquam verba aut neumae.
Auf Deutsch:
„Die kleinste Pause besteht aus einem ganz kurzen Verweilen und erlaubt, sofern es nötig ist, ganz kurz
Atem zu holen. Glaubt der Sänger, öfter den Atem erneuern zu müssen, dann tue er es möglichst unauffällig, wo in der Rede oder im Gesang kleine Einschnitte vorhanden sind, damit niemals Worte oder
Neumen auseinander gerissen werden.“
58
Zeile 27 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 305
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite 305
Kommentar: Es handelt sich um das Allelúia Deus judex justus. Cardine unterstreicht die Textsilbe scé im Wort irascétur; gibt am Rand jedoch keine Hinweise darüber, ob der Text an dieser
Stelle „falsch“ sei.
Beim näheren Betrachten fand ich den Grund seiner Beanstandung gegen die Vaticana (Editio
Typica): Nicht der Text, sondern die Melodie sei hier „falsch“ will er damit sagen. Denn die Vaticana (Editio Typica) notiert über der Textsilbe scé im Wort irascétur eine Tonfigur bestehend
aus einem Podatus gefolgt von 2 Clivis, wogegen der Schreiber (das ist der Schreiber des Cantatorium 359 von St. Gallen) hier 2mal Punctum und einen Porrectus flexus notiert hat. Wir wissen aber, daß das Cantatorium 359 von St. Gallen die älteste Handschrift der „Schule“ von St.
Gallen ist und daß ihre Zeichen sehr unvollkommen und ungeschickt die Melodien des Gregorianischen Chorals darstellen. Es waren nämlich die Anfänge der Notation in campo aperto und
die Schreiber wußten nicht, daß eine steigende Melodie über e i n e Textsilbe nur mit einem
Zeichen notiert werden muß, damit der Sänger nicht irregeführt wird wenn er das betreffende
Wort singt. Damals wurden die Neumen direkt über den Text geschrieben, wie folgendes Beispiel entnommen aus dem Codex 121 von Einsiedeln beweist:
Die Vaticana (Editio Typica) hat in diesem Fall den Fehler aus der Handschrift korrigiert und
einen Podatus (und nicht ein Punctum) über der Textsilbe me im Wort mea geschrieben:
59
Damit wurde sichergestellt, daß diese Notenfigur me-e-e-e-e-e/a-a und nicht me/a-a-a-a-a-a-a
gesungen wird.
Diese Melodiefloskel:
   
ist nämlich die meist verwendete Schlußformel im Gregorianischen Choral. Sie nach der „Anweisung“ Cardines zu ändern und anstelle des Podatus 2mal Punctum zu setzen, würde bedeuten, daß das ganze Graduale geändert werden müsse. Die Nachfahren Cardines, die sich mit der
„Restitution“ der Gesänge der Editio Vaticana (Editio Typica) nach den „semiologischen Befunden“ beschäftigen und die im Internet unter:
www.gregor-und-taube.de/html/materialien.htm
das ganze Graduale als pdf-Dateien zum runterladen kostenlos anbieten, haben der „Anweisung“
des „Meisters“ Cardine tatsächlich Folge geleistet und diese Schlußformel nach der fehlerhafte
Darstellung der Handschriften der St. Gallener „Schule“ als „Restitution“ wie folgt geschrieben:
Kein Kommentar !
Zeile 27 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, [68]
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite [68]
Kommentar: Es handelt sich um die Communio Príncipes persecúti sunt. Cardine bemängelt,
daß in der Vaticana (Editio Typica) im Text das Wort quasi anstelle von sicut verwendet wird:
60
Eine Änderung des Textes in der Vaticana (Editio Typica) muß aber nicht durchgeführt werden,
weil die zwei Worte quasi und sicut gleiche Bedeutung haben. Ein Blick in das lateinische Wörterbuch bestätigt diesen Tatbestand:
Hier die Bedeutung der beiden Begriffe aus Langenscheids Universal-Wörterbuch Lateinisch,
Seite 184 bzw. 208:
Quasi = als wenn; gleich wie; wie; wie wenn, als ob; gleichsam, fast
Sicut = sowie, wie; gleichsam; wie wenn
Die Vaticana (Editio Typica) hat also keinen „Fehler“ und kann ruhig das Wort quasi verwenden, zumal dieses Wort auch in der Medicaea zu finden ist:
Selbst das Liber Usualis der Benediktiner von Solesmes geben 1962 im Text das Wort quasi an:
Es gibt also keinen Grund die Vaticana (Editio Typica) zu ändern, da das Wort quasi nicht falsch
ist.
Zeile 27 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, [22]-351
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten [22]-351
Kommentar: Es handelt sich um den Introitus Intret in conspéctu tuo [22]. Cardine bemängelt,
daß die Vaticana (Editio Typica) über der Textsilbe ó im Wort eórum eine Quadratnote zuviel
hat im Vergleich zum Introitus Salus pópuli (Seite 351), der dieselbe Tonfigur über dieselbe
Textsilbe ó im Wort tribulatióne notiert:
61
Hiermit habe ich die betreffende Stelle aus der Vaticana (Editio Typica) gescannt um zu zeigen,
daß Cardine falsche Angaben gemacht hat:
Die Vaticana (Editio Typica) hat in dieser Tonfigur 5 Noten und nicht 6 Noten, wie Cardine bemängelt hat. Aus diesem Beispiel kann man gut sehen, daß Cardine die Vaticana (Editio Typica)
nicht gekannt hat.
Zeile 27 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 471-[19]-[1]
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten 471-[19]-[1]
Kommentar: Cardine vergleicht hier die Texte von 3 Seiten untereinander:
1. Vergleich: Zuerst analysiere ich Seite 471 und Seite [19]: Die Worte Dómini auf der Seite 471
und Dómine auf der Seite [19] haben die gleiche Melodie jedoch nicht den gleichen Schlußton:
62
Ist das ein „Fehler“ ? Keineswegs ! Die damals verwendete Prozedur der Centonisation erlaubte
die Erweiterung oder die geringfügige Änderung der benutzten Melodien.
Kommentar zu 1 a)- Die Texte der beanstandeten Introiten Seite 471 und [19] stimmen mit den
Texten der Introiten der Vaticana (Editio Typica) überein: Es gibt hier also keinen „Fehler“.
Kommentar zu 1 b)- Was aber nicht stimmt, das sind die Angaben der Seitenzahlen „seiner
angeblichen Vaticana“ und die Seitenzahlen der echten Vaticana (Editio Typica) und zwar:
Bei Cardine Seite 471 – in der Vaticana (Editio Typica) ist Seite 430
Bei Cardine Seite [19] – in der Vaticana (Editio Typica) ist Seite [17]
Es ist offensichtlich, daß Cardine die Vaticana (Editio Typica) nicht gekannt hat.
2. Vergleich: Seite 471 und Seite [1] haben die gleiche Melodie für folgende Worte:
Sperántes in misericórdia auf Seite 471 und sperávi in misericórdia auf Seite [1]
63
Auch diese Texte und die Melodien stimmen mit der Vaticana überein. Hier gescannt:
Fazit: Dieses Beispiel hat klar dokumentiert, daß Cardine:
a) – die Vaticana (Editio Typica) nicht gekannt hat und
b) – daß er das Verfahren aus dem Mittelalter neue Texte zu vertonen, Centonisation genannt,
ebenfalls nicht gekannt hat.
Zeile 27 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 39
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana, Seite 39
Kommentar: Es handelt sich um einen falschen Verweis seines Graduel neumé. Für das Fest
des hl. Johannes Apostel und Evangelist bemängelt Cardine, daß der Introitus In medio, ut in
Communi Doctorum, nicht auf Seite [38] zu finden ist, wie die Vaticana (Editio Typica) angibt.
64
Ich habe in der Vaticana (Editio Typica) jedoch einen korrekten Verweis auf dieses Fest gefunden und zwar auf Seite 36 (nicht 39), die ich hier gescannt zeige. Hier steht klar der Verweis auf
Seite [34] für den Introitus In médio, ut in Communi Doctorum, [34]:
Falscher Verweis dagegen bei Cardine, wie die Seite 39 seines „Graduale“ zeigt. Hier haben wir
den Beweis dafür, daß dieser Fehler in seinem Graduel neumé ist und nicht in der Vaticana.
Zeile 27 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 54
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana, Seite 54
Kommentar: Es handelt sich um das Graduale Benedíctus Dóminus, das in seinem Graduel
neumé auf Seite 54 gedruckt wurde:
Cardine notiert am Rande: + il manque une note = un do
Auf Deutsch: Fehlt eine Note = ein do
Mit dem Kreuzchen (+) weist er auf die Stelle im Text hin, wo über der Textsilbe lus im Wort
solus ein Torculus gefolgt von einem Climacus steht und dort seiner Meinung nach eine Note
(do) fehlt.
Die Vaticana (Editio Typica) notiert über der Textsilbe lus im Wort solus ebenfalls ein Torculus
gefolgt von einem Climacus mit der Notenfolge: do-re-si-do-la-sol:
65
Um zu sehen, ob in der Vaticana an dieser Stelle ein do „fehlt“, habe ich einen Spezialisten der
Gregorianik zu Rate gezogen: Michael Hermesdorff (1833-1885). Er hatte nämlich im Jahre
1876 in Trier ein Graduale veröffentlicht:
In diesem Graduale zeigt er die Neumen in campo aperto der Handschrift 359 aus St. Gallen über
der Quadratnotenschrift an. Die Quadratnotenschrift, die er benutzt hat, ist die der Medicaea.
Hier scanne ich nun den Gesang Benedíctus Dóminus aus seinem Graduale um zu zeigen, daß
auch Hermersdorff über der Textsilbe lus im Wort solus kein „zusätzliches“ do eingefügt hat:
66
Fazit: Die Neume in campo aperto über der Textsilbe lus im Wort solus enthält die Noten do-resi-do-la-sol ganz genau wie die Vaticana (Editio Typica).
Zeile 27 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 63
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite 63
Kommentar: Es handelt sich um das Graduale Adjútor in opportunitátibus:
Cardine stellt fest, daß die Melodie über quóniam in beiden Fällen identisch ist, nicht aber über
non. Er notiert am Rande zwei Mal „non“ um darauf aufmerksam zu machen. Es ist aber nicht
verständlich, was er damit meint. Nach seinen Ausführungen in Gregorianische Semiologie und
selbst nach dem Graduel neumé aus seinen „Listes de comparaisons“ Seite 1, Zeile 5: mêmes
textes = mêmes mélodies (gleiche Texte = gleiche Melodien) zu urteilen, kann man davon ausgehen, daß er hier einen „melodischen Fehler“ signalisieren will.
Die Vaticana (Editio Typica), hat in diesem Fall jedoch keinen „Fehler“, denn die „Verschiedenheit“ des Melisma über dem Wort non kann nicht als „Fehler“ (melodischer Art) gesehen werden, sondern sie bestätigt hervorragend die Singmethode der Editio Vaticana (Editio Typica),
wonach der Text und nicht die Melodie Gegenstand der Interpretation ist.
67
Der Text, der demnach deklamiert werden soll, sagt eindrucksvoll:
1. quóniam non derelínquis queréntes te, Dómine.
Denn Du, o Herr, verlässest keinen, der Dich sucht und
2. Quóniam non in finem oblívio erit páuperis:
Denn nicht auf immer wird der Arme vergessen sein.
Zeile 28 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 337
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seite 337
Kommentar: Es handelt sich um das Graduale Bonum est confitéri:
Cardine will mit diesem Beispiel zeigen, daß die Vaticana (Editio Typica) eine fehlerhafte Zuteilung der Textsilbe am im Wort tuam hat. Durch eine deutlich geschrieben Linie „führt“ er die
in der Vaticana (Editio Typica) „fehlerhaft“ geschriebene Textsilbe zu ihrer „richtigen“ Stelle
hin, nämlich zwischen den 2 letzten Tonfiguren. Er hat sich leider wieder geirrt, denn sein Gradualbuch ist nicht „die Vaticana“, sondern das „Graduale“ Mocquereaus. Hiermit kann ich nun
beweisen, daß in der Vaticana (Editio Typica), von mir hier gescannt die Textsilbe am im Text
an der richtigen Stelle steht:
Zeile 28 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 309-596
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten 309-596
Kommentar: Es handelt sich um das Allelúia Dómine in virtúte tua (Seite 309), das Cardine mit
dem Graduale Timéte Dóminum (Seite 596) vergleicht. Der „Fehler“ sei nicht im Text, sondern
in der Melodie. Er bemerkt nämlich, daß das Melisma über der Textsilbe tá im Wort laetábitur
(Seite 309), das (fast) identisch mit dem Melisma über der Textsilbe tes im Wort inquiréntes
(Seite 596) ist, in der Vaticana (Editio Typica) „unterschiedlich“ durch eine divisio minima geteilt wurde:
68
Durch ein Fragezeichen (?) macht uns Cardine darauf aufmerksam, daß dort hätte die divisio
minima stehen müssen und nicht 4 Noten weiter. Im Graduale Timéte Dóminum (Seite 596) steht
sie richtig, meint er:
Die Sache hat aber einen Hacken und zwar die Verteilung der Pausen im Melisma (divisio) Sie
ist nämlich von der Kirchentonart des betreffenden Gesangs abhängig. Die Regel lautet, daß die
Phrasierung des Melisma womöglich dort unterbrochen werden muß, wo die Kirchentonart des
betreffenden Gesangs seinen Schlußton oder Rezitationston hat. Das Allelúia (Seite 309) ist im
6. Modus (Schlußton fa, Rezitationston la), wogegen das Graduale (Seite 596) ist im 1. Modus
(Schlußton re, Rezitationston la). Demgemäß soll der Phrasierungsbogen des Allelúia bei fa und
der Phrasierungsbogen des Graduale bei re enden, was in der Vaticana (Editio Typica) richtig
gehandhabt wird.
69
Dom Pothier, der ein hervorragender Gregorianiker war, hat die beiden Gesänge in der Vaticana
(Editio Typica) korrekt mit den Ruhepunkten (divisio minima) ausgestattet.
Zeile 28 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 340-361
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten 340-361
Kommentar: Es handelt sich um 2 Allelúia-Gesänge: Allelúia Cantáte Dómino (Seite 340) und
Allelúia Qui timent Dóminum (Seite 361). Die Melodie der 2 Allelúja, mit einer einzigen Ausnahme, ist identisch (im Graduale kommen manchmal solche Fälle der Centonisation vor).
Ich beginne die Analyse mit dem Allelúia Cantáte Dómino aus Graduel neumé (S. 340):
Cardine markierte mit einem Kreuzchen (+) die Textsilbe no im Wort Dómino und schrieb am
Rande den Vermerk +361, um auf die Stelle im nächsten Allelúia hinzuweisen:
Mit einem Kreuzchen und Fragezeichen (+340 ?) am Rande, weist Cardine darauf hin, daß die
Neume hier ein Cephalicus sol-mi, wogegen im ersten Allelúia eine Clivis sol-fa ist. Sein Fragezeichen (?) könnte in diesem Fall bedeuten, daß hier die geänderte Tonfigur für Cardine unverständlich ist.
Nun, in der Vaticana (Editio Typica) gibt es eine Regel und zwar: Wenn der Text es verlangt,
muß eine Clivis zum Cephalicus und ein Cephalicus zur Clivis werden.
Hiermit die Regel aus dem Graduale der Editio Vaticana (Editio Typica 1908):
70
(Seite XI):
Auf Deutsch:
3. Die Halbnote des Cephálicus und Epiphónus (für die Form dieser Neumen siehe Seite 19) befindet
sich nur am Ende einer Silbe, wenn gleichzeitig entweder zwei nach Art der Doppellaute verbundene
Vokale zu singen sind, zum Beispiel AUtem, Ejus, allelUIa, oder mehrere Mitlaute unmittelbar folgen, zum
Beispiel oMNis, saNCTus. Es liegt sozusagen in der Natur der Silben, daß die Stimme beim leichten
Übergang von der einen zur anderen irgendwie „zerfließt“, indem sie, wie im Munde eingeschlossen
„scheinbar nicht bis zu Ende kommt“ und so gewissermaßen die Hälfte, nicht zwar ihrer Dauer, wohl aber
ihrer Kraft einbüßt. (Vgl. Guido von Arezzo, Micrologus, c. XV.)
Wenn aber die Natur der Silben verlangt, daß der Laut nicht zerfließe, sondern bis zu Ende „voller gesungen“ werde, so tritt an die Stelle des Epiphónus der Podátus, und an die Stelle des Cephálicus die
Clívis.
Epiphónus
Podátus
Cephálicus
Clívis
                         
A
sum-
mo.
In
so-
le.
Te
lau- dat.
Sol- vé- bant.
Das ist eben der Fall mit den Worten Dómino und Dóminum: Für die Textsilbe no im Wort
Dómino wird eine Clivis und für die Textsilbe num im Wort Dóminum ein Cephalicus verwendet. Die Melodie kann aufgrund der Centonisation geändert werden.
Zeile 28 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, 122-361
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten 122-361
Kommentar: Die Überprüfung der angegebenen Seiten 122 und 361 aus Graduel neumé ergab,
daß Cardine seine Anmerkungen der vermeintlichen „Fehler“, am Rande der angegebenen Seiten
nicht vermerkt hat. Daher kann hier keine Analyse gemacht werden.
Zeile 28 aus seiner „Liste“ (Seite 2): Textes fautifs de la Vaticane, [73]-97
Auf Deutsch: Fehlerhafte Texte der Vaticana (Editio Typica), Seiten [73]-97
Kommentar: Es handelt sich um die unveränderte Übertragung eines Psalmverses von einem
Graduale zu einem anderen im Zuge des in der Gregorianik bekannten Verfahrens Centonisation.
Die zwei betroffenen Gesänge sind:
Graduale Protéctor noster am Quatember-Samstag in der Fastenzeit und
Graduale Locus iste aus der Messe am Jahrestag der Kirchweihe.
71
Beide Gesänge enthalten im Psalmvers nach dem Melisma den Schlußtext:
... exáudi preces servórum tuórum.
Im Graduale Protéctor noster: Dómine Deus virtútum, exáudi preces servórum tuórum.
Im Graduale Locus iste: Deus, cui adstat Angelórum chorus, exáudi preces servórum tuórum.
Cardine beanstandet den unterschiedlichen Anfang dieses Schlußtextes: im Protéctor noster ist
ein la und im Locus iste ist ein do.
Cardine möchte wissen, warum fangen beide Melodien nicht mit la, oder warum nicht mit do ?
Erklärung: Am Ende des Melisma mit do ist musikalisch besser den folgenden Abschnitt mit la
und am Ende des Melisma mit la den folgenden Abschnitt mit do anzufangen. Dom Pothier, der
ein hervorragender Gregorianiker war, hat diese Gesänge in der Vaticana (Editio Typica) meisterhaft notiert. In der Vaticana (Editio Typica) sucht man vergeblich nach Fehler.
72
Cardine hat Fehler aufgezeigt aus einem Buch, das er als „die Vaticana“ bezeichnet. Dieses
Buch ist jedoch nicht die Vaticana (Editio Typica); auf dieser Weise wurden der Vaticana (Editio Typica) Fehler unterstellt, die keine Fehler sind. Die Vaticana (Editio Typica) hat keine Fehler.
Schlußwort
Ich bin nicht der einzige, der Cardine gründlich unter die Lupe genommen hat. Auch Frau Dr.
rer. nat. Johanna Grüger, die sein Lebenswerk Gregorianische Semiologie ins Deutsche übersetzt
hat, fand an vielen Stellen Unstimmigkeiten, ja Fehler, die sie dann in Fußnoten vermerkt hat.
Hier einige Beispiele:
Gregorianische Semiologie, (Solesmes 2003), Seite 16 in der Fußnote:
„Für diesen Vorgang [Hervorhebung des Akzentes bei Cardine] wird in der Literatur stets der Begriff ‚vorbereiten‘ als direkte Übersetzung des italienischen Wortes ‚preparare‘ verwendet. Man spricht von: Akzent vorbereiten, akzentvorbereitenden Noten, Vorbereitungssilben und Vorbereitungsbwegungen. Worin
diese Vorbereitung besteht wird nicht erklärt.“
Gregorianische Semiologie, (Solesmes 2003), Seite 59 in der Fußnote:
„Einer Trennung kann nur eine Verbindung, nicht aber eine Note [vorhergehende Note bei Cardine] vorausgehen. Genau genommen ist die Note gemeint, hinter der die Neume nach bestimmten Gesetzen mit
einer Lücke im Schriftzug getrennt wird. Diese Lücke ist es, die in verkürzender Sprechweise als ‚Neumentrennung‘ bezeichnet wird.“
Gregorianische Semiologie, (Solesmes 2003), Seite 158 in der Fußnote:
„Diese Beobachtung [Kontrast zwischen Mittelkadenz und Schlußkadenz bei Cardine] ist schwer nachvollziehbar.“
Gregorianische Semiologie, (Solesmes 2003), Seite 165 in der Fußnote:
„Der hier geschilderte Sachverhalt trifft nicht zu, wie sich jeder Leser anhand des Graduale Triplex (S.
455,3) überzeugen kann.“
Kommentar: Der „Sachverhalt“, auf den die Übersetzerin kritisch hinweist, ist die Behauptung
Cardines, daß in der Vaticana (Editio Typica) die Worte his, qui tribuláto sunt im Text des Graduale Clamavérunt justi durch folgende Noten vertont wurden:
      
Wobei dieses Beispiel sowohl in der Vaticana (Editio Typica) als auch in Graduale Triplex (S.
455,3 – wie Frau Dr. rer. nat. Johanna Grüger signalisiert hat) anders notiert wurde:
           
his, qui tri- bu- lá-
to
sunt
Es ist offensichtlich, daß in der Gregorianikforschung der Gegenwart der Dilettantismus, um
nicht zu sagen die Ignoranz am Werk ist. In der vorliegenden Analyse habe ich dies ausreichend
bewiesen. Damit wird nun jedermann klar, daß die Praxis des Gregorianischen Chorals ohne die
„semiologischen Erkenntnisse“ Cardines auskommt. Was sie braucht aber, ist die einfache und
für jedermann zugängliche Singmethode der Editio Vaticana (Editio Typica) aus dem Jahre
1908. Diese Singmethode ist in meiner Homepage vollständig enthalten.
Franz Caiter
Lizentiat der Musik
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