Politik und Pluralität Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt Inaugural – Dissertation in der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vorgelegt von Hyok Park aus Seoul, Süd-Korea D 29 Tag der mündlichen Prüfung: 11. 02. 2009 Dekan: Erstgutachter: Zweitgutachter: Universitätsprofessor Dr. Jens Kulenkampff Universitätsprofessor Dr. Clemens Kauffmann PD. Dr. Wolfgang Bergem Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2008/09 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt in erster Linie meinem Doktorvater Prof. Dr. Clemens Kauffmann, der sich stets freundlich um mich gekümmert und mir bei kleinen und großen Problemen zur Seite gestanden hat. Sein Vertrauen, seine Anregungen und seine Betreuung trugen wesentlich zum Gelingen dieses Vorhabens bei. Ein herzlicher Dank gilt auch Herrn PD. Dr. Wolfgang Bergem, der sich die große Mühe des Zweitgutachtens gemacht hat. Ansonsten gilt mein Dank meinen Korrekturlesern Dr. Tina Plank, Sung-Ju Kim und Alfred Stolz. Bedanken möchte ich mich auch bei den deutschen und koreanischen Freunden in Regensburg, die mir immer wieder Mut gemacht haben und die mir jede denkbare Unterstützung gegeben haben. Mein bester Dank gilt auch meiner Freundin Bomi, die immer bei mir stand und mir die Kraft gab, mein Vorhaben zu einem guten Ende zu bringen. Nicht zuletzt muss ich meine Dankbarkeit gegenüber meiner Familie in Korea aussprechen, die mich neun Jahre lang unterstützt und immer ermutigt hat. Gewidmet ist diese Arbeit meiner Mutter J.-L. Jeoung, die vor sechs Jahren verstorben ist. Erlangen, im März 2009 Hyok Park Inhalt Einleitung .......................................................................................................................... 7 I. Die Grundlage des politischen Denkens von Hannah Arendt ........................... 15 1. Politische Anthropologie .................................................................................... 15 1.1 Arendts Kritik an der metaphysischen Bestimmung der Menschennatur ..... 16 1.1.1 Die Verdinglichung ............................................................................... 16 1.1.2 Unveränderbarkeit................................................................................. 19 1.1.3 Singularität ............................................................................................ 21 1.2 Natalität ......................................................................................................... 23 1.2.1 Von Mortalität zu Natalität ................................................................... 23 1.2.2 Die politische Bedeutung der Natalität ................................................. 25 1.2.3 Die Zukünftigkeit der Natalität ............................................................. 27 1.3 Welt ............................................................................................................... 30 1.3.1 Die Doppeldimension der Welt ............................................................ 30 1.3.2 Die politische Wiedergewinnung des Weltbegriffs .............................. 32 1.3.3 Weltverlust und Weltentfremdung ........................................................ 34 1.4 Pluralität ........................................................................................................ 36 1.4.1 Zwei Bestandteile der Pluralität ............................................................ 36 1.4.2 Pluralität als politisches Phänomen ...................................................... 39 2. Die handlungstheoretischen Grundlagen ............................................................ 42 2.1 Das Politische als Handeln............................................................................ 42 2.2 Die Unterscheidung der Tätigkeitsformen .................................................... 44 2.3 Drei menschliche Tätigkeitsweisen .............................................................. 47 2.3.1 Das Arbeiten ......................................................................................... 48 2.3.1.1 Das Arbeiten und die Notwendigkeit ................................................. 49 2.3.1.2 Arbeit und Welt.................................................................................. 51 2.3.1.3 Arbeit und Individuum ....................................................................... 52 2.3.2 Das Herstellen ....................................................................................... 54 2.3.2.1 Die objektive Weltbildung ................................................................. 54 2.3.2.2 Die souveräne Tätigkeit ..................................................................... 56 2.3.2.3 Die zweckorientierte Tätigkeit ........................................................... 57 2.3.3 Das Handeln .......................................................................................... 58 2.3.3.1 Die Tätigkeit zwischen Menschen ..................................................... 58 2.3.3.2 Agonalität des Handelns .................................................................... 60 2.3.3.3 Die Aporien des Handelns ................................................................. 63 3. Methodologische Grundlage ............................................................................... 67 3.1 Der phänomenologische Zugang zum Politischen ........................................ 68 3.2 Das Verstehen ............................................................................................... 71 3.3 Das Erzählen ................................................................................................. 73 3.4 Archäologie der politischen Begriffe ............................................................ 76 3.5 Die Unterscheidung ...................................................................................... 78 II. Gesellschaft und Pluralität ..................................................................................... 82 1. Die moderne Gesellschaft und die Krise der Pluralität ....................................... 82 1 1.1 Ökonomische Gesellschaft............................................................................ 83 1.1.1 Kolonisierung des Politischen durch das Gesellschaftliche.................. 83 1.1.2 Identifikation von Politischem und Ökonomie ..................................... 86 1.2 Arbeitsgesellschaft ........................................................................................ 90 1.2.1 Die Vergesellschaftung des Arbeitens .................................................. 90 1.2.2 Akkumulationsprozess und Entwurzeltsein .......................................... 94 1.2.3 Die Arbeitsteilung als gesellschaftliche Organisationsform ................. 98 1.3 Die Massengesellschaft ............................................................................... 100 1.3.1 Masse und Elite ................................................................................... 100 1.3.2 Massen und Totalitarismus ................................................................. 106 1.3.3 Masse und Human Condition.............................................................. 108 1.3.3.1 Weltlosigkeit .................................................................................. 108 1.3.3.2 Selbstlosigkeit ................................................................................ 112 1.3.3.3 Überflüssigkeit ............................................................................... 115 2. Die Form der menschlichen Beziehung in der Gesellschaft ............................. 118 2.1 Die konformistische Beziehung: Egalität ................................................... 118 2.2 Die Subjektivierung der Beziehung: Intimität ............................................ 122 Exkurs: Die politische Freundschaft .................................................................. 126 2.3 Die Anonymisierung der Beziehung: Bürokratie ....................................... 130 3. Kritische Argumentationen über Arendts Dualismus von Gesellschaftlichem und Politischem........................................................................................................ 134 3.1 Die liberale Kritik: Politisierung oder Entpolitisierung? ............................ 134 3.2 Benhabibs Kritik: agonal oder narrativ? ..................................................... 139 III. Philosophie und Pluralität .................................................................................... 147 1. 1.1 1.2 1.3 2. Plato und die Entstehung der Tradition politischer Philosophie....................... 158 2.1 Der Konflikt zwischen Politik und Philosophie.......................................... 158 2.1.1 Die Unterordnung der Politik unter die Philosophie........................... 158 2.1.2 Die Meinungsabwertung ..................................................................... 162 2.1.3 Die Gründung der Akademie .............................................................. 168 2.2 Die Transformation des Handelns in Herstellen ......................................... 171 2.3 Die politischen Konsequenzen der Transformation des Handelns ............. 176 2.3.1 Die Instrumentalisierung der Politik im Zweck-Mittel-Schema ......... 176 2.3.2 Identifizierung von Freiheit und Souveränität .................................... 179 2.3.3 Zentralisierung des Herrschaftsbegriffs im politischen Bereich ......... 181 3. 3.1 3.2 3.3 4. Politische Philosophie und Politische Theorie .................................................. 147 Arendts Abkehr von der philosophischen Tradition ................................... 147 Die Tradition politischer Philosophie ......................................................... 150 Die politische Theorie als die Theorie der Pluralität .................................. 154 Rousseau und die Tradition politischer Philosophie ......................................... 186 Das Repräsentationsprinzip ........................................................................ 186 Volkssouveränität ....................................................................................... 191 Der Gemeinwille als die metaphysische Begründung der politischen Ordnung ...................................................................................................... 194 Karl Marx und die Tradition politischer Philosophie ....................................... 201 4.1 Marx und das Ende der Tradition ............................................................... 201 4.2 4.3 4.4 Der Doppelcharakter des marxschen Arbeitsbegriffs ................................. 203 Das Gattungswesen als die Einheit zwischen Gesellschaft und Individuum ..................................................................................................................... 208 Identifizierung des Politischen mit „Geschichtemachen“ ........................... 211 IV. Politik und Pluralität ........................................................................................... 218 1. Identität und Pluralität....................................................................................... 218 1.1 Gleichheit und Differenz............................................................................. 218 1.2 Der handlungstheoretische Begriff der Identität ......................................... 221 1.2.1 Der Begriff der Identität...................................................................... 222 1.2.2 Die Offenheit der Identität .................................................................. 224 1.2.3 Die Narrativität der Identität ............................................................... 226 1.2.4 Die politische Identität ........................................................................ 229 1.3 Interdependenz von Selbst und Welt: Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger .................................................................................................... 233 1.3.1 Der existenzphilosophische Ansatz in der politischen Theorie Arendts ............................................................................................................. 233 1.3.2 Das weltlose Selbst ............................................................................. 235 1.3.3 Die Welt als Gegensatz des eigentlichen Selbst ................................. 240 2. Pluralität und Kategorie des Politischen ........................................................... 244 2.1 Die Freiheit als ein politisches Phänomen .................................................. 244 2.1.1 Politik und Freiheit ............................................................................. 245 2.1.2 Die öffentliche und die bürgerliche Freiheit ....................................... 250 2.1.3 Freiheit und Willen ............................................................................. 255 2.1.4 Konstitution der Freiheit ..................................................................... 259 2.2 Die Autorität als die Konstitution der Pluralität ......................................... 266 2.2.1 Der Begriff der Autorität und ihre politische Bedeutung ................... 266 2.2.2 Die Interdependenz von Autorität und Freiheit .................................. 270 2.2.3 Autorität, Herrschaft und Macht ......................................................... 274 2.3 Die politische Macht ................................................................................... 279 2.3.1 Herrschaft als Entmachtung der Macht............................................... 279 2.3.2 Macht und Gewalt ............................................................................... 285 2.3.3 Machtverteilung als Pluralität der Machtzentren ................................ 291 2.3.4 Der Begriff der öffentlichen Macht .................................................... 294 3. Pluralität und Rationalität des Politischen: Die politische Urteilskraft ............ 299 3.1 Die Umkehr zur Philosophie? ..................................................................... 299 3.2 Das Phänomen der Urteilsunfähigkeit im Totalitarismus ........................... 302 3.3 Die politische Interpretation der ästhetischen Urteilskraft von Kant.......... 306 3.3.1 Von Aristoteles zu Kant ...................................................................... 306 3.3.2 Die erweiterte Denkungsart ................................................................ 309 3.3.3 Die reflektierende Urteilskraft ............................................................ 312 3.4 Die Konzeptionen der politischen Urteilstheorie bei Hannah Arendt ........ 314 3.4.1 Der Begriff des Gemeinsinns .............................................................. 314 3.4.1.1 Gemeinsinn versus Privatsinn ........................................................ 315 3.4.1.2 Der Gemeinsinn und die Gültigkeit des Urteilens ......................... 317 3.4.1.3 Der moderne Verlust des Gemeinsinnes ........................................ 318 3.4.2 Die politische Form der Kommunikation: Überreden ........................ 322 3.4.2.1 Die Form des Gültigkeitsanspruchs des politischen Urteilens ...... 323 3 3.4.2.2 Die Überzeugungskraft und die Rationalität des politischen Urteilens ....................................................................................................... 325 3.4.2.3 Die Kritik an Arendts Konzept der politischen Rationalität .......... 328 3.4.3 Die Interesselosigkeit beim politischen Urteilen ................................ 331 3.4.3.1 Der Begriff „Interesse“ .................................................................. 332 3.4.3.2 Kritik an dem Konzept der Interesselosigkeit ................................ 336 V. Zusammenfassung und Schluss............................................................................340 VI. Literaturverzeichnis....…………………………………………………………...345 Siglen In den Anmerkungen dieser Arbeit werden die folgenden Abkürzungen verwendet: BAH BAJ BAM DD DLA DT DTB DU DW EJ EU IG IWV KZ MfZ MG NA PP PV RV ÜDB ÜR VA WEP WP ZVZ ZZ Hannah Arendt - Martin Heidegger, Briefwechsel Hannah Arendt - Karl Jaspers, Briefwechsel Hannah Arendt - Mary McCarthy, Briefwechsel Arendt: Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin Arendt: Die verborgene Tradition Arendt: Denktagebuch Arendt: Das Urteilen Arendt: Vom Leben des Geistes, Bd. 2: Das Willen Arendt: Eichmann in Jerusalem Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Arendt: In der Gegenwart Arendt: Ich will verstehen Arendt: Die Krise des Zionismus Arendt: Menschen in finsteren Zeiten Arendt: Macht und Gewalt Arendt: Nach Auschwitz Arendt: Philosophie und Politik Arendt: Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur? Arendt: Rahel Varnhagen Arendt: Über das Böse Arendt: Über die Revolution Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben Arendt: Was ist Existenzphilosophie? Arendt: Was ist Politik? Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft Arendt: Zur Zeit GV KdU LV MEW NE Pol SZ WG Rousseau: Gesellschaftsvertrag Kant: Kritik der Urteilskraft Hobbes: Leviathan Marx/Engels: Marx-Engels-Werke Aristoteles: Nikomachische Ethik Plato: Politeia Heidegger: Sein und Zeit Weber: Wirtschaft und Gesellschaft Einleitung Hannah Arendt und die Krise des Politischen Die totalitäre Katastrophe und die ideologischen Konflikte bestimmten das Gesicht des 20. Jahrhunderts. Diese geschichtlichen Phänomene des letzten Jahrhunderts, das Hobsbawm „das Zeitalter der Extreme“1 genannt hat, ließen das Politische selbst zur zentralen Problemstellung werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint der ideologische Konflikt nicht mehr zum Thema der politischen Diskussion zu gehören, indem der Ost-West-Konflikt mit dem Triumph des kapitalistisch liberal-demokratischen Grundmodells des Westens beendet wurde. Dieser Triumph wird von einigen zugleich als „das Ende der Geschichte“ 2 und als „das Ende der Politik“3 gesehen. Ende der Politik meint Ende ihrer Möglichkeit und Aufgabe. Das bedeutet die funktionale Unterordnung der Politik unter die ökonomischen Imperative der Gesellschaft. Die posttotalitäre Demokratie des 21. Jahrhunderts scheint die politische Katastrophe des letzten Jahrhunderts durch Gesellschaft ohne Politik überwältigen zu wollen. Vor dem Hintergrund dieser Tendenz wird zum spezifischen Kennzeichen gegenwärtiger Politik „ihre Bedeutungslosigkeit“.4 Ein alter Traum der Utopisten, die Politik durch die politiklose Gesellschaft zu ersetzen, scheint sich nicht mehr als utopisch zu erweisen, sondern als realistisch. In dieser Situation geht es nicht um die Frage, was Politik ist, sondern vielmehr um die Frage: „Hat Politik überhaupt noch einen Sinn?“5 Hannah Arendt hat bereits in den fünfziger Jahren die Abschaffung des Politischen selbst als die wirkliche Gefahr diagnostiziert: „Die Gefahr ist, daß das Politische überhaupt aus der Welt verschwindet.“6 Wo neue politische Theorie auftritt, da ist das Politische in die Krise geraten, und es fällt der politischen Theorie die Aufgabe der „Erfindung des Politischen“ 7 zu. Beim angemessenen Umgang mit der politisch krisenhaften Situation gehört Hannah Arendt zu jenen Autoren, die zurzeit in aller Munde sind.8 Auf den ersten Blick ist dabei verwirrend, dass zur posttotalitären Zeit eine Totalitarismustheoretikerin innerhalb der politischen Theorie wie1 2 3 4 5 6 7 8 Hobsbawm, 1996. Fukuyama, 1992. Vgl. Guèhenno, 1994, S. 39-58. Bauman, 2000, S. 11. WP, S. 28. WP, S. 13. Beck, 1993. Dazu siehe Kühnhardt, 1997, S. 125-149. 7 der Bedeutsamkeit erlangt. Es scheint nicht übertrieben zu behaupten, dass die neue Theorie der Politik nicht nur die Auseinandersetzung mit der totalitären Vergangenheit verlangt, sondern auch die Erfahrungsfähigkeit gegenüber veränderten Konstellationen. 9 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wo die Ursache dieser Renaissance und die Leistungsfähigkeit der gegenwärtigen Ansätze der politischen Theorie Arendts liegen. Mit Hannah Arendt können wir Zugang zum Wesen der Krise des Politischen in unserer Zeit finden. Das Wesen der politischen Probleme in unserer Zeit besteht Arendts Ansicht zufolge darin, dass die politische Welt, die auf dem handelnden und sprechenden Miteinander beruht, ihre pluralitätskonstitutive Kraft verliert. In der radikalsten Negation der Pluralität, die das von Arendt erkannte Hauptelement der totalitären Politik war, besteht die weiterhin bedrohlich totalitäre Tendenz der Gegenwart. In diesem Zusammenhang könnte Arendts Antwort inmitten des Verlustes des Politischen nur lauten: das Prinzip der Pluralität muss neu belebt werden. Bereits im letzten Jahrhundert haben die Erfahrung des Totalitarismus und die zunehmenden Tendenzen der Negation der Differenzen in der globalisierten Welt das Thema Pluralität auf den Tisch gebracht. Der Begriff ‚Pluralität‟ wird heute als Voraussetzung, Grund, Mitte und Norm für das Ganze der politischen Realität verwendet. Der Begriff der Pluralität ist neben seiner Verwendung in der politischen Theorie in den verschiedensten Wissenschaftszweigen verwandelt, so etwa in der Theologie, Soziologie, Philosophie, Psychologie usw. Er ist schließlich zu einem gängigen Begriff der Alltagssprache geworden. Trotz dieser Inflation des Begriffs der Pluralität in den gegenwärtigen Wissenschaften und Alltagssprache ist das verwirrend mannigfaltig und umstritten, was mit diesem Wort eigentlich gemeint ist: Was versteht man unter Pluralität? Wie ist der Begriff der Pluralität als das Thema politischer Theorie begründbar? Pluralität als das Thema der politischen Theorie Man versteht eine Theorie erst dann, wenn man rekonstruiert hat, auf welche Frage sie die Antwort darstellen soll und auf welche Frage sie sich konzentriert. Ohne Zweifel ist Hannah Arendt in unserer Gegenwart zu einer der „Klassier der Politikwissenschaft“10 aufgestiegen. Diese Klassizität zeigt sich nicht nur darin, dass sie Bezugspunkt in ganz unterschiedlichen Diskussionsfeldern geworden ist: ob in der Totalitarismustheorie, der Revolutionstheorie, 9 10 „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft” (Tocqueville, 1962, S. 9). Bleek/Lietzmann (Hrsg.), 2005. 8 der Moralphilosophie, Feminismusdebatten, Urteilslehre und Fragen des Judentums. Die Klassizität der Arendtschen Theorie lässt sich auch durch die Einheit des gemeinsamen Nachdenkens über Politik in der Vielfalt der von ihr vertretenen Theorien, Begriffe und Fragestellungen begründen.11 Hannah Arendt verwendet den Begriff der Pluralität als das normative Kriterium für alle Zentralkategorien des Politischen. 12 Die Pluralität ist im Arendtschen gesamten Denken der kategorienbildende Begriff, von dem aus die zentralen Konzepte des Politischen miteinander zusammengesetzt werden können. Arendts politische Theorie wirft erneut ein klassisches Thema auf: das Verhältnis von Politik und Pluralität. In der politischen Ideengeschichte bildet die Beziehung zwischen Politik und Pluralität einen klassischen Streit. Dabei wird die Politik als einheitsstiftendes Problemlösungsmedium menschlicher Pluralität, die „eine Schwäche der menschlichen Natur“ 13 darstellt, eingesetzt. Als Aufgabe der politischen Pluralismustheorie wird es angesehen, die Mitte zwischen Pluralität und Vereinheitlichung zu finden. So schreibt Kurt Sontheimer: „Im smendschen Begriff der Integration als dem Prozeß, in dem der Staat die Vielheit der gesellschaftlichen Interessen zur Einheit eines Staatswillens fortlaufend integriert, ist die Idee des Pluralismus mit der dem Staatswillen zugeschriebenen Idee der Einheit produktiv verbunden worden.“ 14 Nach diesem Verständnis des Pluralismus ist die Pluralität nicht „Selbstzweck“15. Daher ist die Pluralität nicht als das Phänomen des Politischen überhaupt behandelt. Von dieser Pluralismustheorie unterscheidet sich Arendts Konzept der Pluralität sichtbar. Für Arendt bezeichnet sich die Pluralität als Selbstzweck des Politischen. „Zwar ist menschliche Bedingtheit in allen ihren Aspekten auf das Politische bezogen, aber die Bedingtheit durch Pluralität steht zu dem, daß es so etwas wie Politik unter Menschen gibt, noch einmal in einem ausgezeichneten Verhältnis; sie ist nicht nur die conditio sine qua non, sondern die conditio per quam.“16 Diese Aussage von Arendt selbst lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie die Politik als das Problem der Pluralität betrachtet. So ist die politische Theorie für Arendt die Theorie der Pluralität. Denn: „Politik beruht auf der Tatsche der Pluralität der Menschen“17: „Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinan- 11 12 13 14 15 16 17 Vgl. Bleek/Lietzmann, 2005, S. 17. Dagegen weist Morgenthau darauf hin: „Es gibt also in jeder politischen Philosophie ein normatives Element; bei Hannah Arendt ist dieses normative Element verhüllt und kommt auch im Verlauf ihrer Argumentation nicht deutlich heraus.“ (Morgenthau, 1979, S. 242). VA, S. 299; vgl. PP, S. 399. Sontheimer, 1976, S. 256. Detjen, 1991, S. 156. VA, S. 17. WP, S. 9. 9 der-Sein der Verschiedenen“18. Diese These lässt sich so interpretieren: Nur die Pluralität ermöglicht den Menschen überhaupt das politische Handeln und damit die Freiheit. Die Abschaffung der Pluralität bedeutet daher immer die Zerstörung des Politischen und den Verlust der Freiheit. Die Entdeckung der Pluralität als ein Fundament des Politischen ist ein eigenartiger Beitrag, den Arendt zur politischen Theorie unserer Zeit geleistet hat. Hannah Arendt ist eine Denkerin der Pluralität, die die Frage nach der Pluralität innerhalb des politischen Zusammenhangs zum grundlegenden Thema politischer Theorie gemacht hat. Durch die Auseinandersetzung mit der Politik des 20. Jahrhunderts, vor allem durch die Gefahr der totalitären Phänomene, lenkt Arendt unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der menschlichen Pluralität für das Verstehen der politischen Welt. Arendt versteht Pluralität nicht als eine Pluralität der Werte, sondern als eine des politischen Handelns und der politischen Handelnden. Arendts Ansicht zufolge ist der Sinn von Politik die Pluralität, nämlich die Möglichkeit eines Zusammenhandelns aller im öffentlichen Raum. Das Politische wird nur erfahren, wenn Verschiedene unter Gleichen in einem öffentlichen Raum zusammenhandeln. Die Pluralität ist nicht nur Vorbedingung des politischen Lebens, sondern ein Zweck des politischen Lebens. Sie tritt nicht nur als die ontologische Bedingung der menschlichen Welt auf, sondern als das politische Phänomen. Beim politischen Phänomen geht es zugleich um das Subjekt des Handelns und um die gemeinsame Welt, also um Selbst und Welt.19 Für die Konzeption der politischen Pluralität schließen sich die beiden Pole: Differenz und Gemeinsamkeit nicht gegenseitig aus, sondern sie stehen im Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung. In der Diagnose der Krise des Politischen stellt Arendt fest, dass die Abschaffung der öffentlich-gemeinsame Welt prinzipiell das im Miteinander beschlossene Selbstsein des Menschen in Gefahr bringt. Politisch gesagt geht Arendts Pluralitätstheorie über die Pluralismustheorien hinaus, die „den erheblichen Spannungen zwischen der Macht der Verbände und der Ohnmacht des einzelnen Bürgers zu wenig Aufmerksamkeit schenken“. 20 Arendts Pluralitätstheorie vollzieht sich im Spannungsverhältnis zwischen den einzigartigen pluralen Individuen und der gemeinsamen Welt. 21 Was die Aufsplitterung traditioneller Einheitskonzeptionen betrifft, besteht die wichtige Aufgabe der politischen Theorie im Lösungsversuch der Frage nach der Gründung von Gemeinsamkeit in der Differenz der Individuen. Die Entdeckung der Pluralität stellt 18 19 20 21 WP, S. 9; DTB, S. 17. Vgl. Meints, 2008, S. 79ff. Schmidt, 2000, S. 236. Vgl. WP, S. 169. 10 eine intensive Suche nach den Grundlagen der Beziehung zwischen Individuum und Pluralität und damit nach der neuen Möglichkeit des menschlichen Zusammenlebens dar. Die Pluralität ist für Arendt das konstitutive Prinzip der politischen Welt. Fragestellung und Aufbau der Arbeit Die folgende Arbeit setzt sich zum Ziel, die politische Theorie von Hannah Arendt im Hinblick auf den Pluralitätsbegriff zu interpretieren. Diese Interpretation soll einem Zweck dienen, verschiedene und heterogene Themen auf ein gemeinsames Fundament hin zu verstehen. Das Thema, das diese Arbeit anzeigen wird, will zum Verständnis von Grunddimension der politischen Theorie von Hannah Arendt und zu einer neuen Wertschätzung der Pluralität als des politischen Phänomens beitragen. Der Versuch, verschiedene und heterogene Themen der Arendtschen Theorie des Politischen auf den Pluralitätsbegriff als ein gemeinsames Fundament hin zu verstehen, ist nicht nur durch den theoretischinterpretativen Ansatz begründbar, sondern er hat mit der gegenwärtigen Krise des Politischen zu tun, wo der Mensch sowohl selbst- wie weltvergessen existiert. Damit verbunden geht diese Arbeit von der Frage aus, ob sich Lösungsperspektiven aus Arendts Pluralitätskonzept hinsichtlich des gegenwärtigen Zusammenbruchs des politischen Zusammenlebens gewinnen lassen, also der Frage, wie Arendts Pluralitätstheorie die Grundlagen der Beziehung zwischen Individuum und politischer Welt begründet. Die Schwierigkeit für diese Interpretation der Arendtschen Theorie steht darin, dass Arendt, auch wenn sie ohne Zweifel zu den originellen wie brillanten Denkern gehört, keine systematische Denkerin ist.22 Das Werk Hannah Arendts ist durch seinen Mangel an Systematik oder mangelnde Thesenkonsistenz gekennzeichnet. Das erschwert, dass man die Gedankenreichen miteinander verbindet und kohärent interpretiert. Daraus verweist man auf die thematischen und zeitlichen Widersprüche und Uneinheitlichkeit ihres Denkens. 23 Darüber hinaus wird die Absicht, Arendts politische Theorie durch das theoretische Basis der Pluralität zu rekonstruieren, dadurch erschwert, dass Hannah Arendt das Problem der Pluralität in ihren Werken niemals expliziert thematisiert. Trotz allem sind ihre Übung des politischen Denkens, wie sie wenige Jahre vor ihrem Tod an Richard Bernstein schrieb, „Ausarbeitung und Variationen des einen Themas“24: der Pluralität, angefangen von den früheren, in der 22 23 24 Vgl. Weigel, 1997, S. 13ff.; Parekh, 1981, S. xi. Vgl. Kuhn, 1960, S. 130; Diemer, 1962, S. 140. Arendt an Richard Bernstein, 31. Oktober 1972; zit. nach Young-Bruehl, 1986, S. 450. 11 Erfahrung von totalitärer Herrschaft verfassten politisch-historischen Analyse des Totalitarismus bis zur letzten, unvollendet gebliebenen Lehre der Urteilskraft.25 Dass der Begriff der Pluralität eine zentrale Rolle zur Interpretation und zur systematischen Rekonstruktion der Arendtschen Theorie des Politischen spielt, tritt in den Arendtsforschungen offen zutage, wird aber gleichwohl häufig nicht mehr in ausreichender Weise gesehen. Das Thema ‚Pluralität bei Hannah Arendt‟ ist vor allem in der deutschsprachigen Arendtsforschung bis heute sehr stiefmütterlich behandelt worden. Die Zahl der Arbeiten, die ausdrücklich dem Thema gewidmet sind, ist sehr klein.26 Und nicht alle diese Arbeiten bleiben wirklich bei der von ihnen intendierten Sache, nämlich dem Pluralitätsbegriff Arendts. Es ist auch auffällig, dass das politiktheoretische Potenzial von Arendts Konzeption der Pluralität, auch wenn die Frage nach der Pluralität im Zentrum der politischen Debatten steht, bisher kaum ausgelotet ist. Der Grund dafür, warum trotz der Flut neuer Literatur zu ihrem Werk die Verwirrung größer als die Klarheit ist 27, besteht darin, dass man Arendts politisches Denken nicht im Blick auf das konsequente Thema als einen roten Faden interpretiert. Obwohl die Phänomene von einer „Hannah Arendt – Renaissance“28 oder dem „Arendt-Kult“29 die Anschlussfähigkeit des Arendtschen Denkens für aktuelle politische Fragstellungen reflektieren, scheint sie jedoch „zur effektiven Depolitisierung“ der Arendtschen Theorie zu führen,30 weil sie die eigentliche Radikalität ihrer politischen Theorie missverstehen oder übersehen. Diese Arbeit geht von der Aufgabe aus, das Politische an Arendt wieder zu beleben und zu rekonstruieren. Ein gemeinsamer Mangel aller bisherigen Beiträge zum Thema ‚Pluralität bei Hannah Arendt‟ beruht meines Erachtens darauf, dass Arendts Schriften keine hinreichende systematische Grundlage für die Analysen ihres Pluralitätsbegriffs liefern. Und die meisten Beschäftigungen mit dem Pluralitätsthema sind bisher nur auf die in VA dargelegte Auffassung der Pluralität fixiert. Deshalb kommt der Pluralitätsbegriff als eins von verschiedenen Themen in VA nebensächlich zur Sprache.31 So bleiben viele bedeutende Bereiche und Dimensionen des Pluralitätsbegriffs im Dunkeln. Man darf allerdings keineswegs bestreiten, dass das Hauptwerk von Arendt, VA, entscheidende Pluralitätskonzeptionen enthält, besonders in 25 26 27 28 29 30 31 Pilling betont, dass Arendt bereits in ihrer Dissertation über Augustinus zentrale Voraussetzungen der Konzeption über Pluralität beschrieben hat (Pilling, 1996, vor allem S. 92-96). Dazu gehören einige Aufsätze: Bösch, 1994, S. 569-588; Conradi/Plonz (Hrsg.), 2000; Greven, 1993, S. 69-96; Blättler, 2001, S. 106-135. So kritisiert Sontheimer nicht zu unrecht die Arendt-Interpreten: „Studiert man manche der Beiträge zu ihrem Werk, so ist die Verwirrung oft größer als die Erhellung.“ (Sontheimer, 2005, S. 250). Benhabib, 1998, S. 18. Laqueur, 1998, S. 111-125. Marchart, 2005, S. 24. Vgl. Jaeggi, 1997a; Reist, 1990; Schnabl, 1999. 12 Bezug auf die ontologische und politische Dimension der Pluralität. Wenn man sich aber beim Thema der Pluralität nur auf dieses Werk beschränkt, bleiben viele wesentliche Aspekte des Pluralitätsbegriffs unberücksichtigt. In sogenannten politischen Werken wie Totalitarismusbuch und Revolutionsbuch manifestieren sich die politiktheoretischen Dimensionen des Pluralitätskonzepts ausführlich. In der Analyse des Totalitarismus betont Arendt, dass das Wesen des Totalitarismus in der Zerstörung von Pluralität als Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens besteht.32 Arendts Kritik an den Gesellschaftsphänomenen und an der Tradition politischer Philosophie, ihre Rekonstruktion der Kategorien des Politischen und die politische Interpretation der Urteilskraft lassen sich meines Erachtens nur im Blick auf den Pluralitätsbegriff hinreichend gründlich artikulieren. Das bildet den Hintergrund, vor dem der Verfasser Arendts Gedanken der Pluralität analysieren will. Um die Grundthesen hinsichtlich der Arendtschen Pluralitätstheorie systematisch zu strukturieren, ist die vorliegende Arbeit in vier Teilen untergliedert: Im ersten Teil der Arbeit werden zunächst die theoretischen und methodischen Grundlagen des politischen Denken Arendts skizziert, um ein brauchbares Grundbaustein für das weitere Vorgehen herzugeben. Hier werden wir zeigen, dass sich Arendts Reflexionen zu konkreten politischen Themen mit engem Bezug auf die theoretisch zentralen Konzepte ihres Denkens lesen lassen. In diesem Teil reflektieren wir Arendts gesamte Theorie auf drei Ebenen: Erstens auf der Ebene anthropologischer Überlegung, zweitens auf der handlungstheoretischen Ebene und drittens auf der methodischen Ebene. Diese Ebenen bestehen bei Arendts Werken nicht im systematischen Zusammenhang, sie sind jedoch vom Kontext des Gesamtwerkes von Arendt nicht losgelöst. Hier versuchen wir, die theoretische Basis des Pluralitätsbegriffs aufzuzeigen. Im zweiten und dritten Teil zeigt sich der kritisch-normative Ansatz des Pluralitätskonzepts für Arendts Theorie. Der Pluralitätsbegriff impliziert darin ersichtlich seinen kritischen Geist. Im Zentrum des zweiten Teils steht Arendts Kritik an der modernen Gesellschaft. Arendts Ausgangspunkt bei ihrer Pluralitätstheorie ist die Krise des Politischen in der modernen Welt. Das Wesen der Krise der modernen Welt hat mit katastrophalen Zusammenbrüchen der gemeinsamen Welt zu tun. Die moderne Gesellschaft als der öffentlich gewordene Private ist durch die Entpolitisierung, die durch die Veröffentlichung des Lebensprozesses produziert wird, charakterisiert. In der entpolitisierten Gesellschaft ist die Pluralität durch Prozesse vom Selbst– und Weltverlust gefährdet. 32 Fraser, 2004, S. 73-86. 13 Teil drei hat Arendts Kritik an den Elementen von Anti-Pluralität in der abendländischen Tradition politischer Philosophie zum Inhalt. Interessanterweise verknüpft Arendt die Krise der Pluralität in der modernen Gesellschaft mit den antipluralistischen Elementen, die der Tradition abendländischer politischer Philosophie innewohnen. Arendt sieht die tiefe Verwurzelung der politisch-moralischen Krise, die der Totalitarismus gebracht hatte, nicht nur in der westlichen Kultur, sondern auch in „fragwürdige(n) Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart“.33 Durch ihre Kritik der westlichen Tradition politischer Philosophie gelangt sie schließlich zu einer Neubegründung des Politischen. Arendts Ansicht zufolge bemüht sich die politische Philosophie seit Plato, die widerstreitige Vielfalt zu schlichten. Die Auseinandersetzung mit der metaphysisch bestimmten Tradition politischen Denkens führt Arendt im Hinblick auf das politische Handeln zu einer Reflexion über das Wesen der politischen Pluralität. Die Kapitel über personale und politische Identität, Kategorien des Politischen und Urteilslehre im vierten Teil bilden den eigentlichen Kern dieser Arbeit. Hier wird das Verhältnis von Politik und Pluralität in den Mittelpunkt gerückt. In diesem Teil werden wir uns mit der Frage befassen, wie sich das Selbst und Welt im politischen Handeln vereinbaren lassen und wie sich die Pluralität politisch konstituiert lässt. Die politische Pluralität ist für Arendt mehr als die Tatsache einer offenen und vielfältigen, durch Interessen gebundenen und zugleich auseinanderstrebenden Gesellschaft. Die Politik lässt sich für Arendt nicht als die vereinheitlichende Funktion der konkurrenzdemokratischen Interessenpluralität verstehen. Die menschliche Pluralität lässt sich im öffentlich-politischen Handeln miteinander herausbilden. Aus dieser neuen Wahrnehmung des Verhältnisses von Politik und Pluralität sind die Neubestimmung der politischen Kategorien und die Urteilslehre thematisiert. Durch die „Destruktion des überkommenen Begriff des Politischen“34 bildet Arendt die inhaltlich neue Kategorie des Politischen. Diese Vorführung der Kategorien des Politischen zeigt deutlich das auf der Pluralität beruhende Phänomen der Politik. Dass der Pluralitätsgedanke in Arendts politischer Theorie einen zentralen Stellenwert besitzt, lässt sich auch an der Urteilslehre ersehen. Durch die Betrachtung der Arendtschen Urteilslehre werden wir nach den Grundlagen der Beziehung zwischen Individuum und Pluralität und nach einer neuartigen Konzeption der politischen Rationalität im Hinblick auf die Pluralität suchen. 33 34 Arendt, 1957. Vollrath, 1979a, S. 29. 14 I. Die Grundlage des politischen Denkens von Hannah Arendt 1. Politische Anthropologie Die Frage, ob wir in radikal pluralistischer politischer Welt von einem Begriff der Menschennatur ausgehen können, ist eine der brennenden Fragen der heutigen politischen Philosophie. Auch wenn Arendts politische Theorie als den Versuch einer anthropologischen Fundierung des Politischen angesehen werden könnte,1 inspiriert sie sich aber keineswegs von der philosophischen Anthropologie als der „Lehre von der Menschennatur“ 2 , deren Endziel die Erkenntnis des essentiellen Wesens des Menschen ist. Für die politische Ideengeschichte ist es kennzeichnend, dass der politischen Theoriebildung ein Bild vom Menschen zugrunde liegt. Selbst wenn sich die Politische Philosophie mit verschiedenen politischen Fragen wie nach der besten politischen Ordnung, nach dem rechten Leben und nach der gerechten Herrschaft beschäftigt, lassen sich ihre zentralen Probleme immer nur im Lichte jener Fragen nach dem Wesen des Menschen stellen.3 Darüber, was eine gute Ordnung für den Menschen ist, könne nur entschieden werden, wenn man eine transzendentale Idee davon bildet, was der Mensch ist oder sein soll. Mit der Verknüpfung von Politik und Menschennatur hängt das ontologische und metaphysische Verständnis des Politischen zusammen. Um das menschliche Wesen und seine Essenz zu erklären, muss man zunächst von allem Äußerlichen und allem Zufälligen in den menschlichen Angelegenheiten absehen, weil die Frage des menschlichen Wesens grundsätzlich Unerkennbares jenseits des Bereichs der menschlichen Angelegenheiten ist. 4 Dieses Absehen befähigt erst zur Unterscheidung von wesentlicher Essenz und zufälliger Existenz des Menschen. Insofern erweist sich die philosophische Anthropologie als metaphysisch.5 Für Arendt lassen sich die politischen Phänomene nicht auf die Menschennatur zurückführen. Nicht über das menschliche Wesen, sondern über die Bedingtheit menschlicher Existenz und über die menschlichen Tätigkeiten, die die politischen Phänomene und ihre Realität ausmachen, sagt Arendt in ihrem politischen Denken etwas aus: Natalität, Welt und Pluralität machen die menschlichen Grundbedingungen, die den menschlichen Tätigkeiten ent1 2 3 4 5 Vgl. Gerhardt, 1991, S. 319 und 2007, S. 215-228; Kuhn, 1960, S. 126-131; Reist, 1990; Cooper, 1979, S. 138. Vgl. Gehlen, 1983, S. 143. Vgl. Kauffmann, 2001, S. 186. Vgl. Cassirer, 1960, S. 18. Coreth vertritt die Auffassung, dass philosophische Anthropologie, „wenn sie die Dimension des menschlichen Wesens nicht vorschnell verkürzen, sondern aufdecken und auslegen will, notwendig metaphysische Anthropologie“ ist (Coreth, 1986, S. 20). 15 sprechen, aus.6 Im Gegensatz zur philosophischen Anthropologie gibt es für die politische Theorie Arendts die Bezeichnung „die politische Anthropologie“, „in der nicht das Sein des Menschen im Singular, sondern das Handeln der Menschen im Plural im Mittelpunkt steht.“7 Eine so verstandene politische Anthropologie ist nicht zu verwechseln mit einer Anthropologie des Politischen, „einer philosophisch-normativen Disziplin“, die mittels eines expliziten Rückgriffs auf die universale Menschennatur politische Regelungen und Institutionen zu rechtfertigen versucht.8 1.1 Arendts Kritik an der metaphysischen Bestimmung der Menschennatur Hannah Arendt beginnt ihr großes Werk Vita activa mit einer Kritik am philosophischen Versuch, das Politische durch die menschliche Wesensbestimmung zu erklären. Seit Plato glaubt man, dass Politik ohne ein Konzept vom Wesen der Menschen nicht ernsthaft analysiert werden kann. Nach dieser Vorstellung hat die Philosophie, die sich mit dem Problem vom wahren Menschenwesen befasst, immer absolute Priorität vor der Politik als den „Angelegenheiten der Menschen“9. Indem man den Sinn der Politik aus einer naturrechtlichen oder metaphysischen Teleologie erschließt, reduziert sich die Politik bestenfalls auf ein Mittel zur Verwirklichung der Menschennatur. 1.1.1 Die Verdinglichung Die von Arendt geübte Kritik an der philosophischen Bestimmung der Menschennatur besteht darin, dass sie den Menschen zu einem Gegenstand degradiert, ihn auf bestimmte Eigenschaften fixiert und damit das Leben verdinglicht. Die Verdinglichung des Menschen entsteht unvermeidlich, wenn man das Wesen des Menschen, das unerkennbar ist, als etwas Verfertigtes feststellen will.10 Der Versuch, die Natur des Menschen zu bestimmen, ist nur in der Annahme gemacht, „daß der Mensch überhaupt ein Wesen oder eine Natur im gleichen Sinne besitzt wie alle anderen Dinge.“11 Unter dieser fundamentalontologischen An- 6 7 8 9 10 11 „Die Rede von der Bedingtheit der Menschen und Aussagen über die Natur des Menschen sind nicht dasselbe. Auch die Gesamtsumme menschlicher Tätigkeiten und Fähigkeiten, insofern sie menschlichen Bedingtheiten entsprechen, stellt nicht so etwas wie eine Beschreibung der Menschennatur dar.“ (VA, S. 19). Sontheimer, 2005, S. 108 und 105; vgl. Belardinelli, 1990, S. 129. Sontheimer, 1976, S. 7. Plato, Nomoie 803 b 3 f. Vgl. d‟Arcais, 1993, S. 118ff. VA, S. 20. 16 nahme verwandelt sich der Mensch in ein Ding, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten wird. Arendt lehnt es kategorisch ab, dass wir uns selbst wie „das Wesen der Dinge, die uns umgeben und die wir nicht sind, erkennen, definieren und bestimmen können“.12 Arendts Ansicht zufolge kann man nicht nach dem Was des Menschen fragen wie nach dem Was eines Dinges, sondern nur nach dem Wer des Menschen, das durch das Handeln und Sprechen in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt.13 Das auf dem Handeln und dem Sprechen gegründete Wer lässt sich in keiner Weise verdinglichen oder objektivieren, da Handeln und Sprechen Vorgänge sind, die von sich aus keine greifbaren Resultate und Endprodukte hinterlassen. Arendt betont, „daß das Wesen dessen, wer einer ist, sich aller Verdinglichung und Vergegenständlichung durch ihn selbst entzieht.“14 Das Was kann niemals die Existenz eines konkreten Menschen erklären, weil es sich auf die biologischen Attribute beschränkt.15 Jede Form einer Fixierung der menschlichen Natur, eine Feststellung seines Was würde die Möglichkeit der menschlichen Handlungspluralität im Gesichtskreis der Freiheit notwendig aufheben. Arendt sagt: „Wenn es eine solche Menschennatur geben sollte, so wäre sie ein Naturphänomen, und ein ihr entsprechendes Verhalten menschlich zu nennen, würde voraussetzen, dass menschliches und natürliches Verhalten ein und dasselbe sind.“16 In der Begrifflichkeit von Arendt versteht sich unter „Verdinglichung“ der Übergang von einem Modell zum Ding.17 Bei der Verdinglichung ist ein Ding vom Modell bestimmt. Die Bestimmung der Menschennatur setzt immer die Idee vom Menschen als einem Modell voraus, wie ein Ding gemäß einem Urmodell oder einer Idee hergestellt wird. Zur Bestimmung der Menschennatur braucht man unentbehrlich die platonische „Idee“ oder den Gott, der nur der einzige Zugang zu dem Geheimnis der menschlichen Natur ist. 18 Daher enden die Versuche, das unerkennbare Menschenwesen zu bestimmen, „zumeist mit irgendwelchen Konstruktionen eines Göttlichen.“19 Die Frage: „Was bin ich?“ ist die Frage nach dem eigentlichen, dem eigensten Ich; die Antwort kennt nur Gott.20 Im Hinblick auf die Ver- 12 13 14 15 16 17 18 19 20 VA, S. 20. Zur Unterscheidung von Was und Wer siehe Abschnitt IV, 1.2.2. VA, S. 268. Vgl. Kristeva, 2001, S. 274. MfZ, S. 21. VA, S. 165. „Verdinglichung bedeutet, menschliche Phänomene aufzufassen, als ob sie Dinge wären, das heißt als außer- oder gar übermenschlich.“ (Berger/Luckmann, 1969, S. 95). VA, S. 21. Es ist der Ausgangspunkt bei Augustinus wie bei Pascal in Bezug auf das Problem des Wesens des Menschen (vgl. ZVZ, S. 307). In der ausschließlichen Orientierung an Gott für das Sichfinden spielt die 17 dinglichung zitiert Arendt Pascal, demzufolge „die ganze Aufeinanderfolge von Menschen durch die Jahrhunderte hindurch als ein und der selbe Mensch zu betrachten ist, der immerdar lebt und beständig lernt.“21 Nach Arendts Kommentar ist Pascals Begriff des Menschen unmittelbar nach dem Vorbild des Menschen gebildet. Das bedeutet „die Personifizierung der Menschheit“22 oder „Übersteigerung eines Menschlichen“23. Der einzelne Mensch wird daher als Verkörperung oder Inkarnation der vorbestimmten Menschennatur verstanden. Folglich ist das Wesen des Menschen, das „weltlich nicht feststellbar ist“ 24, untrennbar verknüpft mit Glauben an Überweltliches. Insofern ist die Frage nach der Menschennatur metaphysisch. Die Verdinglichung des Menschen ist nicht nur ein theoretisches Problem, sondern führt auch zur aktuellen Bedrohung unseres politischen Lebens. Die Gefahr tritt immer da auf, wo ein gewisser Naturbegriff des Menschen auf den politischen Bereich angewendet und durchgesetzt wird, wie die Rassenlehre des Nationalsozialismus zeigt. In dieser Lehre wird „die natürlich-physische, von Geburt vorbestimmte Gegebenheit als einzig Absolutes“ gesetzt.25 Die Rassentheorie war für Arendt jedoch keineswegs eine spezifische Erfindung der Nazis, sondern sie war die praktische und politische Konsequenz, welche die Nazis aus der philosophischen und biologischen Anthropologie zogen.26 Solch eine Lehre ist „eine Art von dem umgekehrten Platonismus, der versucht, die nichtgeistigen Wesenheiten aller menschlichen Lebensäußerungen nachzuweisen, sei es im Ökonomischen, Biologischen, Geschlechtlichen, Instinktiven.“27 Die rassistische Utopie führt zur Ausgrenzung und Zerstörung des Anderen und Fremden. In diesem Zusammenhang ist die Verdinglichung in der Idee des Menschenwesens nicht nur metaphysisch, sondern auch antipolitisch, weil sie die menschliche Pluralität in der Welt zerstört.28 21 22 23 24 25 26 27 28 Weltwirklichkeit überhaupt keine Rolle: „Das Sichfinden geht zusammen mit dem Gottfinden. Nur mit Gottes Hilfe ferner kann ich mich finden. Das heißt aber, in dem Augenblick, da ich anfange, mich zu suchen. Gehöre ich schon nicht mehr zur Welt – das ist aus dem Vorangegangenen einleuchtend – sondern zu Gott, und dies ist aus Folgendem zu verstehen.“ (LB, S. 16). DW, S. 145. Hervorhebung im Original. DW, S. 146. VA, S. 21. MfZ, S. 26. EU, S. 424. Vgl. MfZ, S. 40. Heller, 1995, S. 98; Arendt bemerkt, dass das rassische Denken „sich nach innen richtet und anfängt, die menschliche Seele als die Verkörperung allgemeiner Stammeseigenschaften anzusehen; und da die Seele ja offenbar nicht etwas sein kann, was verkörpert, findet man seine Aushilfe im Blut“ (EU, S. 482. Hervorhebung im Original). In diesem Sinne verbindet Axel Honneth Verdinglichung mit „Anerkennungsvergessenheit“ (Honneth, 2005, S. 94ff.). 18 1.1.2 Unveränderbarkeit In der metaphysischen Tradition gesprochen stellt das Wesen das Unveränderbare und das Unzerstörbare dar. Vor dem Hintergrund der Anthropologiekritik Arendts stellt sich die Frage, ob der Rückgriff auf dieses als unveränderlich wahrgenommene Wesen des Menschen der politischen Relevanz zukommt. Nach Aristoteles ist die Natur ein Endziel (telos), das erreicht wird, „wenn seine Entwicklung vollendet ist“29. Für ihn beinhalten alle Dinge die Natur, die das eigentliche Ziel der Entwicklung ist. Die Natur gehört daher zu dem, was sein soll. Für ihn verwirklicht sich die Natur, aber sie verändert sich nicht. In Bezug auf diese anthropologische Teleologie geschieht die Tätigkeit um der Erreichung eines vorgegebenen Zieles willen, und in dieser Erreichung erfüllt sich das Wesen dessen, was ist. Daraus folgt, dass alles tätig Erscheinende aus etwas erwächst, das das fertige Wesen potentiell enthält. In dieser Vorstellung von der Natur beschränkt sich die Möglichkeit der Handlungspluralität und –freiheit. In Vom Leben des Geistes erhebt Hannah Arendt einen Einwand gegen die aristotelische Ansicht: „Die Auffassung, allem Wirklichen müsse eine Potentialität als eine seiner Ursachen vorausgegangen sein, leugnet indirekt die Zukunft als authentische Zeitform: die Zukunft ist nichts als eine Folge der Vergangenheit, und natürliche und von Menschen geschaffene Dinge unterscheiden sich nur darin, daß bei den einen die Potentialitäten notwendig verwirklicht werden, bei den anderen aber unverwirklicht bleiben können.“30 An einer Stelle, wo sie die Gefahr des Totalitarismus anspricht, erwähnt Arendt die Veränderung des Menschenwesens: „Bis zu welchem Ausmaße aber eine wirkliche Veränderung der menschlichen Natur und eine effektive Veränderung des individuellen Charakters möglich sind, wissen wir nicht.“31 Ferner hält sie fest, dass die totalitäre Ideologie auf die Transformation der menschlichen Natur abzielt: „Das eigentliche Ziel der totalitären Ideologie ist nicht die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz und nicht die revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst“.32 Diese Aussage ist auf den ersten Blick überraschend, weil Arendt den Begriff des Menschenwesens selbst ablehnt, wie wir oben gesehen haben. In Bezug auf diesen Widerspruch gibt uns Canovan einen aufschlussreichen Hinweis. Ihr zufolge geht es bei Arendt darum, „daß es zum Wesen der menschlichen Existenz gehört, ein 29 30 31 32 Aristoteles, Politik, 1252 b 34. DW, S. 18. EU, S. 906. EU, S. 940f. 19 von anderen unterscheidbares Individuum zu sein, welches in einer Pluralität der Personen zu Spontaneität und Initiative fähig ist. Eben deshalb haben die Menschen keine voraussehbare Natur in dem Sinne, wie sie Tiere haben.“33 Anders gesagt ist die Menschennatur in Arendts Sinne gleichbedeutend mit dem Grundvermögen des Menschen als „ein Kennzeichen des Menschenseins“34. Diese Fähigkeit lässt sich nur in der Pluralität der Menschen aktualisieren. Durch diese Fähigkeit bilden Menschen auch die Welt, und die weltbildende Fähigkeit gehört zum Wesen des Menschen als „etwas höchst Unnatürliches“35. Daher mag man die menschliche Fähigkeit zum Handeln, um es mit Vollrath zu sagen, als „die unnatürliche Natur“ verstehen: „Die Natur des Menschen, so er denn eine hat, kann verändert werden, weil handelnde Veränderung seine Natur ist. Diese unnatürliche Natur ändern zu wollen hieße gerade, dem Menschen eine technische Natur durch Handeln beizulegen und damit das Handeln abzuschaffen.“36 Arendts Standpunkt von der Veränderung der menschlichen Natur ist durch die Auseinandersetzung mit Eric Voegelin gekennzeichnet. 37 Voegelin scheint der Begriff vom menschlichen Wesen unverzichtbar für eine Erforschung der sozialen Welt, weil sich die politisch-sozialen Phänomene nur durch den Begriff der Menschennatur verstehen lassen.38 Vor dem Hintergrund seiner philosophischen Anthropologie des Politischen ist Voegelin davon überzeugt, „daß die Wurzeln des Staates im Wesen des Menschen zu suchen sind“ und dass damit „die Probleme der Staatslehre auf Grund einer philosophischen Anthropologie zu entwickeln“ sind.39 Für ihn ist es beunruhigend, dass Arendt die Veränderung der Natur als möglich ansehen konnte, weil er es für selbstverständlich hält, dass die Natur nicht verändert oder umgewandelt werden kann. Die Veränderung der Natur einer Sache bedeute die Zerstörung der Sache selbst, und deswegen sei „die Veränderung der Menschennatur“ eine „contradictio in adjecto“.40 Voegelin hebt immer wieder hervor, dass die Vorstellung von der Veränderbarkeit der Natur des Menschen ein Hinweis auf den geistigen Zerfall der abendländischen Kultur ist. Die Krise des Politischen wie Totalitarismus stelle eine Krise der moralischen und religiösen Normen und die Abwendung von der Einsicht in das Wesen des Menschen dar.41 Zur Überwindung des totalitären Phänomens bedürfe es der Wieder- 33 34 35 36 37 38 39 40 41 Canovan, 1997, S. 57. EU, S. 615. EU, S. 934. Vollrath, 1977, S. 27. Vgl. Bluhm, 2002, S. 245-276. Vgl. Gebhardt, 2004a, S. 69. Voegelin, 1933, S. 2. Voegelin, 1953, S. 74; zit. nach Young-Bruehl, 1986, S. 356. Vgl. hierzu Henkel, 1998, S. 115f. 20 gewinnung der wahren Menschennatur. 42 In der Erwiderung erhebt Arendt heftigen Einwand gegen seinen Rekurs auf Wesenseinsichten: „Der Erfolg totaler Herrschaft ist gleichbedeutend mit einer sehr viel radikaleren Liquidierung der Freiheit, im Sinne einer politischen und menschlichen Realität, als alles, was wir je zuvor miterlebt haben. Unter diesen Bedingungen wird es uns kaum ein Trost sein, an einer unveränderlichen Natur des Menschen festzuhalten und den Schluß zu ziehen, daß entweder der Mensch selber zerstört wird oder daß die Freiheit nicht zu den wesentlichen Fähigkeiten des Menschen gehört. Historisch wissen wir von der menschlichen Natur nur insofern, als sie existiert, und keine Sphäre ewiger Wesenheiten wird uns je trösten, wenn der Mensch seine wesentlichen Fähigkeiten verliert.“43 1.1.3 Singularität In Bezug auf die Wesensbestimmung des Menschen liegt Arendts dritte und entscheidende Kritik darin, dass man für die Wesensbestimmung des Menschen immer den Menschen, nicht die Menschen, behandelt, weil man das Wesen des Menschen mit ihrem Inneren oder mit der Idee des Einen Menschen identifiziert. In der ontologisch fundierten Theorie des Politischen werden die Menschen im Plural vernachlässigt. Damit ist das Politische substantialisiert. Der Mensch ist bei Arendt „ein Wesen, das sich in der Zeit der spezifischen Pluralität der anderen aktualisiert.“44 Darüber hinaus müsse der Begriff des Menschen, „wenn er politisch brauchbar gefaßt sein soll, die Pluralität der Menschen stets in sich einschließen.“45 Arendt formuliert: „Viel entscheidender als diese Abhängigkeit ist, daß Menschen im Singular gar nicht vorstellbar sind, daß ihre Gesamtexistenz daran hängt, daß es immer auch andere gibt, 42 43 44 45 Vgl. Young-Bruehl, 1986, S. 356f.; in diesem Zusammenhang lässt sich die Entstehung der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert als Zeichen einer tiefen Krise des traditionellen Selbstverständnisses des Menschen deuten. In der Gründungsschrift der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhundert, also in Die Stellung des Menschen im Kosmos, stellt Max Scheler fest: „So besitzen wir denn eine naturwissenschaftliche, eine philosophische und eine theologische Anthropologie, die sich nicht umeinander kümmern – eine einheitliche Ideen vom Menschen aber besitzen wir nicht. Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdeckt, so wertvoll diese sein mögen, überdies weit mehr das Wesen des Menschen, als daß sie es erleuchtet. Bedenkt man ferner, daß die genannten drei Ideenkreise der Tradition heute weithin erschüttert sind, völlig erschüttert ganz besonders die darwinistische Lösung des Problems vom Ursprung des Menschen, so kann man sagen, daß zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart.“ (Scheler, 1966, S. 9f.). Hannah Arendt, Reply, in: Review of Politics, 1953, S.68-85; zit. nach Young-Bruehl, 1986, S. 356. Kristeva, 2001, S. 275f. EU, S. 604. 21 die ihresgleichen sind. Gäbe es nur einen Menschen, wie wir sagen, daß es nur einen Gott gibt, so gäbe es den Begriff Mensch in unserem Sinne überhaupt nicht.“46 Da Politisches aus der Angewiesenheit der Menschen aufeinander entspringt, könnte die Beschäftigung mit dem Menschen keine Beantwortung der Frage geben, was das Politische ist. Das Politische hat nichts mit „einem hybriden Singular“47 des in der platonischen Idee oder im Ebenbilde Gottes Geschaffenseins zu tun: „Da die Philosophie und die Theologie sich immer mit dem Menschen beschäftigen, da alle ihre Aussagen richtig wären, auch wenn es entweder nur Einen Menschen, oder nur Zwei Menschen, oder nur identische Menschen gäbe, haben sie keine philosophisch gültige Antwort auf die Frage: Was ist Politik? gefunden.“48 Die politische Welt ist für Arendt ein Erscheinungsraum, in dem immer „Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen“. 49 Für sie lässt sich der politische Charakter der Menschen nicht auf die Natur zurückführen, sondern darauf, dass sie im Plural handelnd und sprechend existieren. In diesem Zusammenhang erhebt Arendt den scharfen Einwand gegen die „Aristotelische Subjektivierung“50 der Politik. Hinsichtlich der Einsicht in zoon politikon, den Menschen als ein von Natur politisches Wesen zu betrachten, denkt Aristoteles, als ob es im Menschen als Individuum etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Weil der Mensch von Natur aus als politisch bezeichnet, gehört die Polis für Aristoteles zu den naturgemäßen Gebilden.51 Daher bleibt die Frage nach der Gestaltung des politischen Gemeinwesens bei Aristoteles im Dunkeln.52 Im Gegensatz zur ontologischen Version des Politikverständnisses, „daß es Politik immer und überall gäbe, wo es Menschen gibt“53, weil der Mensch von Natur aus politisch ist, geht Arendt aus vom Verständnis, dass es keine eigentlich politische Substanz gibt. Politik ist für sie nicht „eine universale Erfahrung“, die zu den unausweichlichen Tatsachen der menschlichen Existenz gehört.54 Politik entsteht für sie erst in der Pluralität der Menschen, die die politische Welt verbürgt. Dieser Gedanke stellt dar „eine negative Anthropologie, die den Menschen als das zwar der Politik bedürftige und zum Politischen begabte Wesen sieht, aber nicht als eines, zu dessen Wesen das Politische selbst hinzugehört.“55 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 ZVZ, S. 214. Hervorhebung im Original. DTB, S. 159. WP, S. 9. VA, S. 251. DTB, S. 26; vgl. auch VA, S. 250. „Der Staat gehört zu den naturgemäßen Gebilden“ (Aristoteles, Politik 1253, a 2). Vgl. Riedel, 1975b, S. 61. WP, S. 79; vgl. VA, S. 250. Dahl, 1973, S. 13. Meyer, 1994, S. 202; vgl. Kallscheuer, 1997, S. 1257. 22 1.2 Natalität 1.2.1 Von Mortalität zu Natalität Alle menschliche Tätigkeiten und menschliche Existenz selbst sind in der wesentlichen Bedingtheit des Menschen bedingt, also Geburt und Tod. Menschliches Leben beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Geburt und Tod gehören zu den konstitutiven Bedingungen menschlicher Existenz, weil ein Individuum in seiner konkreten Einzigartigkeit „durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihr wieder verschwindet.“56 Die menschliche Sterblichkeit beruht auf der Tatsache, dass sich das Menschenleben zwischen Geburt und Tod abspielt. Die Menschen sind das einzig sterbliche Wesen, wie Arendt bemerkt, „denn die Götter sind unsterblich, und die Tiere, da sie nur als Angehörige ihrer Gattung, aber nicht als Individuen existieren, sind unvergänglich.“57 Die Sterblichkeit des Menschen bringt das Bedürfnis nach Dauerhaftigkeit. Die von Arendt festgehaltenen drei Grundtätigkeiten, nämlich Arbeiten, Herstellen und Handeln, sind die menschlichen Tätigkeiten, um die Sterblichkeit in bestimmter Weise zu überwinden.58 Vor allem das politische Handeln ist für Arendt untrennbar mit der menschlichen Sterblichkeit verbunden, weil es von dem Bedürfnis der sterblichen Existenz nach der Unsterblichkeit ausgeht. Die mögliche Unsterblichkeit ist nach Arendts Ansicht der höchste und tiefste Sinn aller Politik. Sie unterstreicht, dass „die Würde der Politik und der Ursprung politischer Körper in der ungeheuren Anstrengung beschlossen lagen, die Vergänglichkeit des sterblichen Lebens und die flüchtige Vergeblichkeit menschlichen Handelns zu überwinden.“59 Menschen können sich selbst durch ihr Handeln im öffentlichen Freiheitsraum des Politischen unsterblich machen. Dementsprechend charakterisiert Fehér das Arendtsche Verständnis des Politischen als „die Politik der Sterblichen“. Er weist darauf hin: „Wir alle sind Sterbliche, und wir sind uns der Begrenztheit all unseres Tuns schmerzlich bewusst. Diese Bewusstheit ruft einmal heimliches, mal offenkundiges Bedürfnis nach Überschreitung unserer Begrenztheit hervor.“ 60 Im Gegensatz zum philosophisch-religiösen ewigen Leben, das jenseits von Geburt und Tod existiert, können Menschen durch unsterbliche Taten, die unsterbliche Spuren in der Welt hinterlassen, Unsterblichkeit menschlicher Art er56 57 58 59 60 VA, S. 17f. ZVZ, S. 58. Vgl. VA, S. 18. ZVZ, S. 89. Fehér, 1988, S. 103; zit. nach Übersetzung von Boris Blaha, in www. Hannah-arendt.de; vgl. auch d‟Arcais, 1993, S. 120; Ricoeur, 1989, S. 109. 23 langen. Genau genommen bedeutet diese politische Unsterblichkeit „ewige Präsenz in der Welt“.61 Im Blick auf das Verhältnis der Sterblichkeit zur Öffentlichkeit vertritt Arendt die Ansicht, dass es im Wesen des Öffentlichen liegt, „daß es aufnehmen und durch die Jahrhunderte bewahren und fortleuchten lassen kann, was immer die Sterblichen zu retten suchen vor dem natürlichen Verfall der Zeiten.“62 Die mögliche Unsterblichkeit ist ein Motiv des politischen Handelns. Daher kann Arendt beurteilen, dass der Verlust der öffentlichpolitischen Sphäre in der Moderne mit dem Verschwinden einer echten Sorge um Unsterblichkeit zu tun hat. Denn: „Ohne dies Übersteigen in eine mögliche irdische Unsterblichkeit kann es im Ernst weder Politik noch eine gemeinsame Welt noch eine Öffentlichkeit geben.“63 Während die Sterblichkeit im negativen Sinne ein Motiv der Politik ist, stellt die Gebürtlichkeit an sich die Möglichkeit der Politik überhaupt dar. Die Gebürtlichkeit nennt Arendt „die Natalität“ 64 im Gegensatz zur Mortalität, die das Verschwinden durch Tod aus der Welt bedeutet. Die Natalität heißt, dass „der Mensch in die Welt hineingeboren ist, in ihr als ein Neuer durch Geburt erscheint.“65 Durch den Begriff der Natalität korrigiert Arendt „die existentialistische Fixierung auf die Mortalität“.66 Es ist eins der ausdrücklichsten Verdienste von Arendt, die Natalität als weitere Grundbedingtheit aller menschlichen Tätigkeiten in das politische Denken eingeführt zu haben.67 Das Stichwort „Natalität“ liefert Arendt das politische Prinzip des Anfangenkönnens. Die menschliche Geburt stellt im doppelten Sinne den Anfang einer endlichen Existenz des Menschen dar, nämlich ein Anfang des konkreten Einzellebens einerseits und des Handelns andererseits. Als roter Faden erscheint die Verbindung der Natalität mit dem Handeln in Arendts politischem Denken. „Die Tatsache der Natalität“ sei die Voraussetzung dafür, „daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann“.68 Anders gesagt bedeutet Handeln „die Verwirklichung der menschlichen Bedingung der Gebürtlichkeit“ 69 , aber nicht der Menschennatur. Den Zusammenhang von Handeln und Natalität stellt Arendt fest: „Philo61 62 63 64 65 66 67 68 69 Der Begriff der Unsterblichkeit unterscheidet sich Arendt zufolge in der Doppeldeutung: „Ewiges Leben oder ewige Präsenz in der Welt“ (DTB, S. 540). VA, S. 69. VA, S. 68. VA, S. 17. ÜR, S. 272. Gerhardt, 2001, S. 46. Habermas weist darauf hin: „Auch die Natürlichkeit der Geburt füllt die begrifflich erforderliche Rolle eines solchen unverfügbaren Anfangs aus. Die Philosophie hat diesen Zusammenhang selten thematisiert. Zu den Ausnahmen gehört Hannah Arendt, die im Rahmen ihrer Theorie des Handelns den Begriff der Natalität einführt.“ (Habermas, 2001, S. 101). VA, S. 316. Cooper, 1979, S.143. 24 sophisch gesprochen ist Handeln die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden als eine der Grundbedingungen seiner Existenz“.70 Arendts Verbindung von Natalität und Handeln hält Lyotard für „ausgesprochen humanistisch“ gegenüber einer ontologischen Melancholie.71 Dass die Gebürtlichkeit als Neuanfang begriffen wird, besagt, dass das Faktum der Gebürtlichkeit die menschliche Existenz aber nicht absolut bedingt. Im Zusammenhang mit dem Handeln entkommt die Gebürtlichkeit der absoluten Determination.72 Durch ihre Verknüpfung mit dem Handeln grenzt sich Natalität von natürlicher und biologischer Kategorie ab. Die Menschen seien nicht deshalb geboren worden, um zu sterben, sondern um etwas Neues anzufangen.73 Darüber hinaus gilt Natalität als ein entscheidendes konstitutives Faktum für das Politische: „Und da Handeln ferner die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, daß Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorien - bildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je und im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete.“74 Trotzdem ist die Frage gestellt, wie sich das Politische selbst in der natürlichen Geburt des Individuums verwurzeln lässt.75 In welchem Verhältnis steht die Natalität zur menschlichen Pluralität, auf der das Politische beruht? 1.2.2 Die politische Bedeutung der Natalität Arendts Zuwendung zur Natalität knüpft sich an das Konzept der Pluralität. Die Bedeutung der Natalität für das Politische liegt darin, dass die Bedingung menschlicher Pluralität durch die Geburt eines jeden Menschen garantiert ist. Die menschliche Geburt steht am Ursprung der Pluralität und bietet jedem Neuankömmling die Möglichkeit des Handelns, durch das er seine Einzigartigkeit enthüllt.76 Die Sterblichkeit spielte eine zentrale Rolle in der religiösen und philosophischen Reflexion, während die Gebürtlichkeit selten behandelt wurde. Dass die Frage des Todes im Zentrum der Philosophie steht, hat mit der Tatsache zu tun, dass die Philosophie von Menschen im Singular handelt, denn die Singularität des Menschen kennzeichnet sich am elementars70 71 72 73 74 75 76 MG, S. 204. Lyotard, 1995, S. 91; vgl. Linden, 1989, S. 114-123. „Ohne die Tatsache der Geburt wüßten wir nicht einmal, was das ist: etwas Neues; alle Aktion wäre entweder bloßes Sichverhalten oder Bewahren.“ (MG, S. 204). VA, S. 316. VA, S. 18; vgl. Parekh, 1981, S. xi. Vgl. Thomä, 2000, S. 205. Vgl. DTB, S. 462. 25 ten in der Verlassenheit des Sterbens.77 Nach Plato ist auch das Ewige eine Art von philosophischem Tod, weil man für die Erfahrung des Ewigen den Bereich menschlicher Angelegenheiten, also die plurale menschliche Welt, verlassen muss.78 Denn der Mensch kann nur angesichts des Todes ganz und gar singularisch werden, so ist „die Erfahrung des Sterbens“ „die Politik-feindlichste Erfahrung, die es gibt“.79 Für die Philosophen ist „die Vorwegnahme des Todes die entscheidende Erfahrung, durch die der Mensch zum eigentlichen Selbstsein kommt“. 80 Nach Arendts Sicht kulminiert diese philosophische Reflexion des Todes in Heideggers Philosophie, der zufolge der Mensch nur im Gewahrwerden des Todes „seine absolute Selbstischkeit, seine radikale Abtrennung von allen, die seinesgleichen sind“, erfährt.81 Die Suche nach dem eigentlichen und absoluten Individuationsprinzip versperrt jeden Zugang zur politischen Betrachtung, die von der Erfahrung menschlicher Pluralität ausgeht.82 Mit dieser philosophischen Tradition setzt sich Arendt kritisch auseinander. Sie sagt dazu: „Es ist uns aus der Philosophie vertraut, den Menschen als ein sterbliches Wesen zu verstehen. Merkwürdigerweise hat aber noch keine Philosophie, auch keine politische Philosophie, sich dazu vermocht, den Menschen auf seine Gebürtlichkeit hin anzusprechen, nämlich darauf hin, das mit jedem von uns ein Anfang in die Welt kam und daß Handeln im Sinne des Einen – Anfang – Setzens nur die Gabe eines Wesens sein kann, das selbst ein Anfang ist.“83 In diesem Zusammenhang ist Arendts Gedanke der Natalität also in gewissem Sinne eine „Rebellion“84 gegen die philosophische „Anfangsvergessenheit“85. Während nur der Tod einen Menschen ganz auf sich selbst allein zurückwerfen sollte, ist die Gebürtlichkeit immer „ein soziales Geschehen“86. Im Mittelpunkt des Konzepts der Pluralität liegt der Doppelcharakter der Natalität, nämlich „nicht nur Selbst zu sein, sondern 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 Seit Platon wurde die Vorliebe für den Tod ein allgemeines Thema der Philosophen. Nach ihm wünschen die wahrhaften Philosophen den Tod als die Ablösung der Seele vom Leib. Platos Überlegung vom Tod erscheint im Phaidon (Plato, Phaidon 64 b). Vgl. VA, S. 31. MG, S. 193. DD, S. 85; vgl. ZVZ, S. 214. WEP, S. 72. Die meisten Autoren, die sich mit dem Werk Hannah Arendts beschäftigen, scheinen sich in diesem Punkt zu treffen, dass Hannah Arendt sich hinsichtlich der Bedingung menschlicher Natalität von Heidegger entscheidend trennt. Z. B formuliert Young-Bruehl im Folgenden: „Hannah Arendt rückte die Natalität in ihrem späterem Werk in helles begriffliches Licht und bewahrte sie vor philosophischer Achtlosigkeit. Darin setzte sie sich von Heidegger ab: Für ihn war eher die Mortalität als die Natalität die entscheidende existentielle Bedingtheit. Heidegger kümmerte sich nicht um das Handeln oder um die politische Sphäre ganz allgemein (…). Heidegger stellte die Geworfenheit des Menschen angesichts des Todes dar, seinen Kopfsprung in die Zukunft, die auf ihn zukommt, aber er sagte nichts über die Macht der Vergangenheit, die Allgegenwart des Neubeginnens.“ (Young-Bruehl, 1986, S. 658. Hervorhebung im Original; vgl. auch Barley, 1990, S. 55f.; Saner, 1997, S. 109; Sauerland, 1992, S. 618; Reist, 1990, S. 242f.). ÜR, S. 276; vgl. auch Saner, 1979, S. 11. Saner hält Arendts Denken von Natalität für „revolutionär“ (Saner, 1997, S. 109). Marchart, 2005, S. 17. Saner, 1979, S. 15. 26 mit einer bestimmten gesellschaftlichen Qualität, und nicht nur einer, sondern in vielen, in der selbstverständlichen Verflechtung des sozialen Lebens zugleich als Mutter und als Kind, als Schwester und als Geliebte, als Bürgerin und als Freundin zu existieren.“87 In dem Sinne, dass Menschen in eine gemeinsame Welt hineingeboren werden und aus ihr heraus sterben, sind sowohl das Geborenwerden als auch das Sterben ein weltliches Phänomen und nicht einfach natürliche Vorgänge. In diesem Kontext führt Arendt öfters das Lateinische an: „unter Menschen weilen (inter homines esse)“ hieß für die Römer „leben“ und „aufhören unter Menschen zu weilen (desinere inter homines esse)“ hieß „sterben“. 88 Die Geburt eines Menschen ist nicht nur die Entstehung eines Organismus, sondern „einer Art, die Dinge zu sehen, die Entstehung einer Welt“89. Arendt spricht metaphorisch von der „zweiten Geburt“, die den Vollzug der Gebürtlichkeit bedeutet. Das heißt „politische Natalität“ 90 , mit der das Individuum in den öffentlichen Raum eintritt. „Dies aktive In – Erscheinung – Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift, aber nicht in dem Sinne, daß es dafür eines besonderen Entschlusses bedürfte.“91 In einer ausgezeichneten Formulierung kommt das Konzept der politischen Natalität zum Ausdruck: „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.“92 1.2.3 Die Zukünftigkeit der Natalität Wenn sich die Gebürtlichkeit als ein Anfang begreifen lässt, gibt es eine Schwierigkeit: Die Geburt wird als etwas Vergangenes angesehen, während sich das Phänomen des Handelns 87 88 89 90 91 92 RV, S. 115. VA, S. 17; ZVZ, S. 92 und S. 214. Wagenknecht, 1995, S. 73. Bowen-Moore, 1989, S. 42. VA, S. 214. VA, S. 215; in ähnlichem Sinne spricht Arno Baruzzi von einer zweiten Geburt des Menschen im politischen Leben: „Dieses politische Leben ist nicht einfach ein natürliches Zusammenleben und damit ein soziales Leben. Es ist nicht nur ein Zusammenleben im Sinne einer Naturnotwendigkeit, vielmehr im Sinne einer Naturfreiheit. Der Mensch ist von Natur frei, um über das bloß soziale Leben zu einem politischen Leben zu gelangen. Wenn im natürlichen sozialen Leben dem Trieb wie dem Bedürfnis zur Geselligkeit nachgekommen wird, dann ereignet sich beim Übergang ins politische Leben gewissermaßen eine zweite Geburt des Menschen, die Menschwerdung im Politischen, d.h. in der politischen Gemeinschaft.“ (Baruzzi, 1983, S. 171f.). 27 und des Politischen auf die Zukunft ausrichtet. Hier geht es um die „Zukünftigkeit“93 der Natalität. Hans Saner hält die Vorstellung für falsch, dass die Geburt nur mit etwas Vergangenem zu tun hat, wie die Vorstellung falsch ist, dass sich der Tod immer auf das Künftige bezieht. Er sagt daher: „Der Mensch ist sterblich von Anfang und geburtlich bis in den Tod.“94 Um diese Schwierigkeit zu lösen, wendet sich Arendt Augustinus zu. Sie zitiert öfters Augustinus` lapidaren Satz, der in der Tat zum Schlüsselzitat für Arendt wird und sich leitmotivisch durch ihr Werk zieht: „Damit also ein Anfang in der Welt sei, wurde der Mensch erschaffen, vor dem Niemand war.“95 Damit meint Augustinus nach Arendts Interpretation, „der Zweck der Erschaffung des Menschen sei gewesen, einen Anfang möglich zu machen.“96 Arendts Sicht zufolge hat der Mensch nicht nur die Fähigkeit des Anfangens, sondern ist selbst dieser Anfang. Die Geburt des Menschen sei daher „der Anfang des (…) Anfangens selbst“.97 Insofern ist die Geburt nicht etwas immer schon Vergangenes. Das beschreibt Arendt so: „Wenn die Erschaffung des Menschen mit der Erschaffung eines Anfangs im Universum zusammenfällt (...), dann bestätigt die Geburt einzelner Menschen, welche neue Anfänge sind, den Ursprungscharakter des Menschen derart, daß der Ursprung niemals mehr ganz und gar zu einer Angelegenheit der Vergangenheit werden kann; während andererseits gerade die Tatsache, daß in der Generationenfolge eine erinnerungswürdige Kontinuität dieser Anfänge besteht, eine Geschichte garantiert, die niemals enden kann, weil sie die Geschichte von Geschöpfen ist, deren Wesen der Anfang ist.“98 So impliziert der Begriff der Natalität die Tatsache, dass jeder Mensch selbst bereits Ursprung von unreduzierbarem Neuanfang und damit einen solchen Einbruch des Neuen, Unvorhersehbaren und Unableitbaren darstellt. Für Arendt stellt das Faktum der Natalität die dauernde Wiederholung der ersten durch eine zweite Geburt dar, die mit dem Handeln und Sprechen miteinander gegeben ist. So ist der Mensch gebürtlich bis in den Tod. Dies bedeutet die Verwirklichung der Geburt durch das Handeln als die Fähigkeit des Neubeginnens. Das Prinzip der Wiederholung von Natalität ist entscheidend für Arendts Denkweise. „Insofern der Mensch in die Welt hineingeboren ist, in ihr als ein Neuer durch Geburt erscheint, ist er mit 93 94 95 96 97 98 Siehe hierzu Penta, 1985, S. 35. Saner, 1979, S. 30f. Arendt wiederholt dieses Zitat an vielen verschiedenen Stellen; z. B. ÜR, S. 271; EU, S. 979; WP, S. 49; VA, S. 216; DW, S. 21, 106 und 206; ZVZ, S. 125. DW, S. 206. VA, S. 216 und auch ÜR, S. 276. ZVZ, S. 125; vgl. DW, S. 206f.; VA, S. 216. 28 der Fähigkeit des Beginnens begabt. Weil er ein Neuer ist, kann er etwas Neues anfangen.“99 In Bezug auf die Zukünftigkeit der Gebürtlichkeit weist Ernst Vollrath darauf hin: Die Möglichkeit des Handelns „ist die aus der Gebürtlichkeit zu verstehende Kraft des Anfangenkönnens, d.h. ein nicht primär von der Präsenz her zu bestimmender Modus der Zukünftigkeit.“100 So reserviert Arendt das Konzept der Natalität für die Handlungspluralität und freiheit. Natalität verleiht dem Handeln den eigentümlichen Charakter, also Unabsehbarkeit.101 Die Wiederholung von Natalität ist kein Ausdruck von Essentialismus oder Determinismus: Sofern das Handeln den Anfang hinsichtlich der Natalität darstellt, unterbricht es den automatischen Ablauf der Notwendigkeit. Damit ist der Anfang eine wunderwirkende Fähigkeit: „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als Gesetz seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität“.102 Entscheidend ist es, dass das Wunder, „das sich in allen politischen Vorgängen ereignen kann“, nur durch „die Menschen“ in der Welt, und nicht durch den Menschen, entstehen kann.103 In diesem Kontext gibt uns Arendts Natalitätskonzept die Antwort auf die Frage, welche stets in ihrer Arbeit aufgegriffen wird, nämlich die Frage, wie sich die politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts überwinden lässt: Als der Anfang selbst könnte der Mensch durch das Zusammenhandeln die gemeinsame Welt immer erneuern: „Die Fokussierung nicht nur des Politischen auf die Natalität, sondern auch der Natalität auf das Politische mutet an, als wolle sie das ganze Potential der Erneuerung dort einsetzen, wo es angesichts der Katastrophen des Holocaust, des Weltkrieges und der totalen Herrschaft, auch am nötigsten ist, damit die anfängliche Hoffnung nicht aus der gemeinsamen Welt verschwindet: Man kann zwar in ihr vieles zerstören, aber nicht die Fähigkeit zu einem Neuanfang, weil sie mit jedem Menschen neu zur Welt gebracht wird.“104 99 100 101 102 103 104 ÜR, S. 272. Vollrath, 1979a, S. 24. Habermas stellt fest, jede Geburt verknüpfe sich mit der „Hoffnung, dass ein ganz Anderes die Kette der Ewigen Wiederkehr zerbricht. Der gerührte Blick der neugierig Umstehenden auf die Ankunft des frisch Geborenen verrät die Erwartung des Unerwarteten. An dieser unbestimmten Hoffnung auf das Neue soll die Macht der Vergangenheit über die Zukunft zerschellen“ (Habermas, 2001, S. 102). VA, S. 316. ZVZ, S. 224. Saner, 1997, S. 116. 29 1.3 Welt Die Welt ist die Möglichkeit der menschlichen Existenz und zugleich ihre Bedingtheit. Da die Welt einen eindeutigen Vorrang, insbesondere unter der Bestimmung von Dauer und Beständigkeit, vor dem Menschen hat, lässt sich der Mensch selbst als das weltliche Wesen bestimmen.105 Der Mensch ist nicht Subjekt gegenüber einer objektiven Welt, sondern er existiert in einer Welt. Darüber hinaus sind Menschen „von dieser Welt“.106 1.3.1 Die Doppeldimension der Welt Der Arendtsche Begriff der Welt hat doppelte Bedeutung: Er impliziert die Welt der von Menschen hergestellten Dinge einerseits und eine ungreifbare Zwischenbeziehung der Menschen andererseits, also Weltlichkeit und Öffentlichkeit.107 Die zwei Begriffe der Welt schließen sich aber nicht gegenseitig aus: „Die Welt ist (…) sowohl ein Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten, die handgreiflich in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen.“108 Die Welt, an die Hannah Arendt denkt, ist zunächst die von Menschen geschaffene Dingwelt im Gegensatz zur bereits gegebenen natürlichen Umwelt: „Die Welt, in der die Vita activa sich bewegt, besteht im wesentlichen aus Dingen, die Gebilde von Menschenhand sind; und diese Dinge, die ohne Menschen nie entstanden wären, sind wiederum Bedingung menschlicher Existenz.“ 109 Diese objektive Welt ist von großer Bedeutung für die menschliche Existenz. Sie verleiht dem menschlichen Leben Beständigkeit und Dauerhaftigkeit. Ohne diese Dingwelt ist das menschliche Leben heimatlos. Der Mensch formt die Welt, und umgekehrt schränkt diese Welt den Menschen ein. Die objektive und gegenständliche Welt legt Seinsweise der Menschen als „bedingte Wesen“110 fest. „Die Welt wird unmenschlich, ungeeignet für menschliche Bedürfnisse, welche die Bedürfnisse von Sterblichen sind, wenn sie in eine Bewegung gerissen wird, in der es keinerlei Bestand mehr gibt.“ 111 In diesem Sinne bedeutet die Weltlichkeit „die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Ge105 106 107 108 109 110 111 „Gäbe es die Welt nicht, in die hinein die Menschen geboren werden und aus der heraus sie sterben, so gliche menschliches Dasein in der Tat der ewigen Wiederkehr, es wäre das todlose Immersein des Menschengeschlechts wie jeder anderen Gattung tierischen Lebens.“ (VA, S. 116). DD, S. 30. Die Menschenwelt ist zugleich „das Resultat menschlichen Herstellens und menschlichen Handelns“ (WP, S. 26). VA, S. 65f. VA, S. 18f. VA, S. 18. MfZ, S. 19f. 30 genständlichkeit und Objektivität“.112 Diese Weltlichkeit stabilisiert menschliches Leben so, „daß sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens (...) eine menschliche Selbigkeit darbieten, eine Identität, die sich daraus herleitet, daß der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleich bleibender Vertrautheit entgegenstehen.“113 Neben der hergestellten Dingwelt bedeutet die Welt, wie Arendt metaphorisch äußert, das „Gewebe menschlicher Bezüge und Angelegenheiten“114. Die Dingwelt bleibt nur ein Haufen beziehungsloser Dinge, wenn sie nicht durch menschliches Handeln und Sprechen einen sinnvollen Zusammenhang gewinnt. Dies besagt „Nicht-Welt“.115 Wenn die Welt kein Ort ist, wo Menschen miteinander handeln und sprechen, bleibt die Welt unmenschlich. Wenn die Welt zum gemeinsamen Gegenstand des menschlichen Handelns und Sprechens wird, kann die Welt zur öffentlichen Welt werden, wo jeder sichtbar und hörbar werden kann. „Denn menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist, und sie wird auch nicht schon dadurch menschlich, daß in ihr die menschliche Stimme ertönt, sondern erst, wenn sie Gegenstand des Gesprächs geworden ist. Wie sehr wir von den Dingen der Welt betroffen sein mögen, wie tief sie uns anregen und erregen mögen, menschlich werden sie für uns erst, wenn wir sie mit unseresgleichen besprechen können.“116 Die Welt, wo wir für alle anderen sichtbar und hörbar sind, indem wir handeln und sprechen, entsteht zwischen Menschen. So ist sie Zwischenwelt, die Arendt „das zweite Zwischen“117 nennt. Die Welt in diesem Sinne ist öffentlich. „Dieser Öffentlichkeit der Welt kommt realitätskonstitutive Kraft zu“.118 Und die Existenz dieser Welt ist vollkommen abhängig von der Kapazität zu handeln.119 Daher ist die öffentliche Welt, wie Arendt sagt, „in einem spezifischeren Sinne das Werk des Menschen als das Werk seiner Hände oder die Arbeit seines Körpers.“120 Diese Welt entsteht überhaupt „nicht durch Kraft oder durch die Stärke, sondern durch die Vielen, deren Zusammen bewirkt, daß Macht entsteht“.121 Nun wird die Welt zur politischen Welt „als Ort der Macht“122. 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 VA, S. 16. VA, S. 162. VA, S. 113. VA, S.19. MfZ, S. 35. VA, S. 225. Jaeggi, 1997a, S. 58. Arendts These, dass die öffentliche Welt vom Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheit und dem in ihr sich abspielenden Handeln und Sprechen gebildet werde, bezeichnet Benhabib als eines ihrer Beiträge zur politischen Philosophie des 20. Jahrhundert (vgl. Benhabib, 1998, S. 182). VA, S. 263f. WP, S. 90. WP, S. 153. 31 1.3.2 Die politische Wiedergewinnung des Weltbegriffs Das Politische ist für Arendt „ein Weltphänomen“.123 Ein Leitmotiv für Arendts politische Theorie ist „die politische Wiedergewinnung der Welt“ unter den Voraussetzungen der Moderne. 124 Die Frage der Welt wird zum Gegenstand der Politikwissenschaft. Arendts politische Theorie trägt so zur Überwindung des Weltverlusts als des spezifischen Kennzeichens der Neuzeit bei.125 Arendt geht es um die Wirklichkeit der Welt. Für sie ist die weltliche Wirklichkeit auf die menschliche Pluralität angewiesen. Anders gesagt beruht die Wirklichkeit der Welt auf der „Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören“.126 Arendt stellt fest: „Wenn es richtig ist, daß ein Ding in der Welt des Geschichtlich – Politischen wie in der Welt des Sinnlichen nur dann wirklich ist, wenn es von allen seinen Seiten sich zeigen und wahrgenommen werden kann, dann bedarf es immer einer Pluralität von Menschen oder Völkern und einer Pluralität von Standorten, um Wirklichkeit überhaupt möglich zu machen und ihren Fortbestand zu garantieren.“127 Kraft der weltlichen Wirklichkeit können wir unwillkürlich handeln und sprechen. Wenn die mir erscheinende gleiche Welt auch anderen erscheint, lässt sich über diese Welt miteinander reden. Für Arendt sind „In-einer-wirklichen-Welt-Leben“ und „Mit-Anderen-übersie-Reden“ ein und dasselbe.128 In einer Textstelle stellt sich Arendts Position fest: „So ist Realität unter den Bedingungen einer gemeinsamen Welt nicht durch eine allen Menschen gemeinsame Natur garantiert, sondern ergibt sich vielmehr daraus, daß ungeachtet aller Unterschiede der Position und der daraus resultierenden Vielfalt der Aspekte es doch offenkundig ist, daß alle mit dem selben Gegenstand befaßt sind.“129 Durch die Gemeinsamkeit der gegenständlichen Welt und gleichzeitig die Pluralität der Perspektiven können wir die subjektiv– private Position überwinden. Das Miteinanderreden lebt von der Gemeinsamkeit des Gegenstandes. Die Welt ist für Arendt der Gegenstand vom Zusammenreden und zugleich sein Produkt: „Handeln und Sprechen bewegen sich in dem Bereich, der zwischen Menschen qua Menschen liegt, sie richten sich unmittelbar an die Mitwelt, in der sie die 123 124 125 126 127 128 129 ZVZ, S. 280. Belardinelli, 1990, S. 129; vgl. Benhabib, 1998, S. 44 und 206. In einem Beitrag versucht Ronald Beiner, aufzuzeigen, dass Arendt ihren Weltbegriff schon in ihrer Dissertation in Umkehrung von Augustinus‟ negativem Weltbegriff gewinnt (vgl. Beiner, 1996, S. 270; Jetschmann, 1989, S. 6ff.; Frank, 2001, S. 127-151). VA, S. 63. WP, S. 105. WP, S. 52. VA, S. 72. 32 jeweils Handelnden und Sprechenden auch dann zum Vorschein und ins Spiel bringen, wenn ihr eigentlicher Inhalt ganz und gar objektiv ist, wenn es sich um Dinge handelt, welche die Welt angehen, also den Zwischenraum, in dem Menschen sich bewegen und ihren jeweiligen, objektiv weltlichen Interessen nachgehen.“130 Die Wirklichkeit der Welt beruht auf der „Intersubjektivität der Welt“,131 also auf der Tatsache, dass eine gleiche Welt auch anderen erscheint. Relevant ist, dass Arendt die Intersubjektivität nicht zur Grundkategorie des Menschen erhebt. Die Intersubjektivität ist als Tatsache in der Welt verstanden, nicht als etwas im Menschen Vorhandenes. Die Intersubjektivität, das menschliche Zwischen, ist das Phänomen der gemeinsamen Welt. Für den Weltbegriff von Arendt ist es bedeutsam, dass die öffentlich-politische Welt als Resultat des Handelns und Sprechens nicht weniger die Wirklichkeit als die Dingwelt hat, obwohl Handeln und Sprechen keine Endprodukte hinterlassen und daher ungreifbar sind.132 Das besagt, dass die Wirklichkeit der Welt nicht unabhängig von den Subjekten des Handelns ist. Vor diesem Hintergrund fordert Arendt das erneute Denken des Politischen, also einen Bruch mit der gängigen politischen Wissenschaft, die „den Bereich des Politischen materialistisch zu verstehen“ versucht.133 Denn Arendt findet den Grundirrtum dieser Versuche darin, „daß der allem Handeln und Sprechen inhärente, die Person enthüllende Faktor einfach übersehen wird“.134 Im Gegensatz zu einem bloß materialistischen Positivismus, der den „subjektiven Faktor“135 der weltlichen Konstruktion und ihre phänomenologische Analyse ausklammert, enthält Arendts Weltbegriff zugleich die objektive und subjektive Komponente. Dieser Weltbegriff unterscheidet sich „von einem naiven Objektivismus wie von der postmodernen Auflösung der Welt in Sprachspiele oder Machtdiskurse“136. Aus dieser gleichgewichtigen Hervorhebung der objektiven und zugleich subjektiven Bedeutung der Welt ergibt sich der doppelte Charakter des politischen Handelns. Für Arendt bedeutet das politische Handeln einerseits die Enthüllung des Wer des Handelns, die zwischen Menschen möglich ist. Und andererseits ist das politische Handeln das Handeln für und über die gemeinsame Welt. So stellt das politische Handeln nicht nur die Enthüllung der Person im bereits bestehenden Raum dar, sondern ist auch die Tätigkeit, über die gemeinsame Welt zu sprechen, die öffentliche Welt herauszubilden und sich zu kümmern. 130 131 132 133 134 135 136 VA, S. 224. DD, S. 59. Vgl. VA, S. 225. VA, S. 225. VA, S. 225f. VA, S. 226. Thaa, 1997, S. 706. 33 Anders gesagt lebt die politische Welt vom politischen Handeln: „Fast alles Handeln und Reden betrifft diesen Zwischenraum, der ein jeweils anderer für jede Menschengruppe ist, so daß wir zumeist miteinander über etwas sprechen und einander etwas weltlichnachweisbar Gegebenes mitteilen, für das die Tatsache, daß wir unwillkürlich in solchem Sprechenüber auch noch Aufschluß darüber geben, wer wir, die Sprechenden, sind, von sekundärer Bedeutung scheint. Dennoch bildet diese unwillkürlich-zusätzliche Enthüllung des Wer des Handelns und Sprechens einen so integrierenden Bestandteil allen, auch des objektiven, Miteinanderseins“.137 1.3.3 Weltverlust und Weltentfremdung Das durch Handeln entstandene Bezugssystem ist die politische Welt. Die Konstitution und das Bewahren der politischen Welt durch das politische Handeln ist das Kernthema der Arendtschen Politiktheorie. Arendt beschreibt die politische Theorie mit den Worten: „in Liebe zur Welt (…). Dies beinhaltet: Sorge um die Welt, wir fürchten, daß der Welt der Menschen etwas zustoßen kann.“ 138 Angesichts der Veröffentlichung des Buches VA schreibt Arendt an Jaspers 1955: „Ich habe so spät, eigentlich erst in den letzten Jahren, angefangen die Welt wirklich zu lieben (...). Aus Dankbarkeit will ich mein Buch über politische Theorien Amor Mundi nennen.“139 Bei der Politik handelt es sich um die Verantwortung für die Welt, die wir nicht nur mit den Zeitgenossen gemeinsam haben, sondern auch mit den Toten und denen, die nach uns kommen werden.140 Das Überleben der Welt hängt von uns ab. Keine politische Welt überdauert, ohne dass die Anstrengung zum Zusammenleben sie stützt. So gesehen hängt die Qualität der Welt mit der Qualität des menschlichen Handelns zusammen: „Daß Menschen sich in die Öffentlichkeit überhaupt wagten, ist durch lange Jahrhunderte, eigentlich bis 137 138 139 140 VA, S. 224. Arendt, Political Theory: Notes, S. 4; zit. nach Breier, 2001, S. 55. BAJ, S. 301; Ferner betont Arendt, dass im Mittelpunkt aller Politik nicht die Sorge um das Leben steht, sondern um die Welt. Sie sagt: „Ich (Hannah Arendt: H. P.) habe die Welt dem Leben entgegengesetzt, und da wir in einer Zeit leben, in welcher eine ungeheuere Überschätzung des Lebens gang und gäbe ist, habe ich die Weltliebe, die zu aller Kultur gehört, vielleicht übertrieben. Ich glaube nicht, daß ich lebensfeindlich bin, das Leben ist etwas Herrliches, aber es ist nicht der Güter höchstes. Wenn das Leben als der Güter höchstes angesetzt wird, ist es sogar gerade mit dem Leben immer schon vorbei. Es gibt in unserer Gesellschaft eine gefährliche Weltentfremdung und mit ihr eine schreckliche Unfähigkeit der Menschen, die Welt zu lieben.“ (ZVZ, S. 303). Vgl. VA, S. 69. 34 zum Anbruch der Neuzeit, nur dem geschuldet gewesen, daß sie ein Eigenes oder ein Gemeinsames dauerhafter machen wollten als ihr irdisches Leben.“141 Arendts Forderung nach der Verantwortung für die Welt beruht auf dem spezifischen Phänomen der Neuzeit; dem Verlust der gemeinsamen Welt. Damit ist nicht gemeint, dass die modernen Menschen keine bestimmte öffentliche Welt haben, sondern dass der öffentliche Raum seine Funktion der Leuchtkraft und seine Fähigkeit, die Menschen voneinander zu trennen und gleichzeitig miteinander zu verbinden, verliert. In einem Aufsatz über Lessing von 1960 gibt Arendt die ausführliche Definition des Begriffs „Weltverlust“: „Aber die Welt und die Menschen, welche sie bewohnen, sind nicht dasselbe. Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen (…) ist heute der Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterung in nahezu allen Ländern der Erde. Selbst wo die Welt noch halbwegs in Ordnung ist oder halbwegs in Ordnung gehalten wird, hat die Öffentlichkeit doch die Leuchtkraft verloren, die ursprünglich zu ihrem eigensten Wesen gehört (…). Der Rückzug aus der Welt braucht den Menschen nicht zu schaden (…). Nur tritt mit einem jeden solchen Rückzug ein beinahe nachweisbarer Weltverlust ein; was verloren geht, ist der spezifische und meist unersetzliche Zwischenraum, der sich gerade zwischen diesem Menschen und seinen Mitmenschen gebildet hätte“142 Wenn die Welt ihre wesentliche Funktion, die Menschen miteinander zu verbinden und zugleich voneinander zu trennen, verliert, verschwindet das Vertrauen in die Wirklichkeit der Welt. Beim Weltverlust ist der Mensch daher nicht in der Lage, die weltliche Wirklichkeit zu erfahren. Mit dem Verlust der gemeinsamen Welt fällt der Verlust des eigenen Standorts in der Welt zusammen. In Bezug darauf ist der Verlust der Welt sehr eng mit dem Verlust der eigenen Perspektive des Individuums verbunden. Wenn die Welt, die „überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven“143 existiert, nur noch unter einem gleichen Aspekt gesehen, verstanden und beurteilt wird, kann die Welt verschwinden, ohne dass die Menschen auf der Erde auch verschwinden. So findet der Weltverlust in einer Doppeldimension statt: dem Verlust der einzelnen Perspektive einerseits und dem der gemeinsamen Welt andererseits. Weltverlust ist daher Wirklichkeitsverlust. In dem Ort, wo die Vielheit der Sichtweisen und die gemeinsame Welt vernichtet wird, entsteht nach Arendt die Gesellschaft der weltlosen und selbstlosen Massenmenschen. Im berühmten Metapher vom Schachspiel kommt das zum Ausdruck: „Der Schachspieler ist mit seinem Mitmenschen immer noch durch das Brett verbunden, das die Gegner voneinander 141 142 143 VA, S. 69. MfZ, S. 12. VA, S. 73. 35 trennt und gleichzeitig miteinander verbindet, weil es ein Stück einer ihnen gemeinsamen Welt ist. Nur wo diese gemeinsame Welt völlig zerstört und eine in sich völlig unzusammenhängende Gleichförmigkeit aus nicht nur isolierten, sondern auf sich selbst und nichts sonst zurückgeworfenen Individuen besteht, kann die totale Herrschaft ihre volle Macht ausüben, sich ungehindert durchsetzen.“144 Das moderne Phänomen, dass die Menschen von der gemeinsamen Welt zurücktreten und zugleich sich in ihre Subjektivität zurückziehen, nennt Arendt „Weltentfremdung“. 145 Die Weltentfremdung bedeutet für sie „das Absterben des Erscheinungsraumes und die ihm folgende Verkümmerung des Gemeinsinns“ 146 . Für das Phänomen der Weltentfremdung geht es nicht um die Sorge um die gemeinsame Welt, sondern um sich selbst. Menschen denken nie „an das Weltverhältnis der Menschen und ihrer Positionen und Meinungen“, sondern „an sich selbst“147. So gesehen gründet sich moderne Weltentfremdung in Phänomenen der Privatisierung und der Zerstörung des öffentlichen Raums. Was in dieser radikalen Privatisierung verloren geht, ist die gemeinsame Welt und die nur innerhalb ihrer gebildete Pluralität. Die Kontinuität der öffentlichen Welt lässt sich stets nur durch das politische Handeln im Zwischenraum fördern. Wenn man in der Welt miteinander handelt und über die Welt und die Dinge der Welt spricht, wird die Welt vermenschlicht und öffentlich. In diesem Sinne ist die öffentliche Welt immer „potenziell“. 148 Die Verwirklichung dieses Potenzials hängt von dem menschlichen Zusammenhandeln ab. Das ist die Arendtsche Antwort auf die Frage, was die verlorengegangene Welt regeneriert: das politische Handeln sich selbst.149 1.4 Pluralität 1.4.1 Zwei Bestandteile der Pluralität Das politische Handeln findet direkt zwischen Menschen statt. Für das Handeln geht es um die einfache Tatsache, „daß niemand alleine handeln kann.“150 Die Möglichkeit des Handelns ist daher in der existenziellen Grundbedingung des Menschen verankert, in dem „Faktum der Pluralität“, „daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und 144 145 146 147 148 149 150 EU, S. 695; vgl. VA, S. 72. VA, S. 15. VA, S. 265. MfZ, S. 40. VA, S. 251. Vgl. MfZ, S. 41. DW, S. 190. 36 die Welt bevölkern.“ 151 Die Menschen sind eigentlich Wesen, die in den Zustand dieser Pluralität geworfen sind. Aber für Arendt bedeutet „Echte Pluralität“ 152 mehr als das ontologische Faktum. 153 Sie unterscheidet sich von der bloßen „Mehrzahl“ als dem „Gesetz der Erde“154. In Wahrheit stellt die spezifisch menschliche Pluralität nicht die bloß numerisch-quantitative Vielheit oder die Multiplizität der Gattungsexemplare dar. Sie lässt sich auch nicht auf das Ergebnis der Vervielfältigung des Einen zurückführen. In diesem Kontext kann man Arendts Kritik an der Bestimmung der Menschennatur und am Phänomen der Masse verstehen. „Hier ist die Pluralität den Menschen nicht ursprünglich zu eigen, sondern ihre Vielheit ist erklärt aus Vervielfältigung. Jede wie immer geartete Idee vom Menschen überhaupt begreift die menschliche Pluralität als Resultat einer unendlich variierbaren Reproduktion eines Urmodells“.155 In diesem Zusammenhang ist Arendts Konzept der Pluralität durch den Doppelcharakter gekennzeichnet: die gemeinsame Welt einerseits und die verschiedenen Perspektiven andererseits: „Menschen im eigentlichen Sinn kann es (…) nur geben, wo es Welt gibt, und Welt im eigentlichen Sinn kann es nur geben, wo die Pluralität des Menschengeschlechts mehr ist als die einfache Multiplikation von Exemplaren einer Gattung.“156 Die Pluralität in Arendts Sinne hängt zunächst mit der gemeinsamen Welt zusammen. Die Pluralität ist immer weltlich und öffentlich. Pluralität realisiert sich dadurch, dass Menschen die gemeinsame Welt haben, in der sie miteinander verbunden und zugleich getrennt sind. Die Vorstellung der Pluralität, die auf der gemeinsamen Welt beruht, deutet die Zerstörbarkeit von Pluralität an. Die Zerstörung der Pluralität geht in dem Moment vor, wo „die Welt die Kraft verloren hat zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden.“157 Die gemeinsame Welt wird zur Garantie der pluralen Gemeinsamkeit der Welt und zugleich gewissermaßen zur Grenze der Pluralität. Das Handeln und Sprechen wird nur in der Bedingung der Pluralität weltbildend. „Pluralität ist also die Bedingung dafür, dass es weltbezogenes Handeln unter Menschen überhaupt gibt.“158 Der Kernpunkt der Pluralität besteht zweitens in der Vielfalt der Perspektiven.159 Die Vielfältigkeit der Perspektiven bzw. Multiperspektivität bedeutet, dass jeder Mensch ein unver151 152 153 154 155 156 157 158 159 VA, S. 17. VA, S. 270; vgl. Schnabl, 1999, S. 154. Dazu siehe Kapitel IV. DD, S. 29. VA, S. 17. WP, S. 106. VA, S. 66. Breier, S. 2001, S. 58. Es gehört „zu den Freuden der Pluralität, dass die Welt sich niemals zwei Menschen in dem genau gleichen Aspekte zeigt“ (DTB, S. 392). 37 wechselbares Individuum darstellt, indem jeder seinen eigenen Standpunkt hat. „Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so daß die um sie Versammelten wissen, daß ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann die menschliche Pluralität eigentlich in Erscheinung treten.“160 Dass man seine eigene Meinung und Perspektive hat, bedeutet, dass man auf der gemeinsamen Welt seinen Ort hat. Die menschliche Pluralität steht einer gemeinsamen Perspektive oder einem einheitlichen Maßstab ihrer Betrachtung oder Beurteilung entgegen. Jede Perspektive entspringt „der Subjektivität eines Standorts in der Welt“.161 Wegen der Vielfältigkeit der Perspektiven können wir in der Lage sein, „die Dinge nicht nur aus der eigenen, sondern aus der Perspektive aller anderen, die präsent sind, zu sehen“. 162 Die Enthüllung der eigenen Perspektive ist für Arendt das politische Leben. Die Zerstörung der Pluralität gibt es dann, „wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind.“163 Vor allem Habermas versteht das Konzept der Pluralität Arendts als Pluralität der Perspektiven, die in der Intersubjektivität wechselseitig ausgetauscht werden und verbunden sind. Die Perspektiven sollten durch das Sprechen und Handeln miteinander im Zwischenmenschen mitgeteilt und enthüllt werden. Er schreibt: „Die Arendtsche Analyse der Pluralität richtet sich auf die Intersubjektivität des gemeinsamen Handelns, in der die vielfachen Perspektiven der Beteiligten, die notwendigerweise verschiedene Standpunkte einnehmen, wechselseitig verbunden sind. Die vereinigende Kraft der Intersubjektivität wahrt die Pluralität der individuellen Perspektiven; selbst im Falle einer gewaltsamen Unterdrückung kann Intersubjektivität nicht durch eine höherstufige Subjektivität ersetzt werden.“164 Habermas‟ Interpretation des Pluralitätsbegriffs ist jedoch zu einseitig. Wie oben erwähnt, spricht Arendt von Intersubjektivität der Welt. Die Pluralität der verschiedenen Perspektiven setzt für Arendt ein „weltlich nachweisbar Gegebenes“165 voraus. Anders gesprochen setzt die subjektive Perspektive eine uns allen gemeinsame Welt als eine objektive Gegebenheit voraus. Die Pluralität entsteht nur, wo wir miteinander über die gemeinsame Welt sprechen, teilen und beurteilen können. Ungeachtet der verschiedenen Perspektiven ist die öffentliche Kommunikation nur deshalb möglich, weil sich „ein Gegenstand in seiner Iden160 161 162 163 164 165 VA, S. 72. ZVZ, S. 300. ZVZ, S. 299. EU, S. 613. Habermas, 1981, S. 404f. VA, S. 224. 38 tität einer Vielheit von Zuschauern darbietet“166. Das Bindeglied in der Kommunikation ist die gemeinsame Welt. Das Spannungsverhältnis zwischen dem verschiedenen Einzelnen und der gemeinsamen Welt, das bei Arendts Pluralitätsbegriff erscheint, macht ihr Konzept der Pluralität herausragend. Die Krise der Pluralität in der modernen Gesellschaft zeigt sich darin, dass das Selbst und gleichzeitig die gemeinsame Welt drastisch bedroht werden. 1.4.2 Pluralität als politisches Phänomen Der „Kerngedanke“ der politischen Theorie Arendts ist die Erkenntnis der Pluralität.167 Am Anfang von VA schreibt Arendt: „Zwar ist menschliche Bedingtheit in allen ihren Aspekten auf das Politische bezogen, aber die Bedingtheit durch Pluralität steht zu dem, daß es so etwas wie Politik unter Menschen gibt, noch einmal in einem ausgezeichneten Verhältnis“.168 Die echte Pluralität lässt sich aktiv durch das politische Handeln und Sprechen herausbilden. Dann versteht sich die Pluralität als das politische Phänomen. Dass die Pluralität das politische Phänomen ist, besagt, dass sie über die ontologische Bedingung des Menschen hinausgeht: „Sprechend und handelnd unterscheiden sich Menschen aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.“169 Für Arendt entspricht das Sozialwesen der bloßen Tatsache der numerischen Vielheit der Menschen.170 Das Sozialwesen beschreibt das natürlich - funktionierende Zusammenleben von Menschen. Aber das eigentlich Politische entsteht „keineswegs notwendigerweise, wo immer Menschen in geordneten Verhältnissen zusammenleben“.171 Erst wo sich die Pluralität der Perspektiven durch das Miteinander - Sprechen enthüllt, wird der Mensch zum politischen Wesen. Erst mit der Pluralität der Perspektiven, die durch Handeln und Sprechen erscheinen, werden „die prä–politischen Existenzialien des Politischen“172 politisch. Darauf weist Martin Braun hin: „Bloße Gegebenheit wäre die Abwesenheit von Pluralität. Pluralität 166 167 168 169 170 171 172 VA, S. 72. Geißner, 1995, S. 162. VA, S. 17. VA, S. 214. Auf ähnliche Weise unterscheidet Tassin Vielheit und Pluralität: „Die Vielheit entspricht dem Charakter der Seienden, während die Pluralität der Charakter der Seienden ist, die zusammen handeln (...). Die Vielheit entspricht dem Charakter von isolierten, vereinsamten Seienden, die alleine herstellen, der Herstellung ihrer privaten Welt, während die Pluralität dem Charakter von Seienden entspricht, die sich handelnd versammeln, die durch die konzertierte Aktion verbunden sind, so dass ihr Handeln sich mit der Errichtung einer gemeinsamen Welt verbindet.“ (Tassin, 1999, S. 202; zit. hier nach Seitz, 2002, S. 48). VA, S. 23. Greven, 1993, S. 79. 39 ist präsent in dem, was nicht gegeben ist, sondern was sich präsentieren muß, um zu sein. Sie liegt im Geschehen des menschlichen Miteinanders“.173 Das Spezifikum der Pluralität als politisches Phänomen wird im Verhältnis von Pluralität und Sprechen deutlich. Im Prinzip der Pluralität spielt das Sprechen eine konstitutive Rolle. Wenn die Pluralität für Arendt die Vielfalt der Perspektiven darstellt, lassen sich diese Perspektiven nur im sprachlichen Handeln herausbilden und mitteilen. In Anlehnung an Aristoteles meint Arendt im Folgenden: „Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.“174 Nach Arendt wird die Aristotelische Bestimmung des Menschen als eines politischen Lebewesens erst verständlich, wenn man die zweite berühmte aristotelische Definition des Menschen berücksichtigt, dass nämlich der Mensch das einzige Lebewesen ist, das Sprache (logos) besitzt.175 Die beiden aristotelischen Wesensbeschreibungen des Menschen, also als zoon politikon und zoon logon echon, bieten Hannah Arendt ein tiefes Verständnis der Beziehung von Politik und Sprache. Die beiden Definitionen gehören zusammen: Das sprachliche Vermögen vollzieht sich nur unter dem menschlichen Zwischen. Das Sprechen als das politische Vermögen des Menschen wäre sinnlos, wenn die menschliche Pluralität nicht vorkäme. In der Verknüpfung des Sprechens mit der Pluralität kritisiert Arendt heftig die lateinische Übersetzung von „politisch“ als „sozial“ und von „Logos“ als „rationale“. 176 Diese Umdeutung bezeichnet Arendt als „fundamentales Mißverständnis“ des Politischen. 177 Für sie könnte vor allem der alte-griechische logos nicht einfach durch die Vernunft ersetzt werden.178 Der Mensch, der die menschliche Beziehung verloren hat, besitzt immer noch die Vernunft, während das sprachliche Handeln immer die Pluralität der Menschen voraus- 173 174 175 176 177 178 Braun, 1994, S. 156. VA, S. 11. Aristoteles, Politik, 1253 a 9. Vgl. VA, S. 37f. VA, S. 37. In der englischen Ausgabe „Human Condition“ vertritt Arendt, dass der eigentliche Gedanke von Aristoteles verwischt ist, indem der „logos“ nur als Vernunft oder Definition interpretiert wird. Für Aristoteles ist die höchste menschliche Fähigkeit nicht der Logos, sondern das Vermögen der Kontemplation, für die es einen logos nicht gibt (Aristoteles, NE 1142 a 25ff.; Arendt, Human Condition, Chicago 1958, VI, Anm., 58; vgl. DD, S. 124f und 138; PP, S. 391). Daran hält Andreas Kamp fest: „Weil der Logos so von Aristoteles auf seinen Bezug zu einem bestimmten Seinsbereich festgelegt wird, kann Logos an unserer Stelle auch nicht durch Vernunft übersetzt werden, denn deren Tätigkeit ist ja keineswegs auf diesen einen Bereich des Seienden eingegrenzt. Außerdem ist der Mensch nicht das einzige vernünftige Lebewesen. Das vernünftige Lebewesen schlechthin ist der Gott, und der Mensch kann deshalb in seinem Wesen nicht durch Vernunft schlechthin definiert werden. Daher aber kann der Logos, der den Menschen in seinem Wesen umgrenzt, nicht synonym mit Vernunft sein.“ (Kamp, 1985, S. 51). 40 setzt.179 Mit anderen Worten: „Dass das logische Vermögen, das Vermögen, das uns befähigt, Schlüsse aus Voraussetzungen zu ziehen, in der Tat, ohne Kommunikation funktionieren könnte.“180 Nur in sprachlicher Verständigung sind die personale Identität und damit gleichzeitig die spezifisch menschliche Pluralität verwirklicht. Der Sprachakt ist der Vollzug der Pluralität: „Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.“181 179 180 181 Vgl. VA, S. 359; diese Arendtsche Interpretation des anthropologischen Satzes von Aristoteles unterscheidet sich von anderen, die im deutschen Sprachraum charakteristisch sind. Z. B. formuliert Joachim Ritter: „Aristoteles gibt (...) nicht einen allgemeinen Hinweis auf die gesellige Natur des Menschen, sondern sagt etwas sehr Bestimmtes: Die Stadt hat die Natur des Menschen darum zu ihrer Substanz, weil in ihr die Vernunft des Menschen zum Zuge kommt. Sie ist der Ort des Menschenseins, weil sie selbst auf der Vernunft beruht und Vernünftige gesellschaftliche Ordnung ist. Als Aktualität der Vernunft ist die Stadt selbst, von Natur“ (Ritter, 1969, S. 76). DU, S. 86. VA, S. 217. 41 2. Die handlungstheoretischen Grundlagen 2.1 Das Politische als Handeln Im Zusammenhang mit dem Begriff der Politik wurden die handlungstheoretischen Konzepte auf dem Feld der politischen Philosophie bereits seit der Antike1 ausgearbeitet. Für Aristoteles ist die politische Wissenschaft eine Wissenschaft vom richtigen Handeln des Menschen, also eine Handlungswissenschaft. Politik soll die Menschen zum richtigen Handeln in der Gemeinschaft mit anderen anleiten.2 Hannah Arendt ist, wie Klaus Hartmann es nennt, „Proponentin einer eigenen Handlungstheorie“.3 Wenn sie über das Politische nachdenkt, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf das Problem des Handelns.4 Für sie ist Handeln „die politische Tätigkeit par excellence“.5 So ist das Problem des Handelns ein Grundproblem der politischen Theorie, wie sie formuliert: „Es ging mir um das Problem des Handelns, die älteste Frage der Theorie der Politik“.6 Ihre ganzen Kategorien des Politischen basieren auf dem handlungstheoretischen Ansatz und sind von ihm festgelegt. Schon der Titel ihres großen Buches „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, der deutschen Übersetzung von „The Human Condition“, bringt es auf den Punkt.7 Er ist darauf ausgerichtet, „dem nachzudenken, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind.“8 Bei diesem Nachdenken legt Arendt ihr Augenmerk auf die Frage nach der Möglichkeit und Bedingung für politisches Handeln in der modernen Welt, und daher geht es ihr 1 2 3 4 5 6 7 8 Vgl. Kauffmann, 2001, S. 117-146, insbesondere S. 120f. Vgl. Weber-Schäfer, 1969, S. 96. Hartmann, 1984, S. 20. „Kein Theoretiker im 20. Jahrhundert hat das Handeln als spezifisches Politikum so sehr ins Zentrum des politischen Denkens gerückt wie Hannah Arendt“ (Bluhm, 2001, S. 73). VA, S. 18. DD, S. 16. In seiner kritischen Betrachtung zu VA greift Alwin Diemer eine andere Meinung auf. Für ihn ist der englische Titel eigentlich zutreffender als der deutsche, denn das Buch „wird auch nicht vom Tätigsein als solchem im Ganzen gehandelt; ja es wird nirgends angegeben, worin es eigentlich bestehen soll. Weder wird etwa darauf hingewiesen, es werde von einem allgemeinen, natürlichen Vorverständnis ausgegangen, noch finden sich nähere Hinweise“ (Diemer, 1962, S. 128). Aber Diemers Kritik scheint mir fraglich zu sein: Weil für Arendt die menschliche Tätigkeit immer den bestimmten Bedingtheiten entspricht, lässt sich die Analyse der menschlichen Tätigkeit immer in Verbindung mit den menschlichen Bedingungen verstehen. Auch wenn sich Arendt in VA mit der Analyse der menschlichen Grundsituation und mit der kritischen Beleuchtung der gegenwärtigen Situation beschäftigt, geht es ihr um die Untersuchung der Möglichkeit des menschlichen Handelns; im Gegensatz zu Diemers Meinung betont Benhabib im Folgenden: „Das tätige Leben ist der richtigere Titel für diese Arbeit, denn wie Arendt selbst feststellte, hatte sie zwischen dem tätigen Leben und dem Leben des Geistes unterscheiden wollen. The Human Condition – die Bedingtheit des Menschen – ist deshalb ein etwas irreführender Titel.“ (Benhabib, 1998, S.170). VA, S. 14. 42 darum, die Tätigkeiten der Menschen in ihren eigentümlichen Gehalten, Bedingungen und Eigenschaften zu untersuchen.9 Wenn wir in unserer Realität des Politischen das politische Handeln betrachten wollen, dann stoßen wir gerade auf die Schwierigkeit, dass sich das politische Handeln immer als etwas, was in institutionellen Kontexten geschieht, versteht. Man begreift durchgängig jegliches Handeln, was die Herstellung, Veränderung oder bewusste Wahrung von allgemeinen Verbindlichkeiten, Normen, Regeln und Gesetzen beabsichtigt oder bewirkt, als politisch. Ausgehend von diesem Verständnis ist man gewohnt, das politische Handeln allein als Mittel zu einem höheren Zweck wahrzunehmen. Dann versteht sich das politische Handeln als zweck- und erfolgsorientiertes Handeln. Wenn Politik als eine für das menschliche Leben unabweisbare Notwendigkeit betrachtet werde, ist der Zweck des politischen Handelns „die Sicherung des Lebens im weitesten Sinne“.10 Nach dieser Sicht der Politik wird das politische Handeln einfach als staatliche Verwaltung, Ordnung und Regierung aufgefasst.11 In diesem Zusammenhang ist das politische Handeln nur als „Politikerpolitik“ 12 definierbar. Diese Funktionsbestimmung der Politik beschreibt Patzelt folgendermaßen: „Politik ist jenes menschliche Handeln, das auf die Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit, v. a. von allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen (d.h. von allgemeiner Verbindlichkeit) in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt.“13 Im Gegensatz hierzu könnte man Politik als den Ausdruck einer besonderen Handlungsform auch jenseits der staatlichen Funktion definieren. Das Handeln als das Problem des Politischen hat für Arendt nicht nur mit der Gestaltung politischer Ordnung zu tun, sondern auch mit der „Aktualisierung eines Wer“ 14 und mit dem „acting in concert“. 15 Arendts handlungstheoretischer Begriff des Politischen geht über ein institutionelles und staatzentriertes Verständnis des politischen Handelns hinaus. Arendt sucht die Authentizität des Politischen im menschlichen Vermögen zum Handeln: „Was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln“.16 Von diesem Standpunkt aus lässt sich der Zugang zum Begriff des Politischen, also die Klärung der Inhalte und Qualität des Politischen, 9 10 11 12 13 14 15 16 Vgl. Barley, 1990, S. 174 und 89; Erler 1979, S. 18; Habermas, 1981b, S. 233; Vollrath, 1996b, S. 131. WP, S. 36. Vgl. Hitzler, 2000, S. 183. Hitzler, 2001, S. 48. Patzelt, 2001, S. 23; ähnlich hält Niklas Luhmann auch die „funktionale Definition der Politik als Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen für das Gesellschaftssystem für das in diesem Sinne einzig solide Angebot“ (Luhmann, 1984, S. 102; zit. nach Hitzler, 2000, S. 183). Kristeva, 2001, S. 273. ZWZ, S. 244 und auch EU, S. 956. MG, S. 204. 43 nicht über die Bestimmung seiner Funktion gewinnen, sondern nur im handlungstheoretischen Bezugspunkt.17 Betrachtet man Politik als eine Handlungsform, stellt sich die Frage, welche Handlungsweise und welcher Handlungsinhalt politisch sind. Nicht alle Tätigkeit ist politisches Handeln. Es ist nämlich ein eigentlicher Begriff des politischen Handelns zu finden, der sich von anderen Formen der Tätigkeiten unterscheidet. Dementsprechend unterscheidet Arendt drei Tätigkeitsweisen. Das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln werden von Arendt als die Grundtätigkeiten des Menschen benannt. Diese Unterscheidung läuft dem modernen Wortgebrauch strikt zuwider. Die größte Leistung der Arendtschen Differenzierung der Tätigkeitsweisen liegt trotzdem darin, wie Habermas einräumt, dass es ihr gelungen ist, „die elementaren Begriffsverwirrungen aufzulösen, die aus der spezifisch modernen Versuchung resultierten, die politische Praxis der Bürger auf eine Art des instrumentellen Handelns oder der strategischen Interaktion zu reduzieren.“ 18 Dadurch verbindet sich das Faktum der menschlichen Pluralität auf intensive Weise mit dem politischen Handeln. Indem Arendt die verschiedenen Tätigkeitsweisen nach dem Maßstabe der Pluralität unterscheidet, wird der Begriff der Pluralität die normative Bedingung des authentischen Politischen. Durch die Verquickung von Handeln und Pluralität wird Politik nicht zum reinen und substanzhaften Begriff, sondern zum Verwirklichungsmodus des menschlichen Zusammenhandelns. 2.2 Die Unterscheidung der Tätigkeitsformen Man kann die Originalität der Arendtschen Handlungstheorie nicht erfassen, ohne die Unterscheidung von Tätigkeitsweisen zu berücksichtigen. Durch diese Unterscheidung versucht Arendt, den verstellten Sinn des politischen Handelns freizulegen. Eine prinzipielle Art, wie Arendt die drei Grundtätigkeiten voneinander differenziert, wird in der Analyse der menschlichen Beziehungsform einer jeden Tätigkeit begründet. Mit der Differenzierung der Tätigkeitsform ist aber nicht gemeint, dass jede Tätigkeitsform in einer substantialistischen Weise objektiviert werden kann.19 Arendt versucht, die exis17 18 19 Vgl. Gerhardt, 1990b, S. 291. Habermas, 1981b, S. 238; ungeachtet ihrer Kritik hält Benhabib die Arendtsche Differenzierung der Tätigkeitsweisen für sinnvoll, weil Arendts Tätigkeitstypen beim Verstehen verschiedner Tätigkeiten eine Rolle als begriffliche Modelle spielen (Benhabib, 1998, S. 211). „Die Unterscheidung dreier Tätigkeitsweisen macht nur analytisch Sinn. Solche differenten Tätigkeitsweisen können zwar herausgearbeitet werden, aber stets nur als Momente einer Synthesis, die ihrerseits Handlungscharakter hat. Das sichert Handeln den Primat unter allen Tätigkeitsweisen.“ (Vollrath, 1996b, S. 131). 44 tenzbedingenden Strukturen menschlicher Tätigkeiten mit dem Maßstab zu differenzieren, der phänomenal angemessen ist. Insofern führt sich ihre Handlungstheorie nicht bloß auf die „systematische Erneuerung“ der Aristotelischen Begriffe20 zurück. Im Unterschied zu Aristoteles, der die menschlichen Tätigkeiten gemäß ihrem Zweck unterscheidet,21 ist das Phänomen der Pluralität der fundamentale Maßstab für Arendts Unterscheidung. Der aristotelischen Unterscheidung der Tätigkeitsweisen fehlt die Dimension des Interpersonalen. Bekanntlich unterscheidet Aristoteles die Tätigkeit, welche um ihrer selbst willen geschieht, von der Tätigkeit, welche um eines außerhalb ihrer liegenden Zwecks wegen geschieht. „Das Hervorbringen hat nämlich einen anderen Zweck als die Tätigkeit selbst, das Handeln dagegen nicht, da hier das gute Handeln selbst oder auch das gute Befinden den Zweck ausmacht.“22 Aber als selbstgenügsamste und höchste Lebensform wird die Tätigkeit der Theorie als solche von Aristoteles gefeiert, weil diese Lebensform in sich vollendet, selbstgenügsam und autark ist. Das bedeutet, dass für Aristoteles das kontemplative Leben Priorität vor dem aktiven Leben hat: „Auch was man Genügsamkeit nennt, findet sich am meisten bei der Betrachtung“23. Das Übergewicht des kontemplativen Lebens und die Unterordnung des Handelns beruhen für Aristoteles eigentlich darauf, dass sich das Handeln in der Pluralität abspielt.24 In der theoretischen Lebensform braucht man nicht in Beziehung zu anderen zu stehen. Im Gegensatz dazu bedarf politisches Handeln immer der Mitmenschen. Bei Aristoteles findet man auch den Gegensatz zwischen Politik und Philosophie, der schon bei Plato war. Darauf weist Arendt hin: „Aristoteles ist Platon nicht gefolgt; doch selbst er behaupte, daß der bios politikos letztendlich für den bios theoretikos da wäre; und was den Philosophen selbst anging, so sagte er ausdrücklich, selbst in seiner Politik, daß nur die Philosophie es erlaubte (…), sich von sich aus, unabhängig, ohne die Hilfe oder Gegenwart von anderen, zu erfreuen. Dabei verstand es sich von selbst, daß solche Unabhängigkeit, oder eher Selbstgenügsamkeit, zu den höchsten Gütern zählte.“25 Arendt sieht auch das charakteristische Merkmal des Handelns in Selbstzweck. Der Vollzug des Handelns selbst sei das Endziel. Der Grund dafür, dass Arendt die Zweck-MittelKategorie aus dem politischen Handeln fernhalten will, liegt darin, dass sie eine „Degradierung der Politik zu einem Mittel für die Erreichung eines höheren, jenseits des Politischen 20 21 22 23 24 25 Habermas, 1981, S. 232. Vgl. VA, S. 201 und S. 261f.; vgl. Aristoteles, NE 1094 a 1-5. Aristoteles, NE 1140 b 6f. Aristoteles, NE 1177 a 29; vgl. Weber-Schäfer, 1969, S. 96; VA, S. 370 und 30f. Vgl. Kuhn, 1960, S. 127. DU, S. 34. 45 gelegenen Zweckes“ fürchtet.26 Diese Feststellung schließt die Möglichkeit nicht aus, „daß das Politische Zwecksetzungen zuläßt, die sich aus seiner Definition oder aus seinem Wesen ergeben.“27 In der Tat ist das politische Handeln für Arendt die Fähigkeit des Menschen, „sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden“.28 Sie vertritt die deutliche Auffassung: „Politik bezweckt Änderung oder Erhaltung oder Gründung von Welt.“29 Im Gegensatz zur Kritik, dass Arendt bei ihrer so ganzvollen Beschreibung des politischen Handelns das Ziel dieses Handelns im Dunkeln lässt,30 liegt ihr Akzent jedoch nicht auf dem Ausschluss allen Zwecks vom politischen Handeln, sondern vielmehr auf der Ablehnung der Instrumentalisierung des politischen Handelns.31 Was Arendt meinen will, ist nur, dass das Zweck-Mittel-Schema im Bereich politischen Handelns nicht durchgesetzt werden kann, weil das Handeln in der menschlichen Pluralität stattfindet.32 Da sich das Handeln zwischen Menschen, also im Bezugsgewebe, abspielt, ist das Handeln weder souverän noch autark: „Weil dies Bezugsgewebe mit den zahllosen, einander widerstrebenden Absichten und Zwecken, die in ihm zur Geltung kommen, immer schon da war, bevor das Handeln überhaupt zum Zug kommt, kann der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm ursprünglich vorschwebten, in Reinheit verwirklichen.“33 In diesem Licht betrachtet könnte es bestritten werden, dass man Arendt einfach für eine neoaristotelische Theoretikerin hält, die in der historischen und begrifflichen Konstellation des aristotelischen Denkens verhaftet bleibt.34 Wenn man durch die Brille von Aristoteles das Arendtsche Handlungsmodell interpretiert35, lässt man es außer acht, dass das Prinzip der Pluralität in Arendts grundsätzlichen Betrachtungsweisen der menschlichen Tätigkeiten 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 VA, S. 291. Wagenknecht, 1995, S. 39. MG, S. 204. WP, S. 192. Vgl. Sternberger, 1979, S. 120. Vgl. WP, S. 125f. Vgl. Bluhm, 1998, S. 993. VA, S. 226; „Da ferner das Handeln immer in ein Netz einander widersprechender Ziele und Absicht hineinhandelt, kann eine Tat niemals wirklich der Erwartung des Täters voll entsprechen, so wie etwas das hergestellte Ding den Erwartungen des herstellenden Handwerkers oder Künstlers entsprechen kann“ (ZVZ, S. 105). Habermas verlangt von Arendt, „aus der Verklammerung mit einer aristotelisch inspirierten Handlungstheorie“ zu lösen (Habermas, 1981b, S. 240). Was die kommunikative Handlungstheorie betrifft, ist es klar, dass Habermas selbst auf die Aristotelischen Begriffe poiesis und praxis zurückgreift. Für seine theoretische Entwicklung diente, wie er selbst einräumt, „die Aristotelische Unterscheidung von Praxis und Technik als Leitfaden“. Und er hat von Arendt „die fundamentale Bedeutung der Aristotelischen Unterscheidung von Technik und Praxis“ gelernt (Habermas, 1971, S. 84, Anm. 4; vgl. Vollrath, 1989, S. 1-26). Höffe weist doch darauf hin, dass Habermas und nicht Arendt der aristotelischen Unterscheidung folgt (Höffe, 1993, S. 21); zur Kritik an der Handlungstheorie des Aristoteles siehe VA, S. 245ff. Vgl. Villa, 1996, insbesondere Kap. I. 46 eine sehr viel stärkere Rolle bekommt als bei Aristoteles.36 Daher kann man sagen, dass Arendt die aristotelische Dichotomie der Tätigkeitsweisen durch das Kriterium der Pluralität vertieft und ersetzt. Insofern unterliegt der Arendtsche Begriff des politischen Handelns, wie Jürgen Gebhardt feststellt, „keineswegs einem restaurativen Neo-Aristotelismus“.37 Indem sie die verschiedenen Tätigkeitsweisen des Menschen anhand des pluralistischen und kommunikativen Prozesses der Tätigkeit unterscheidet, eröffnet Arendt die Sicht auf die politische und interaktive Dimension des Handelns.38 Im Unterschied zu den anderen Tätigkeiten, einschließlich Denken oder Kontemplation, spielt sich das politische Handeln nur in der Bedingung der Pluralität ab und zugleich aktualisiert sich die Pluralität nur durch das politische Handeln. An einer Textstelle wird klar, dass Arendt für ihre Differenzierung der Tätigkeiten das Konzept der Pluralität als das entscheidende Kriterium verwendet: „Alle menschlichen Tätigkeiten sind bedingt durch die Tatsache, daß Menschen zusammenleben, aber nur das Handeln ist nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft. Die Tätigkeit des Arbeitens als solche bedarf nicht der Gegenwart anderer Menschen, wiewohl ein in völliger Einsamkeit arbeitendes Wesen kaum noch ein Mensch wäre; es wäre ein Animal laborans in des Wortes wörtlichster und furchtbarster Bedeutung. Ein Wesen, das Dinge herstellt, aber schwerlich Homo faber; es hätte seine spezifisch menschliche Eigenschaft verloren und gliche eher einem Gott – zwar nicht einem Schöpfergott, aber doch dem göttlichen Demiurg, wie ihn Plato in einem seiner Mythen beschreibt. Handeln allein ist das ausschließliche Vorrecht des Menschen; weder Tier und noch Gott sind des Handelns fähig, und nur das Handeln kann als Tätigkeit überhaupt nicht zum Zuge kommen, ohne die ständige Anwesenheit der Mitwelt.“39 2.3 Drei menschliche Tätigkeitsweisen Das Wort „Vita activa“ umfasst drei Grundtätigkeiten: das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln. Arendt bezeichnet drei Tätigkeitsweisen als Grundtätigkeiten, „weil jede von ih- 36 37 38 39 Brunkhorst formuliert treffend im Folgenden: „Mit ihrem interpersonalen Handlungsbegriff setzt Arendt sich nicht nur deutlich von Platon und Aristoteles ab (…). Mit dem Übergang von der Selbstzwecktätigkeit, der actio immanens, die sich selbst genug ist und auch des alter ego nicht bedarf (…), zur sprachlich vermittelten, gemeinschaftlichen Praxis, der actio socialis (…), geht Arendt weit über Aristoteles hinaus.“ (Brunkhorst, 1999, S. 128). Gebhardt, 2004b, S. 306; vgl. Wellmer, 1999, S. 128; Weiland, 1989, S. 358-365. Zum Einwand gegen Arendts Unterscheidungskriterium zwischen den Tätigkeitsformen siehe Theodor Ebert, 1976; Hartmann, 1984, S. 22. VA, S. 33f.; vgl. auch Arendt, 1998, S. 1007. 47 nen einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist.“40 Für Arendt entfaltet sich die Ganzheit des Menschenlebens im Zusammenspiel von Arbeiten, Herstellen und Handeln. 41 Arendt ist der Ansicht, dass jede menschliche Betätigung eine für sie geeignete Struktur haben muss.42 Die menschlichen Tätigkeiten, die sich in verschiedenen Bereichen abspielen, entsprechen den unterschiedlichen Grundanliegen des Menschen überhaupt. Arendts Hervorhebung der räumlichen Bezüge menschlicher Existenz und Tätigkeit setzt sich daher der herkömmlichen Überzeugung entgegen, „daß allen menschlichen Tätigkeiten ein einziges zentrales Anliegen zugrunde liegen müsse, weil ohne ein solches einigendes Prinzip Ordnung überhaupt nicht etabliert werden könne.“43 2.3.1 Das Arbeiten In ihrem Buch VA versucht Arendt, aufzuzeigen, welche Stellung die Tätigkeit des Arbeitens in Bezug auf die anderen menschlichen Tätigkeiten im menschlichen Leben eingenommen hat, wie sich ihre Stellung im geschichtlichen Lauf verändert hat und in welchem Verhältnis die Arbeit zur Pluralität steht. Arendts Ansicht nach wurden die verschiedenen Tätigkeitsformen des Menschen in der Neuzeit auf die Arbeit reduziert. Das Arbeiten wurde zur beherrschenden Tätigkeitsform des öffentlichen Bereichs in der modernen Gesellschaft, das heißt „die Glorifizierung der Arbeit“44. Das bedeutet nicht, dass die Tätigkeit der Arbeit als solche auf den politischen Bereich übergegriffen hat. Vielmehr geht es hier um die „Arbeitsmentalität“, die in allen Schichten in der modernen Welt herrscht. 45 Die Gesellschaft, die die Mentalität und die Maßstäbe des Arbeitens beherrscht, definiert Arendt als die „Arbeitsgesellschaft“, die aber keineswegs identisch mit einer Gesellschaft von Arbeitern ist, weil Arbeitsmentalität in der Arbeitsgesellschaft nicht auf die sogenannte Arbeiterklasse beschränkt ist.46 Uns geht es um existenzbezogene Bedingungen der Arbeit und ihre Mentalität, die sich von den anderen Tätigkeitsweisen unterscheidet. 40 41 42 43 44 45 46 VA, S. 16. Vgl. Cooper, 1979, S. 149. Vgl. VA, S. 90. VA, S. 27. VA, S. 105. Vgl. Wolin, 1979, S. 198; vgl. auch Seyer, 1998, S. 63. Dazu siehe Abschnitt II. 1. 48 2.3.1.1 Das Arbeiten und die Notwendigkeit Arbeit ist durch Notwendigkeitscharakter gekennzeichnet. Von „Notwendigkeit“ sprechen wir mit Aristoteles in drei Bedeutungen: im Sinne von etwas, ohne dessen Existenz das Gute nicht existieren kann; im Sinne eines Zwanges; im Sinne von etwas, das nicht anders sein kann, sondern schlechthin so ist, wie es ist. 47 Nach der ersten Definition ist das notwendig, ohne welches man nicht leben kann; so ist das zum Leben Erforderliche wie Atmen und Nahrung für ein Geschöpf notwendig, weil es ohne diese nicht sein kann. In dieser begrifflichen Grundlage versteht Arendt die Arbeit als eine in der Lebensnotwendigkeit begründete Tätigkeit. Arbeit ist das Mittel, um die Anforderungen des Lebens selbst zu erfüllen. Das Leben selbst hängt von der Erfüllung der Lebensnotwendigkeit ab. Arendt formuliert: „Die Tätigkeit der Arbeit entspricht dem biologischen Prozeß des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst.“48 Das Arbeiten findet in der Beziehung zwischen Menschen und Natur statt. Anders gesagt stellt die Arbeit den „Stoffwechsel zwischen Menschen und Natur“ dar. 49 Durch Arbeit produzieren die Menschen die notwendigen Lebensmittel, die dem Lebensprozess des menschlichen Körpers zugeführt werden müssen. Insofern besteht das Arbeiten in engem Zusammenhang mit dem Konsumieren: „Arbeiten und Konsumieren (sind) nur zwei verschiedene Formen oder Stadien in dem Kreislauf des biologischen Lebensprozesses“.50 Im Arbeiten und Konsumieren ist der Mensch völlig auf sich selbst und auf das biologische Leben zurückgeworfen. Wenn wir der etymologischen und historischen Evidenz folgen, dann wird deutlich, dass das Wort „Arbeit“ eine eindeutige Konnotation von Körpererfahrung, nämlich „Mühsal“ und „Beschwerde“, hat.51 Der Zwangscharakter der Arbeit beruht darauf, wie in der zweiten Definition von Aristoteles gesehen, dass die Tätigkeit der Arbeit vom Leben selbst erzwungen wird. Was uns so zu tun zwingt, sei notwendig.52 „Die Tätigkeit, die dem Zwang entspricht, mit dem uns das Leben zwingt, das für es Notwendige herbeizuschaffen, ist die 47 48 49 50 51 52 Aristoteles, Metaphysik, 1015 a 20- 24 und 1072 b 12; vgl. DW, S. 17f. VA, S. 16. Marx, MEW, Bd. 23, S. 192; zum Arbeitsbegriff von Marx siehe Abschnitt III. 4.2. VA, S. 117; „Die Arbeit verbraucht ihre stofflichen Elemente, ihren Gegenstand und ihr Mittel, verspeist dieselben und ist also Konsumtionsprozeß.“ (Marx, MEW, Bd. 23, S. 198). Chenu, 1971, S. 481; vgl. VA, S. 428. Aristoteles, Metaphysik, 1015 a 25. 49 Arbeit.“53 Daher hat die Arbeit etwas Sklavisches. Für das Altertum hieß Arbeiten „Sklave der Notwendigkeit“54. Die Lebensnotwendigkeit, deren Zwang die Menschen unterworfen sind, konnte im Altertum entweder durch die eigene Arbeit oder durch Herrschaft über Sklaven bewältigt werden. Was die Gewalt angeht, besteht das „verdoppelte Unglück“55 der Sklaven darin, dass sie dem nackten Faktum der Arbeit einerseits und der Herrschaft der Gewalt andererseits unterstellt waren.56 In diesem Sinne, dass das Arbeiten unmittelbar mit der Notdurft des Lebens verbunden ist und dass es sich unter dem Zwang abspielt, verachtete die Antike Arendt zufolge die Arbeit und betrachtete sie als präpolitisch.57 Ein Notwendiges hat doppelten Charakter; es steht einerseits im Gegensatz zur Freiheit und bildet andererseits doch ihre Voraussetzung. Hinsichtlich der Notwendigkeit der Arbeit besteht Arendts Punkt darin, dass die körperliche Arbeit selbst wenig mit der menschlichen Freiheit zu tun hat, sofern sie für die Reproduktion und für die Erhaltung des Lebens notwendig ist: „Niemand kann frei sein, der vom Leben gezwungen, dessen Tätigsein von den Lebensnotwendigkeiten diktiert wird.“58 Wer diktiert wird, bedarf nicht der freien Entscheidung und Handlung. Gerade wegen der Tatsache, dass es im Bereich der Notwendigkeit keine Freiheit gibt, zeigt sich in der Arbeitstheorie von Marx „der fundamentale Widerspruch“59; trotz seiner Verherrlichung der Arbeit handelt es sich bei Marx nicht darum, die Arbeit zu befreien, sondern um die Befreiung von der Mühe und damit der Notwendigkeit der Arbeit, also um die Aufhebung der Arbeit selbst. „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion“. 60 Trotzdem bildet die Überwindung der Lebensnotwendigkeit durch die Arbeit die Voraussetzung für andere Tätigkeiten und für die Freiheit. Damit verbunden ist es nicht zu übersehen, dass für Arendt das Arbeiten als die grundlegende Tätigkeit für die menschliche Existenz verstanden wird und dass durch die Arbeit überhaupt erst die Möglichkeit politischen Handelns hergestellt wird. In diesem Zusammenhang betont Arendt, die Vitalität und Le53 54 55 56 57 58 59 60 WP, S. 74f. VA, S. 101; „Zur Arbeit genötigt, um Notwendigkeiten des Lebens zu bewältigen, ist dort der Mensch Sklave der Arbeit. Wer arbeitete, war Sklave.“ (Baruzzi, 1983, S. 71); vgl. Gorz, 1989, S. 28f. VA, S. 41. Vgl. WP, S. 74. Vgl. VA, S. 100 und auch S. 42. ZVZ, S. 286. VA, S. 123. Marx, MEW, Bd. 25, S. 828; durchgängig ist dieser Gegensatz von Arbeit und Freiheit, der in der Arbeitstheorie von Marx aufgestellt ist, nicht berücksichtigt. Marcuse hält fest: Die Arbeit sei für Marx „der wirkliche Ausdruck der menschlichen Freiheit. In der Arbeit wird der Mensch frei, im Gegenstand der Arbeit verwirklicht er frei sich selbst“ (Marcuse, 1969, S. 30f.). 50 bendigkeit menschlichen Lebens können nur in dem Maße gewahr werden, „als Menschen bereit sind, die Last, die Mühe und Arbeit des Lebens auf sich zu nehmen“.61 2.3.1.2 Arbeit und Welt Arendt vertritt die These, dass das Arbeiten als die Befriedigung der Lebensnotwendigkeit den Menschen weder individuiert noch vergemeinschaftet, sondern privatisiert.62 In diesem Zusammenhang weist Arendt auf die antipolitischen Eigenschaften der Arbeit hin, vor allem in zwei Punkten: Zum einen bedarf die Tätigkeit des Arbeitens nicht der Gegenwart anderer Menschen, zum anderen existiert kein konkretes Individuum in dem Arbeiten. Das wichtige Spezifikum der Arbeit liegt darin, dass die Arbeit ihrem Wesen nach „Monotonie“ 63 ist. Sofern die Arbeit auf dem Leben überhaupt beruht, ist sie privat. Der arbeitende Mensch ist von allen Beziehungen zur gemeinsamen öffentlichen Welt getrennt und zieht sich auf sich selbst zurück. Freilich setzt jede menschliche Tätigkeit, einschließlich der Arbeit, eine Umgebung von Dingen und Menschen voraus. Das Arbeiten ist jedoch im Grunde genommen eine unkommunikative Tätigkeit, die der anderen Menschen nicht unbedingt bedarf. Die Arbeit wirkt isoliert vom kommunikativen Bezug zur Welt. Arendt erläutert: „Die Tätigkeit des Arbeitens als solche bedarf nicht der Gegenwart anderer Menschen, wiewohl ein in völliger Einsamkeit arbeitendes Wesen kaum noch ein Mensch wäre.“64 Der Charakter dieser Weltlosigkeit von Arbeit bezieht sich auf die eigene körperliche Erfahrung. Im Arbeiten ist „der menschliche Körper auch auf sich selbst zurückgeworfen, wenn auch in einer aktiv-tätigen und nicht einer passiv – leidenden Weise“.65 Dies macht den privaten Charakter der Arbeit ersichtlich.66 Wie sich bei der Lockeschen Bemerkung von der „Arbeit unseres Körpers“ zeigt, beruht die Arbeitskraft auf dem eigenen Körper. 67 Die Arbeit meines Körpers ist im eigentlichen Sinne mein Besitz, weil der Körper in der Tat „das Eigenste und Privateste“68 ist, was Menschen besitzen können. Die körperlichen Erfah- 61 62 63 64 65 66 67 68 VA, S. 142. Im Arendtschen Sinne ist das Private nicht ganz identisch mit dem Individuum oder Individualität. Wolin, 1979, S. 198. VA, S. 33. VA, S. 134. „Wer nicht in der Politik ist, bleibt ein Beraubter, privatus oder, griechisch gesehen, ein idiotes, ein Einsamer und Einzelner. Arbeit wird einsam, im Hause, verborgen verrichtet; nicht in der Öffentlichkeit, nicht auf der Agora. Dort arbeitete man nicht, sondern redete. Arbeit war in der Polis wesentlich Hausarbeit.“ (Baruzzi, 1983, S. 72). Locke, 1992, § 27, S. 216. VA, S. 131. 51 rungen entziehen „sich der Sichtbarkeit und Hörbarkeit und damit der Öffentlichkeit“69. Das Merkmal dieser Weltlosigkeit der körperlichen Arbeit drückt sich in der anschaulichen Formulierung Arendts aus: „Selbstverständlich ist die Weltlosigkeit des Animal laborans ganz anderer Natur als die aktive Weltflucht, die Flucht, die Flucht aus der Öffentlichkeit der Welt, die, wie wir sahen, das Kennzeichen der tätigen Güte ist. Das Animal laborans flieht nicht die Welt, sondern ist aus ihr ausgestoßen in die unzugängliche Privatheit des eigenen Körpers, wo es sich gefangen sieht von Bedürfnissen und Begierden, an denen niemand teilhat und die sich niemandem voll mitteilen können.“70 Hinsichtlich der Weltlosigkeit ist die Arbeit keine weltbildende Tätigkeit. Sie eignet sich nicht dazu, im öffentlichen Raum menschliche Bezüge zu stiften, weil sie keine kommunikative Dimension hat und weil sie „ein Zwischen nicht konstituiert“.71 In diesem Verständnis lehnt Arendt kategorisch die Interpretation ab, die Arbeit sei „die Einheit von Interaktionsprozessen zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch“72. Das Resultat der Arbeit ist nicht die Gründung der gemeinsamen Welt, sondern „die Reproduktion des individuellen Lebens“ oder „Reproduktion der Gattung“. 73 Im doppelten Sinne, daß die Arbeit in der Einsamkeit ohne Beziehung zwischen Menschen stattfindet einerseits und daß „sie nichts objektiv Greifbares hinterläßt, daß das Resultat ihrer Mühe gleich wieder verzehrt wird und sie nur um ein sehr Geringes überdauert“74 andererseits, verschafft uns die Arbeit keine weltliche Wirklichkeit. 2.3.1.3 Arbeit und Individuum Gegen Arendts Verständnis des Arbeitens, das nicht der Gegenwart anderer Menschen bedarf, kann man daran denken, dass es auch Arbeit gibt, die man in Gemeinschaft verrichtet. Es ist die Rede von der kollektiven und gesellschaftlichen Arbeit. Denn die gesellschaftli69 70 71 72 73 74 VA, S. 132. VA, S. 139. DTB, S. 337; zur Kritik an Arendts Feststellung der Arbeit als die weltlose Tätigkeit siehe Inantsy –Pap von, 1967, S. 137ff. Markus, 1980, S. 36; „Auch können natürlich in der Arbeitstätigkeit selbst Formen unmittelbar kommunikativer Praxis einen Raum behalten oder ihn als sogenannte Befreiung in der Arbeit gewinnen.“ (Kambartel, 1994, S. 127. Hervorhebung im Original). In diesem Verständnis des Arbeitsbegriffs wirft Höffe Arendt vor, dass ihr Arbeitsbegriff zu eng ist. Nach ihm setzt man sich beim Arbeiten nicht nur mit der Natur auseinander, sondern auch mit sich und mit seinesgleichen: „die Arbeit wird zum Medium des Selbstbewusstseins und der sozialen Anerkennung und tritt in die Dimension, die Arendt für das Politische reservieren will, die des Miteinandersprechens, in einem nicht nur oberflächlichen Sinne ein. (…) Während in der Politik das Miteinandersprechen auch einen strategischen und trotzdem einen nicht eo ipso illegitimen, gewalttätigen Charakter hat, gewinnt es im Arbeitsleben einen durchaus kommunikativen Wert.“ (Höffe, 1993, S. 23). VA, S. 136. VA, S. 104. 52 che Arbeit meint mindestens, dass Arbeiten erstens nicht nur etwas ist, das jeder für sich als vereinzelter Einzelner tun könnte, sondern dass der Einzelne nur in Kooperation mit Mehreren handelt. Bei der Kooperation in der Arbeit geht es um Sozialität. Vor allem die gesellschaftlichen Organisationsformen der Neuzeit gehen von der konstitutiven Idee einer kooperativen Arbeit aus. Das weiß niemand besser als Marx, der der erste Theoretiker war, der die massenhafte „Produktionskraft der gesellschaftlichen Arbeit“75 verstanden hat. Die Erhöhung der Produktivität durch Kooperation rührt nach ihm daher, „daß der Mensch von Natur, wenn nicht, wie Aristoteles meint, ein politisch, jedenfalls ein gesellschaftliches Thier ist.“76 Er betont, dass Arbeiter durch die kollektive und gesellschaftliche Arbeit die individuellen Schranken überschreiten können. In der kollektiven und gesellschaftlichen Arbeit gewinnt der Einzelne das „Gattungsvermögen“.77 Hannah Arendt beobachtet auch am Arbeiten den „Zug in Gesellig“ und versteht die Arbeit „ihrem Wesen nach kollektiv“78. Der Begriff des Kollektivsubjekts im Arbeiten hat für sie jedoch nichts mit der Bestimmung der menschlichen Pluralität zu tun. Was beim kollektiven Arbeiten entsteht, ist Gattungsvermögen. Von der Vielheit in der Arbeit grenzt Arendt daher die Pluralität kategorisch ab, weil die Pluralität der Menschen etwas anderes ist als die einfache Multiplikation von Exemplaren einer Gattung. So hat die kollektive Arbeit nichts mit dem gemeinsamen Handeln zu tun, das zwischen mehreren Menschen stattfindet. Arendt schreibt: „Das Zusammen in der Arbeit besteht vielmehr in der einfachen Multiplizität von Gattungsexemplaren, die einander bis zur Austauschbarkeit gleichen, insofern sie nämlich lediglich in ihrer Eigenschaft als lebende Organismen sind, was sie sind.“79 Im kollektiven Arbeitsprozess wird das konkrete Individuum gleichgültig. Das Individuum wird vielmehr zum Hemmnis der Produktion. Im Arbeitsprozess muss der Mensch nur als Arbeitskraft bezeichnet werden, und darin „tritt der Mensch nicht als Person auf, sondern als Funktion“80, weil der Arbeitsprozess verlangt, „daß jeder einzelne Arbeiter das Bewußtsein seiner individuellen Identität in sich für die Dauer der Arbeit auslöscht.“81 Daher sind die unterschiedslosen Individuen in einem Kollektiv verschmolzen. In diesem Kollektiv wird die Anwesenheit der anderen sinnlos, weil alle arbeiten, als ob sie einer wären. Die Arbeit des Arbeitskollektivs in der Verschmelzung der Vielen unterscheidet sich nie von 75 76 77 78 79 80 81 Marx, MEW, Bd. 23, S. 349. Marx, MEW, Bd. 23, S. 346. Marx, MEW, Bd. 23, S. 349. VA, S. 271. VA, S. 271. VA, S. 195. VA, S. 271f. 53 der Arbeit eines Menschen. Das ist nichts anderes als „die Aufhebung der Pluralität“ 82 . Arendt hält fest: „Zwar existiert auch das Animal laborans in der Gegenwart anderer und lebt in gewissem Sinne mit ihnen zusammen; aber dies Zusammen ist von keinem der Merkmale echter Pluralität geprägt.“83 Abschließend ist die Tätigkeit der Arbeit „antipolitisch“, weil die arbeitende Tätigkeit weder mit der weltbildenden Fähigkeit noch mit der Fähigkeit zur Enthüllung der Person zu tun hat. Die auf der Lebensnotwendigkeit beruhende Arbeit ist daher die weltlose und zugleich selbstlose Tätigkeit. Arendt konstatiert: „Antipolitisch ist nur das Arbeiten, bei dem wir uns weder in der Dingwelt aufhalten noch mit anderen zusammen sind, sondern, von Mit – und Dingwelt verlassen, auf unsere Körper zurückgeworfen, der nackten Notwendigkeit unterworfen sind, uns am Leben zu erhalten“84 2.3.2 Das Herstellen 2.3.2.1 Die objektive Weltbildung Die Unterscheidung zwischen Arbeiten und Herstellen ist für uns fremd, wie Arendt selbst einräumt.85 Arendts Intention dieser ungewöhnlichen Unterscheidung liegt nicht unmittelbar auf der Hand. 86 Trotzdem ist es klar zu sagen, dass Arendt in erster Linie im Blick auf „die objektiv weltlichen Eigenschaften der produzierten Dinge“ 87 das Herstellen sowohl von Arbeiten als auch von Handeln unterscheidet. Im Unterschied zur Arbeit versteht Arendt das Herstellen als die weltbildende Tätigkeit des Menschen. Durch das Herstellen verwandelt der Mensch die natürlichen Bedingungen, „die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen“, in die künstliche Welt von Dingen, „die ohne den Menschen nie entstanden wären“.88 Im Herstellen drückt sich das Unnatürliche des Menschen aus. Wie wir schon gesehen haben, versteht Arendt unter Welt weder den Erdball noch den Kosmos.89 Die Dingwelt ist nie einfach schon gegeben, sondern die Summe des Werkes menschlicher Hände. Der wichtige Zweck der herstellen82 83 84 85 86 87 88 89 VA, S. 272. VA, S. 270. VA, S. 270. Vgl. VA, S. 99. Schnädelbach bezeichnet die Arendtsche Differenzierung zwischen Arbeiten und Herstellen als „eine systematische Fortentwicklung des handlungstheoretischen Aristotelismus“ (Schnädelbach, 1992b, S. 215). VA, S. 111. VA, S. 18f. Vgl. VA, S. 65. 54 den Tätigkeit besteht in der Weltlichkeit des Menschen. Die Weltlichkeit bedeutet, wie wir gesehen haben, dass menschliche Existenz auf die gegenständliche und objektive Welt angewiesen ist. Diese Gegenständlichkeit der Dinge versichert sich durch die Konsistenz oder Haltbarkeit. Die Tätigkeit des Herstellens verleiht „den zerbrechlichsten Dingen“ „eine gewisse Konsistenz“. 90 Angesichts der mit der Natürlichkeit unwiderruflich verbundenen Vergänglichkeit der Menschen steht die Aufgabe und Funktion der hergestellten Dingwelt darin, „gegen die Elementargewalten der Natur abzuschirmen“91 und menschliches Leben zu festigen. Die hergestellten Weltdinge überdauern menschliches Leben und leisten auch dem Fluss der Natur Widerstand. Dadurch wird die Welt nun zur eigentlichen Heimat des Menschen, der sterblich ist: „ihre Haltbarkeit verleiht der Welt als dem Gebilde von Menschenhand die Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, ohne die sich das sterblich – unbeständige Wesen der Menschen auf der Erde nicht einzurichten wüßte“.92 Der herstellenden Tätigkeit kommt ein bestimmter Moment der Gewalttätigkeit zu. Der gewalttätige Eingriff in die Natur gehört nach Arendt zum Wesen des Herstellens, das sie „etwas Prometheisches“93 nennt. Wie der Mensch einen Baum fällt, um Holz zu gewinnen, ist alles Herstellen gewalttätig, „und Homo faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört.“94 Was die Gewalt, die der Natur angetan ist, rechtfertigt, ist der Zweck, den der Herstellende hat, „wie das Holz das Fällen des Baumes rechtfertigt, wie der Tisch schließlich die nochmalige Zerstörung des Materials, das Zersägen des Holzes, rechtfertigt.“95 Die der Natur angetane Kraft des Herstellers steht im Gegensatz zur Anstrengung der Arbeit. Der Moment der menschlichen Gewalt, der in allen herstellenden Tätigkeiten steckt, schafft eine nur ihr eigene Befriedigung. Aus dieser Befriedigung stammen „Selbstgewißheit und Selbstgefühl“96, die sich grundsätzlich sowohl vom Glück der Arbeit als auch von der „Freude“97 des Zusammenhandelns unterscheidet. Die Quelle der Zufriedenheit in den herstellenden Vorgängen besteht darin, dass der Mensch als der Herstellende der Herr der Natur ist.98 90 91 92 93 94 95 96 97 98 VA, S. 165. VA, S. 176. VA, S. 161. VA, S. 165. VA, S. 165. VA, S. 182. VA, S. 165. ZVZ, S. 369. „Kraft und Stärke des Menschen äußern sich am elementarsten in den Erfahrungen der Gewalttätigkeit, und sie stehen daher im äußersten Gegensatz zu der qualvoll – erschöpfenden Anstrengung, welche die Grunderfahrung des Arbeitens ist.“ (VA, S. 165f.). 55 2.3.2.2 Die souveräne Tätigkeit Hinsichtlich des souveränen Charakters unterscheidet sich die Tätigkeit des Herstellens von allen anderen Tätigkeiten. Die große Zuverlässigkeit des Herstellens stammt aus seiner Souveränität, denn das Herstellen hat immer nur „mit einem Subjekt zu tun, das einen Gegenstand hervorbringen will“.99 Diese souveräne Eigenschaft kennzeichnet sich am klarsten in der Tatsache, dass das, was von einem Hersteller geschaffen wurde, sich von ihm auch wieder vernichten lässt. Nun ist Homo faber nicht nur Herr der Natur, sondern auch „Herr seiner selbst, seines eigenen Tuns und Lassens“.100 Der souveräne Hersteller ist unabhängig von allen anderen und setzt sich gegen sie durch. Diese Eigenschaft des Herstellens steht schließlich in engem Zusammenhang mit „Herrschsucht“101. Durch die souveräne Eigenschaft grenzt sich das Herstellen ab sowohl vom Arbeiten, das „der Notwendigkeit des eigenen Lebens unterworfen bleibt“, als auch vom Handeln, das „sich immer in Abhängigkeit von seinen Mitmenschen befindet“.102 Die Souveränität im Vorgehen des Herstellens steht in engem Zusammenhang mit der Tatsache, dass das Herstellen immer unter Leitung eines Modells als Leitbild stattfindet. „Die eigentliche Herstellung nun vollzieht sich stets unter Leistung eines Modells, dem gemäß das herzustellende Ding angefertigt wird“.103 Etwas herzustellen heißt, ein Modell als eine kontemplierte Idee mit Hilfe gewaltsamer Mittel zu realisieren. Das Modell existiert außerhalb des Herstellenden selbst und leitet den Herstellensprozess. Das Modell ermöglicht dem Herstellen, dass es in Isoliertheit von den Mitmenschen stattfindet. Die Eigentümlichkeit des Modells besteht nicht nur darin, dass es dem Herstellen vorausgeht und den Herstellungsprozess leitet, sondern auch nach dem Abschluss des Prozesses immer noch bleibt. Dabei ist von Bedeutung, dass die Anwesenheit des Modells nach dem Ende des Herstellungsvorgangs die weitere Herstellung gleicher Gegenstände ermöglicht.104 Die hergestellten Gegenstände sind daher als Resultat einer unendlich variierbaren Reproduktion eines Urmodells anzusehen. Diese Vervielfältigung ist anders als die Wiederholung der Arbeit. Für die Wiederholung der Arbeit sind die Bedürfnisse des körperlichen Lebens 99 100 101 102 103 104 EU, S. 956; „auch Robinson auf seiner Insel ist noch Mensch im Sinne des homo faber.“ VA, S. 170. VA, S. 313. VA, S. 170; vgl. VA, S. 299 und auch ZVZ, S. 295. Vgl. VA, S. 166. Vgl. VA, S. 168. 56 ausschlaggebend.105 Obwohl das Herstellen von „der geistigen Vorstellungswelt“ ausgeht, bezieht es sich auf Gegenständlichkeit, die auf der Unveränderlichkeit und Vollkommenheit des Modells beruht. Diesen Vollzug des Herstellens, vom Modell zum Ding überzugehen, nennt Arendt daher „Verdinglichung“106. 2.3.2.3 Die zweckorientierte Tätigkeit Das Herstellen ist wesentlich vom Zweck-Mittel-Schema bestimmt. Alle herstellende Betätigung ist von einem bestimmten Zweck motiviert, während die Arbeit „frei ist von willentlichen Entscheidungen und vorgefaßten Zwecken“.107 Der Zweck lässt sich durch die Verwendung eines geeigneten Mittels erreichen. Die Anwesenheit des Zwecks im Herstellungsprozess bedeutet, dass das Herstellen „einen definitiven Anfang und ein definitives, voraussagbares Ende hat.“108 Darüber hinaus ist der Herstellungsprozess selbst nur das Mittel zum Zweck als Endprodukt. Im Zweck-Mittel-Schema rechtfertigt und organisiert der Zweck das Mittel. Der erreichte Zweck reduziert sich in dem Moment, an dem es fertig ist, wieder auf Mittel zu einem anderen Zweck. Diese Zweck-Mittel-Kategorie erzeugt „eine Kette ohne Ende“, „in welcher sich jeder erreichte Zweck immer sofort wieder in ein Mittel in einem anderen Zusammenhang auflöst“.109 Aus diesem Zweck-Mittel-Zirkel ohne Ende ergibt sich, dass die Errichtung der Welt gleichzeitig zur gewissen Entwertung der objektiven Welt führt, weil der Hersteller alle Weltdinge nur als Mittel für sich selbst oder für neue Zwecke verwendet. Er kann die fertige Welt für seine neuen Zwecke wieder zerstören. Die Tätigkeit des Herstellens ist trotzdem für Arendt nicht antipolitisch, weil es im gewissen Sinne mit Öffentlichkeit zu tun hat. Im Herstellungsprozess bewegt sich der Hersteller immer in der Isolierung von anderen. Die Quelle dieser Isolierung besteht darin, wie wir schon gesehen haben, dass der Ansatz des Herstellens aus einem Modell entsteht. „Die Isoliertheit gegen die Mitwelt, das ungestörte Alleinsein mit einer Idee (...) ist die unerläßliche Lebensbedingung der Meisterschaft. Diese Meisterschaft ist nicht Herrschaft, sie meistert nicht Menschen, sondern Material, Werkzeuge und Gegenstände, sie ist prinzipiell unpolitisch.“110 Diese Isoliertheit des Herstellens endet doch zugleich mit der Fertigung der Wer- 105 106 107 108 109 110 „Wiederholung ist nur die Art und Weise, in welcher die Arbeit dem Kreislauf des biologischen Lebens nachkommt (...). Vervielfältigung dagegen vervielfacht das, was bereits eine relativ stabile, relativ gesicherte Existenz in der Welt besitzt.“ (VA, S. 168). VA, S. 165. VA, S. 124. VA, S. 169. VA, S. 182. VA, S. 191f. 57 ke. Der Herstellende tritt mit seinen Produkten in den Tauschmarkt ein. Der Tauschmarkt, „der die Herstellenden versammelt und der den dem Herstellen eigenen, öffentlich – gemeinsamen Bereich darstellt“111, wird als eine Art des öffentlichen Raums von Homo faber bezeichnet. Obwohl sich das Herstellen auf den öffentlichen Raum bezieht, ist der öffentliche Bereich von Homo faber, der Tauschmarkt, nicht identisch mit der politischen Öffentlichkeit. Im Tauschmarkt tauscht der Hersteller seine Produkte mit anderen Menschen. Im Warenhandel manifestiert sich keine Persönlichkeit der Herstellenden. Was im Tauschmarkt erscheint, ist nichts anderes als die Produkte. Arendt spricht daher von „Zur Schau gestellte Produktion“112, die für eine Produzentengesellschaft charakteristisch ist. Im Tauschmarkt versammeln sich daher nicht Personen oder Bürger, sondern Produzenten. Dort können die Herstellenden ihre Produkte ausstellen und austauschen. In der Öffentlichkeit des Homo faber wird „die Konstellation, in der das Wer-einer-ist natürlicherweise zu dem steht, was er tut, verschoben und verzerrt“.113 Arendt beschreibt im Folgenden: „Der Impuls, der den Hersteller in die Öffentlichkeit und auf den Markt drängt, ist nicht das Verlangen nach anderen Menschen, sondern das Interesse an anderen Erzeugnissen, und die Macht, welche diese Marktsphäre entstehen lässt und am Dasein hält, ist nicht das Machtpotential, das sich bildet, wenn Menschen miteinander handeln und sprechen, sondern eine Kombination von Tauschkraft (...), die jeweils in der Isolierung des Herstellens gewonnen wurde.“ 114 Im Tauschmarkt oder in einer Warengesellschaft sieht Arendt die Möglichkeit der Weltentfremdung, denn „das in ihr herrschende Primat des Warenaustauschs schließt in der Tat das Personale aus dem öffentlichen Bezirk aus und drängt alles eigentlich Menschliche in den Privatbereich der Familie oder die Intimität der Freundschaft.“115 2.3.3 Das Handeln 2.3.3.1 Die Tätigkeit zwischen Menschen Im Gegensatz zu den anderen Tätigkeiten besteht das Spezifikum des Handelns darin, dass es sich direkt zwischen Menschen ohne Vermittlung von Materie, Material und Dingen abspielt. Das bedeutet, dass das Handeln unerlässlich auf die Anwesenheit anderer angewie111 112 113 114 115 VA, S. 265. VA, S. 190. VA, S. 267. VA, S. 266. VA, S. 267. 58 sen ist. Das Handeln kann sich weder im Subjekt-Objekt-Schema noch in Isolierung vollziehen. Die Grundbedingung, die dem Handeln entspricht, ist Pluralität. In der Pluralität zu handeln heißt „sich in einer Vielheit einzigartiger Wesen als unter seinesgleichen zu bewegen.“116 Freilich finden zwei andere Grundtätigkeiten, das Arbeiten und das Herstellen, in gewissem Grad in Gemeinschaft mit anderen statt. Trotzdem sind sie, wie wir oben gesehen haben, im Vorgang nicht notwendig auf die Gegenwart anderer Menschen angewiesen. Nur das Handeln ist die einzige Tätigkeit, die von beständiger Gegenwart anderer abhängig ist.117 So lokalisiert sich das Handeln im öffentlichen Bereich, der sich zwischen Menschen herausbildet. Das Handeln, das sich zwischen Menschen abspielt, hat Doppelcharakter: die Enthüllung eines Wer einerseits und die Gründung des menschlichen Bezugsgewebes andererseits. Handeln gibt zuerst Aufschluss darüber, wer einer ist. Wenn man handelt, erscheint man vor anderen. Das Erscheinen, nämlich „das von Anderen Gesehen – und Gehörtwerden“, beruht nur auf der Tatsache, „daß jeder von einer anderen Position aus sieht und hört.“118 Die Erscheinung gewährt dem Menschen die Wirklichkeit. „Erscheinen heißt stets: anderen so und so scheinen, und dieses Scheinen verändert sich mit dem Standpunkt und der Perspektive der Schauenden.“119 So kann man nicht allein erscheinen. Da die Erscheinung die Gegenwart der anderen voraussetzt, vermag sie ohne die Anerkennung anderer, also ohne die Anerkennung der Pluralität, nicht zu bestehen. Daher ist das Handeln für Arendt identisch mit dem Erscheinen. So gesehen ist der Erscheinungsgrad der verschiedenen Tätigkeitsformen, das dem Pluralitätsgrad entspricht, entscheidend für ihre Differenzierung.120 Wenn das Handeln mit dem Erscheinen verbunden ist, ist es „auf eine Welt angewiesen, die verläßlich als der Ort seines Auftretens erscheint.“ 121 Daher bedarf es des bestimmten Raums, verstanden als Bezugssystem. Dieser Raum der Erscheinung ist von Arendt als der politische Raum begriffen, der nicht schon aufgebaute Ordnung ist, sondern das von menschlichem Handeln eigens gewobene Bezugsgewebe.122 Der politische Raum ist für Arendt durch „eine Handlungsqualität“123 gekennzeichnet. Daraus erklärt sich eine politische Di- 116 117 118 119 120 121 122 123 VA, S. 217. Vgl. VA, S.33f. VA, S. 71. DD, S. 31. Vgl. Penta, 1985, S. 17f. DD, S. 31. Zur politischen Welt siehe Abschnitt IV. Köster, 1992, S. 122. 59 mension des Handelns, das „der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient“.124 2.3.3.2 Agonalität des Handelns Aus diesem Doppelcharakter des Handelns entsteht das Spannungsverhältnis zwischen der Agonalität des Handelns und seinem Miteinander. Wenn sich das Handeln mit der Enthüllung der individuellen Einzigartigkeit gleichsetzt, lässt es sich für agonal halten. Das agonale Handeln ist das politische Prinzip in der Polis und bezieht sich auf den Redewettstreit.125 In der Polis nimmt Politik „die Form des agon an: eines Redeturnisers, einer mit Argumenten geschlagenen Schlacht“.126 Für diesen agonalen Geist des politischen Handelns in der Polis kommt es auf die Selbstdarstellung an. Dieser Handlungstyp ist, wie Arendt selbst einräumt, „individualistisch“ 127 . Arendt schenkt diesem agonalistischen und dramaturgischen Element des Handelns in ihren verschiedenen Arbeiten besondere Aufmerksamkeit. 128 „Es ist keine Frage“, sagt Arendt „daß das Urbild des Handelns, wie es der griechischen Antike vorschwebte, von dem Phänomen der Selbstenthüllung bestimmt war, aus dem sich auch der sogenannte agonale Geist erklärt, dies leidenschaftliche Sich-an-Anderen-Messen, das seinerseits wiederum dem Begriff des Politischen in den Stadt-Staaten seinen eigentlichen Gehalt gab.“129 Die Schwierigkeit besteht darin, dass Arendt noch ein anderes Handlungsmodell als das agonale beschreibt, das sie „acting in concert“130 nennt. Sie versteht die spezifisch politischen Formen des Handelns „als diejenigen, in denen man sich untereinander bespricht, um dann in Übereinstimmung miteinander zu handeln.“131 Nach dieser Auffassung bedeutet das politische Handeln, etwas zur gemeinsamen Sache zu machen oder auch etwas gemeinsam zur Sache zu machen. Man könne „nur mit Hilfe der anderen“ handeln.132 Hier wird die Frage gestellt, wie das agonale Handeln in Einklang mit Miteinanderhandeln stehen kann; wo es die Beweggründe des vielen Zusammenhandelns gibt, wenn es dem Handeln um die Selbstenthüllung geht; wie das agonale Prinzip des Handelns auf moderne republikanische 124 125 126 127 128 129 130 131 132 VA, S. 18. Reckermann, 1971, S. 112f. Vernant, 1982, S. 42. VA, S. 243. Zur dramaturgischen Dimension von Arendts Handelnsbegriff siehe Bluhm, 2001, S. 73ff. VA, S. 243. ZWZ, S. 244; auch EU, S. 956. VA, S. 193. ZVZ, S. 224. 60 oder demokratische Verhältnisse übertragbar sein soll.133 Im Hinblick auf das grundsätzlichen Spannungsverhältnis zwischen „expressivem“ und „kommunikativem“ Handeln134 ist Arendts Begriff des Politischen von einigen Kritikern kritisiert worden, dass ihre politische Konzeption zwischen der demokratischen und der elitistischen Position schwankt.135 Das virtuose und dramaturgische Moment des Handelns bezieht sich auf seine aufschließende Eigenschaft überhaupt. Das Handeln enthüllt unverwechselbare Einzigartigkeit, Charakter und Urteilsfähigkeit des Akteurs vor anderen Menschen. Wichtiger ist hier, dass das Virtuose weder willkürlich noch souverän ist, weil es sich nur in Wort und Taten im öffentlichen Raum manifestiert. So gesehen ist „das Außergewöhnliche“ des Handelns begriffen „nicht als arrogante Ausschließlichkeit, sondern im Sinne der Heraushebung des griechischen heros -, an dem alle Bürger teilhaben sollen“.136 Das bedeutet, dass das Virtuose des Handelnden abhängig von Anerkennung und Bestätigung von seinesgleichen ist. Es wird klar, dass das virtuose Handeln unterschiedlicher Akteure der souveränen Realisierung eines Willens entgegengesetzt ist. 137 Die Einzigartigkeit jedes Handelnden, der sich selbst durch seine Taten von anderen differenziert, unterscheidet sich von der „Singularität“.138 Das differenzierte Sein, das durch das agonale Handeln gebildet ist, ist kein egoistisches Subjekt, sondern die Person, „die nur durch eine gemeinsame Mitte existiert und nicht auf ein Substrat zurückgeht.“139 Durch die Selbstenthüllung des Individuums im öffentlichen Leben wird „das Subjekt des Handelns“140 zum Bürger. Die Stärke des Arendtschen Aspekts des agonalen Handelns besteht darin, dass er das konstitutive Prinzip der Pluralität einerseits und den kritischen Ansatz gegenüber der modernen – liberalen Gesellschaft andererseits liefert, wo die Politik nur die Funktion und das Verfahren charakterisiert. Nach dem agonalen Konzept bedeutet das Handeln in der Gemeinschaft mit anderen mehr als das Zusammen-entwas-Tun, weil das echte Handeln im aktiven Sichvoneinander- Unterscheiden die Pluralität schaffen und bewahren kann. 141 Arendts Betonung der agonalen Seite des Handelns wendet sich gegen die moderne Tendenz zum Han133 134 135 136 137 138 139 140 141 Vgl. Höffe, 1993, S. 32. d´Entreves, 1994, S. 84f. Vgl. Brunkhorst, 1994a, S. 354 und 356; Habermas, 1981, S. 236, Anm. 7; Parekh, 1981, S. 177f.; Canovan, 1978, S. 5-26. Kristeva, 2001, S. 278. Vgl. Straßenberger, 2005, S. 46. “Diese Singularität darf man nicht mit der unverwechselbaren Einzigkeit und Einmaligkeit jedes Einzelmenschen verwechseln. Diese gerade ist politisch und verschwindet in der Singularität, in der wir niemanden mehr haben, von dem wir uns unterscheiden, und daher unverwechselbar werden können.“ (DTB, S. 461); vgl. Parekh, 1981, S. 31f. Penta, 1985, S. 161. VA, S. 218. Vgl. VA, S. 241. 61 deln ohne Handelnde. Das agonale Handeln hat eine Ausgerichtetheit auf die Differenzierung.142 Es ist kein Zufall, dass das Prinzip der agonalen Demokratie oder das „agonistische Öffentlichkeitsmodell“ in jüngster Zeit von der Handlungstheorie Arendts inspiriert ist.143 In feministischer Umdeutung nimmt Honig Bonnie beispielsweise den agonalen Politikbegriff Arendts positiv an: „Das Politische ist bei Arendt immer agonal, weil sie sich um ihrer Auffassung vom Selbst als Pluralität, von der Identität als performativer Produktion und von der Handlung als Schaffung neuer Realität willen immer gegen die Anziehungskraft des Expressiven wehrt.“144 Das agonale Handeln ist nicht bloß als Entzweiung und Konflikt zu verstehen. Agonalität des Handelns trägt in sich selbst die konstitutiven Elemente für das Bezugssystem. In der spezifisch politischen Form des Zusammenseins spielt sich das agonale Handeln diskursiv ab. Arendt hält fest, dass es beim agonalen Prinzip „nicht um besser und schlechter geht, sondern darum, zusammen mit dem Andern“.145 Dabei steht die Rolle des Sprechens im Mittelpunkt. Das Sprechen selbst enthüllt und identifiziert den Handelnden des Handelns: „Es gibt keine menschliche Verrichtung, welche des Wortes in dem gleichen Maße bedarf wie das Handeln. Für alle anderen Tätigkeiten spielen Worte eine untergeordnete Rolle; sie dienen lediglich der Information oder begleiten einen Leistungsvorgang, der auch schweigend vonstatten gehen könnte.“146 Die Weise der Selbstdarstellung durch das Sprechen ist keine Form eines „Zu-anderen-Redens“, sondern die eines wirklichen „Miteinandersprechens“.147 Dabei geht es nicht um die einheitliche Durchsetzung der antagonistischen Interessen, sondern um das Prinzip der Anerkennung der Vielzahl der Meinungen.148 In diesem Sinne ist das politische Sprechen „Vollzug politischer Partizipation“149. Politisches Sprechen stellt den menschliche Zugang zur gemeinsamen Welt und politische Teilhabe an den gemeinsamen Dingen dar. Der Agonalität als politischem Prinzip geht es um das gewaltlos diskursiv Agonale, d.h. das Überzeugen.150 Die politischen Menschen sind Teilnehmer an einem Redewettbewerb. Erst in diesem Teilnehmen gewinnt eine Perspektive die Allseitigkeit. In der öffentlichen Ausei- 142 143 144 145 146 147 148 149 150 Vgl. PP, S. 387. Nullmeier, 1998, S. 86. Honig, 1994, S. 61. DTB, S. 415; „Das Erscheinen vor Anderen bleibt immer an einen gemeinsamen Sinnhorizont rückgebunden und kann deshalb trotz des vorhandenen Elements von Wettstreit kaum im Sinne Nietzsches als agonal verstanden werden“ (Thaa, 2005, S. 45). VA, S. 218. Geißner, 1995, S. 181. Vgl. Vollrath, 1979c, S. 96f.; Young-Bruehl, 1986, S. 554; Barber, 1994, S. 170. Geißner, 1995, S. 161ff. Vgl. Nullmeier, 1998, S. 102. 62 nandersetzung überschreitet er die Zweiseitigkeit in Richtung Viel – und Allseitigkeit.151 Kurz gesagt findet der Redewettstreit nicht im „Füreinander“ oder „Gegeneinander“ statt, sondern nur im eigentlichen „Miteinander“ statt. 152 Aus diesem Grund steht der agonale Charakter des Handelns nicht im Gegensatz zum kommunikativen Handeln, sondern bringt vielmehr einen pluralistisch geprägten „kommunikativen Resonanzboden“153 hervor. Die Gefahr, die aus der unbegrenzten Agonalität des Handelns entsteht, lässt Arendt nicht außer Acht. In der Poliserfahrung erblickt sie die Gefahr einer Destruktion des politischen Raums wegen der agonalen Seite des Handelns: „In diesem agonalen Geist, der schließlich die griechischen Stadtstaaten ruinieren sollte, weil er Bündnisse zwischen ihnen nahezu unmöglich machte und das einheimische Leben der Bürger mit Neid und gegenseitigem Haß vergiftete (…) war das Gemeinwohl ständig bedroht.“154 Arendts agonales Handelnsmodell setzt die „Virtuosität des Mit-anderen-zusammen-Handelns“155 oder die „gesellige(r) Virtuosität“156 voraus. Mit dem agonalen Handlungsmodell macht Arendt das konstitutive Konzept der Pluralität als der paradoxen Vielheit einzigartiger Wesen geltend. An einer Stelle ihres Spätwerkes spricht Arendt, „daß niemand allein handeln kann, daß die Menschen, wenn sie etwas in der Welt erreichen möchten, koordiniert handeln müssen“.157 Schließlich lässt sich feststellen: „Obwohl man von einem bestimmten agonalen Zug bei Hannah Arendt sprechen kann (…), bleibt die Grundsituation des Politischen nicht nur überdyadisch, sondern auch solidarisch von ihren Ursprüngen her. Wir können vielleicht von einem gewissen agonalen Rest bei Hannah Arendt sprechen, der aber durch den dezidierten Anspruch des Kommunikativen am Handeln aufgefangen wird.“158 2.3.3.3 Die Aporien des Handelns Aus „der einfachen Tatsache der in jedes Handeln verstrickten Pluralität von Handelnden“159 ergeben sich die Aporien des Handelns in drei Dimensionen: Ungewissheit, Willkürlichkeit und Irrtum. Weil sich das Handeln immer auf die Gegenwart von seinen Mitmenschen verlässt, findet es immer in Unberechenbarkeit und in Ungewissheit statt. „Handeln fällt in ein Netz von 151 152 153 154 155 156 157 158 159 WP, S. 96 und 101; vgl. Nullmeier, 1998, S. 103. VA, S. 220 und 221. Nullmeier, 1998, S. 101. PP, S. 386f. ZVZ, S. 213. Reitzenstein, 1907, S. 6; zit. nach Schröder, 2006, S. 252. DW, S. 191. Penta, 1985, S. 161. VA, S. 279. 63 Bezügen, in welchem das von den einzelnen Intendierte sich sofort verwandelt und als eindeutig feststehendes Ziel, als Programm etwa, gerade sich nicht durchsetzen kann.“ 160 Soweit man sich in der Pluralität bewegt, ergeben sich die Folgen einer Tat nicht aus der Tat selbst, sondern aus dem Bezugsgewebe. Das Handeln unter der Bedingung der Pluralität entzieht sich dem Kalkül und der Kontrolle. Vielmehr sind „die handelnden Personen selbst“, wie Zygmunt Bauman sagt, „gezwungen, die Kosten der eingegangenen Risiken zu tragen.“161 Darin, dass Handelnde weder die Folgen noch Nebenfolgen ihrer Handlungen kontrollieren können, entsteht vielmehr „die Kreativität des Handelns“ 162. Aber wegen seiner Ungewissheit oder Zufälligkeit ist das Handeln nach der traditionellen Vorstellung politischer Philosophie die gefährlichste aller menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Die abendländische Tradition der politischen Philosophie, von Plato bis Marx, hängt daher mit der unermüdlichen Anstrengung zusammen, die Ungewissheit und Zufälligkeit des menschlichen Handelns zu verneinen. Auch das eigentliche Wesen der totalitären Ideologie liegt in der „Vorhersagen des Zukünftigen“163. Der Anspruch auf absolute Herrschaft ist nicht allein durch die Schlechtigkeit der menschlichen Natur oder die Konkurrenz von Egoismen begründet, sondern durch die inhärente Schrankenlosigkeit des Handelns und die Pluralität der Handlungsmöglichkeiten. Die zweite Aporie des Handelns hat mit der Eigenschaft des Handelns als Anfang zu tun. Für Arendt ist das Handeln die Fähigkeit, immer wieder neu anzufangen. Zudem sind „Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe“. 164 Handeln ist in einem ursprünglichen Sinn beginnende Tätigkeit. Etwas anzufangen heißt etwas Neues, noch nie Dagewesenes und Unvorhersehbares in die Welt zu bringen. 165 Da das Anfangskönnen die Spontaneität des Menschen bedeutet, bringt das Handeln als Anfang in sich ein Element völliger Willkür und eine subjektive Seite. Daher ist Handeln als Neubeginnen in seinem Ablauf unberechenbar. Obwohl das Anfangskönnen zwar „eine Gabe des Menschen in seiner Singularität sein mag“, trotzdem kann es sich „in Bezug auf die Welt und unter der Mitwirkung der anderen“166 realisieren. Die Anwesenheit der gemeinsamen Welt stellt die Grenze der Willkürlichkeit des beginnenden Handelns dar. Die subjektive Seite des neuen Beginnens und seine Verarbeitung sind in Arendts politischer Theorie immer gleichzeitig thematisiert.167 160 161 162 163 164 165 166 167 ZVZ, S. 294. Bauman, 1999, S. 27. Bluhm, 2001, S. 73. EU, S. 964. VA, S. 215; ZVZ, S. 219 und 221. Vgl. VA, S. 216. ZVZ, S. 224. Vgl. Bluhm, 2001, S. 82. 64 Drittens und schließlich ist das Handeln durch seine Irrtumsmöglichkeit gekennzeichnet. Wenn man handelt, ist man immer der Gefahr von Irrtum unterworfen. Weil der Handelnde die Konsequenz seiner Handlung nicht wissen könne und weil es keine festen Maßstäbe für das Handeln gibt, kann man in vielen Fällen nicht wissen, ob man richtig tut.168 Die Sphäre des Handelns ist „das Reiche der Irre“; „Handeln heißt irren, in die Irre gehen.“ 169 Diese Irrtumsmöglichkeit wollte man als einen mangelhaften Charakter des Handelns bezeichnen. Sie hat aber mit Mängel oder Sündhaftigkeit der menschlichen Natur nichts zu tun; sie ist einzig dem geschuldet, dass Menschen in der menschlichen Pluralität handeln. Daher ist sie vielmehr menschlich. 170 Aus der Irrtumsmöglichkeit ergibt sich die Freiheit des Handelns, weil Menschen aus ihrem Irrtum heraus wiederum ein Neues beginnen können. Daher gibt es so etwas wie ein „Menschenrecht auf Irrtum“171. Hannah Arendt versteht diese Aporie des Handelns als den Preis, mit dem Menschen dafür zahlen, „daß sie frei sind“ und „daß sie mit anderen ihresgleichen zusammen die Welt bewohnen“.172 Das Verhältnis von Handeln und Irren impliziert für Arendt eine große politische Bedeutung: Die irreführende Gefahr unserer Welt und unserer Zeit ist kein Ausdruck des verborgenen Wollens der Natur oder der unsichtbaren Hände, sondern entsteht aus unserem Handeln und Entscheiden. Daraus kann man von der politischen Verantwortung für unsere gemeinsame Welt und für unser Handeln sprechen. Ob die Ungewissheit unserer politischen Welt zur ungeheueren Gefahr oder zur Chance wird, hängt von der Verantwortung der Menschen für ihr Handeln und die Welt ab.173 Für die Lösung von Aporien des Handelns liegt die Schwierigkeit darin, dass die Pluralität gleichzeitig die wesentliche Ursache der Aporien des Handelns und die unverzichtbare Bedingung des Handelns ist. Nach Arendts Ansicht liefen alle bisherigen Versuche, die Aporien des Handelns überwinden zu wollen, darauf hinaus, die Pluralität zu beseitigen und das Handeln überflüssig zu machen. Arendt entlarvt diese Tradition der politischen Philosophie als den Versuch, das Handeln als die politische Tätigkeit zu eliminieren. Der Versuch, „der Pluralität Herr zu werden“, ist für Arendt immer gleichbedeutend mit der Bemühung, „die 168 169 170 171 172 173 Vgl. VA, S. 236f. DW, S. 184. „Allein der Mensch kann sich irren und folglich dazulernen, es sei denn, er richtet sich die Welt so ein, daß Irrtümer unausweichlich lebensgefährlich und gattungsbedrohend werden“ (Guggenberger, 1987, S. 91. Hervorhebung im Original). Guggenberger, 1987. VA, S. 312. Canovan weist darauf hin, dass Arendt auf der Verantwortung sowohl für Auswirkungen vergangener Handlungen als auch für die zukünftigen Auswirkungen gegenwärtigen Handelns beharrt (vgl. Canovan, 2004, S. 69). 65 Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen.“174 Arendts politische Theorie geht von der Frage aus, wie man die Aporien des Handelns lösen könnte, ohne die Pluralität abzuschaffen. Arendt glaubt, dass sich die Aporien des Handelns nur durch Handeln lösen lassen. Das Heilmittel gegen die Aporien des Handelns lässt sich innerhalb des menschlichen Vermögens des Handelns selbst finden. Beispiele dafür sind Verzeihen und Versprechen. Beide Handlungen setzt die Pluralität der Menschen voraus und zielen auf sie ab: „Beide Fähigkeiten können sich somit überhaupt nur unter der Bedingung der Pluralität bestätigen, der Anwesenheit von Anderen, die mit-sind und mit-handeln. Denn niemand kann sich selbst verzeihen und niemand kann sich durch ein Versprechen gebunden fühlen, das er nur sich selbst gegeben hat.“175 174 175 VA, S. 279. VA, S. 302. 66 3. Methodologische Grundlage Arendts politische Theorie ist durch die sie auszeichnende „Denkungsart“1 gekennzeichnet, die für sie nicht irgendeine „Methode“ bedeutet.2 Es besteht kein Zweifel, dass Arendt zu den originellen Denkern gehört, doch ist sie keine systematische Denkerin. Sontheimer stellt in seiner biographischen Arbeit über die Werke der Hannah Arendt fest, „daß diese politische Denkerin sich auf keine bestimmte Methode festlegen läßt, daß sie keine systematische Theorie des Politischen vorlegt, wie man sie aus den üblichen politikphilosophischen Traktaten kennt“.3 In Bezug auf ihr empathisches Verständnis des Politischen ist der Mangel an systematischer Konzeption und Methode oft kritisiert.4 Aber das ihr von vielen Kritikern vorgeworfene methodische Defizit ist vielmehr der intensive Ausdruck ihres unkonventionellen Verständnisses vom Politischen. Arendts methodische Ansatz geht vom Wirklichkeitsgefühl des Traditionsbruchs aus: „Zwischen den platt gewordenen Regeln des gesunden Menschenverstandes, die keinem modernen Ereignis mehr adäquat sind, und der Verstiegenheit der Ideologien muß der Geschichtsschreiber seinen Weg zu finden versuchen, und das heißt auf viele liebgewordene Gewohnheiten und Methoden verzichten. Er muß lernen, gleichsam ohne Geländer zu denken.“5 Ihre Ablehnung methodologischer Reflexion entspricht ihrer großen Fähigkeit, immer neue und plurale Phänomene des Politischen zu verstehen. Sie ist der Meinung, dass die übertriebene Beschäftigung mit methodischen Fragen einem Ausweichen vor den betrachteten Gegenständen und den drängenden Fragen nahe kommt. Darauf weist Vollrath in seinem Aufsatz zur Methode des politischen Denkens bei Arendt hin: „Der Methodebegriff setzt nämlich voraus, ganz abgesehen von den mannigfachen Varianten, in denen Methode sich zu verwirklichen sucht, daß die theoretische Betrachtung sich in eine Stellung zu versetzen hat, die sich in objektiver Unabhängigkeit von dem zu betrachtenden Gegenstand aufhält. Diese Stellung ist der archimedische Punkt dem Gegenstand gegenüber, d.h. außerhalb des Gegenstandes, und gewährt der theoretischen Betrachtung die Gewißheit, daß sie mit dem Ge1 2 3 4 5 Szankay, 1995, S. 45ff. DD, S. 207. Sontheimer, 2005, S. 106; vgl. Grunenberg, 2005, S. 219. Zur methodologischen Spannung bei Arendts Werken siehe Benhabib, 1988, S. 157; Reist, 1990, S. 25; Bielefeldt, 1993, S. 17. EU, S. 41f.; Diese Haltung kommt in Arendts Brief an Scholem ausführlich zum Ausdruck: „Was Sie dabei verwirrt, ist, daß meine Argumente und meine Denkweise nicht vorgesehen sind. Oder mit anderen Worten, daß ich unabhängig bin. Und damit meine ich einerseits, daß ich keiner Organisation angehöre und immer nur im eigenen Namen spreche; und andererseits, daß es darauf ankommt, selbst zu denken, und daß, was immer Sie gegen die Resultate einzuwenden haben, Sie selbig nicht verstehen werden, wenn Ihnen nicht klar ist, daß sie die meinigen sind und niemandes sonst.“ (Brief an Gerhard Scholem, 20. 07. 1963, in: IWV, S. 35). 67 genstand in theoretisch zuverlässiger Weise umzugehen versteht. Die Stellung der Theorie gegenüber dem Gegenstand ist selbst in einem theoretischen Verfahren gewonnen. Sie bereitet sich methodisch darauf vor, um so aus methodisch-theoretischer Selbstbestimmung Herr und Meister des Gegenstandes zu werden.“6 3.1 Der phänomenologische Zugang zum Politischen Beim politischen Denken geht es Arendt nicht um die Suche nach dem Zusammenhang von Ursachen und Folgen oder nach Gesetzlichkeiten menschlicher Handlung, sondern um die politischen Phänomene. In der politisch-geschichtlichen Untersuchung befasst sich Arendt mit dem singulären und spezifischen Ereignis im Gegensatz zur Verallgemeinerung, die die Wirklichkeit menschlicher Angelegenheiten zerstört: „Denn das politische Denken ist darauf angewiesen, daß die Phänomene seines Bereiches sich selbst kund tun; es bleibt dem, was von sich her in dem Bereich menschlicher Angelegenheiten erscheint und sich ausspricht, verbunden.“7 Arendts Theorie des Politischen entzieht sich durch ihre phänomenologische Untersuchung8 der Versuchung des Historismus. Der Historismus macht nicht auf die phänomenale Differenz des einzelnen Gegenstands aufmerksam und hält kein Handeln des Einzelnen für entscheidend. Weil er die Geschichte in der Kausalität und Kontinuität betrachtet, bietet er doch keineswegs eine Theorie des politischen Handelns, das die automatischen und notwendigen Prozesse unterbricht.9 Die Differenz zwischen Phänomenen ist daher sekundär.10 Arendt schreibt: „Kausalität, d.h. der determinierende Faktor eines Prozesses von Geschehnissen, in dem immer ein Geschehnis verursacht und durch ein anderes erklärt werden kann, ist in der Sphäre der historischen und politischen Wissenschaften wahrscheinlich eine völlig unpassende und verfälschende Kategorie. Von sich aus verursachen Elemente wahrschein6 7 8 9 10 Vollrath, 1979b, S. 61. ÜR, S. 20. Das Merkmal der phänomenologischen Methode besteht wesentlich darin, dass sie eine dem Gegenstand zugewandte Haltung einnimmt. Sie ist gekennzeichnet durch die Ausschaltung „von allem Theoretischen, wie Hypothesen, Beweisführungen, anderswo erworbenem Wissen“ und „von aller Tradition, d.h. allem, was von andern über den Gegenstand gelehrt wurde“ (Bochenski, 1971, S. 23; zit. nach BergSchlosser/Stammen, 2003, S. 116); zu Arendts phänomenologischer Denkweise siehe Vollrath, 1979b, S. 59- 84; Reist, 1990, S. 26. Vgl. MG, S. 149. Darauf bezogen bezeichnet Voegelin in seiner kritischen Rezension von Arendts Totalitarismusbuch den Totalitarismus und den Liberalismus als die zwei Seiten ein und derselben Medaille der Moderne. Arendt schreibt: „Prof. Voegelin behandelt phenomenal differences – für mich faktische Unterschiede, welchen größte Bedeutung zukommt – als unwesentliche Auswüchse einer prinzipiellen Identität doktrinärer Art (…) Phenomenal differences, weit davon entfernt, eine essentielle Identität zu verhüllen, sind genau jene Phänomene, die den Totalitarismus totalitär machen.“ (Hannah Arendt, A Reply, in: Review of Politics 15, 1953, S. 80; zit. nach Barley, 1990, S. 50); vgl. Henkel, 1998, S. 116f. 68 lich nie irgend etwas. Sie werden zu Ursprüngen von Geschehnissen, falls und wenn sie sich zu festen und abgegrenzten Formen kristallisieren. Dann und nur dann können wir ihre Geschichte zurückverfolgen. Das Geschehnis erhellt seine eigene Vergangenheit, aber es kann niemals von ihr abgeleitet werden.“ 11 Das Hauptmerkmal der phänomenologischen Vorgehensweise von Arendt besteht darin, dass der in Frage stehende Gegenstand untersucht wird in demjenigen „geschichtlichen Augenblick, in dem das Phänomen voll in Erscheinung tritt und seine mehr oder minder endgültige Gestalt annimmt“ 12. Schulin weist auf Arendts Vorgangsweise der Geschichtsschreibung hin: „Sie lehnt also jeden Determinismus bei ihrer Zusammenstellung der Phänomene ab. Es geht um Ursprünge und Elemente, nicht um Ursachen. Es lag ihr auch viel mehr daran, das Neuartige, Unerwartete des Totalitarismus zu betonen, als kausale Verbindungen zu suchen.“13 Mit dem phänomenologischen Zugang zum Politischen bemüht sich Arendt zu verstehen, wie das Politische in der Erfahrung entsteht, wirkt und sich verändert. Es ist die Aufgabe der politischen Theorie für Arendt, den politischen Phänomenen, die „den ganzen eigentlich menschlichen Bereich (…) bilden“ 14 , nachzugehen. Die „Phänomenologie des Politischen“15 hat neue einzelne Phänomene im politischen Bereich aufzudecken. Arendts gesamtes Denken stellt sich daher nach Martin W. Schnell dar als „ein Knotenpunkt der politischen Theorie“ im 20. Jahrhundert, die nach dem Wegfall der Abstützungen der Traditionen „die politischen Phänomene ernst nimmt“.16 Sie glaubt daran, dass durch die Verfolgung des Ursprungs und der Quelle des Politischen in der Vergangenheit das verborgene, verlorengegangene „Urphänomen“ 17, also die phänomenologische Wirklichkeit, wieder entdeckt werden kann.18 Mit dem Urphänomen sind aber keine platonische absolute Idee und keine verborgenen Wesenheiten der Erscheinung gemeint.19 Das Urphänomen ist vielmehr „ein konkret und materiell Auffindbares, in dem 11 12 13 14 15 16 17 18 19 Arendt, The Nature of Totalitarism, unveröff. MS; zit. nach Young-Bruehl, 1986, S. 289. ÜR, S. 53. Schulin, 1997, S. 202. WP, S. 90. Schnell, 1995. Schnell, 1995, S. 242. MfZ, S. 193. In Denktagebuch schreibt Arendt: „Traditionsbruch: Erst im Bruch konnte Vergangenheit, in der es keinen Leitfaden mehr gab, als Tiefe erscheinen; wobei das Tiefste dann identifiziert wird mit Beginn, Ursprung etc. – alles rein chronologisch gesehen (…). Dabei hofft man, in der Tiefe Boden zu fassen; der Boden wird zum Ersatz für den Leit- oder Ariadnefaden der Tradition. Aber die Tiefe der Zeit ist bodenlos. Daher ist Tiefgang immer noch ein Ausdruck – wenn auch der großartigste – für die Bodenlosigkeit des Jahrhunderts. Boden gerade kann ich nur in der Gegenwart haben. Die Dimension der Heimat ist die Gegenwart.“ (DTB, S. 301). Damit verbunden mag man Arendts Betrachtungsweise der Polis verstehen. Polis ist die ursprüngliche Erfahrung des Politischen in der westlichen Welt. Für Arendt verleiht die politische Erfahrung der Polis unserem Verständnis des Politischen die begriffliche Reinheit. In der griechischen Polis wurde „das Poli- 69 Bedeutung (…) und Aussehen oder Erscheinung, Wort und Ding, Idee und Erfahrung zusammenfallen.“20 Den Zugang zum Urphänomen gewinnt Arendt durch „die kritische Interpretation der Vergangenheit“21. Der Grund dafür, warum Arendt ein Auge auf das Urphänomen wirft, besteht darin, dass „bestimmte Phänomene und Probleme elementarer Art sich in diesem geschichtlichen Horizont klarer zeigen und einfacher stellen lassen als zu irgendeiner späteren Zeit.“22 Im Hinblick auf den Rückgriff auf das Urphänomen will Arendt keineswegs „den gerissenen Faden der Tradition wieder zusammenknüpfen“. 23 Wenn wir uns an das Konzept der Natalität erinnern, führt sich der Ursprung nicht allein auf die vergangenen Angelegenheiten zurück. Der Ursprung und der Anfang stehen in Wechselwirkung. In diesem Sinne ist Arendts Geschichtsinterpretation eine Art von „Wiederholung“, wie Jetschmann darlegt, die „nicht als bloßes Wiederbringen, als nochmalige Verwirklichung eines bereits Geschehenen verstanden (ist), sondern erwidert vielmehr die Möglichkeit der damaligen Existenz im Eröffnen eines neuen, eigenen Standpunktes in der Welt.“24 Der phänomenologische Zugang zu den Gegenständen befreit unseren Blick aus den Fesseln von Vorurteilen, traditionellen Vorbehalten und methodischen Zwängen. Diese Befreiung ermöglicht eine Wahrnehmung der vielfältigen Phänomene. Vor allem auf die Pluralität des politischen Handelns bezogen ist die phänomenologische Analyse der politischen Welt unverzichtbar. In der Tat nennt Arendt sich selbst eine Art „Phänomenologin“. 25 Dass Arendt durch den vorurteilsfreien und phänomenologischen Zugang zum Politischen die eigentümliche Pluralität der politischen Welt entdeckt, darf man, wie Klaus Held betont, als „einen der wichtigsten Beiträge zur Jahrhundertbewegung der Phänomenologie ansehen“.26 20 21 22 23 24 25 26 tische in einem spezifischen Sinne zum ersten Mal entdeckt“ (ZVZ, S. 203). Was Arendt damit eigentlich zum Ausdruck bringen wollte, ist das, im Gegensatz zur Idealisierung der Polis, dass die antike Polis die erste spezifisch politisch geprägte Welt sei; zur Kritik an der Arendtschen Idealisierung siehe Sternberger, 1979, S. 109; Dubiel, 1994, S. 63; Habermas, 1981b, S. 239; Brunkhorst, 1996, S. 32; Wicki-Vogt, 1992, S. 191-211; Jonas, 1979, S. 275. MfZ, S. 193. ZVZ, S. 18. ZVZ, S. 282. ZVZ, S. 18. Jetschmann, 1989, S. 11; vgl. MfZ, S. 236. Young-Bruehl, 1986, S. 552; zur phänomenologischen Methodik Arendts siehe Vollrath, 1979b, S. 59ff., besondere S. 65f. Held, 1993, S. 396. 70 3.2 Das Verstehen Mit der phänomenologischen Denkart Arendts rückt der Begriff des Verstehens in den Vordergrund der politischen Theorie. Bei Arendt gehört die Untersuchung des politischen Phänomens zum Verstehen. Darüber hinaus leitet das Verstehen als „methodischer Begriff“ Arendt bei allen ihren Arbeiten.27 Beim Gespräch mit Günter Gaus betont sie selbst, dass ihre Arbeit ein Prozess des Verstehens ist, in dem bestimmte Dinge freigelegt werden.28 Das Verstehen ist eine Antwort auf die Frage: „wie ist es möglich, etwas Neues aus der Geschichte zu erfahren?“29 Das Verstehen ist das Verfahren, sich mit der Einzigartigkeit und Neuartigkeit in der Geschichte zu beschäftigen. Es geht beim Verstehen nicht um das Ziel, das faktisch Einzelne in dessen alles übergreifenden Gesamtverlauf zu subsumieren, sondern um die konkreten geschichtlichen Gegebenheiten in ihrer faktischen Zufälligkeit. Das Verstehen vollzieht sich in der Vielfalt weltlicher Phänomene.30 Arendt hält fest, dass es die Aufgabe des Verstehens ist, „dies unerwartet Neue mit all seinen Implikationen in jeder Periode zu entdecken und die volle Kraft seiner Bedeutung herauszuarbeiten.“31 Das Verstehen darf auch nicht mit den logischen Operationen und theoretischen Verfahren verwechselt werden.32 Ein solcher Verstehensbegriff grenzt sich vom Erklären ab. Gemeint ist durchgängig mit dem Begriff „Erklärung“ die Darlegung der Ursache oder der Zwecke, warum und wozu etwas so ist, oder der Gesetzmäßigkeit, in die ein einzelnes besonderes Ereignis einzuordnen ist: Alle wissenschaftliche Erklärung versuche die Subsumtion ihres Untersuchungsgegenstandes unter generelle Regeln.33 In EU schreibt Arendt: „Wir können aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts den Ersten Weltkrieg nicht erklären; aber wir können gar nicht anders, als im Lichte dieser Katastrophe das Jahrhundert verstehen, das in ihr sein Ende fand.“34 Arendt versucht, die politischen Wirklichkeiten weder zu erklären noch zu beweisen, sondern zu „verstehen“, indem sie sich ohne das bestimmte vorgegebene System der Theorie und ohne überkommene Maßstäbe nur auf die Erscheinung überhaupt konzentriert. 27 28 29 30 31 32 33 34 Ludz, 1997, S. 20. IWV, S. 46. BAJ, S. 39. Vollrath sagt dazu: „Als vorangehendes und vorläufiges Verstehen liefert es dem Erkenntniswissen in seinen Urteilen und Vorurteilen gewisse kategoriale Hinblicke, an denen sich das Erkenntniswissen orientieren kann, um die Erkenntnisse seiner Objekte so in die Welt einzuordnen, dass sie für alle an dieser Welt Teilnehmenden Sinn und Bedeutung haben und verstanden werden können.“ (Vollrath, 1979c, S. 91). ZVZ, S. 123. Vgl. ZVZ, S. 121. Narr, 1971, S. 54. EU, S. 559. Hervorhebung im Original. 71 Das Verstehen ist der Geschehensort des Sinnes. Im Vorgang des Verstehens wird Sinn gefunden. Das Resultat des Verstehens ist keine Wahrheit, sondern „Sinn, den wir im bloßen Lebensprozeß insofern erzeugen, als wir uns mit dem, was wir tun und erleiden, zu versöhnen suchen.“35 Darauf bezogen bezeichnet Arendt das Verstehen als freie Einbildung. Ohne Einbildungskraft ist Verstehen nur vermittelt durch allgemeine Regeln möglich.36 Das Verstehen, das „ein ganz neu erschlossener Zugang zur Wirklichkeit ist“37, entreißt die Phänomene nicht nur der absoluten Determination, sondern auch der völligen Zufälligkeit. Ohne tatsächliches Verstehen wären wir niemals dazu in der Lage, „uns in der Welt zu orientieren.“38 Daher ist Verstehen für Arendt eine Tätigkeit, „durch die wir Wirklichkeit, in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen, uns mit ihr versöhnen, das heißt durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein.“39 Es ist daher der menschliche Akt, der den Menschen mit der Welt verbindet und versöhnt. Das Verstehen ist für Arendt der Vorgang der Verwurzelung in der Welt. An diesem Punkt vergleicht Arendt das Gefühl, etwas zu verstehen, mit dem „Heimatgefühl“.40 Die menschliche Fähigkeit zum Verstehen bedeutet, dass Mensch und Welt füreinander gemacht sein könnten. Im Vorwort zum Totalitarismusbuch schreibt Arendt im folgenden: „Begreifen bedeutet freilich nicht, das Ungeheuerliche zu leugnen, das Beispiellose mit Beispielen zu vergleichen oder Erscheinungen mit Hilfe von Analogien und Verallgemeinerungen zu erklären, die das Erschütternde der Wirklichkeit und das Schockhafte der Erfahrung nicht mehr spüren lassen. Es bedeutet vielmehr, die Last, die uns durch die Ereignisse auferlegt wurde, zu untersuchen und bewusst zu tragen und dabei weder ihre Existenz zu leugnen noch demütig sich ihrem Gewicht zu beugen, als habe alles, was einmal geschehen ist, nur so und nicht anders geschehen können. Kurz: Begreifen bedeutet, sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, zu stellen und entgegenzustellen.“41 Arendt glaubt, dass das zwanzigste Jahrhundert einen vollkommenen Bruch mit der Tradition darstellt, mit dem unsere Kategorien des politischen Denkens und unsere Maßstäbe für das Urteilen eindeutig zerstört wurden. Für sie bezeichnet sich der Bruch jenes überlieferten Sinnes – und Geltungsanspruchs jedoch nicht nur als eine Behinderung, sondern vielmehr als eine der Möglichkeitsbedingungen für das Verstehen, weil das Verstehen ohne Gelän35 36 37 38 39 40 41 ZVZ, S. 111; vgl. DD, S. 25: „Die Vernunft ist nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern nach Sinn. Und Wahrheit und Sinn sind nicht dasselbe“. Vgl. ZVZ, S. 126f.; DTB, S. 317. DT, S. 121. ZVZ, S. 127. ZVZ, 110. IWV, S. 47. EU, S. 25. 72 der, an dem entlang das Denken der Menschen geordnet wurde, stattfindet.42 Erst im „Verstehen politischer und historischer Angelegenheiten“43 wird die durch die Ereignisse veränderte Wirklichkeit der Welt sichtbar. Unter diesen Umständen spielt das Verstehen nicht nur die Rolle der Interpretation eines vorgegebenen Sinns und einer vorgegebenen Erfahrung, sondern auch der praktischen Orientierungsleistung. 44 Deshalb dient das Verstehen weiterem Erkennen45, und das Ergebnis des Verstehens wird zum Boden für den neuen Anfang, also für das Handeln. Die bildende Funktion der vergangenen Erfahrungen liege im Verstehen als solchem.46 In diesem Sinne sieht Arendt Verstehen als „die andere Seite des Handelns“47 an. So betont Arendt in ihrem kurzen Essay Verstehen und Politik, dass man den Totalitarismus wirklich verstehen muss, um den Totalitarismus zu bekämpfen.48 3.3 Das Erzählen Mit dem Verstehen ist der Prozess des Erzählens die Basis von Arendts politischen Analysen. Die Arendtsche Denkungsart stellt sich „als Erzählung von einem uralten Schatz“49 dar. Angesichts des Traditionsbruchs besteht neuer Weg für den Umgang mit den politischen Phänomenen Arendt zufolge in ihrer Erzählbarkeit. Das Erzählen ist das Vermögen, um es mit Walter Benjamin zu sagen, „die Erfahrung auszutauschen“.50 Wenn die politische Theo- 42 43 44 45 46 47 48 49 50 In diesem Sinne verwendet Arendt oft den Satz von René Char: „Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.“ Arendt interpretiert diesen Satz in der kurzen aber ausgezeichneten Formulierung: „Das heißt, es steht uns vollkommen frei, uns aus den Töpfen der Erfahrungen und Gedanken unserer Vergangenheit zu bedienen.“ (Fernsehgespräch mit Errera, in: IWV, S. 123). Siehe auch das Vorwort zu ZVZ, S. 7ff. ZVZ, S. 112. Vgl. Graßenberger, 2005, S. 19. „Wissen und Verstehen sind nicht dasselbe, aber sie sind miteinander verbunden. Verstehen ist auf Wissen gegründet, und Wissen kann nicht ohne ein vorausgehendes, unartikuliertes Verstehen vor sich gehen (…). Das Verstehen geht dem Wissen voraus und folgt ihm nach.“ (ZVZ, S. 113). DT, S. 121. ZVZ, S. 125; in unserem Zusammenhang ist es merkwürdig, dass Arendts Totalitarismusbuch, das mit dem Verstehen der verhängnisvollen Katastrophe des Westens begann, mit dem Versprechen des neuen Anfangs endet, also mit den Worten von Augustinus: „damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen.“ (EU, S. 979). „Auch wenn es keine sonderlich hilfreichen oder inspirierenden Ergebnisse zeitigen kann, muß Verstehen den Kampf gegen den Totalitarismus, so er mehr sein soll als ein reiner Überlebenskampf, begleiten. Insofern als totalitäre Bewegungen in der nicht-totalitären Welt entstanden sind (durch die Kristallisation von in ihr vorhandenen Elementen, denn die totalitären Systeme wurden nicht vom Mond importiert), ist der Prozeß des Verstehens ganz klar, vielleicht sogar in erster Linie, ein Prozeß des Selbst-Verstehens.“ (ZVZ, S. 112f.). ZVZ, S. 8; vgl. Young-Bruehl, 1979, S. 319; Kristeva, 2001, besonders S. 27-166. Benjamin, 1991, S. 439. 73 rie auf die Erzählbarkeit der Erfahrungen angewiesen ist, ist der politische Theoretiker der Erzähler.51 Das Erzählen bedeutet für Arendt keine mündliche Mitteilung des Vergangenen im nostalgischen Rückblick. Die Erzählung der Geschichte ist nicht einfach Wiedergabe eines bereits Geschehenen, sondern aktualisiert die Bedeutung der Vergangenheit. Sie vermag uns die verschiedenen Perspektiven nachzubringen. Für Arendt ist das Verstehen mit dem Erzählen von Geschichte identisch, denn wie das Verstehen enthüllt das Geschichtenerzählen „den Sinn (…): es führt zu Übereinstimmung und Versöhnung mit den Dingen, wie sie wirklich sind“.52 Der Sinn, der durch die Geschichtenerzählung gefunden wird, ist keine nachträgliche Rechtfertigung, sondern folgt aus einer Verarbeitung des Geschehenen. Durch das Erzählen werden „die großen Inhalte der Vergangenheit“ „frei und spielerisch miteinander in Verbindung gesetzt“.53 Die Bedeutung der Erzählung der Geschichte zeigt sich schon im 1933 geschriebenen Buch über Rahel Varnhagen ausführlich.54 Im Vorwort zu diesem Buch formuliert sie: „Was mich interessierte, war lediglich, Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können.“55 Wo Hannah Arendt Gebrauch von Erfahrungen und geschichtlichen Beispielen macht, zwingt sie niemanden „durch Beweis“.56 Wenn Arendt sich an den Inhalten der Vergangenheit orientiert und die klassischen Texte auslegt, so wollte sie eher neue Perspektiven eines Geschehens beleuchten. „Wenn aber die Vergangenheit nicht als Tradition überliefert wird, dann kann frei über sie verfügt werden; und wenn eine solche freie Verfügung sich selber historisch präsentiert, dann wird sie Anlaß zum Dialog.“57 Für die Geschichtenerzählung als politischen Vorgang geht es nicht um den Anspruch einer Gesamtlösung, sondern um die Erhellung der Gegenwartsproblematik. Im Vergleich mit der kritischen Geschichtsschreibung, deren Aufgabe darin besteht, die geschichtliche Wirklichkeit durch materielle Beweise zu erklären, bezeichnet Judith N. Shklar diese Arendtsche Art des Geschichtenerzählens als „die monumentale Geschichts51 52 53 54 55 56 57 „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben.“ (Benjamin, 1991, S. 440). MfZ, S. 119; vgl. ZVZ, S. 110; „Wer es unternimmt zu sagen, was ist (…), kann nicht umhin, eine Geschichte zu erzählen, und in dieser Geschichte verlieren die Fakten bereits ihre ursprüngliche Beliebigkeit und erlangen eine Bedeutung, die menschlich sinnvoll ist (…). Insofern Berichterstattung zum Geschichtenerzählen wird, leistet sie jene Versöhnung mit der Wirklichkeit.“ (ZVZ, S. 367). MfZ, S. 97. Das Buch Rahel Varnhagen, das mit dem Untertitel Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik erstmals 1958 in englischer Sprache veröffentlicht wurde, war schon fertig, als Arendt 1933 Deutschland verließ. Dazu siehe IWV, 212ff.; vgl. Young-Bruehl, 1986, S. 101ff. RV, S. 10. MfZ, S. 17. Young-Bruehl, 1979, S. 319. 74 schreibung“, die von Nietzsche geprägt ist.58 Die Eigenschaft dieser Geschichtsschreibung besteht darin, sich auf die Höhepunkte der Geschichte zu konzentrieren. Wenn Arendt in den vergangenen Erfahrungen den authentischen Politikbegriff wiedergewinnen wollte, scheint sie von der Vorstellung von Nietzsche auszugehen, „dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird.“ 59 Monumentalische Geschichtsschreibung, die offenbar „Nietzsches Ideal der Geschichtsbetrachtung“60 war, bedeutet für Arendt deshalb, wie Wolfgang Heuer sagt, „sich des Werts erinnerbarer Begebenheiten neu zu vergewissern und die Erinnerung nicht bloß hinsichtlich ihres Nutzens für das Urteilen, sondern auch als Grundlage des Denkens und der Menschlichkeit überhaupt zu verstehen.“61 Wegen dieser monumentalen Geschichtsschreibung wird häufig kritisiert, dass Arendt die Dinge der Vergangenheit überbewertet oder vereinseitigt. Viele Kritiker werfen ihr vor, einen Hang zu Übertreibungen, Verallgemeinerungen und Einseitigkeiten besessen zu haben.62 In der Tat vertritt Arendt die Ansicht, dass Sinnzusammenhänge der Geschichte nur durch Übertreibung darzustellen sei.63 Die übertreibende Geschichtenerzählung zielt darauf ab, wie Arendt mit Benjamin meint, „Fragmente aus ihrem Zusammenhang zu reißen und sie neu anzuordnen, und zwar so, daß sie sich gegenseitig illuminieren und gleichsam freischwebend ihre Existenzberechtigung bewahren konnten.“ 64 Nur die Erzählung der Geschichte kann das Getane und Gesagte aus der ihnen inhärenten Vergänglichkeit retten. Dafür taucht Arendt ein „in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen.“ 65 In diesem Sinne wird die Metapher der Perlenfischerei zur Kennzeichnung von Arendts Methode der Geschichtserzählung, deren Hauptaufgabe es ist, „unter dem Schutt der Geschichte zu graben und jene Perlen der vergangenen Erfahrungen mit ihren sedimentierten und verborgenen Bedeutungsgeschichten zu bergen, um aus ihnen eine Geschichte herauszulesen, die dem zukünf- 58 59 60 61 62 63 64 65 Shklar, 1979, S. 175; vgl. Vollrath, 1979b, S.70; Heuer, 1992, S. 184; Nietzsche unterscheidet drei Weisen der Geschichtsschreibung, nämlich eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art. Die monumentalische Geschichtsschreibung fördert das Streben nach Ruhm und Größe, die antiquarische gibt den Menschen durch die Verehrung des Überlieferten „Wurzeln“ und „Heimat“, und die kritische befreit die an der Tradition Leidenden von der Last der Vergangenheit (Nietzsche, 1967, S. 258; vgl. Ottmann, 1987, S. 35ff.). Nietzsche, 1967, S. 258; vgl. Sontheimer, Vorwort zu WP, S. III. Ottmann, 1987, S. 36. Heuer, 1992, S. 184. Vgl. Laqueur, 1998, S. 122; Shklar, 1979, S. 178; Hobsbawm, 1979, S. 263-271; Kallscheuer, 1993, 142ff. BAJ, S. 212. MfZ, S. 233. MfZ, S. 236. 75 tigen Denken Orientierung geben kann.“66 Das auf diesem Vorgang gegründete politische Denken der Hannah Arendt ist, wie Kurt Sontheimer betont, „eine Herausforderung der etablierten historischen und sozialen Wissenschaften“.67 3.4 Archäologie der politischen Begriffe Wo verstecken sich die Schätze der Vergangenheit und wie können wir uns an die Schätze der Vergangenheit erinnern? Ungeachtet des Traditionsbruchs ist für Arendt die Sprache Augenzeugin, die die Spur des vergangenen Erkennens des Politischen enthält. „Orientierungsmarke für das Verstehen“68 der vergangenen Wirklichkeit ist die Sprache, weil sich in unserer Sprache des Politischen „die ältesten historischen Erinnerungen“ 69 niedergeschlagen haben. Die Erfahrungsbezogenheit des politischen Denkens von Arendt erweist sich deutlich, wenn sie versucht, unseren ererbten Wortschatz des Politischen zu überprüfen. Dabei geht es darum, welches die politischen Erfahrungen sind, denen die politischen Begriffe entsprachen und aus denen sie entsprangen. In dem Moment, in dem „die in der Überlieferung so lange gesicherte Kontinuität abendländischer Geschichte wirklich durchgebrochen“70 wurde und daher die uns vertrauten Begriffe jede Selbstverständlichkeit verloren haben, ist die „Archäologie der Begriffe“71 für Arendt die einzig angemessene Art und Weise, mit der Vergangenheit ohne die Hilfe der Tradition umzugehen und „die wirklichen Ursprünge der traditionellen Begriffe zu entdecken, um aus ihnen ihren ursprünglichen Geist neu herauszudestillieren“.72 In Anlehnung an Walter Benjamin erörtert Arendt: „Jede Epoche, der ihre eigene Vergangenheit in einem solchen Maße fragwürdig geworden ist wie der unseren, muß schließlich auf das Phänomen der Sprache stoßen; denn in der Sprache sitzt das Vergangene unausrottbar, an ihr scheitern alle Versuche, es endgültig loszuwerden. Die griechische Polis wird so lange am Grunde unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein, als wir das Wort Politik im Munde führen. Dies ist es, was sie Semantiker, die mit gutem Grunde die Sprache als das einzige Bollwerk attackieren, hinter dem sich die Vergangenheit verbirgt – ihre 66 67 68 69 70 71 72 Benhabib, 1988, S. 156; vgl. MfZ, S. 236. Sontheimer, 2005, S. 124. Ludz, 1997, S. 19. ZVZ, S. 205. ZVZ, S. 35. DTB, S. 848. ZVZ, S. 18. 76 Konfusion, wie sie meinen -, nicht verstehen. Sie haben vollkommen recht: Alle Problem sind letztlich sprachliche Probleme; sie wissen nur nicht, was sie damit sagen.“73 Eine der Tatsachen, die in der politischen Diskussion in besonderem Maß zutage treten, ist die Verwirrung unseres politischen Wortschatzes. Arendt ist davon überzeugt, dass die begrifflichen Probleme zur Verwirrung politischer Praxis führen. Sachprobleme sind nicht von Wortproblemen zu unterscheiden.74 Daher erkennt Arendt, wie wichtig das Wiederentdecken der Erfahrung und des Geistes, die in allen politischen Begriffen geprägt wurden, für politische Praxis und Theorie ist. Arendts politische Theorie ist eine Art von beständigem Gespräch zur Wiedergewinnung der politischen Sprache, „die dem weiteren Denken und Andenken als Wegweiser dienen können.“75 Begriffe zu klären heißt unsere Sprachgewohnheiten und Handlungsphänomene zu untersuchen und gegebenenfalls zu korrigieren oder zu präzisieren. Den fruchtbarsten Zugang zu den politischen Begriffen bietet ein etymologischer und begriffsgeschichtlicher Rückblick. Im Zug der historischen Rekonstruktion des Begriffs werden die konstanten und die variablen Elemente des Begriffs herausgefiltert. Arendt verfolgt daher die hinter den Begriffen stehenden Erfahrungen, die zur Bildung, Verwendung oder Umdeutung geführt haben. Die Kategorien und Erfahrungen des Politischen leitet Arendt aus der sprachphänomenologischen Analyse jener Worte ab, weil sie die Sprachgeschichte als den Spiegel der menschlichen Handlung betrachtet: „Daher werde ich die konkreten historischen und allgemein politischen Erfahrungen befragen, aus denen die politischen Begriffe ursprünglich hervorgingen. Denn die Erfahrungen, die selbst hinter den abgedroschensten Begriffen stehen, bleiben gültig und müssen wiederentdeckt und neu aktualisiert werden, wenn man gewissen Verallgemeinerungen entgehen will, die sich als schädlich erwiesen haben.“76 Arendt geht es nicht um das absolute Verhältnis zwischen den Worten und ihren Bedeutungen. Jenseits einer dogmatischen Feststellung der Begriffe macht Arendt aufmerksam auf die Entsprechung von Wort und Phänomen. Die Existenz des Phänomens geht der Verwendung des Begriffes voraus. Arendt schreibt: „Wir alle wachsen mit einem gewissen ererbten Wortschatz auf. Wir müssen dann diesen Wortschatz überprüfen. Und dies nicht nur, indem wir herausfinden, wie dieses oder jenes Wort gewöhnlich gebraucht wird, woraus sich eine 73 74 75 76 MfZ, S. 235. „Veränderungen solcher Begriffe entsprechen“ wie Horst Günther feststellt, „nicht dem Bedeutungswandel von Wörtern, sondern der Veränderung einer ganzen Vorstellungs- und Anschauungsweise, wodurch sich nicht nur einzelne Bezeichnungen, sondern die Zuordnung der Begriffe untereinander im System des Diskurses selbst verändert“ (Günther, 1979, S. 7). ÜR, S. 283. WP, S. 200f. 77 gewisse Anzahl von Verwendungsweisen ergibt. Diese Verwendungsweisen sind dann legitim. Meiner Meinung nach hat ein Wort vielmehr eine viel engere Beziehung zu dem, was es ausdrückt oder was es ist, als nur die Art und Weise, in der es zwischen Ihnen und mir gebraucht wird. Das heißt, Sie schauen nur auf den kommunikativen Wert des Wortes. Ich schaue auf die aufschließende Qualität. Und diese aufschließende Qualität hat natürlich immer einen geschichtlichen Hintergrund.“77 Weil „Begriffsanalyse“, wie Arendt ihr eigenes Vorgehen nennt 78 , in der Analyse der sprachlichen Ursprünge begründet werde, gibt es den Vorwurf, Arendt unternehme die sprachliche Analyse ohne Ergänzung durch die empirische Analyse. 79 Und Arendts „Archäologie der Begriffe“ wurzele in dem „phänomenologischen Essentialismus“80. Aber es ist sicher, dass Arendts Begriffsanalyse darauf abzielt, die umstrittenen Punkte in unserer politischen Realität zu klären. Dabei handelt es sich nicht um eine „Wesensdefinition“ der Begriffe, sondern um ihre „Problemdefinition“ 81 . Darauf weist Elisabeth Young-Bruehl zutreffend hin: Das Ziel der Begriffsanalyse „war herauszufinden, woher Begriffe kommen. Mit Hilfe der Sprachanalyse verfolgte sie politische Begriffe zurück zu den konkreten historischen und allgemein politischen Erfahrungen, aus denen diese Begriffe hervorgingen. Auf dieser Grundlage konnte sie dann abschätzen, wie weit sich ein Begriff von seinen Ursprüngen entfernt hatte, und die Vermischung der Begriffe im Lauf der Zeit darstellen, indem sie Punkte der sprachlichen und begrifflichen Verwirrung markierte.“82 3.5 Die Unterscheidung Zu Aufgabe der politischen Theorie gehört die Klärung politischer Begriffe, um mehr Klarheit und folglich mehr Ehrlichkeit in die politische Diskussion zu bringen. Wenn die Klärung der politischen Begriffe die fundamentale Aufgabe der politischen Theorie ist, wie Benhabib sagt, habe die Kunst der Unterscheidung „einen zentralen Stellenwert für den Beruf des politischen Theoretikers in diesem Jahrhundert.“83 Mary McCarthy, die Freundin von Arendt, weist zutreffend darauf hin, sehr nahe an den Wurzeln von Hannah Arendts Denken befinde sich das Unterscheiden.84 Gäbe es die sprachliche Unterscheidung nicht, 77 78 79 80 81 82 83 84 IWV, S. 95. Young-Bruehl, 1986, S. 439. Parekh, 1981, S. 183. Benhabib, 1995, S. 103. Narr, 1971, S. 87. Young-Bruehl, 1986, S. 439. Benhabib, 1998, S. 199. McCarthy, in: IWV, S. 111f. 78 würden wir ihren Ursprung in der Welt wohl kaum in den Blick bekommen. Ein Begriff wird gegenstandslos, wenn er von anderen nicht abgegrenzt wird. Jeder Begriff hat zu ihm gehörenden Gegenstände, Erfahrungen und Phänomene. Die Differenzierung der Begriffe ist daher identisch mit der der Erfahrungen, Erscheinungen und Gegenstände. Durch die begriffliche Differenzierung ist die Pluralität der wirklichen Erscheinungen wieder zu entdecken. Arendt hält fest: „Der Unfähigkeit, Unterschiede zu hören, entspricht die Unfähigkeit, die Wirklichkeiten zu sehen und zu erfassen, auf die die Worte ursprünglich hinweisen. In solchen scheinbar nur semantischen Schwierigkeiten fühlt man sich immer versucht, neue Definitionen einzuführen.“85 So gesehen ist die phänomenologische Denkungsart von Arendt durch die begriffliche Unterscheidung gekennzeichnet.86 Eine der Schwierigkeiten bei der Lektüre von Arendts Werken ist die Tatsache, dass ihre begrifflichen Unterscheidungen mit unserer alltäglichen Verwendungsweise unvereinbar zu sein scheinen. Aber bei solch einer Unterscheidung der Begriffe zeigt sich die besondere Arendtsche Fähigkeit, „unsere Worte zu öffnen und darin die noch vorhandenen Fäden unserer Tradition zu finden“87. Durch die Unterscheidung der Begriffe versucht Arendt, den abstrakten Verallgemeinerungen der Begriffe zu entgehen, weil die verallgemeinerten Begriffe keine ursprünglichen und konkreten Erfahrungsgehalte erhellen können. Insbesondere kritisches Denken, um das es Arendt geht, bedarf der Differenzierung der Begriffe. Zu dieser Bedeutung der begrifflichen Unterscheidung meint Reinhart Koselleck in der folgenden Erläuterung: Kritik heiße Unterscheidung und Kritiker sei der, wer zu unterscheiden weiß, denn „(Alle) Begriffe umgehen in ihrer dualen Setzung die politische Problematik, die ihnen enthalten ist.“88 In diesem Zusammenhang bezeichnet sich Arendt als „eine Kritikerin“, „die Unterscheidung treffen, Dinge klarstellen, Bedeutungen geben“ kann.89 Arendts Begriffsunterscheidung stößt jedoch häufig auf die Frage, inwieweit ihre scharfe Unterscheidung nicht nur analytisch sinnvoll, sondern auch anwendbar ist. In einer Diskussion mit Freunden und Kollegen der Politikwissenschaft in Toronto widmet sich ein großer Teil der Debatte diesem Problem der Arendtschen strengen Unterscheidung der Begriffe. Was die Arendtsche Begriffsbildung betrifft, sind zwei Hauptfragen zu stellen. Erstens geht es um die Eigenwilligkeit und zweitens um Unzeitmäßigkeit. Macpherson greift die Frage einer eigenwilligen Unterscheidung der Begriffe auf: Arendt definiere viele Schlüsselbe85 86 87 88 89 MG, S. 174. „Sie (Arendt: H. P.) meinte, wenn unterschiedliche Wörter für unterschiedliche Phänomene existieren, dann unterscheiden sich auch die Phänomene“ (Young-Bruehl, 1986, S. 552). Young-Bruehl, 1979, S. 324f. Koselleck, 1969, S. 98f. Young-Bruehl, 1986, S. 642. 79 griffe „auf eine Weise, die nur für sie selbst gilt“.90 In ähnlichem Sinne hält Parekh Arendts Unterscheidung der Begriffe für zu „exzentrisch“.91 Und damit führt diese Unterscheidung vielmehr zur begrifflichen Verwirrung, weil die ursprüngliche Unterscheidung der Begriffe eher die alltäglichen Phänomene trüben und gegen unsere Alltagsgewissheiten verstoßen mag. Arendts rigorose Unterscheidung der Begriffe bewertet man angesichts unseres alltäglichen Gebrauchs der Worte als unplausibel. In der Arendtschen Methode harter Unterscheidung der Begriffe findet Parekh den absoluten „Determinismus“, weil Arendt in ihrer Unterscheidung nur die qualitative und reine Differenziertheit der Phänomene akzentuiert, während sie den Zusammenhang der Phänomene einfach außer Acht lässt.92 Mit der scharfen begrifflichen Unterscheidung gebe es vielmehr „eine Menge an begrifflichen Unschärfen in ihrem Werk“.93 Die Schwierigkeit für das Verständnis der Unterscheidung Arendts ist teilweise ihrem methodologischen Blickwinkel selbst geschuldet. Arendt übernimmt die Unterscheidung immer in der aristotelischen Art, „A und B sind nicht dasselbe.“94 Diese Unterscheidungsart legt den Akzent weniger auf den Zusammenhang der Begriffe und Phänomene als auf den Unterschied. Das bezieht sich gewissermaßen auf ihre Absicht, die verwischten Verhältnisse von Phänomenen und Begriffen zu verdeutlichen. Trotzdem ist es sicher, dass Arendt die Zusammenhänge der Phänomene erkennt. Ungeachtet der strikten Differenzierung der Tätigkeitsweisen betont Arendt z. B. ihre unberührten Zusammenhänge: „Im Sinne von Initiative – ein initium setzen - steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten“.95 Arendt unternimmt den Versuch, herauszufinden, woher unsere politischen Begriffe kamen, „bevor sie abgegriffenen Münzen und abstrakten Verallgemeinerungen zu ähneln begannen.“96 Dieser Versuch ist in der begrifflichen Unterscheidung der Worte, z.B. zwischen Arbeit, Herstellen und Handeln und zwischen Macht, Gewalt und Autorität, deutlich dargestellt. Auch wenn diese Unterscheidung zu exzentrisch zu sein scheinen könnte, erweist sich Arendts Ausführung keineswegs als willkürlich, beliebig, ontologisch und idealistisch. Dazu liefert Arendt eine aufschlussreiche Erläuterung: „Wenn wir uns solcher begrifflichen 90 91 92 93 94 95 96 IWV, S. 94; in ganz ähnlicher Weise kritisiert Wellmer (vgl. IWV, S. 98). Parekh, 1981, S. 183; vgl. auch McCarthy, in der Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto, in: IWV, S. 112. Parekh, 1981, S. 184. Bluhm, 1996, S. 39. IWV, S. 112; „Wenn wir angeben, was etwas ist, müssen wir angeben, was es nicht ist.“ (DD, S. 182). VA, S. 18; vgl. ZVZ, S. 222f. und WP, S. 51; das übersieht Martin W. Schnell, wenn er davon spricht, dass Arendt jede interne Verbindung von Handeln, Herstellen und Arbeiten ablehne (Schnell, 1995, S. 224). WP, S. 200. 80 Unterscheidungen bedienen, dürfen wir nicht vergessen, daß sie zwar keineswegs willkürlich sind und den Phänomenen in der Wirklichkeit durchaus entsprechen, daß sie aber andererseits aus dieser Wirklichkeit gleichsam herauspräpariert sind und in begrifflicher Reinheit nur selten in ihr anzutreffen sind.“97 Durch die Unterscheidung der Begriffe kann man Perspektiven gewinnen, die die zeitgenössische Wirklichkeit der Begriffe verständlicher machen. Also Unterscheiden heißt Verstehen. Mit d'Entrèves sagt Hannah Arendt: „Der korrekte Gebrauch dieser Worte ist nicht nur eine Frage der Grammatik, sondern der geschichtlichen Perspektive“. 98 Durch solche methodologische Vorgehensweise der Unterscheidung hofft Arendt, wie Cooper meint, „eine Perspektive zu gewinnen, welche die Bedeutung von Erfahrungen zu erhellen vermag, die wir aus den Augen verloren haben.“99 97 98 99 MG, S. 176. MG, S. 174. Cooper, 1979, S. 164. 81 II. Gesellschaft und Pluralität 1. Die moderne Gesellschaft und die Krise der Pluralität Mit dem 1958 erschienen Buch VA entwirft Arendt ihre politische Theorie aus einer Analyse „des neuzeitlichen Gesellschaftsphänomens“. 1 Ihr kritischer Blick auf die Gefahr der Moderne, die Gefahr für die plurale gemeinsame Welt ist der Hintergrund, vor dem sie die Krise des Politischen betrachtet. Es wäre jedoch unzutreffend, ihre Kritik an der modernen Gesellschaft mit der Idealisierung der guten Gesellschaft der Vergangenheit gleichzusetzen. In der Kritik der modernen Gesellschaft hat Arendt nicht die Absicht, eine „Rückkehr zum guten Alten“ 2 zu unternehmen oder „eine Art von utopischer Zukunft zu entwerfen“ 3 . Arendt geht es also nicht um das gute Alte, sondern um das schlechte Neue.4 Dementsprechend lassen sich ihre Kritik der modernen Gesellschaft und Fortschrittsskepsis nicht als eine Art antipolitischer Kulturkritik5 ansehen, deren spezifische Kennzeichen Verachtung und Ressentiment gegenüber der Politik sind.6 In der Tat ist die konservative Kulturkritik durch die Politikkritik gekennzeichnet, „für die Politik in allen ihren Gestalten als eine Form der Entfremdung vom wahren menschlichen Wesen verstanden wird.“7 Dieser Unterschied lässt sich an der Arendtschen Diagnose der Neuzeit festmachen: „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung (…) ist das Kennzeichen der Neuzeit“.8 Durch die Analyse des Gesellschaftsphänomens verfolgt Arendt die Genealogie der Krisen der Moderne, deren Hauptmerkmal durch die Zerstörung der politischen Pluralität und durch Weltentfremdung gekennzeichnet ist. Diese modernen Phänomene stehen für Arendt in engem Zusammenhang mit der Entstehung des Gesellschaftlichen. Bezüglich ihres 1 2 3 4 5 6 7 8 VA, S. 15. WP, S. 22. ZVZ, S. 18. Vgl. MfZ, S. 230; vgl. Gutschker, 2000, S. 498-510. Mandt bezeichnet die Kulturkritik als eine gemeineuropäische Wurzel der Antipolitik (Mandt, 1987, S. 390). Zur totalitären Gefährdung der konservativen Kulturkritik siehe EU, S. 705ff. Thaa argumentiert zu Recht über den Unterschied zwischen der konservativen Kulturkritik und der Arendtschen Kritik der Moderne: „Während die konservative Kulturkritik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit ihrer Gegenüberstellung von wahrer, an höheren Werten orientierter (…) Kultur auf der einen und verflachter, utilitaristischer und amoralischer westlicher Zivilisation auf der anderen Seite antipolitisch orientiert war und in der Demokratie ein Symptom der Dekadenz und der naturwidrigen Nivellierung sah, entfaltet Arendt ihren enthusiastischen Politikbegriff als Gegenkraft zu den freiheitsbedrohenden Tendenzen der Moderne.“ (Thaa, 2005, S. 26). Vollrath, 1989b, S. 8. VA, S. 325; man könnte auch sagen, dass Arendt den kritischen Blick auf die Moderne mit Heidegger teilt und dass ihre Kritik der Gesellschaft nichts anderes als „eine Variante von Heideggers Kritik des Man“ darstellt (Brumlik, 2006, S. 1484). Während Heidegger aber die Tragödie der Moderne in der Seinsvergessenheit erblickt, so entdeckt sie Arendt in dem modernen Weltverlust, also in einem Verschwinden des weltlichen Zwischen. Dazu siehe Abschnitt, IV. 82 „enthusiastischen Begriffs des Politischen“9 konturiert sie die kritische Einsicht in die moderne Gesellschaft. Ihre strikte Differenzierung zwischen Gesellschaftlichem und Politischem ist keine Verkürzung des Politikbegriffs, sondern ist vielmehr „gegen die Verkürzung gerichtet, derzufolge Politik in modernen Massendemokratien kaum mehr sein könne als die Gesamtheit der (…) rechtlichen und sozialstaatlichen Vorleistung für eine als Endzweck verstandene private Lebensführung der vereinzelten Menschen.“10 Für die gegenwärtige Debatte um die politische Frage unserer Zeit ist der kritische Blick Arendts auf die gesellschaftlich-politische Realität kein Anachronismus, weil die totalitären Phänomene wie die Negation der Pluralität für unsere Gesellschaft gegenwärtig sind. Es ist Arendts Absicht, die Möglichkeit politischer Pluralität in der Bedingung der Moderne wiederherzustellen. 1.1 Ökonomische Gesellschaft 1.1.1 Kolonisierung des Politischen durch das Gesellschaftliche In der Entstehung und der Durchsetzung der modernen Gesellschaft werden die ökonomischen Probleme, die Arendt „soziale Frage“11 nennt, zu öffentlichen politischen Angelegenheiten erhoben. Das bedeutet, wie Helmut Dubiel sagt, „Kolonisierung der Politik durch die Gesellschaft“12. Im Lauf dieser Kolonisierung sind zugleich das Politische und das Private im Gesellschaftlichen verschmolzen. Der Aufstieg der Gesellschaft vollzieht sich daher in einer Doppeldimension: in der Privatisierung der Öffentlichkeit einerseits und zugleich in der Politisierung des Privaten andererseits. Das Wesen der Gesellschaft bestehe darin, so Arendt, „das Öffentliche zu privatisieren und das Private zum Gegenstand der öffentlichen Sorge zu machen.“13 Nach dem grundlegenden Konzept des gesamten politischen Denkens der Antike hatte Gesellschaft keinen eigenen Bereich wie Staat und Haushalt. Der Begriff „Gesellschaft“ selbst war der Antike im heutigen Sinn unbekannt, weil neben der Polis nur das Haus existierte.14 Im Rückgriff auf die Antike vertritt Arendt die These, dass die Gesellschaft nur da entstand, 9 10 11 12 13 14 Vollrath, 1993, S. 45. Meyer, 1994, S. 213. ÜR, S. 73. Dubiel, 1994, S. 62. ZVZ, S. 209. Meier, 1983, S. 269; vgl. Kamp, 1985, S. 131f.; vgl. VA, S. 34f. und 38. 83 wo der Abstand zwischen Privatem und Öffentlichem verschwand.15 Es ist die Gesellschaft, „in welcher der Lebensprozess selbst sich öffentlich etabliert und organisiert hat“.16 Anders gesprochen erscheint das Gesellschaftliche, „als das Innere des Haushalts mit den ihm zugehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlich politischen Bereichs trat.“17 Aus diesem Grund sieht Arendt die Gesellschaft als Gegenüberstellung nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch des Privaten. Historisch betrachtet hängt das Aufkommen des Gesellschaftlichen untrennbar mit dem Wachstum einer kapitalistischen Wirtschaft zusammen. Die Ökonomie, die für die Antike eine Sache des Haushalts war, wird in der Moderne Kern der öffentlichen Angelegenheiten. Dabei bezeichnet sich die Politik mehr oder weniger als das Mittel zum ökonomischen Wachstum. Das läuft folglich auf eine „Funktionalisierung des Politischen“18 hinaus. Das Neue in der modernen Gesellschaft besteht also nicht in dem Wunsch der Menschen nach ökonomischem Reichtum, sondern in der Tatsache, dass die Politik zur Erfüllung dieses Wunsches dient. Ein Staat ist daher keine originär politische Konstruktion, sondern er ist bloß auf eine Funktion der Ökonomie reduziert. Arendt fasst den Entstehungsprozess der Gesellschaft folgendermaßen zusammen: „Wollte man das Entstehen der Gesellschaft historisch datieren, so müsste man sich auf den Augenblick einigen, in dem Privatbesitz aufhört, ein privates Anliegen zu sein, und anfängt, eine öffentliche Angelegenheit zu werden. Die Gesellschaft erschien in der Sphäre des Öffentlichen erst einmal in Gestalt von Besitzern, die aber nun nicht auf Grund ihres Reichtums die ihnen zukommende Stimme in öffentlichen Angelegenheiten verlangten, sondern im Gegenteil sich zusammengefunden hatten, um zum Zwecke der Erwerbung von mehr Reichtum den Anspruch zu erheben, aller Verantwortlichkeiten öffentlich – politischer Natur enthoben zu werden.“19 Das Aufkommen der Gesellschaft und ihre Trennung vom Politischen waren stets das Hauptthema der neuzeitlichen Philosophie des Politischen seit dem 17. und 18. Jahrhundert.20 Beim Aufstieg des Gesellschaftlichen wurde die theoretische Grundlage der Liberalismus, demzufolge der Begriff der Gesellschaft als des Gegensatzes zur Zentralisierung der 15 16 17 18 19 20 Arendt findet aber die erste theoretische Grundlage für diese Vermischung von privatem und öffentlichem bereits bei Plato vor. Plato schlägt in der Politeia vor, das private Eigentum zugunsten einer Ausdehnung des politischen Bereiches aufzuheben, dadurch die private Familie und den privaten Haushalt innerhalb der politischen Gemeinschaft abzuschaffen. Das läuft auf das hinaus, was Bien „Politisierung des Hauses“ oder „Oikonomisierung der Polis“ nennt (Bien, 1985, S. 309). Trotzdem blieb in Antike und auch im platonischen Denken nach Arendts Auffassung die uralte Heiligkeit des Hauses erhalten (vgl. VA, S. 39f und 47; Wicki-Vogt, 1992, S. 141). VA, S. 58. VA, S. 47f. VA, S. 43. VA, S. 81f. Vgl. Kaupp, 1974, S. 461f.; Beyme, 2007, S. 74ff. 84 absoluten Staatsgewalt verstanden ist. Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft; der Staat sei nur ein administratives Organ, um die Werte der vom Staat unabhängig organisierten Gesellschaft zu gewährleisten. Der klassische Liberalismus fand seine theoretische Aufgabe darin, staatlichen Übergriff in die produktiven Kräfte der Gesellschaft zu verhindern. Vor allem für die Frage der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft war er davon überzeugt, die Gesellschaft sei eine Organisation, die zur optimalen Entwicklung des individuellen Menschen bestimmt ist. Daher war das Ziel des Liberalismus die Schaffung einer großen privaten Lebenssphäre, die vom Staat getrennt wird. „Das liberale Ideal des privaten Lebens war nicht der Schutz des einzelnen vor der Gesellschaft, sondern die Befreiung der Gesellschaft von politischen Eingriffen.“21 Nach der liberalen Sichtweise ist die Gesellschaft „die Summe aller einzelnen, gesellschaftliche Interessen sind deshalb auch prinzipiell in Übereinstimmung mit dem Individualinteresse.“22 Die „Befriedigung egoistischer Begierden“ erweist sich „als die wirksamsten Motive des Handelns“.23 In der Gesellschaft tritt der „homo oeconomicus“, dem es um ökonomische Interessendurchsetzung geht, an die Stelle des „homo politicus“.24 In der vom homo oeconomicus beherrschten Gesellschaft identifizieren sich Politik und Wirtschaft miteinander. Die Gesellschaft „als System des marktwirtschaftlich strukturierten Verkehrs der Privatleute und ihrer gesellschaftlichen Arbeit“25 erobert nun den öffentlichen Raum. Das Verhältnis zwischen moderner Gesellschaft und dem Liberalismus erörtert Arendt so: „Worum es in Wahrheit ging, war die Existenzbedrohung und ständige Einengung der öffentlich – politischen Sphäre überhaupt durch die gesellschaftlich-ökonomischen Konkurrenzkämpfe einerseits und die Klasseninteressen der herrschenden Klassen andererseits. In diesem Zusammenhang erschien die politische Theorie des Liberalismus, der zufolge die Summe der Einzelinteressen sich zu dem Wunder eines Gemeinwohls addiert.“26 Im Hinblick auf die Kritik der modernen Gesellschaft sieht man bei Hannah Arendt eine Kritikerin des Liberalismus. Arendts Kritik am Liberalismus, obwohl sie in ihren Werken nicht systematisch erscheint, ist für ihr Grundverständnis des Politischen nicht unwichtig. Arendt denkt, dass der liberalen Konzeption, das öffentliche Wohl aus privaten Interessen abzuleiten, „die ursprüngliche Abneigung der Bourgeoisie für öffentliche Angelegenheiten 21 22 23 24 25 26 Kymlicka, 1996, S. 214. Bermbach, 1987, S. 327. ZVZ, S. 105. Ruggiero, 1930, S. 95; hier zitiert aus Bermbach, 1987, S. 329. Habermas, 1998c, S. 326. EU, S. 718; vgl. EU, S. 329. 85 und die angeborene Feindschaft gegen politisches Handeln überhaupt noch innewohnt“.27 Aus diesem Grund sieht Arendt im neuzeitlichen Liberalismus das Syndrom des Totalitarismus. Günter Figal weist zutreffend darauf hin: „Nach der Diagnose von Hannah Arendt ist der neuzeitliche Liberalismus, wo er den Menschen vom homo politicus zum animal laborans et consumens degradiert, eine notwendige Bedingung des Totalitarismus.“28 1.1.2 Identifizierung von Politischem und Ökonomie In der Ökonomisierungsthese ist der zeitdiagnostische Kernsatz Arendts enthalten. Das Gesellschaftliche hat seinen historischen und funktionalen Ursprung im privaten Haushalt. Die Gesellschaft wird als Inbegriff der ökonomischen Beziehungen zwischen Individuen verstanden.29 Aus diesem Grund wäre die Gesellschaft als die natürliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens gedacht. 30 In seinem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit betont Habermas die Herkunft der Gesellschaft aus dem privaten Haushalt: „Die Gesellschaft entsteht, wenn die Tätigkeiten und Abhängigkeiten, die bisher in den Rahmen der Hauswirtschaft gebannt waren, über die Schwelle des Haushalts ins Licht der Öffentlichkeit treten.“31 Dass die Gesellschaft die ursprüngliche und funktionale Herkunft aus dem Haushalt hat, besagt, dass die Gesellschaft die wesentliche Funktion mit dem Haushalt teilt. Arendt meint: „Was wir heute Gesellschaft nennen, ist ein Familien-Kollektiv, das sich ökonomisch als eine gigantische Über-Familie versteht“. 32 Daher ist die Gesellschaft für Arendt diejenige „Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raums bestimmen dürfen.“33 27 28 29 30 31 32 33 EU, S. 330. Figal, 1994, S. 132. Dieser Gedanke zeigt sich vor allem bei Hegel eindeutig. Hinsichtlich ihrer Eigenschaft ist die Gesellschaft für Hegel die Sphäre bürgerlicher Privatleute, denn sie erscheint als „System der Bedürfnisse“ (Hegel, 1995, § 188, S. 169), als Feld des Strebens individueller Bedürfnisse. Die bürgerliche Gesellschaft stellt eine Verbindung der selbständigen Einzelnen zu ihren Bedürfnissen dar. Daher besteht die bürgerliche Gesellschaft aus „Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben.“ (Hegel, 1995, § 187, S. 167). Etymologisch betrachtet, kann man sehr deutlich erkennen, dass die Gesellschaft ihre historische und funktionale Herkunft im privaten Haushalt hat. Das deutsche Wort „Gesellschaft“ stammt aus „sal“ (Raum), „geselle“(Hausgenosse) (Riedel, 1975a, S. 801). Das Wort „Gesellschaft“ bedeutet „die Saalhausgenossenschaft“. (VA, S. 423f., Anm. 20). Habermas, 1969, S. 29. VA, S. 39. VA, S. 59. 86 In der modernen Gesellschaft verpflichten sich Bürger nicht mehr der Gesamtheit der öffentlichen Angelegenheiten, sondern ihnen geht es um die Sorgen des Privatlebens und der eigenen Familie. In diesem Zustand wird die Regelung der politischen Angelegenheiten nur zu einer möglichst reibungslosen Durchführung von Sachproblemen zu ihrem Nutzen. Aus diesem Wandel heraus entsteht eine neue zentrale Wissenschaft der modernen Gesellschaft, also „die politische Ökonomie“. In der Tat steht der Aufstieg des Gesellschaftlichen in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen des Begriffs „Politische Ökonomie“. Die Zusammenfügung der beiden Worte „Politische“ und „Ökonomie“ ist relativ jung; sprachgeschichtlich besteht der Begriff „Politische Ökonomie“ erst seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts.34 Er reflektiert die radikale Transformation der Politik in eine kapitalistisch gewordene Gesellschaft deutlich. Das „Politische“ und das „Ökonomische“ sind Begriffe, die eigentlich aus der griechischen Antike stammen. Sie verkörperten in der Antike zwei strikt zu trennende Sphären und die ihnen entsprechenden Tätigkeiten: das der Privatsphäre zuzurechnende Haus, der oikos, wurde in zweierlei Hinsicht für nicht-politisch gehalten. Es bezieht sich zunächst auf das Besorgen der Notwendigkeiten des täglichen Lebens: „(…) was immer ökonomisch war, nämlich zugehörig zum schieren Leben des Einzelnen und zum Überleben der Gattung, war dadurch bereits als nicht-politisch identifiziert und definiert.“35 Ökonomie oder Hauswirtschaft beschränkte sich auf die wirkungsvolle Bewältigung der alltäglich wiederkehrenden lebensnotwendigen Tätigkeiten, weil Ökonomie oder Ökonomik eine einfache Lehre von der Haushaltung oder Konsumtion war. Ihre Hauptfunktion war die Sicherung der physischen Existenz: „Die Ökonomik als Lehre vom Oikos umfaßt eben die Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten im Hause, das Verhältnis von Mann und Frauen, Eltern und Kindern, Hausherrn und Gesinde“. 36 Die Ökonomie ist aber auch deswegen unpolitisch, weil es in ihrem Bereich um Herrschaft, um Befehl und um Gehorsam geht.37 Die Ökonomie unterwirft die Menschen unter Sachzwänge in Hinsicht auf den Druck der Sorge um das Überleben. Das Problem der Ökonomie hängt daher immer mit dem Problem der Herrschaft zusammen38: „Es handelt sich erstens um die Beherrschung des Notwendi34 35 36 37 38 Vgl. Brunner, 1956. VA, S. 39. Brunner, 1956, S. 35f.; im Ökonomie entsprechenden deutschen Wort „Wirtschaft“ tritt auch die Gesamtheit der Tätigkeit im Hause hervor; das deutsche Wort „Wirtschaft“ gehöre zu Wirt, das ursprünglich nicht nur den planvollen Erzeuger und Verwender der Güter bezeichnet, sondern so viel wie Pfleger, der den Schutz übenden, sorgenden Inhaber des Hauses, den Hausherrn, Hausvater bezeichnet (S. 37). „Die Ökonomik ist deshalb im Gegensatz zur Politik eine Lehre von der apolitischen Herrschaft im Haus in der Dreigliederung von Herrnverhältnis, ehelichem und väterlichem Herrschaftsverhältnis“ (Koslowski, 1979, S. 66). „Die Definition von Herrschaft ohne Ökonomie wird leer“ (Narr/Naschold, 1971, S. 99). 87 gen, dessen, was im Sinne der Lebensnotwendigkeiten den Menschen zwingt und in seiner Gewalt hat. Diese Beherrschung der Notwendigkeit kann aber zweitens nur dadurch erfolgen, dass man durch Zwang andere Menschen beherrscht, die im Sinne der Sklavenwirtschaft den Freien das direkte Gezwungenwerden von den Lebensnotwendigkeiten abnehmen.“39 Ausgehend vom unpolitischen Charakter von Ökonomie behauptet Hannah Arendt, dass die Wortverbindung „politische Ökonomie“ in sich selbst widersprüchlich ist.40 Diese Wortverbindung „politische Ökonomie“ bringt keine inhaltliche Veränderung der Ökonomie zum Ausdruck, sondern dient zur Bezeichnung der vergesellschafteten Ökonomie, im Gegensatz zur privaten Wirtschaft.41 „Wenn der Begriff trotzdem gebraucht wird“, wie Lothar Kramm zu Recht betont, „so bedeutet er auf etwas anders hin: auf die Abdankung der Politik bzw. deren Unterordnung unter die Ökonomie.“42 Dieser Begriff ist also Ausdruck der Ökonomisierung des Politischen. Zum Thema der politischen Ökonomie gehört nicht nur das Verhältnis von Politik und Wirtschaft. Wenn die politische Ökonomie als Disziplin der modernen Politikwissenschaft gilt, dann beschäftigt sie sich mit dem Sich-Verhalten von „homo oeconomicus“. Sie geht von der Vorstellung aus, „daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist.“43 Die Konzeptionen der politischen Ökonomie sind nicht lediglich auf die Frage der Produktion, der Verteilung oder des Wachstums beschränkt, sondern sie sind auf den Bereich des politischen Handelns übertragbar.44 Als Wissenschaft setzt die politische Ökonomie wenigstens voraus, dass die allgemeine Erklärung des menschlichen Verhaltens und der Gesellschaft möglich ist. Dabei wird der Mensch nur als ein sich verhaltendes, nicht als ein handelndes Wesen verstanden.45 Anders gesagt geht die politische Ökonomie von der Annahme aus, dass die Gesellschaft als Ganzes von einem einzigen allgemeinen Interesse beherrscht werde und dass „Ziel und Zweck der Vita activa einzig und allein in wachsendem Reichtum, Überfluß und dem Glück für die größte Anzahl 39 40 41 42 43 44 45 ZVZ, S. 184; dieser Gedanke bleibt immer noch im neuzeitlichen Denken. Wegen dieses Verhältnisses von Herrschaft und Ökonomie hat Kant in seiner Schrift über den Gemeinspruch die als die Unhabhängigkeit der Politik von der Ökonomie verstandene „Selbständigkeit“ als das Prinzip der republikanischen Verfassung neben der „Freiheit“ und „Gleichheit“ aufgestellt (Kant, 1968, S. 46); vgl. Bien, 1972, S. 1ff. Vgl. VA, S. 39. So ist es bemerkenswert, dass die Begriffe politische Ökonomie und Sozialökonomie für gleichwertig gehalten wurden; vgl. Lange, 1963, S. 42; Kramm, 1979, S. 22. Kramm, 1975, S. 18. Becker, 1993, S. 7; zit. nach Breier/Gantschow, 2006, S. 195. „In jedem Fall bestimmen die Kategorien der Wirtschaft die Interpretation der Gesellschaft und der in ihr zu verwirklichenden Ordnung.“ (Kramm, 1979, S. 5). Vgl. VA, S. 426f. 88 bestehe.“ 46 Um dieses einzige Grundinteresse zu erfüllen, beschäftigt sich die politische Ökonomie mit der Frage, wie ein funktionierendes Wirtschaftssystem beschaffen sein und welche Rolle die Politik hierbei spielen sollte.47 So betrachtet ist der vollständige Triumph der Ökonomie über die Politik der neuzeitliche Ausdruck des alten Misstrauens gegenüber der Pluralität des politischen Handelns. Die im ökonomischen Denken verwurzelte Vorstellung, die Pluralität menschlichen Handelns könne durch eine rationale Kalkulation ersetzt werden, läuft schließlich auf die „Durchsetzung der Rationalität der Ökonomie gegenüber einer offenkundig (…) irrational bewerteten Politik“ hinaus.48 Indem sich die Politik schließlich der Ökonomie unterwirft, tritt die Teilnahme am ökonomischen Prozess an die Stelle der Partizipation der Bürger an politischen Angelegenheiten. Öffentliches und politisches Handeln ist auf den ökonomisch motivierten Lebensprozess reduziert und den Imperativen der Lebensnotwendigkeiten unterworfen. 49 Daher ist der Preis, der für diesen Triumph der Ökonomie gezahlt werden muss, der Verzicht auf die öffentliche Freiheit des Handelns mit anderen. Sofern sich die Politik auf die ökonomische Sicherungsfunktion reduziert, könnte sich der Begriff der politischen Rechtfertigung weder aus dem politischen Handeln selbst noch aus dem politischen Vorgang ableiten, sondern immer aus dem gesellschaftlichen und ökonomischen Wachstum.50 Der Grund dafür, warum Arendt in der modernen Gesellschaft die Gefahr der totalitären Herrschaft sieht, besteht darin, dass tyrannische und antidemokratische Regime erfolgreicher sein können als demokratische, wenn es für die Legitimation der Herrschaft nur darum geht, die ökonomische Wohlfahrt und Steigerung der gesellschaftlichen Produktivität zu sichern. Aus diesen pragmatischen und funktionellen Gründen ist es unschwer zu verstehen, warum die Monarchie als Staatsform von Hobbes bevorzugt wird: Wenn es um die Selbsterhaltung und die öko- 46 47 48 49 50 VA, S. 156. Adam Smith, größer Vertreter der Politischen Ökonomie, definiert die Politische Ökonomie im Folgenden: „Die Politische Ökonomie verfolgt als Zweig der Wissenschaft, die eine Lehre für den Staatsmann und Gesetzgeber entwickeln will, zwei unterschiedliche Ziele. Einmal untersucht sie, wie ein reichliches Einkommen zu erzielen oder der Lebensunterhalt für die Bevölkerung versetzt werden kann, beides für sich selbst zu beschaffen, und ferner erklärt sie, wie der Staat oder das Gemeinwesen Einnahmen erhalten können, mit deren Hilfe sie öffentliche Aufgaben durchführen. Die Politische Ökonomie beschäftigt sich also mit der Frage, wie man Wohlstand und Reichtum des Volkes und des Staates erhöhen kann“ (Smith, Wealth of Nations, Buch IV Einleitung; zit. aus Fenke/Mertens/Reinhard/Rosen (Hrsg.), 2003, S. 359). Greven, 1999, S. 95. „Für Adam Smith ist es selbstverständlich, daß öffentliches Ansehen und geldliche Vergütung auf der gleichen Stufe stehen und daher gegeneinander ausgetauscht werden können. Öffentliches Ansehen ist auch etwas, was gebraucht und verbraucht werden kann, und gesellschaftliche Position (…) befriedigt eine Art von Bedürfnis, wie das Essen das Bedürfnis des Hungers befriedigt; die individuelle Eitelkeit verlangt nach öffentlicher Bestätigung wie der individuelle Magen nach Nahrungsmitteln.“ (VA, S. 70). „Die politische Beschränkung auf die Förderung der Bedingungen zu einer möglichst starken Expansion des wirtschaftlichen Sektors hat zwangsläufig zu einem Legitimationsdefizit geführt.“ (Kramm, 1979, S. 14). 89 nomische Sicherheit geht, wie Hobbes der Überzeugung ist, dann könne das geforderte Interesse mit den Mitteln der Monarchie am sichersten erfüllt werden und daher sei die Monarchie die beste Staatsform von allen.51 Dabei ist die Politik mit Herrschaft für Volk identifiziert: „Wären wir wirklich der Meinung, wie die Theorien der Neuzeit uns einreden möchten, daß es in der Politik nur um Sicherheit und Lebensinteressen geht, so hätten wir keinen Grund, Tyrannis prinzipiell abzulehnen; denn Sicherheit gerade kann sie gewährleisten, und für den Schutz des schieren Lebens hat sie sich oft allen anderen Staatsformen als überlegen erwiesen.“52 Das seit Hobbes selbstverständlich gewordene Verständnis, dass die Lebenserhaltung das höchste Gut sei und dass „der Lebensprozeß der Gesellschaft Zweck und Ende aller Politik sei“, gehört für Arendt zu „der politisch jedenfalls verderblichsten Lehre der Moderne.“53 Die Pointe für Arendts Kritik an der ökonomischen Gesellschaft besteht darin, dass die politische Freiheit, wie Michael Hereth feststellt, „nicht in der Ökonomie, sondern jenseits der Ökonomie möglich“ ist.54 Dies bedeutet nicht, dass ökonomische Bedingungen auf den politischen Prozess nicht einwirken. Arendt meint nur, dass Politik und Ökonomie zwei verschiedene Typen des menschlichen Zusammenlebens darstellen und dass das Ökonomische als die Lebensnotwendigkeit noch nicht politisch ist. 1.2 Arbeitsgesellschaft 1.2.1 Die Vergesellschaftung des Arbeitens Arendt bezeichnet die moderne Gesellschaft, in der wir bereits leben, als Arbeitsgesellschaft. Historisch betrachtet beginnt die moderne Arbeitsgesellschaft im siebzehnten Jahrhundert damit, die Arbeit, die früher als die verächtlichste Tätigkeit galt, theoretisch und philosophisch zu verherrlichen.55 Mit dieser theoretischen Verherrlichung der Arbeit verän51 52 53 54 55 Vgl. Hobbes, LV, S. 145ff.; vgl. VA, S. 280. ZVZ, S. 203; in diesem Kontext scheut sich Arendt nicht, Hobbes als den „einzigen politischen Denker, der je für den von ihm entworfenen Staat mit Stolz den Namen Tyrannis in Anspruch genommen hat“, zu bezeichnen (EU, S. 321). ÜR, S. 79. Hereth, 1972, S. 530. So unbestreitbar steht John Locke an diesem Beginn. Locke verherrlicht die Arbeit in der These, jedermann habe Eigentum an der Arbeit. Und mit der These, das Maß der aufgewendeten Arbeit bestimme den Wert des produzierten Gutes, steht er am Beginn der Arbeitswertlehre der klassischen Politischen Ökonomie; „Obwohl die Dinge der Natur allen zur gemeinsamen Nutzung gegeben werden, lag dennoch die große Grundlage des Eigentums tief im Wesen des Menschen“; „Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind (…) im eigentlichen Sinne sein Eigentum (…). Denn da diese Arbeit das unbestreitbare Eigentum des Arbeiters ist, kann niemand außer ihm ein Recht auf etwas haben, was einmal mit seiner 90 derte sich die Hierarchie der menschlichen Tätigkeiten in der Vita Aktiva. Die der Notwendigkeit biologischen Lebens verhaftete Tätigkeit bezeichnet sich nun nicht nur als den Ursprung allen Eigentums, sondern als „Ausdruck der Menschlichkeit des Menschen selbst“56. Damit versteht sich die auf die Lebensnotwendigkeit bezogene ökonomische Tätigkeit als die einzige menschliche Tätigkeit, so dass sich alle nicht-arbeitenden Tätigkeiten nur als Spielen oder als Hobby bezeichnen. Verkürzt ausgedrückt ist die Arbeitsgesellschaft durch die Inthronisierung der Arbeit gekennzeichnet: „die Befreiung der Arbeit hat nicht zur Folge gehabt, daß man die Arbeitstätigkeit als gleichwertig und gleichberechtigt mit allen anderen menschlichen Tätigkeiten der Vita activa ansetzt, sondern hat zu ihrer unbestrittenen Vorherrschaft geführt.“57 Mit der Verherrlichung der Arbeit ist die Arbeit auch vom Dunkel des Privatraums in die Helle eines öffentlichen Marktes befreit. Die Arbeit im Haushalt, die für das angemessene Leben der Hausgemeinschaft stattgefunden hat, wird seit der Neuzeit zur gesellschaftlichen Arbeit um des übermäßigen Reichtums der Gesellschaft willen. Die Befreiung der Arbeiter vom Haushalt und damit die Versammlung der einzelnen Arbeiter bringen räumlich die Trennung von Arbeitsort und Wohnort und damit die Trennung von Arbeitswelt und Privatleben. Die vergesellschaftete Arbeit steht in der Gegenüberstellung von entfremdeter Arbeit und vertrautem Zuhause.58 Die Gesellschaft wird nun zur Sphäre der vom Haushalt befreiten Arbeit. Damit verwandelt sich die moderne Welt im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft. In diesem Sinne ist die Neuzeit wesentlich „eine Arbeitszeit“59, und die moderne Gesellschaft ist „diese einzige auf die Arbeit abgestellte Welt.“60 Aber die Arbeitsgesellschaft bedeutet für Arendt nicht bloß die Gesellschaft von Arbeitern, sondern vielmehr die von der Arbeitsmentalität als dem dominanten Gemütstyp beherrschte Gesellschaft.61 In der Arbeitsgesellschaft ist Arbeitsmentalität nicht auf die Arbeiterklasse 56 57 58 59 60 61 Arbeit verbunden ist.“; „Denn es ist tatsächlich die Arbeit, die jedem Ding einen unterschiedlichen Wert verleiht“ (Locke, 1992, S. 216f. und 225). VA, S. 120. VA, S. 151f. Das Heraustreten dieser Situation stellt Marx in der folgenden kurzen Formulierung dar: „Zu Hause ist er (der Arbeiter: H. P.), wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus.“ (Marx, MEW, Ergänzungsband I, 1974, S. 514). Baruzzi, 1993, S. 130. VA, S. 410. Hier stellt sich die Frage, wer „Animal laborans“ in Arendts Worten ist. Hinsichtlich dieser Frage betont Canovan, dass Arendts animal laborans „Arbeitsklasse“ bedeutet (Canovan, 1978, S. 11). Ähnlich versteht Kateb den Begriff von Arendts animal laborans als „the laboring mass (…) in enormous number“ (Kateb, 1977, S. 144). Im Gegensatz zu beiden weist Martin Levin zutreffend darauf hin, dass Arendt mit dem Begriff Animal laborans keine soziale Klasse oder Arbeitsklasse meint, sondern den Modus des Lebens und die Beziehungsweise des Menschen mit der Welt (Levin, 1979, S. 523). 91 beschränkt.62 In diesem Licht betrachtet wäre es unzutreffend, dass man Arendts Kritik an der Arbeitsgesellschaft als Skepsis gegenüber der Emanzipation der Arbeiter von der Unterdrückung und Ausbeutung in der Neuzeit deutet.63 Arendts kritischer Blick auf die Arbeitsgesellschaft beruht nur darauf, dass man sich in der Arbeitsgesellschaft für nichts anderes interessiert als für die immer bessere Befriedigung der Bedürfnisse oder den möglichen Überfluss dessen, was der Lebensprozess braucht.64 In einer solchen Gesellschaft herrscht der ständige Prozess von Produktion und Konsumtion. Daher setzt Arendt die Arbeitsgesellschaft mit einer Konsumgesellschaft gleich. Sie hält fest: „Wir hören oft, daß die moderne Gesellschaft eine Konsumgesellschaft sei, und da, wie wir sahen, das Arbeiten und das Konsumieren eigentlich nur zwei Stadien des gleichen, dem Menschen von der Lebensnotwendigkeit aufgezwungenen Prozesses sind, sagt dies nur mit anderen Worten, daß die moderne Gesellschaft eine Arbeitsgesellschaft ist.“65 Die Arbeitsgesellschaft spielt eine Rolle als „ein kollektives Subjekt des Lebensprozesses“66. Zum Fundamentalsten dieser Gesellschaft wird der kollektiv betriebene Arbeitsprozess der Lebensfortzeugung. Wenn die Arbeit als der Ursprung allen Eigentums vergesellschaftlicht wird, wird der gesellschaftliche Reichtum für die Arbeitsgesellschaft „zu einem Anliegen der Öffentlichkeit“67. Am Ende der VA gibt Arendt eine Prognose für die Arbeitsgesellschaft ab, die sich entscheidend von der theoretischen Verherrlichung der Arbeit und ihrer Kreativität abhebt: „Es ist durchaus denkbar, daß die Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.“68 In der beständigen Entwicklung der Arbeitsgesellschaft reduzieren sich die Tätigkeiten des Einzelnen nur auf „Funktionen eines durch naturhafte Notwendigkeit determinierten Lebensprozesses“69 der Gesellschaft. Arendt sieht daher die größte Gefährdung der Arbeitsgesellschaft darin, „den handelnden Menschen und seine Freiheit aus dem Gang der Ereignisse auszuschalten“.70 62 63 64 65 66 67 68 69 70 Vgl. VA, S. 150 und S. 59. „Die Emanzipation der Arbeit, da sie von der Emanzipation der Arbeiterklasse, ihrer Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung, gefolgt war, ist zweifellos fortschrittlich, wenn wir den Fortschritt an der Abnahme von Gewalttätigkeit in der Menschengesellschaft messen. Ob sie noch fortschrittlich ist, wenn wir den Fortschritt an der Zunahme von Freiheit messen, ist sehr viel weniger sicher“ (VA, S. 153). Vgl. VA, S. 59. VA, S. 150. VA, S. 327. VA, S. 85. VA, S. 411. Thaa, 1996, S. 85; vgl. VA, S. 136 und 150ff. ZVZ, S. 209. 92 Entscheidend ist, dass die kritische Haltung Arendts gegenüber der Arbeitsgesellschaft darauf beruht, dass man allein den eigenen Lebensprozess selbst als die einzige Realität annimmt. Im Gegensatz zur weltlichen Wirklichkeit, die aus der Anwesenheit anderer in der gemeinsamen Welt entsteht, hängt das Wirklichsein des Lebens selbst lediglich „von der Intensität des subjektiven Bedürfnisses“71 ab und „diese Intensität äußert sich mit einer so elementaren Kraft, daß (…) alles Empfinden für weltliche Realität ausgelöscht wird.“ 72 Diese Wirklichkeit ist kein politisches Phänomen, sondern ein biologisches. Solang unsere Gesellschaft nur im Rahmen der dem Leben selbst bzw. der Notwendigkeit entsprechenden weltlosen Tätigkeit des Arbeitens bleibt, führen, in den Worten Arendts, „weder der Überfluß noch die Verkürzung der Arbeitszeit zu der Errichtung einer gemeinsamen Welt“,73 weil es in dieser Gesellschaft keine Verantwortung für die öffentliche und gemeinsame Welt als Ort des gemeinsamen Handelns und der Solidarität gibt. Arendt bezeichnet den arbeitsgesellschaftlichen Typus von Menschen als „Spießer“ und als „Jobholder“. Der Spießer stellt für Arendt den modernen Massenmenschen in seiner Isolierung dar.74 Für ihn spielt privates Leben eine uneingeschränkte Rolle. „Denn der Spießer unterscheidet sich von dem Bürger durch seine absolute Verantwortungslosigkeit für das Öffentliche und seine rücksichtslose Ergebenheit in sein eigenes Wohl.“75 Als der gute Familienvater ist er bereit, wie Arendt feststellt, „um der Pension, der Lebensversicherung, der gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen Gesinnung, Ehre und menschliche Würde preiszugeben“.76 Der Beruf, der das einzige öffentliche Leben des Spießers in der Arbeitsgesellschaft ist, stellt das Mittel dar, das die Karriere und den ökonomischen Erfolg bringen könnte. Der Erfolglose scheidet aus der gesellschaftlichen Konkurrenz automatisch aus. Der Spießer gehorcht bei jedem Akt in seinem Leben der eindimensionalen Logik der Privatinteressen. Das ist die Spießermoral: „Er hat die Zweiteilung von Privat und Öffentlich, von Beruf und Familie so weit getrieben, daß er noch nicht einmal in seiner eigenen identischen Person eine Verbindung zwischen beiden entdecken kann. Wenn sein Beruf ihn zwingt, Menschen zu morden, so hält er sich nicht für einen Mörder, gerade weil er es nicht aus Neigung, sondern beruflich getan hat.“77 Diese Spießermoral war charakteristisch für die totalitäre Herrschaft, wo es die Leute gab, die „an das absolute Primat der sozialen und ökonomischen Interessen vor den Ansprüchen des öffentlichen und staatlichen Lebens“ 71 72 73 74 75 76 77 VA, S. 71. VA, S. 141f.; vgl. Hereth, 1974, S. 38. VA, S. 138. Vgl. EU, S. 722. KZ, S. 213. DT, S. 41. DT, S. 43. 93 glaubten und „die einzig an die ununterbrochene Normalität ihres privaten Lebens dachten.“78 Wenn das politische Handeln nur auf Karriere und Sicherheit zielt, dann schwindet der Mut zum eigenen politischen Urteil. Clemens Knobloch hält fest: „Die privatistische Spießermoral, die nichts kennt als Sicherheit und Karriere (und dafür gern alle öffentlichen Werte opfert), bildet das Einfallstor für die Gleichschaltung von Gesellschaft und Privatleben im Faschismus.“79 Die Arbeitsgesellschaft nennt Arendt eine Gesellschaft von Jobholders. „Das Entscheidende hier wie überall ist, daß wir in einer Gesellschaft von jobholders leben. Das sieht man alle Tage nur zu deutlich.“80 In der Gesellschaft von Jobholders ist das Individuum auf einen systemfunktionalen Funktionär reduziert, und zugleich wird spontanes Handeln ausgeschaltet. Damit verschwindet die letzte Quelle aller politischen Freiheit, also jede Spontaneität, „die Fähigkeit des Menschen, von sich aus etwas Neues zu beginnen.“81 Das Handeln wird nur durch die Leistung und Funktionalität für die Gesellschaft bewertet und legitimiert. Anders gesagt wird das Handeln zum Funktionellen82: „In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindung zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig beruhigt desto besser und reibungsloser funktionieren zu können“.83 1.2.2 Akkumulationsprozess und Entwurzeltsein Geschichtlich gesehen fällt die Befreiung der Arbeit vom Haushaltsbereich mit dem Akkumulationsprozess zusammen. Der Akkumulationsprozess bildet eigentlich das Herz der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft durch die industrielle Revolution. Der urs- 78 79 80 81 82 83 EU, S. 722 und 723. Knobloch, 1993, S. 732. BAJ, S. 259. EU, S. 935. „Das Funktionelle ist nicht dasjenige, wodurch der Gegenstand erscheint; das ist vielmehr seine Form und Gestalt. Das Funktionelle an ihm ist dagegen dasjenige, wodurch er wieder aus der Erscheinung verschwindet, nämlich gebraucht wird und sich abbraucht.“ (ZVZ, S. 297). VA, S. 410. 94 prüngliche Akkumulationsprozess vollzieht sich in zwei Dimensionen: die Enteignung des Privateigentums und „die ursprüngliche Befreiung der Arbeiter“84 vom privaten Bereich. Der gesellschaftliche Akkumulationsprozess, also das gesellschaftliche Wachstum des Kapitals, geht vom individuellen Enteignungsprozess aus. Nach Arendts Ansicht tritt der grenzenlose „Akkumulationsprozeß des Kapitals“85 gleichzeitig mit der permanenten Zerstörung des räumlich bestimmten Privateigentums auf. Ein Arbeiter verliert mit der Enteignung seines Privateigentums den Ort, „wo es vor der aller gemeinsamen Welt geborgen und verborgen war.“86 Im kapitalistischen Akkumulationsprozess haben die Enteigneten „den uralt – heiligen Schutz des Lebens durch Familie und Eigentum, die Stätte für das Leben selbst und alle mit ihm verbundenen Tätigkeiten, verloren“.87 Hier wird klar, dass die moderne Gesellschaft mit der Zerstörung des Privaten zusammengefallen ist. Die Enteignung des Privateigentums bedeutet aber kaum die Abschaffung des Privatbesitzes. Vielmehr ist das Enteignungsverfahren das Besitzverfahren. „Enteignung bestimmt das Vorgehen der Neuzeit. Sie ist Enteignungszeit. Im gleichen ist sie Besitzzeit.“88 Wie Hannah Arendt darauf hinweist, ist Eigentum ursprünglich und primär nicht mit Besitz oder Reichtum verknüpft worden. Der ursprüngliche Unterschied zwischen Eigentum und Besitz besteht darin, dass Eigentum unbeweglich, Besitz aber beweglich ist. „Eigentum war ursprünglich an einen bestimmten Ort in der Welt gebunden und als solches nicht nur unbeweglich, sondern identisch mit der Familie, die diesen Ort einnahm.“89 Zumindest im antiken Griechenland stand das Eigentum in Bezug zur politischen Partizipation. „Vorhandensein und Schutz von Privateigentum gehören daher zu den elementarsten politischen Bedingungen für die Entfaltung der Weltlichkeit menschlichen Daseins.“90 Aber die Neuzeit versucht die Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz aufzuheben.91 Der modernen Verherrlichung des Privateigentums geht es „um den Schutz eines sich akkumulierenden Kapitals, und nicht um den Schutz des Privateigentums“92. Die Akkumulation des Kapitals, also 84 85 86 87 88 89 90 91 92 VA, S. 194. VA, S. 80. VA, S. 138. VA, S. 327. Baruzzi, 1978, S. 305. VA, S. 76f.; „Wichtig ist, daß dies Eigentum kein Besitz ist, den etwa die Familie oder ihr Oberhaupt mit sich nehmen könnte; das Eigentum ist vielmehr ein räumlicher Bezirk, die Familie ist an den Herd, der Herd ist an den Boden gebunden. Das Eigentum ist unbeweglich wie der Herd und das Grab, zu dem es gehört (…)“ (VA, S. 430). VA, S. 324 und 75f. Zur Verwirrung und Verwechselung von Eigentum und Besitz in der Neuzeit siehe Baruzzi, 1978, S. 301316, bes. S. 312f. VA, S. 80. 95 der Aufstieg des Privatbesitzes, wird nun zur öffentlichen Angelegenheit. In diesem kapitalistischen System werden Menschen „zu Sklaven des Besitzes“.93 Es ist bemerkenswert, dass Arendts Analyse des Akkumulationsprozesses des Kapitals der Marxschen Sicht nicht unähnlich ist, also in dem Punkt, dass die Akkumulation des Kapitals mit der Enteignung des Privateigentums zusammenfällt. Beim Studium der ursprünglichen Akkumulation konstatiert Marx, dass Akkumulation des Kapitals zugleich mit der Zunahme der Enteigneten auftritt, also mit der Verproletarisierung. 94 Der Akkumulationsprozess des Kapitals in der modernen Gesellschaft und damit die Vermehrung des Proletariats sind durch zwei Faktoren in Gang gekommen: Auf der einen Seite wird die Mehrzahl befreiter Arbeiter auf den Arbeitsmarkt geschleudert und auf der anderen Seite wird ein großes Proletariat durch die gewaltsame Verjagung der Bauern von ihrem Grund und Boden geschaffen: „Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulation sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienen; vor allem aber die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert wurden. Die Expropriation des ländischen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses.“95 Wie Marx sieht Arendt den gesellschaftlichen Akkumulationsprozess als „Enteignung, die den Menschen von dem immer begrenzten, dafür aber greifbaren und handhabbaren Stück Welt trennt, das er sein eigen nennt, weil es dem, was ihm eigen ist, allein dient.“96 Wie Marx den ursprünglichen Akkumulationsprozess des Kapitals als die Durchführung „der freien Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“97 ansieht, versteht Arendt auch ihn als „das Resultat einer gewalttätigen Enteignung“98 und sieht seinen Ursprung in jener Gewalt, die „gewisse Bevölkerungsschichten ihres Platzes in der Welt beraubt und dem Kampf um das nackte Leben ausgesetzt“ hat. 99 Durch diese gewalttätige Ausbeutung der Arbeit konnte die kapitalistische Entwicklung möglich werden. Durch diesen Akkumulationsprozess entwickelte sich der Kapitalismus. Ungeachtet der Gemeinsamkeit der kritischen Analyse des Akkumulationsprozesses leistete der Kapitalismus bei Marx seinen positiven Beitrag für die moderne Gesellschaft, während Arendt dem Kapitalismus keine Verdienste um die Emanzipation der Menschheit zugesteht. Sie stellt 93 94 95 96 97 98 99 Baruzzi, 1983, S. 72. „Akkumulation des Kapitals ist also Vermehrung des Proletariats.“ (Marx, MEW 23, S. 642). Marx, MEW 23, S. 744. VA, S. 67. Marx, MEW 23, S. 743. ÜR, S. 77. VA, S. 325. 96 fest: „Marx‟ großen Enthusiasmus hinsichtlich des Kapitalismus teile ich nicht. Wenn Sie die ersten Seiten des Kommunistischen Manifestes lesen, so finden Sie hier das größte Loblied auf den Kapitalismus.“100 In der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft sieht sie die unpolitische Gefährdung der Weltentfremdung.101 Mit der Enteignung des Privateigentums zerstört der Akkumulationsprozess auch die Grenze und die Stabilität des gemeinsamen Raums, welche Menschen brauchen. Eine der wichtigsten Bedingungen der gesellschaftlichen Produktivitätssteigerung ist die Mobilität der Arbeitskraft, also dass man weltlos getrieben wird von einem endlosen Prozess, „in dessen Ablauf das Eigentum durch Aneignung vernichtet, die Gegenstände durch den Produktionsprozeß verschlungen, und die Stabilität der Welt durch das, was diese Jahrhunderte den Fortschritt nannten, unterminiert wurde.“102 Der Mensch lebt in entwurzeltem Zustand, also in der Flexibilität, weil die Freisetzung der Produktivkräfte der Arbeit überhaupt nur möglich ist, wenn die Welt des Menschen dem Wachstumsprozess gesellschaftlichen Reichtums geopfert wird. Der Prozess der Reichtumsproduktion durch gesellschaftliche Arbeit kann, wie Arendt meint, „seinen Fortgang nun nehmen, wenn kein weltlicher Bestand und kein Prinzip weltlicher Stabilität ihn hindert, auch nicht das von ihm selbst Erzeugte, wenn vielmehr alle Weltdinge, die ursprünglich Endprodukte eines Herstellungsprozesses waren, in ihn mit ständig wachsender Geschwindigkeit zurückgeleitet werden.“ 103 Das sichtbarste Zeichen der flexiblen Gesellschaft ist die Tendenz, auf Langfristigkeit und Dauer ausgerichtete Strukturen abzuschaffen. Die moderne Wirtschaft verlangt, „daß alle weltlichen Dinge in einem immer beschleunigteren Tempo erscheinen und verschwinden.“104 Dies ist auch die Logik der gesellschaftlichen Ökonomie, also die ziellose, endlose und sinnlose Dynamik. Daher verwischt die Wirklichkeit der Welt mehr und mehr. Das Kennzeichen der modernen Arbeitsgesellschaft besteht in dem Verlust der „sachlich fundierten Beziehungen“.105 100 101 102 103 104 105 IWV, S. 108; im Licht dieser Aussage wären es die rechten und linken Fehlinterpretationen, dass Arendts kritische Haltung gegenüber dem Kapitalismus und Bourgeois auf der marxistischen Tradition beruhe (vgl. Furet, 1996, S. 544) oder dagegen dass der Kapitalismus bei Hannah Arendt nicht vorkomme (Habermas, 1981a, S. 226). Wenngleich Arendts politische Theorie nicht nur in antikapitalistischer Dimension steht, zeigt sich Arendts kritische Haltung gegenüber Kapitalismus wie Sozialismus hinsichtlich des Enteignungsprozesses der Neuzeit ausdrücklich. Darauf weist Arendt ausdrücklich hin: „In dem Streit zwischen Kapitalismus und Sozialismus wird meist vergessen, daß es der Kapitalismus war, der mit Enteignungen angefangen hat, und daß der Sozialismus in dieser Hinsicht nur dem Gesetz folgt, nach dem die gesamte Wirtschaftsentwicklung der Neuzeit angetreten ist.“ (VA, S. 76; vgl. Marti, 1992, S. 514). Zur Arendtschen skeptischen Einschätzung des Kapitalismus siehe Urs Marti, 1997, S. 68-75. VA, S. 322. VA, S. 326. VA, S. 149. EU, S. 321; „Die Fortwährende Umwälzung“, „die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“, und „die ewige Unsicherheit und Bewegung“ kommen bereits bei Marx zum Ausdruck als das spezifische Kenzeichen, das die moderne Arbeitsgesellschaft von früherer Zeit unterscheidet. In der berühmten Formulierung stellt Marx die Eigenschaft der modernen Gesellschaft fest: „Alle festen eingeros- 97 Der Akkumulationsprozess stellt daher einen Entwurzelungsprozess dar, der zum Überflüssigwerden vieler Menschen führt.106 1.2.3 Die Arbeitsteilung als gesellschaftliche Organisationsform Die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die Arendt als „das unnatürliche Wachstum des Natürlichen“107 bezeichnet, beruht auf der modernen Arbeitsteilung.108 Die Arbeitsteilung ist die gesellschaftliche Organisationsform der Arbeit. Die Teilung der Arbeit ist eine Art der Zusammenarbeit im Arbeitsprozess. Die Arbeitsteilung ist nur möglich, wo es eine große Arbeitsanzahl zur selben Zeit und in demselben Raum gibt. Das Prinzip der Arbeitsteilung ist daher nicht im privaten Haushaltsbereich möglich, sondern nur unter den gesellschaftlichen Bedingungen, wo die Arbeit „organisiert und aufgeteilt werden“ kann. 109 Also findet die vergesellschaftete Arbeit nicht mehr auf natürliche Weise statt, sondern in der gesellschaftlichen Errichtung.110 Die Arbeitsteilung stellt das Ideal der gesellschaftlichen Ordnung dar. Sie ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Qualität der aufgeteilten Arbeiten gleich ist. Für die Arbeitsteilung handelt es sich um die Mechanisierung und Standardisierung, mit deren Hilfe die Menschen arbeiten können, „als ob sie einer wären“.111 In der Manifestation der Kommunistischen Partei charakterisiert Marx die Gesellschaft der Arbeitsteilung im Folgenden: „Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird.“112 Der Hauptpunkt der Arendtschen Kritik am gesellschaftlichen System der Arbeitsteilung besteht darin, dass Menschen überflüssig werden können, denn der einzelne ist jederzeit und überall durch einen anderen ersetzbar. Die geteilte gesellschaftliche Arbeit hat nicht die Form einer unmittelbaren konkreten Beziehung der Individuen. Bei der Arbeitsteilung han- 106 107 108 109 110 111 112 teten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ (Marx, MEW, Bd. 4, S. 465). „Überflüssigsein und Entwurzeltsein ist dasselbe.“ (DTB, S. 337). VA, S. 60. Vgl. Fetscher (Hrsg.), 1976, S. 49. VA, S. 105. Vgl. Kambartel, 1994, S. 127f.; vgl. auch VA, S. 145 und S. 60. VA, S. 145. Marx, MEW, Bd. 4, S. 468f. 98 delt es sich um den „verschmelzenden Charakter des Arbeitens“113, während sich die verschiedenen Personen untereinander in der politischen Form des Zusammenseins besprechen, um in Übereinstimmung miteinander zu handeln. Was die Arbeiter in der Arbeitsteilung miteinander verbindet und voneinander trennt, ist nicht die gemeinsame Welt, sondern das Arbeitssystem und die Funktion der Maschinen. „In einer Arbeitsgesellschaft ersetzt die Welt der Maschinen die wirkliche Welt, wenn auch diese Pseudowelt die größte Aufgabe der Welt nie erfüllen kann, nämlich sterblichen Menschen eine Behausung zu bieten, die beständiger und dauerhafter ist als sie selbst.“114 Die Welt der Maschine als das Arbeitssystem vernichtet den Unterschied der verschiedenen Arbeit und vereinigt die verschiedenen Interessen.115 Arendt schreibt: „Dies Eins – Sein ist das genaue Gegenteil aller eigentlichen Ko-operation, die gerade auf der Verschiedenheit der Ko-operierenden beruht; das Eins – Sein in der Arbeitsteilung deutet auf die Gattungseinheit, in welcher jedes Exemplar jedem anderen bis zur Auswechselbarkeit gleicht.“116 Die Arbeitsteilung ist das Mittel zur Vermehrung der Arbeitskraft. Die vergesellschaftete Arbeitskraft befreit die Arbeitsproduktivität von der Beschränkung der individuellen Arbeitskraft. Anders gesagt bringt die große Anzahl der Arbeiter eine neue gesellschaftliche Produktivkraft hervor. Erst wenn die kollektive Arbeitskraft zum Subjekt des Arbeitsprozesses wird, wird der Arbeitsprozess eigentlich unendlich, weil er unabhängig von individueller Geburt und individuellem Tod sein kann. Dadurch reduzieren sich die Menschen auf Quasi – Naturwesen, die den Gesetzmäßigkeiten und den ewig automatischen Funktionen unterworfen sind. Die menschliche Pluralität verwandelt sich in die funktionale Vielfalt. Im kollektiven Arbeitsprozess verschwindet die menschliche und weltliche Bedeutung von Geburt und Tod des Individuums als die allgemeinste Bedingtheit des menschlichen Lebens, in der sich Menschen als einmalige und unwiederholbare Wesen bestätigen lassen.117 Arendt formuliert: „(…) die Erschöpfung bildet nur einen Teil des individuellen Lebensprozesses, nicht des Kollektivlebens der Gattung, die im Falle der Arbeitsteilung als kollektive Arbeitskraft das eigentliche Subjekt des Arbeitsprozesses ist. Die kollektive Arbeitskraft ist unerschöpflich, und sie entspricht der Todlosigkeit der Gattung, deren Lebensprozeß im Ganzen auch nicht unterbrochen wird durch die Geburt und den Tod der einzelnen 113 114 115 116 117 VA, S. 208. VA, S. 180. Bei Marx kommt der Charakter dieser Welt ausführlich zum Ausdruck: „Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt.“ (Marx, MEW, Bd. 4, S. 470). VA, S. 145f. Vgl. VA, S. 115 und S. 410f. 99 Exemplare.“118 Schließlich geraten Menschen in der Arbeitsteilung in die Passivität und den Konformismus. In diesem Sinne bildet das Prinzip der Arbeitsteilung das Ideal der Gesellschaft, also die normalisierte und konformisierte Persönlichkeit. 1.3 Die Massengesellschaft 1.3.1 Masse und Elite Das zentrale Problem der modernen Welt ist für Arendt, wie sie in einer Vorlesung 1954 darlegt, „die politische Organisation von Massengesellschaften“.119 Die Massengesellschaft stellt für Arendt „den Sieg des Gesellschaftlichen überhaupt“ dar.120 In der Massengesellschaft erreicht der Konformisierungs- oder Nivellierungsdrang der Gesellschaft seinen Kulminationspunkt. Das Arendtsche Verständnis der Massengesellschaft bezeichnet man häufig als die konservativen Grundzüge ihres politischen Denkens. In der Tat verbindet man ihre Haltung zur Masse mit dem Leitgedanken der konservativen und aristokratischen Kulturkritik, in der die Masse als Kulturverfall abgewertet wird. Mit der Französischen Revolution markiert Masse die dauernde Bedrohung des Politischen und den Untergang der Zivilisation, die bisher stets nur von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geleitet wurde.121 Dieses Misstrauen den Massen gegenüber prägt die politische Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts in ihren konservativen wie liberalen Versionen. Edward Burke hat 1790 aufgrund der Kritik an der Französischen Revolution die Masse kritisch betrachtet. Für ihn galt die Masse als die treibende Kraft hinter den blutigen Aktionen der Französischen Revolution.122 Burkes Misstrauen gegenüber der Masse beruht auf seiner „natürlichen Aristokratie“.123 Unter dieser konservativen Betrachtungsweise ist Tocqueville der Entscheidendste. In seinem größten Werk, Über die Demokratie in Amerika, hat Tocqueville, wenngleich er in der neuen Zeit den unaufhaltsamen und unausweichlichen Zug zur Demokratie diagnostizierte, ihre Gefahr überhaupt in der Entstehung der Massen 118 119 120 121 122 123 VA, S. 146. ZZ, S. 93. VA, S. 52. „Der Massenbegriff, der mit der Französischen Revolution in die deutsche politische Sprache einrückte, erfaßte jene wachsende Menge der Bevölkerung, die aus der ständischen Gesellschaft ausgeschlossen war und die seitdem ihre soziale Selbstbestimmung und ein zunehmendes Gewicht in der politischen Willensbildung beanspruchte und auch erreichte.“ (Koselleck, 1992, S. 415). Burke, 1967. Ballestrem, 2004, S. 115. 100 gesehen. Nach ihm wäre die Demokratie immer mehr auf die Massen angewiesen und damit würde die Masse eine absolute Gewalt werden. 124 Die Menschen würden vereinzelt und bilden als die Summe vereinzelter eine differenzlose Masse, die immer in der Gefahr stehe, eine leichte Beute des zentralisierten Staates zu werden. In diesem konservativen Kontext zeigt Jose Ortega y Gasset im berühmten Buch Der Aufstand der Massen seine aristokratische Haltung gegenüber der Masse auf. Er stellt die Masse, im Unterschied zu den Eliten, als das negative Produkt der Moderne dar: „Die Eliten sind Individuen oder Individuengruppen von spezieller Qualifikation; die Masse ist die Gesamtheit der nicht besonders Qualifizierten (…). Masse ist der Durchschnittsmensch.“125 Im Zusammenhang mit diesem politischen Konservatismus, dessen Intention es noch war, die Gesellschaftsordnung vor den aufsteigenden Massen zu schützen, ordnet Robert Nisbet, der der amerikanische Konservative ist, die Beschreibung Arendts über die Massen in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in die Genealogie der konservativen Positionen ein.126 Im Hinblick auf die moderne Massengesellschaft erörtert Arendt in einer Formulierung, die uns an Tocqueville erinnert: „Große Anhäufungen von Menschen entwickeln eine nahezu automatische Tendenz zu despotischen Herrschaftsformen, sei es nun die despotische Herrschaft eines Mannes oder der Despotismus von Majoritäten.“127 In ihrem Buch Über Revolution sieht Arendt in der Tat den entscheidenden Grund für das Scheitern der Französischen Revolution darin, dass das Masseninteresse politisiert wurde. In Bezug auf die „gefühllose Verachtung für die unpolitischen Massen“128 bezeichnet sich Hannah Arendt als eine „ultrakonservative Denkerin“ 129 oder „eine Art Burkeschen Toryismus“ 130 . Darüber hinaus meint man, dass Arendt zwischen elitären und demokratischen Aspekten des Politischen schwankt.131 Habermas beispielsweise stellt den Widerspruch zwischen Arendts partizipatorischem Konzept und ihrer Vorstellung von politischer Elite fest. In seinem Aufsatz über den Machtbegriff von Hannah Arendt zitiert er die langen Sätze aus Über Revolution, um „die eigentümliche Verbindung von partizipatorischer Demokratie mit den von ihr für notwendig gehaltenen elitären Strukturen“ zu zeigen.132 Ähnlich weist Alfons Söllner auf 124 125 126 127 128 129 130 131 132 Vgl. Tocqueville, 1962, Bd. 1, Kapitel 15 und 16. Gasset, 1949, S. 9. Vgl. Nisbet, 1986, Kap. 3; Benhabib betont, dass sich die antimodernistische Sicht Arendts im Licht der konservativen Tradition von Hegel, Alexis de Tocqueville und Edmund Burke betrachten lässt (Benhabib, 1998, S. 255ff.). VA, S. 55. Dieser Ausdruck stammt von Jay; zit. nach May, 1990, S. 114. Söllner, 1990, S. 242; vgl. Cranston, 1979, S. 17. Young-Bruehl, 1986, S. 550. Vgl. Canovan, 1978, S. 6ff. Habermas, 1981b, S. 236f., Anm. 7. 101 das Spannungsverhältnis des Arendtschen Denkens zwischen radikaldemokratischem Gestus und geistesaristokratischem Kulturkonservativismus hin. Nach ihm erscheint in Vita activa letzterer und dagegen zeigt sich in Über Revolution Arendts radikaldemokratisches Denken.133 Um dieser Frage näher zu kommen, müssen wir uns hier dem Arendtschen Verständnis der politischen Elite und Masse zuwenden. Das klassische Elitenkonzept geht von der Annahme aus, dass es die überlegenen Wenigen in den politischen Angelegenheiten gäbe. Die Massen bilden demnach eine potentielle Bedrohung der Demokratie; die Eliten seien ihre Verteidiger. Unter dieser Annahme bedeutet Demokratie allein, „daß das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen.“134 Die Existenz der Eliten sei der beste Schutz vor dem Umschlag der Demokratie in Totalitarismus, während die Politisierung von Massen als Krisensymptom gilt. Uns geht es zuerst um die Frage, ob Arendt diese „Ideologie“135 mit der Theorie der Eliten-Demokratie teilt, also ob Arendt die Masse in der Differenzierung von elitären Wenigen versteht und ob Arendts Rede von Masse auf „dem Vorurteil der alteuropäischen Tradition gegen die Vielen“ oder auf der Geistesaristokratie beruht.136 Allerdings spricht Arendt von der politischen Elite, die sie definiert als diejenige, die die politischen Leidenschaften besitzen und besaßen.137 Trotzdem versteht sie den Begriff der Elite nicht in der Sicht der Unterscheidung zwischen den Vielen und den Wenigen, die auf dem traditionellen Misstrauen politischer Philosophie gegenüber der menschlichen Pluralität beruht. Masse steht für sie nicht im Kontrast zu gebildeten Wenigen. Sie vertritt die These, dass die Massen weder aus der modernen Gleichheit der Bildung noch aus der Emanzipation der Klassen noch aus der Uniformierung der Lebensumstände entstehen. Die Massen setzt sie nicht mit der Unterschicht oder den Benachteiligten gleich. Für sie können die Massen aus allen Klassen kommen. Die Eigenschaft der Massen und ihre Mentalität finden sich weder in ihrer Dummheit noch in ihrer Quantität noch in ihrem materiellen Elend.138 Es gilt Arendts Ansicht zufolge als ein Irrtum, dass man „mit einer klaren Gegnerschaft zwischen den Massen und den Gebildeten“139 in der Massenbewegung rechnet. Vielmehr 133 134 135 136 137 138 139 Söllner, 1990, S. 218f. Schumpeter, 1972, S. 452. Im Vorwurf des Elitenkonzepts Schumpeters hält Peter Bachrach die Unterstellung der überlegenen Eliten für die Ideologie: „Diese allgemeine Theorie möchte über aller Ideologie stehen, ist aber in Wirklichkeit tief in einer Ideologie verwurzelt – einer Ideologie, die im tiefen Mißtrauen gegenüber der Mehrheit gemeiner Männer und Frauen und im Vertrauen in die etablierten Eliten, daß diese die zivilen Werte und Spieregeln der Demokratie bewahren, begründet ist.“ (Bachrach, 1970, S. 111). Brunkhorst, 1999, S. 87. Vgl. ÜR, S. 355. Vgl. Sartori, 1992, S. 36. EU, S. 681; vgl. Canovan, 1978, S. 10. 102 seien die Intellektuellen von der Massenbewegung ebenso stark angezogen wie alle anderen, weil die Eliten wie die Massen „aufs engste mit den Problemen und der Mentalität der heimatlos gewordenen Massen verbunden waren.“140 Entgegen allen konservativen Vorstellungen, der zufolge der Begriff der Massen oft abwertend als dumme Masse gebraucht wird, sei „die Masse nicht das Resultat der neuen Gleichheit und Gleichmacherei, der bewussten Einebnung aller Klassenunterschiede, wie sie von den Revolutionen des 18. Jahrhunderts geplant war, der Verbreitung der Volksschulbildung und der damit verbundenen Senkung des Bildungsstandards und der Popularisierung der Bildungsinhalte.“ Arendt führt fort: „Die Vereinigten Staaten, wo die Gleichheit vor dem Gesetz von vornherein mit einer so außerordentlichen Gleichheit der Lebensbedingungen und Uniformierung verbunden war, daß es trotz der rapiden kapitalistisch-industriellen Entwicklung des Landes niemals zur Formierung einer Klassengesellschaft im europäischen Sinne gekommen ist, kennen zwar alle kulturellen Nachteile der Gleichmacherei und des Fehlens einer Bildungsaristokratie, haben aber dafür die vielleicht geringste Erfahrung mit der Formation moderner Massen und dem Entstehen einer Massenpsychologie“.141 Der Verdacht auf den Elitismus des Arendtschen Denkens beruht vor allem darauf, dass sie in der Feststellung des Rätesystems von der politischen Elite spricht. Dabei unterscheidet Arendt die Räteelite, die „nicht von oben nominiert und von unten unterstützt, sondern frei von ihresgleichen gewählt“142 ist, von der Parteielite, die in dem Parteisystem nach unpolitischen Maßstäben oder Karrieren gewählt wird.143 Im Hinblick auf diese Unterscheidung übt Arendt harte Kritik an der Parteielite. Politik sei im Ansatz der Parteielite als eine Karriere von Berufspolitikern konzipiert. Sie beschränkt sich so eng auf einige wenige Individuen, dass sie zu Angelegenheiten privilegierter Eliten wird. Arendt bezeichnet die Parteielite als den „gründlich missverständlichen und missbrauchten Namen der Elite“ und versucht, diesem Namen zu entsagen, weil der Begriff der Parteielite „die Vielen aus dem politischen Bereich prinzipiell ausschließt, obwohl politische Angelegenheiten eigentlich nicht nur die Vielen, sondern schlechterdings alle Einwohner eines Territoriums angehen“.144 Hier ist das Arendtsche Misstrauen gegenüber dem modernen Parteisystem entscheidend. Die Partei sei ein System, das „mit ihrem Monopol der Nominierung derer, die überhaupt zur Wahl gestellt werden, nicht mehr als Organe der Volksmacht anzusehen sind, sondern vielmehr als die sehr wirksamen Hilfsmittel, durch welche eben diese Macht des Volkes eingeschränkt 140 141 142 143 144 EU, S. 682; vgl. Llanque, 2007, S. 200f. EU, S. 681. ÜR, S. 357. Vgl. ÜR, S. 354ff. ÜR, S. 354f. 103 und kontrolliert wird.“145 Im Parteisystem bedeutet die Politik die Herrschaft der Parteieliten.146 Im Gegensatz dazu ist die politische Räteelite „die einzige echte, aus dem Volke stammende Elite“, die „die früheren Geburts- und Besitzeliten ersetzt und verdrängt“.147 Die Räteeliten „verdanken auf allen Stufen ihre Wahl ausschließlich dem Vertrauen von ihresgleichen“148. Für Arendt ist politische Elite der Mensch, der wirklich an öffentlicher Freiheit und öffentlichen Angelegenheiten interessiert ist.149 In diesem Zusammenhang sagt Arendt: „Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme im Gang der Welt haben.“150 Aber dieser Satz lässt sich nicht als Beschränkung der politischen Teilhabe und damit nicht als Verlangen nach der Herrschaft der Wenigen interpretieren. Was Arendt aussagen wollte, ist nur, dass die Bildung der politischen Elite mit dem freiwilligen „Fernbleiben von öffentlichen Geschäften“151 zu tun hat. Ihre Unterscheidung zwischen Räteelite und Parteielite verweist nicht auf die Bildung der Elite selbst, sondern auf die Art und Weise der Elitenbildung.152 Dann widerspricht die Elitenbildung keinem demokratischen Partizipationsprinzip, weil die notwendige Vorbedingung der Bildung der Räteelite „das Streben nach einer möglichst unmittelbaren, weitgehenden und unbeschränkten Teilnahme des Einzelnen am öffentlichen Leben“ ist.153 Arendts Sympathie für das Rätesystem ist nicht als aristokratische oder antidemokratische Haltung zu verstehen, sondern vielmehr als partizipatorische Konzeption von Bürgerschaft und zwar als „Demokratischen Extremismus“154: Zum politischen Raum soll das ganze Volk Zugang haben, das in der Demokratie ja letzter Träger der politischen Verantwortung ist. Im Mittelpunkt jeder Untersuchung über Eliten und Masse steht die Frage nach dem Verhältnis von Masse und politischer Macht. Dabei sind die Eliten durchgängig als „Machtträ145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 ÜR, S. 347; dazu auch Abschnitt III, 3.1. Diese Perspektive wird von Schumpeter betont: „die Demokratie ist die Herrschaft des Politikers“ (Schumpeter, 1972, S. 452). ÜR, S. 357. ÜR, S. 358. Arendt sieht das Hauptmerkmal der Räteelite „im Mut, dem Verfolg des öffentlichen Glücks, dem Geschmack an öffentlicher Freiheit, dem Streben nach Auszeichnung unabhängig von Amt, Würden und gesellschaftlicher Stellung, ja sogar von Erfolg und Ruhm“ (ÜR, S. 355). ÜR, S. 360. Vgl. ÜR, S. 360. ÜR, S. 355. ÜR, S. 338; vgl. auch Arendt, 1976, S. 66f.; damit verbunden weist Heuer hin: „In diesem Sinn läßt sich auch nicht die Entstehung einer politischen Elite leugnen, bloß weil sie vermeintlich den demokratischen Grundlagen widerspricht. Das Problem besteht nicht darin, ob Elite und demokratischer Anspruch miteinander vereinbar werden können, sondern wie. Wenn unter Elite nicht eine Gruppe verstanden wird, deren Sonderinteressen auf privilegierte Weise und womöglich auf Kosten der Allgemeinheit verwirklicht werden, sondern die sich umgekehrt aus Lust am Handeln und nicht rein persönlichen Vorteilen dem öffentlichen Raum zuwendet, dann widerspricht das nicht dem demokratischen Prinzip.“ (Heuer, 1992, S. 378). Besier, 2006a. 104 ger“155 verstanden, wobei Macht im Weberschen Sinne die Chance bedeutet, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen. So identifiziert sich die Elite mit der „herrschenden Klasse“ oder der „politischen Klasse“.156 Harold Lasswell beispielsweise definiert die politische Elite als „die Machthaber eines politischen Körpers“ und stellt im Folgenden fest: „Die Elite sind diejenigen mit der größten Macht in einer Gruppe, Mittelelite die mit weniger Macht, die Masse die mit der geringsten Macht.“157 Nach dieser Argumentation gilt eine Zunahme des Machtpotenzials der Masse oder die ausgedehnte Partizipation der Masse an Machtausübung als Krisensymptom wie Phänomen von Totalitarismus.158 Die Macht der Masse stelle eine zivilisationsgefährdende Entwicklung dar. Diese Annahme ist ganz anders als die Schlussfolgerung, die Arendt durch die Analyse des Massenphänomens ziehen wollte. In unserem Zusammenhang ist es selbstverständlich, dass für Arendt Masse an sich nicht als etwas Bösartiges verstanden wird, sondern als eine demokratische potentielle Machtquelle. Wie wir sehen werden, ist es bemerkenswert, dass Arendt die Grundbedingung der Macht in der Anwesenheit zahlreicher Menschen findet.159 Im Blick auf die politische Macht teilt Arendt kein traditionelles und aristokratisches Misstrauen gegenüber der Menge; die Menge gefährde die Freiheit, während die Elite „als wichtigster Hüterin des Systems gilt“. 160 Was einen politischen Körper herausbildet, ist für Arendt das Machtpotential, das sich in der menschlichen Menge befindet. Im Gegensatz zur konservativen Haltung, die Macht und die Masse grundlegend voneinander zu unterscheiden, sind beide für Arendt zwei Seiten einer Medaille.161 Das bedeutet, dass die politische Aktion der Massen nicht notwendig zum Totalitarismus führt. Geschichtlich betrachtet machte die spontane Massenaktion oft Revolution möglich und stürzte Regierungen. Als Vorbild der vielen Revolutionstheoretiker ist die spontane Massenaktion als ein Handlungssubjekt die Quelle der Macht. 162 Arendt übersieht auch die revolutionäre Kraft der Masse nicht. Für sie ist die Masse im Plural Machtsubjekt. 155 156 157 158 159 160 161 162 Jaeggi, 1967, S. 13. Das kommt zum Ausdruck im berühmten Diktum von Mosca: „In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Aufgang der Zivilisation bis zu den vorgeschrittensten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird. Die erste ist immer die weniger zahlreiche, sie versieht alle politischen Funktionen, monopolisiert die Macht und genießt deren Vorteile, während die zweite, zahlreichere Klasse von der ersten befehligt und geleitet wird“ (Mosca, 1950, S. 52ff.; zit. nach Jaeggi, 1967, S. 27). Lasswell, 1950, S. 201; zit. nach Bachrach, 1970, S. 84. Vgl. Bachrach, 1970, S. 89. Der Begriff „Masse“ bedeutet zuerst eine Ansammlung von Menschen (vgl. Pankoke, 1980, S. 828-832). Bachrach, 1970, S. 46. Vgl. Vowinckel, 2001, S. 79; auch Klein/Nullmeier (Hrsg.), 1999, S. 151. Vgl. Habermas, 1990, S. 184. 105 Es ist bemerkenswert, dass Arendt der Vorstellung Rosa Luxemburgs, Masse sei Machtsubjekt, folgt.163 1.3.2 Massen und Totalitarismus Die Gefahr der Massengesellschaft enthüllt sich aufs extremste im Phänomen des Totalitarismus. Man sollte nicht vergessen, dass die Arendtsche Überlegung über die Massen und die Massengesellschaft den Schock der Machtergreifung des Totalitarismus widerspiegelt. Die totalitäre Herrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt Arendt zufolge die Möglichkeit, die Masse zur Basis der eigenen Machtansprüche zu machen. Sie könnte nicht gänzlich ohne Basis der Masse existieren: „Was immer wir von der Hitler- und der StalinDiktatur wissen, deutet darauf hin, daß die Isolierung und Atomisierung, welche der totalen Herrschaft ihre Massenbasis verschaffen, sich bis in die Spitze der Führung fortsetzen und daß der Führer auch im intimsten Kreise niemals als ein Primus inter pares auftritt.“164 Im Blick auf das Verhältnis zwischen Massen und Totalitarismus geht es bei Arendt um die Antwort auf die Frage, warum und wann sich Masse in ein passives, manipulierbares Objekt der totalitären Ideologie verwandelt. Warum ist das Machtpotenzial der Masse pervertiert und daraus auf die Unterstützung der totalitären Herrschaft hinausgelaufen?165 Damit versucht sie, zu zeigen, unter welchen Bedingungen sich die Masse als eine Ansammlung von Menschen qualitativ verändert und sich in einen Nährboden für die totalitären Bewegungen verwandelt: „Potentiell existieren Massen in jedem Lande und zu jeder Zeit; sie bilden sogar zumeist die Mehrheit der Bevölkerung auch sehr zivilisierter Länder“.166 Bei der Ursache des Massenphänomens handelt es sich ihr zufolge um die eigentümlichen Bedingungen der Massen, und nicht um „die Masse als solche“,167 die die ontologisch geistliche wie praktische Neigung verinnerlicht.168 Ihr Verständnis von Masse als historischem und politischem Phänomen muss daher vom durchschnittlichen anonymen „Man“ im fundamentalontologischen Sinne Heideggers und auch von der Massenpsychologie unterschieden werden. 169 Für Arendt ist Masse die bestimmte zugrunde liegende Erfahrung der Zeit, wo die politische Pluralität verfällt. 163 164 165 166 167 168 169 Vgl. MG, S. 178 und MfZ, S. 65; vgl. Heuer, 1992, S. 285; Kulla, 1999, S. 46. EU, S. 846. Aber das bedeutet keine existentielle Manipulierbarkeit der Massen. Arendts Überlegung hat nur mit der Veränderbarkeit der menschlichen Bedingungen und Fähigkeiten zu tun. EU, S. 668. Kleger, 1997, S. 91; vgl. Crick, 1979, S. 221. Vgl. Gasset, 1949, S. 8f. Vgl. Benhabib, 1998, S. 121. 106 Auf die Entstehung der europäischen Massen bezogen formuliert Arendt ihre starke These: „Das Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft ist nicht Brutalität oder Dummheit oder Unbildung, sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein.“ 170 Anders gesagt beruht die totalitäre Masse nur darauf, dass Menschen sich von den Erfahrungen abtrennen, „die nur in Anwesenheit anderer gültig“ sind.171 In diesem Licht betrachtet sind Massen Menschen, die keine bestimmten Vorgegebene erhalten, sondern unter bestimmten Bedingungen leben, also in Beziehungslosigkeit und Weltlosigkeit. Dies bedeutet die Zerstörung der politischen Pluralität und der Mitmenschlichkeit. In der Zerstörung der politischen Pluralität verschwinden die politischen Fähigkeiten des Menschen, weil die politische Fähigkeit des Menschen nicht auf dem Intellekt beruht, sondern auf der Pluralität der Handelnden oder auf dem menschenwürdigen Verkehr mit anderen. Hier wird klar, dass die Arendtsche Kritik an der Masse nichts mit der intellektuellen Unfähigkeit der Massen zu tun hat und dass Arendt in der Vorstellung der Masse kein aristokratisches Vorurteil hat.172 Es gibt die totalitäre Masse. Der Totalitarismus sei, wie Arendt meint, überall da möglich, wo Massen existieren, die nach politischer Organisation verlangen.173 Aber im Gegensatz zu den auf Dauer angelegten politischen Verbänden ist die Organisation der Masse amorph, ephemer und strukturlos. Die eigentümliche Form der politischen Organisation der totalitären Massenmenschen ist die Bewegung. Daher seien „totalitäre Bewegungen“ „Massenbewegungen“. 174 Diese Bewegung folgt dem außer- oder übermenschlichen Bewegungsgesetz, für das die Ideologie die Rechtfertigung liefert: „Zwar sind seine Bewohner alles in freier Spontaneität entspringenden Handelns oder auch nur Tätigseins beraubt; dennoch werden sie in dauernder Bewegung gehalten als Exponenten des gigantisch übermenschlichen Prozesses von Natur und Geschichte, der durch sie hindurchrast.“175 In diesem Zusammenhang sieht Arendt den Grundcharakter des Totalitarismus nicht im herrschaftsstrukturellen Ansatz, sondern in der Strukturlosigkeit. 176 Die Strukturlosigkeit der totalen Herrschaft zerstört durch ihren Charakter permanenter Dynamik „alles Verant- 170 171 172 173 174 175 176 EU, S. 682. DU, S. 86. Vgl. Kleger, 1997, S. 91. EU, S. 667. EU, S. 663. EU, S. 953; „Dieser Prozeß-Begriff (…) läßt in seiner vollen Ausprägung alle einzelnen Dinge und Ereignisse, überhaupt alles, was sichtbar und greifbar ist, zu Exponenten werden, denen keine andere Bedeutung zukommt, als die Existenz unsichtbarer Kräfte anzuzeigen, und deren Sinn darin besteht, bestimmte Funktionen innerhalb des Prozesses zu erfüllen.“ (ZVZ, S. 80). Vgl. EU, S. 700f und 827f.; vgl. Rensmann, 2004, S. 372; Pohlmann, 1998, S. 223; Esse, 1998, S. 11; Söllner, 2006, S. 117. 107 wortungsbewusstsein und alle Sachkenntnis“177. Der Totalitarismus bezeichnet sich daher als Dynamik der Zerstörung der politischen Beziehung und des öffentlichen Raums. Die Gefahr dieser Strukturlosigkeit liegt darin, dass vermasste und isolierte Individuen leicht der ideologischen Manipulation ausgesetzt sind: „(Totalitäre Herrschaft) zerstört einerseits alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits, daß die also völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischem Handeln) wieder eingesetzt werden können.“178 Die Analyse des geschichtlichen und politischen Phänomens der Massen bietet einen Leitfaden für Arendts gesamte politische Theorie an, weil Urteilskraft und Handlungsvermögen, die nicht das „Vorrecht der wenigen, sondern eine stets bereitliegende Fähigkeit jedes Menschen“179 darstellt, in der Massengesellschaft drastisch gefährdet sind. In der Massengesellschaft herrscht das „Prinzip der Isolierung“ 180, und daraus entstehen die Phänomene der dynamischen Destabilisierung der Welt und der Atomisierung der Individuen, also Weltlosigkeit und Selbstlosigkeit. In der Feststellung, dass die Vernichtungsintentionen der totalen Herrschaft „den Erfahrungen moderner Massen von ihrer eigenen Überflüssigkeit in einer übervölkerten Welt und der Sinnlosigkeit dieser Welt selbst“181 entspricht, skizziert Arendt offensichtlich einen Zusammenhang zwischen der modernen Massengesellschaft und dem totalitären Regime. Heilung gibt es hier nur, wenn die politische Öffentlichkeit für die Beteiligung an den gemeinsamen Angelegenheiten und für das Zusammenhandeln existiert. 1.3.3 Masse und Human Condition 1.3.3.1 Weltlosigkeit Arendts politisches Denken ist, wie wir bereits gesehen haben, eigentlich von der Sorge um die gemeinsame Welt motiviert. „Die Welt liegt zwischen Menschen und, dies Zwischen – vielmehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute der Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterung in nahezu allen Ländern der Erde“.182 Der Begriff Weltlosigkeit hat auch eine doppelte Bedeutung: Gemeint ist damit 177 178 179 180 181 182 EU, S. 849. EU, S. 975; in diesem Licht nennt Habermas Arendts Äußerung über den Totalitarismus „die kommunikationstheoretische Deutung des Totalitarismus“ (Habermas, 1998c, S. 446). DD, S. 190. VA, S. 256. EU, S. 938. MfZ, S. 12. 108 einerseits das Verschwinden einer beständigen und damit verlässlichen Welt und andererseits das Verschwinden des Vertrauens in die Wirklichkeit der Welt bestimmter Menschengruppen.183 Weltlosigkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass „jeder in seine Subjektivität wie in eine Isolierzelle“ zurücktritt.184 Die vermassten weltlosen Individuen sind von ihren Mitmenschen völlig isoliert, obwohl sie physisch nicht voneinander getrennt sind. In Arendts Sinne hat die Pluralität der Menschen mit einem Miteinander der Menschen und nicht mit einem einfachen Nebeneinander zu tun, nämlich nicht mit „einer Masse von ungebundenen Individuen“.185 Daher definieren sich Massenmenschen für Arendt als „Individuen, zwischen denen eine gemeinsame Welt in Stücke zerfallen ist.“186 Die Masse existiert in der eigentlich weltlosen Beziehung zwischen Mensch und Mensch. „Die totalitären Bewegungen sind Massenorganisationen atomisierter und isolierter Individuen“. 187 Unter diesen Umständen zeichnet sich eine Verarmung der Vielfalt der weltlichen Perspektiven aus. Für Arendt gilt es aufzuzeigen, weshalb die Masse in den Zustand der Atomisierung verwickelt wird und wie sie trotz dieser Atomisierung zu einer neuen Einheit wie Massenbewegung zusammengefasst wird. Die Masse ist für Arendt das politisch neue Phänomen des 20. Jahrhunderts in Europa, wo die „Atmosphäre der allgemeinen Zersetzung einer bereits atomisierten Gesellschaft“188 herrschte. Ihrer Ansicht zufolge entsteht die spezifische Mentalität der Massen in Europa durch drei Elemente: Zusammenbruch des Klassen- und Parteisystems und der Staatslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Vor allem der Untergang der Klassengesellschaft, die aus Gruppen mit gleichen Interessen besteht, hatte unmittelbaren Einfluss auf die Entstehung der modernen Massengesellschaft. Das Hauptmerkmal der Massenmenschen ist, „daß sie keinem sozialen oder politischen Körper mehr angehören, sondern ein wahres Chaos individueller, nicht transformierbarer Interessen darstellen.“189 Im Gegensatz zu den Klassen der Gesellschaft werden Arendts Ansicht zufolge die Massen nicht durch das Streben nach gemeinsamen Zielen und Interessen zusammengehalten. 183 184 185 186 187 188 189 Mit dem Begriff der Weltlosigkeit verweist Arendt auf einen Zustand, „in dem Menschen zusammenleben, ohne irgend etwas miteinander gemein zu haben, ohne irgendeinen sichtbaren, greifbaren Bereich der Welt miteinander zu teilen“ (Arendt, 2004, S. 47). VA, S. 72f. „Die Reduktion des Pluralen auf den Singular, die im totalitären Regime bewerkstelligt wird, können wir nur begreifen, wenn wir die Vielheit nicht mit der Menge, das heißt mit einer Masse von ungebundenen Individuen verwechseln, sondern in dieser Vielheit das Merkmal der Entfaltung einer Bürgergesellschaft, ihrer Differenzierung und der diese begleitenden Kreativität erkennen.“(Lefort, 1997, S. 50). EU, S. 685. EU, S. 697; „Wie sehr gerade die eigentümliche Individualisierung und Automisierung der modernen Massengesellschaft notwendig ist, um totalitäre Herrschaft überhaupt zu ermöglichen (…)“ (EU, S. 685). EU, S. 678. EU, S. 739. 109 Arendt spricht davon deutlich: „Massen werden nicht von gemeinsamen Interessen zusammengehalten, und ihnen fehlt jedes spezifische Klassenbewusstsein, das sich bestimmte, begrenzte und erreichbare Ziele setzt. Der Ausdruck ‚Massen‟ ist überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwalteten Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen.“190 Mit der Betrachtungsweise, der Zusammenbruch der Klassengesellschaft sei eine der entscheidenden Vorbedingungen für die Nazibewegung gewesen, wollte Arendt aber nicht die Klassengesellschaft, also die hierarchische Ständegesellschaft, verteidigen. Was Arendt aufzeigen will, ist, dass die gesellschaftliche und politische Ordnung von Nationalstaat wie Klassen- und Parteisystem ihre politische Unfähigkeit in sich getragen hat.191 Sie kritisiert den unpolitischen Charakter der im Klassensystem und Parteisystem entwickelten Formen der politischen Repräsentanz, „welche verhinderten, dass sich ein politisches Bewußtsein entwickelte, bei dem jeder Bürger sich mehr oder minder verantwortlich für die Abwicklung der Regierungsgeschäfte gefühlt hätte.“192 Diese politische Unfähigkeit der Einzelnen im nationalstaatlichen Politiksystem wurde klar gesehen, als die gesellschaftliche Strukturiertheit mit dem Zusammenbruch der Klassengesellschaft zerstört wurde.193 Entscheidend ist, dass das Klassensystem im Nationalstaat die einzige traditionelle Form sozialer Assoziationen war. Unter solcher Zerstörung der gesellschaftlichen Struktur konnten die demokratischen Institutionen wie das Parteisystem nicht funktionieren und daher gab es keine andere Alternative zu der politischen und gesellschaftlichen Ordnung als die totalitäre Bewegung, während die vormalige Klassenzugehörigkeit die Masse „vor den schlimmsten 190 191 192 193 EU, S. 667f.; im Gegensatz dazu hält Kershaw den Nationalsozialismus sowohl im Entstehungs- als auch in der Regimephase für klassespezifisch. So stellt er fest: „Arendts Hauptargument, mit dem sie das Anwachsen des Totalitarismus erklärt – Klassen würden durch Massen ersetzt und es entstehe eine Massengesellschaft – ist eindeutig fehlerhaft“ (Kershaw, 1985, S. 50). „Arendt interessiert sich (…) für die Ursprünge der totalen Herrschaft in der parlamentarischen Demokratie“ (Schindler, 2000, S. 265). EU, S. 676. Aus diesem Grund bezeichnet Arendt die Masse als das politische Phänomen. Sie ist der Meinung, dass die Grundlage der Massenbewegung in unvollkommenen politischen und sozialen Einrichtungen liegt. In der Tat verdankt die Massenbewegung, so meint Arendt, „dem tiefen Mißtrauen gerade des Volkes gegen das Parteiensystem und die von den Parteien gelenkte Repräsentation im Parlament.“ (ÜR, S. 348). In dieser Bedingung wurde die Verwandlung von Völkern in Massen vollzogen. Arendt konstatiert, „daß es um so leichter für die Bewegung sein wird, nicht nur an das Volk zu appellieren und es zu organisieren, sondern es in eine Masse zu verwandeln, je offensichtlicher das Scheitern des Parteiensystems und die Korruption des Parlaments an den Tag getreten sind.“ (ÜR, S. 348). 110 Auswirkungen der Atomisierung und Konkurrenz“194 schützen konnte. Die Zersetzung dieses Klassensystems führte „nicht zur Konstitution potentiell revolutionärer negativer Kollektivitäten, also zu kritischen Massen, sondern zum vollständigen Verlust jeder möglichen Gemeinschaft“. 195 Damit findet eine fortschreitende Vermassung aller gesellschaftlichen Strukturen statt. Nach der Zersetzung des Klassensystems und des von ihm entwickelten Parteisystems kam Arendt zufolge die totalitäre Regierungsform als Interessenvertreter aller Klassen ans Licht.196 Kurz ausgedrückt erschien Totalitarismus im Lauf der Zerstörung sozialer Beziehungen und der staatlichen Ordnung, und aufgrund dieser politischen und sozialen Strukturlosigkeit findet Masse die einzige politische Form in der totalitären Bewegung. Die Auflösung des Klassensystems läuft natürlich auf die Zerstörung des Parteiensystems, durch das sich Gruppeninteressen öffentlich repräsentieren, hinaus, „weil diese Parteien wirklich Interessenparteien waren, so daß ihnen nun gleichsam keine Interessen mehr zur Verfügung standen, die sie repräsentieren konnten“.197 Das Vakuum, das von dem Zusammenbruch der Klassengesellschaft geschaffen wurde, wird durch die totalitäre Bewegung der Masse erfüllt. Die totalitäre Massenbewegung vertritt kein partikuläres Interesse, sondern verkörpert vielmehr den notwendig ablaufenden historischen Prozess, der als unwiderstehlich betrachtet wird.198 Die weltlosen Menschen, die im Zusammenbruch des Klassensystems und Parteisystems produziert werden, finden in den totalitären Bewegungen ihre neue Richtung: „Je unklarer und irrealer die Klassenbasis der Parteien wurde, desto mehr entwickelten sie sich in der Richtung der Weltanschauungsparteien, einer Richtung, die ihnen aus ihrer früheren Existenz keineswegs unbekannt war, die aber jetzt eine ganz andere Bedeutung erhielt.“199 Für das Phänomen der Weltlosigkeit ist die Verantwortungslosigkeit charakteristisch. Die Realität und Kontinuität der Welt sind die Voraussetzung des politischen Handelns des Menschen zur Verantwortung für seine Taten. Der Begriff der Verantwortung kann nur dort entstehen, wo man in den gemeinsamen Angelegenheiten etwas entscheidet und handelt. Die Verantwortlichkeit für die Welt ergibt sich immer aus dem Handeln mit Mitmenschen. Zugleich bedroht die Weltlosigkeit „jene Solidarität von Menschen untereinander, welche 194 195 196 197 198 199 Balke, 2000, S. 221. Balke, 2000, S. 225. Bossle betont, dass es in totalitären Staaten keine Vielheit von Verbänden und Gruppierungen gibt. „Der Mensch will nicht nur Emanzipation, er will noch mehr die Integration. Deshalb sieht er sich in der Direktbeziehung Einzelner - Staat der Allgewalt eines totalen Staates ausgesetzt - und aus diesem Grunde der Bedrohung seiner relativen Unabhängigkeit stürzt er sich im Verlangen nach integrativer Sicherheit in Klassen-, Schichten-, Gruppen- und Verbandszugehörigkeit.“ (Bossle, 1976, S. 165). EU, S. 676. Vgl. EU, S. 950; ZZ, S. 30. EU, S. 677. 111 die Voraussetzung dafür ist, daß wir es überhaupt wagen können, die Handlungen anderer zu beurteilen und abzuurteilen.“200 Auf die Weltlosigkeit bezogen entstehen der Solidaritätsverlust und die Verantwortungslosigkeit für die gemeinsame Welt gleichzeitig, weil die Solidarität unter Bürgern aus der gemeinsamen Verantwortlichkeit für das eigene politische Gemeinwesen entsteht. Solidarität ist weltorientiert.201 Anders gesagt sind Verantwortung und Solidarität erst im Rahmen der gemeinsamen Welt möglich. In der Tat geht es der totalen Herrschaft darum, zu verhindern, dass sich irgendeine Solidarität zwischen den Angehörigen der Massenbewegung bildet202, weil sie eines der Prinzipien ist, „die das Handeln inspirieren und lenken.“203 Da die Solidarität sowohl die Verschiedenheit von Menschen als auch die Einbeziehung der Anderen voraussetzt,204 kann die menschliche Pluralität erst in der Solidarität garantiert werden. Arendt erläutert: „Positive Solidarität im Politischen kann es nur geben auf Grund gemeinsamer Verantwortlichkeit. Bürger eines Landes zu sein heißt, die Verantwortung für das, was öffentlich von der Regierung im Namen des Landes getan wird, mittragen zu müssen, und zwar ganz unabhängig von individueller Schuld oder Unschuld“.205 Aus diesem Grund gehört der Weltverlust oder die Weltlosigkeit, also der Zusammenbruch ziviler, politischer und kultureller Vereinigungen und der Zustand der atomisierten Masse, zu der entscheidenden Bedingung, die „die neuzeitliche Massengesellschaft für die Anwandlungen der totalitären Herrschaft so anfällig macht.“206 1.3.3.2 Selbstlosigkeit Eines der auffälligsten Phänomene der modernen Massengesellschaft bezeichnet Arendt kurz und treffend als die „unheimliche Welt absoluter Selbstlosigkeit“.207 Sie vertritt die These, dass die Zerstörung des aktiven Verhältnisses zu den Mitmenschen letztlich auf die 200 201 202 203 204 205 206 207 EU, S. 946. In diesem Sinne bezeichnet Arendt die Solidarität als das politische Prinzip im Unterschied zum Mitleid, das als „ein auf sich selbst reflektiertes Gefühl“ verstanden wird. Arendt meint: „Sowohl die leidenschaftliche Anteilnahme an fremden Leid wie die Perversion dieses echten Leidens in das gefühlsselige Mitleid stehen außerhalb der Politik. Im politischen Raum entspricht ihnen die Solidarität, die sich nicht wie das Mitleid zu den Schwachen hingezogen fühlt, sondern in abwägender Freiheit von Gefühl wie Leidenschaft darauf sinnt, eine von dem Wechsel der Stimmungen und Empfindungen unabhängige, dauerhafte Interessengemeinschaft mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten zu etablieren.“ (ÜR, S. 112). Vgl. EU, S. 847. ÜR, S. 113. Vgl. ÜR, S. 113. MfZ, S. 96; vgl. Thaa, 1995, S. 417. Vollrath, 1979b, S. 74; vgl. Benhabib, 1998, S. 102; Arendt stellt fest: „Hitler konnte seine Organisation auf dem festen Grund einer bereits atomisierten Gesellschaft aufbauen, die er dann künstlich noch weiter atomisierte“ (Arendt, 2004, S. 47). EU, S. 739f. 112 absolute Selbstlosigkeit hinausläuft, weil sich das Selbst in der engen Verknüpfung mit der gemeinsamen Welt entwirft. Mit dem Verlust der gemeinsamen Welt haben die vermassten Individuen das Gefühl, „daß es auf einen selbst nicht ankommt.“208 Selbstlosigkeit definiert Arendt „als Gefühl (…), daß das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann“ und bezeichnet es als „ein allgemeines Massenphänomen“.209 Vor allem in totalitären Bewegungen wird der selbstlose Massenmensch „jener fanatischen und jederzeit zum Opfertod bereiten Ergebenheit fähig, die sich so deutlich von der Loyalität der treuesten Mitglieder normaler Parteien unterscheidet“.210 Im für die totalitären Bewegungen charakteristischen Glauben an die höchsten Zwecke geschichtlicher Gesetze und ihre Notwendigkeit werden sowohl Mitmenschen als auch das Selbst des Handelns überflüssig. Das Wirklichkeitsgefühl des Selbst entsteht für Arendt nur aus dem kommunikativen Zwischenraum, wo man darüber Aufschluss gibt, wer er ist. In der Welt radikaler Selbstlosigkeit, wo der Mensch das Wirklichkeitsgefühl verliert, wird das Individuum nur zu einem Funktionär: „Die spezifische Selbstlosigkeit des Massenmenschen erschien hier als eine Sucht nach Anonymität, nach reinem Funktionieren, nach Aufgehen in einem sogenannten größeren Ganzen – mit anderen Worten für jegliche Verwandlung, die dazu verhelfen könnte, die eigene, unechte Identität mit bestimmten Rollen und vorgeschriebenen Funktionen in der Gesellschaft auszulöschen.“211 Die Selbstlosigkeit als „Phänomen eines radikalen Selbstverlustes“212 hat mit dem verbitterten Egozentrismus zu tun und nicht mit moralischem und religiösem Altruismus. Der Egozentrismus konnte Arendt zufolge keine gemeinsamen Interessen entstehen lassen. 213 Hinsichtlich des Egozentrismus ist der Mensch nicht auf die gemeinsame Welt, sondern völlig „aufs Biologische und auf sich selbst“214 zurückgeworfen. In diesem Sinne besagt der Egozentrismus die absolute Selbstlosigkeit, die mit dem Phänomen der Weltlosigkeit verbunden ist. 215 Das Selbst oder die Persönlichkeit besitzt das Individuum nicht von Natur, sondern verdankt es vielmehr der Mitwelt.216 Den egozentrischen Zustand, in dem keiner mehr an208 209 210 211 212 213 214 215 216 EU, S. 679. EU, S. 679; vgl. auch DU, S. 130. EU, S. 739. EU, S. 707. EU, S. 680. Vgl. EU, S. 679. IWV, S. 68. Vgl. Pross, 1979, S. 203-210. Darauf weist Heuer zutreffend hin: „Das eigene Selbstbewusstsein beruht Arendt zufolge sowohl auf der aktiven Beziehung zu anderen Menschen als auch auf der eigenen geistigen und politischen Unabhängigkeit. Dieser Doppelaspekt prägte seitdem ihre politische Philosophie: einerseits ihre Abneigung gegenüber jeglichem gesellschaftlichen Konformismus, andererseits ihre tiefe Ablehnung eines individualistischen Politikverständnisses oder gar eines völligen Rückzugs ins Private.“ (Heuer, 1996, S. 110f.). 113 dere sehen und hören oder von anderen gesehen und gehört werden kann, stellt Arendt als Verlassenheit dar, in welcher menschliche Beziehungslosigkeit in der extremsten Form auftaucht. Der Menschenzustand der Verlassenheit entsteht, wenn „diese gemeinsam bewohnte Welt auseinanderbricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft.“217 Im absoluten Verlust der Welt und des Selbst glauben Menschen nicht mehr an die Realität der sichtbaren Welt. Dabei basiert die Urteilskraft des Individuums nicht mehr auf den wirklichen Erfahrungen und auf dem Interesse an den Mitmenschen, sondern auf „blinder Subsumtion,218 oder auf dem „Prozess logischen Deduzierens“219. Diese blinde Subsumtion, nämlich Logik, macht Ideologie selbst aus. Die „Logik einer Idee“220 und alle Selbstevidenz, von der das logische Denken ausgeht, können für sich eine Gültigkeit beanspruchen, welche von der Welt und dem anderen Menschen völlig unabhängig ist.221 Die Menschen, die weltlos wie selbstlos sind, suchen nach dem Schutz eines Kollektivs oder einer Ideologie, weil sie alle Maßstäbe der Urteile, nämlich die gemeinsame Welt, Selbstvertrauen, Gemeinsinn und die Perspektive, verlieren. An die Stelle des Selbst tritt das „Überselbst“222. Damit sind die Individualität des Menschen und seine Spontaneität völlig zerstört. Arendt hält fest: „Die Bedingungen, unter denen wir uns heute im politischen Feld bewegen, stehen unter der Androhung dieser verwüstenden Sandstürme. Ihre Gefahr ist nicht, daß sie etwas Bleibendes errichten können. Totalitäre Herrschaft gleich der Tyrannis trägt den Keim ihres Verderbens in sich. So wie Furcht und die Ohnmacht, aus der sie entspringt, ein antipolitisches Prinzip und eine dem politischen Handeln konträre Situation darstellen, so sind Verlassenheit und das ihr entspringende logisch-ideologische Deduzieren zum Ärgsten hin eine antisoziale Situation und ein alles menschliche Zusammensein ruinierendes Prinzip“.223 Nun werden die Individuen nur zum passiven und manipulierbaren Ob- 217 218 219 220 221 222 223 EU, S. 977. Adorno/Horkheimer, 1988, S. 211; zu Affinitäten, die sich hinsichtlich der Totalitarismusanalyse und Massengesellschaftsanalyse Hannah Arendts und Theodor W. Adornos auftun, siehe Ahrens, 1995, S. 27ff. EU, S. 975; „In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde. An der Wirklichkeit, die keiner mehr verlässlich bestätigt, beginnt der Verlassene mit Recht zu zweifeln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von anderen mit garantiert ist.“ (EU, S. 977). DTB, S. 193. ZVZ, S. 121. WE, S. 73. EU, S. 978f. 114 jektiv der Ideologie und der Propaganda. Schließlich werden die modernen Phänomene der Weltlosigkeit und damit der Selbstlosigkeit ein Nährboden für die totalitäre Herrschaft.224 1.3.3.3 Überflüssigkeit Verlassenheit oder Selbstlosigkeit in totalitärer Herrschaft ist aber nicht ein natürliches Phänomen, sondern ein organisiertes. 225 Die weltlosen und selbstlosen Menschen lassen sich durch das Zusammenspiel der Ideologie und des Terrors als Grundlage von politischer Organisation der totalitären Herrschaft in Massenbewegungen integrieren. In dieser organisierten Art und Weise werden Menschen überflüssig gemacht. Der Versuch der totalen Herrschaft, in den Konzentrationslagern als Ort des vollständigen Vollzugs totaler Herrschaft Menschen überflüssig zu machen, realisiert „die vollendete Sinnlosigkeit“ 226 des Menschen selbst und der Welt. Diese Sinnlosigkeit des Menschenlebens selbst ist der Kern der Entpolitisierung in der totalitären Herrschaft. Arendt schreibt: „Totale Herrschaft, die darauf ausgeht, alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten, ist nur möglich, wenn es gelingt, jeden Menschen auf eine sich immer gleich bleibende Identität von Reaktionen zu reduzieren, so daß jedes dieser Reaktionsbündel mit jeden anderen vertauschbar ist.“227 Die Zerstörung menschlicher Pluralität findet in der radikalsten Weise im Konzentrationslager, das „die konsequenteste Institution der totaler Herrschaft“ 228 ausmacht, statt. Die Konzentrationslager als „die radikalste Form der Negation einer pluralen Struktur der Welt“229 dienen nach Arendt nicht nur der Vernichtung von Menschen, sondern auch der Abschaffung der Pluralität der menschlichen Handlungen, weil die Pluralität der Handlungen in ihrer Unberechenbarkeit „das größte Hemmnis der totalen Herrschaft über den Menschen“230 ist. Arendt stellt fest: „Menschen, sofern sie mehr sind als reaktionsbegabte Erfüllungen von Funktionen, deren unterste und daher zentralste die rein tierischen Reaktionen bilden, sind für totalitäre Regime schlechterdings überflüssig. Worum es ihnen geht, ist 224 225 226 227 228 229 230 „Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft“, schreibt Arendt, „ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so daß jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlaß ist.“ (EU, S. 978). Vgl. EU, S. 979. Arendt, Die vollendete Sinnlosigkeit, in: NA, S. 7-31. EU, S. 907. EU, S. 912. Vowinckel, 2001, S. 98. EU, S. 937. 115 nicht, ein despotisches Regime über Menschen zu erreichen, sondern ein System, durch das Menschen überflüssig gemacht werden. Totale Macht ist zu leisten und zu gewährleisten nur, wenn es auf nichts anderes mehr ankommt als auf absolut kontrollierbare Reaktionsbereitschaft, auf restlos aller Spontaneität beraubte Marionetten.“231 In dem Versuch, Menschen überflüssig zu machen, erkennt Arendt etwas „radikal Böses“. Arendt verbindet „das radikal Böse“, das der Mensch dem Menschen antun kann und das bisher uns unbewusst war, mit der Erfindung eines Systems, in dem alle Menschen gleichermaßen überflüssig gemacht werden.232 In einem Brief an Jaspers schreibt sie: „Was das radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht, aber mir scheint, es hat irgendwie mit den folgenden Phänomenen zu tun: Die Überflüssigmachung von Menschen als Menschen (nicht sie als Mittel zu benutzen, was ja ihr Menschsein unangetastet lässt und nur ihre Menschenwürde verletzt, sondern sie qua Menschen überflüssig zu machen).“233 Nach Arendt spielt sich dieses radikal Böse, den Menschen überflüssig zu machen, in drei Stufen ab. In der ersten Stufe vollzieht sich „die Zerstörung der juristischen Person.“ 234 Im allgemeinen Sinne versteht sich die Rechtsperson als Person, die Rechte und Pflichten haben kann. In den Konzentrationslagern haben die Insassen kein Recht. In der totalen Herrschaft werden „die Strafe und Verbrechen als abergläubische Restbände“ liquidiert.235 Im zweiten Schritt dienen die Lager der Abtötung der moralischen Person. In den Konzentrationslagern wird die moralische Entscheidung des Gewissens sinnlos. Diese Situation stellt Arendt in folgender Formulierung deutlich fest: „Wie ein Mensch entscheiden soll, der vor die Wahl gestellt wird, entweder seine Freunde zu verraten und damit zu ermorden oder seine Frau und Kinder, für die er ja in jedem Sinne verantwortlich ist, dem Tode preiszugeben, ist schlechthin nicht mehr auszumachen, vor allem dann nicht, wenn Selbstmord automatisch Mord an der eigenen Familie bedeutet. Die Alternative ist hier nicht mehr zwischen Gut und Böse, sondern zwischen Mord und Mord. Klarer wird die Situation noch an dem Beispiel, das Camus zitiert: von der Frau in Griechenland, der die Nazis die Wahl überließen, welches von ihren drei Kindern getötet werden solle.“236 In der letzten Stufe geht es um die vollkommene Zerstörung der Individualität, die noch nach Tötung der moralischen und juristischen Person übrig bleibt. Arendt sagt: „Denn die Zerstörung der Individualität ist identisch mit der Ertötung der Spontaneität, der Fähigkeit des Menschen, von sich aus 231 232 233 234 235 236 EU, S. 937; in diesem Kontext bezeichnet Arendt das Konzentrationslager als „das richtunggebende Gesellschaftsideal“ (EU, S. 908). Vgl. Bernstein, 2004, S. 95. BAJ, S. 202. EU, S. 924. Adorno/Horkheimer, 1988, S. 242. EU, S. 930. 116 etwas Neues zu beginnen, das aus Reaktionen zu Umwelt und Geschehnissen nicht erklärbar ist.“237 Politisch gesagt hängt die Zerstörung der individuellen Spontaneität mit dem Absolutismus zusammen. Die Allmacht des Menschen entspricht der Ohnmacht der Menschen, die überflüssig gemacht wurden. Daher führt die totalitäre Vorstellung der Allmacht Arendts Auffassung zufolge notwendigerweise zur Überflüssigkeit der Menschen.238 Zusammenfassend wollte Arendt keineswegs meinen, dass die menschlichen Situationen, also Weltlosigkeit, Selbstlosigkeit und Überflüssigkeit, nur im Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts in Erscheinung traten. Der Totalitarismus gehört „keiner abgeschlossenen Vorgeschichte unserer Gegenwart“ an. 239 Wo keine Anerkennung menschlicher Pluralität existiert, könnte der Mensch immer überflüssig werden. Wenn Menschen unter den Bedingungen moderner Gesellschaften weltlos und selbstlos werden, können sie jederzeit behandelt werden, als ob sie überflüssig wären.240 In diesem Sinne kann man in der Analyse der Massen die außerordentlich zeitkritische Dimension des Arendtschen Denkens ablesen. In einem Brief an Jaspers schreibt Arendt über die Gefahr der Massengesellschaft der Moderne: „Was ich im Auge habe, sind totalitäre Entwicklungen aus dem Schoße der Gesellschaft, der Massengesellschaft selbst, ohne Bewegung und ohne feste Ideologie.“241 Im Ort, an dem sich die Zerstörung von Handlungspluralität verwirklicht, würde für Arendt der Beweis erbracht, dass „totale Herrschaft keine Utopie ist“.242 Die einzige Möglichkeit, diese Drohung zu verhindern, besteht in der Anerkennung menschlicher Pluralität und in der Sicherung der Pluralität durch eine politische Gemeinschaft, in der Menschen miteinander handeln und sprechen. Im Abschnitt „Die totale Herrschaft“ warnt Arendt uns: „So wie in der heutigen Welt totalitäre Tendenzen überall und nicht nur in totalitär regierten Ländern zu finden sind, so könnte diese zentrale Institution der totalen Herrschaft leicht den Sturz aller uns bekannten totalitären Regime überleben.“243 237 238 239 240 241 242 243 EU, S. 935. „Die Allmacht des Menschen macht die Menschen überflüssig.“ (BAJ, S. 202. Hervorhebung im Original; vgl. DTB, S. 53). Greven, 1999, S. 132. „Die ungeheure Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, daß in einem Zeitalter rapiden Bevölkerungszuwachses und ständigen Anwachsens der Bodenlosigkeit und Heimatlosigkeit überall dauernd Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat überflüssig werden. Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen sind, die dazu dienen könnten, Menschen wirklich als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben.“ (EU, S. 942). BAJ, S. 285. EU, S. 935. EU, S. 943. 117 2. Die Form der menschlichen Beziehung in der Gesellschaft Die Gesellschaft ist für Arendt mehr als nur ein Bereich des Lebens. Es ist eine Zusammenlebensform der modernen Menschen, es umfasst das Organisationsprinzip des öffentlichen und privaten Lebens. Das Gesellschaftliche bewirkt auf verschiedene Weise Wandlung der menschlichen Beziehungsform und der politischen Ordnung. Die gesellschaftliche Form der Menschenbeziehung ist durch Egalität, Konformismus, Anonymität und Intimität gekennzeichnet. Die gesamte gesellschaftliche Ordnung stellt sich als ein durch die Bürokratie organisiertes System dar. Die verschiedenen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens, die die Gesellschaft wesentlich von der Öffentlichkeit differenzieren, haben eine Gemeinsamkeit darin, dass sie auf der Zerstörung politischer Pluralität basieren.1 2.1 Die konformistische Beziehung: Egalität Die moderne Gesellschaft ist mit der Forderung nach Freiheit und Gleichheit zusammengefallen. Wie Tocqueville gesehen hat, war die Gleichheit das bemerkenswerteste Kennzeichen der modernen Zeitalter. 2 In dem naturrechtlichen abstrakten Menschenwesen, jeder Mensch sei gleich geboren, wurde der Begriff moderner Gleichheit begründet. Mit dieser Idee, dass alle Menschen als Gleiche geschaffen sind, versucht die moderne Gesellschaft, Menschen gleich zu machen: „Das Gleichmachen ist aber der Gesellschaft unter allen Umständen eigentümlich“.3 Die gesellschaftliche Gleichheit zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, als Egalität verstanden, ist nicht identisch mit der politischen Gleichheit. Die politische Gleichheit ist „keineswegs eine der menschlichen Natur inhärente Gleichartigkeit“4, sondern unmittelbar das Produkt des politischen Handelns und der politischen Meinung,5 denn Menschen seien vielmehr von Natur aus „weder frei noch gleich“.6 Arendt beschreibt dies so: „Gleichheit ist 1 2 3 4 5 6 Vgl. VA, S. 51. Vgl. Tocqueville, 1962, Bd. 2, S. 109; vgl. ZZ, S. 74. VA, S. 52. VA, S. 273. An einer Stelle des Totalitarismusbuchs schreibt Arendt über die Perspektive der Gleichheit folgendes: „Unter solchen Bedingungen hat die Gleichheit den Maßstab verloren, an dem sie gemessen, und die transzendente Wirklichkeit, durch die sie erklärt werden konnte. Sie als das, was sie ist, zu erkennen, nämlich als das Prinzip einer politischen Organisation, innerhalb deren ungleiche Menschen gleiche Rechte haben, hat sich erheblich schwerer erwiesen, als der Optimismus des frühen 19. Jahrhunderts geglaubt hat. Die modernen Massengesellschaften bieten zahllose Beispiele dafür, daß es erheblich näher liegt, Gleichheit für eine angeborene Eigenschaft eines jeden Individuums zu halten, das ‚normal‟, genannt wird, wenn es ist wie jedermann, und ‚anormal‟, wenn es sich unterscheidet.“ (EU, S. 139). ÜR, S. 36. 118 nicht gegeben, und als Gleiche nur sind wir das Produkt menschlichen Handelns. Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer eigenen Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren“.7 Die politische Gleichheit existiert nur in diesem spezifisch politischen Bereich, wo Menschen als Bürger und nicht als Privatpersonen zusammenkommen. Sie ist „keine Attribute einer wie immer gearteten menschlichen Natur, sondern Qualitäten einer von Menschen errichteten Welt“.8 Die Vorstellung dieser Gleichheit findet Arendt „im Begriff der Isonomie, der gleichmäßigen Beteiligung aller Bürger an der Ausübung der Macht.“ 9 Aber das bedeutet für Arendt keine exklusive Gleichheit eines bestimmten Bevölkerungsteils im Sinne des klassischen Republikanismus. Die politische Gleichheit, die Differenz einschließt, kann vielmehr vom Ausgleichen der bestehenden Verschiedenheit durch die politische Organisation realisiert werden.10 Die gemeinsame politische Anstrengung, „welche die Vielen miteinbezieht (…), gleicht die Verschiedenheit der Abstammung wie der persönlichen Qualität auf eine höchst effektive Weise aus; in ihr werden wirklich alle gleich.“11 Unabhängig von jeder Herkunft ist der öffentliche Raum deshalb „von vornherein für alle geöffnet“.12 Das macht die eigentlich modernen Grundzüge des Arendtschen Begriffs politischer Gleichheit aus, das sich von dem klassischen republikanischen Modell des Politischen abgrenzt und in dessen Zentrum die autonome Verständigungspraxis der Bürger steht. 13 Verkürzt gesagt: Die politische Gleichheit stützt sich „auf die ausgleichende Wirkung des Handelns selbst“.14 Arendt bezieht die politische Gleichheit auf die Freiheit politischen Handelns. „Gleichheit, die in der Neuzeit immer eine Forderung der Gerechtigkeit war, bildete in der Antike umgekehrt das eigentliche Wesen der Freiheit: Freisein hieß frei zu sein von den allen Herr- 7 8 9 10 11 12 13 14 EU, S. 622. ÜR, S. 36. Vernant, 1982, S. 57; Arendt hält fest: „Die Isonomie garantierte (isotes) Gleichheit, aber nicht weil alle Menschen als gleich geboren oder von Gott geschaffen sind, sondern im Gegenteil, weil die Menschen von Natur her (physei) nicht gleich sind und daher einer von Menschen errichteten Einrichtung bedürfen, nämlich der Polis, um kraft des Gesetzes (nomo) einander ebenbürtig zu werden.“ (ÜR, S. 36). „Das Prinzip der Gleichheit, das den öffentlichen Bereich beherrscht, kann überhaupt nur von Ungleichen realisiert werden, die sich dann einander in gewissen, von vornherein festgelegten Hinsichten und für bestimmte feststehende Ziele angleichen.“ (VA, S. 272f.). ÜR, S. 225. ÜR, S. 228. „Seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts ist Freiheit, zumindest prinzipiell, mit voller Gleichheit identifiziert worden; und obwohl es stimmt, daß die politische Theorie und Praxis in der Antike sehr wohl Kenntnis davon hatte, daß nicht frei sein kann, wer sich nicht als Gleicher unter Gleichen bewegt, ist nicht weniger wahr, daß dieses Verlangen nach Gleichheit niemals zuvor die ganze Bevölkerung eines Landes erfaßt hatte. Das war die erste Folge der Revolutionen und ist wahrscheinlich noch immer deren größte und weitreichendste.“ (ZVZ, S. 241; vgl. Brunkhorst, 1994b, S. 101). ÜR, S. 225. 119 schaftsverhältnissen innewohnenden Ungleichheiten, sich in einem Raum zu bewegen, in dem es weder Herrschen noch Beherrschtwerden gab.“15 Nach diesem Verständnis gibt es keine Spannung zwischen Gleichheit und Freiheit.16 Vielmehr ist die Gleichheit ursprünglich mit politischer Freiheit identisch, so dass „man nur unter seinesgleichen frei sein kann“.17 Das bedeutet, dass die Gleichheit die wesentlichste Bedingung der Möglichkeit der Freiheit ist. Die Freiheit, sich nur unter seinesgleichen zu bewegen, hängt von der Anwesenheit verschiedener Anderen im öffentlichen Raum ab. In diesem Sinne lassen sich die Gleichheit und Freiheit immer von der politischen Öffentlichkeit garantieren. So können die Menschen für Arendt überhaupt nur im politischen Sinne gleich sein. Wenn Arendt die Gleichheit als politisches Phänomen akzentuiert, koppelt sie Pluralität und Gleichheit aufs engste aneinander. Wie Arendt betont, besteht die Pluralität darin, „daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.“ 18 Arendts tiefe Ablehnung gegenüber der gesellschaftlichen Egalität bedeutet aber weder die Anerkennung der gesellschaftlich-klassischen Hierarchie noch die Verachtung der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsfrage.19 Ihr kritischer Blick auf die gesellschaftliche Gleichheit hängt mit der Tatsache zusammen, dass die moderne Gesellschaft eine monströse Egalität erzeugt. Aus dieser Egalität ergebe sich eine gefährliche Konsequenz: Konformismus. Die konformistische Egalität zielt auf die gesellschaftliche Homogenität einerseits und gleichzeitig auf die Fragmentierung andererseits. Die homogenisierte Gesellschaft ist in Arendts Augen der gefährliche Nährboden für totalitäre Systeme, weil in dieser Gesellschaft die individuellen Standpunkte der Meinungsbildung nivelliert werden. Durch eine vollständige Homogenisierung „verwandeln sich die Personen in Niemand“20, als ob alle Menschen „zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten“.21 Wie 15 16 17 18 19 20 21 VA, S. 43 und auch ÜR, S. 35; diese Perspektive ist vor allem von Brunkhorst kritisiert: „Arendt gibt nicht nur grundsätzlich der Freiheit den Vorrang vor der Gleichheit, sondern sie sieht die neuzeitliche Verbindung von Gleichheit und Gerechtigkeit wieder rückgängig gemacht.“(Brunkhorst, 1999, S. 138). Vgl. ÜR, S. 36; im Gegensatz dazu weist Leibholz das unaufhebbare Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit auf: „Freiheit erzeugt zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit. Je freier die Menschen sind, um so ungleicher werden sie. Je mehr die Menschen dagegen im radikal-demokratischen Sinne egalisiert werden, um so unfreier gestaltet sich ihr Leben.“ (Leibholz, 1967, S. 88f.). ÜR, S. 36 und ZVZ, S. 225. VA, S. 217; im Kommentar der WP betont Ludz diesen Punkt: „Keine Pluralität im recht verstandenen Sinne ohne Gleichheit, keine Gleichheit im recht verstandenen Sinne ohne Pluralität“ (Ludz, 1993, S. 170). Heuer stellt zu Recht fest: „Arendts Überlegung widerspricht nicht dem Gedanken, daß politische Freiheit und soziale Gleichheit miteinander verbunden sind. Deshalb befaßt sie sich auch nicht mit den Fragen der politischen Absicherung der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit, sondern konzentriert sich auf den politischen Raum und die Frage, wie originäres Handeln in größtmöglichem Maß Zugang zu ihm finden kann.“ (Heuer, 1992, S. 379). Heuer, 1996, S. 114. EU, S. 907. 120 Greven in einem kurzen Satz formuliert, widerspricht Arendts Konzept der Pluralität dem Phänomen gesellschaftlicher Egalität kategorisch: „Die Pluralität der Menschen, ihre Vielheit und Verschiedenheit sind entgegen den Homogenitätsannahmen neuzeitlicher Gesellschaftsvorstellung unverrückbare, unaufhebbare Grundbedingung für ihr Handeln.“22 Mit der homogenisierten Gesellschaft tritt zugleich die Fragmentierung der Menschen auf, so dass der Mensch seines Bezugs zur Welt und zu seinesgleichen beraubt wird. In der Beziehungslosigkeit, in der Fragmentierung des Menschen, verliert er seine Wirklichkeit, die die Gegenwart von anderen und die wechselseitige Anerkennung voraussetzt: „(…) der Sieg der Gleichheit in der modernen Welt ist nur die politische und juristische Anerkennung der Tatsache, daß die Gesellschaft den Bereich des Öffentlichen erobert hat, wobei automatisch Auszeichnung und Besonderheit zu Privatangelegenheiten von Einzelindividuen werden.“23 Die Negation der homogenisierten und zugleich fragmentierten Beziehungen ist nur durch Normalisierung erfolgreich zu bewältigen. Die Normalisierung menschlicher Angelegenheiten lässt sich wirksam durchsetzen, indem die Gesellschaft „alle Unstimmigkeiten als Abweichungen von einer in der Gesellschaft geltenden Norm und daher als asozial oder anomal“24 bezeichnet. In der normalisierten Gesellschaft wird das politische Handeln durch ein einheitliches Sich – Verhalten ersetzt und der Wettstreit zwischen den verschiedenen Meinungen überflüssig. In ihr werden Andersdenkende und Dissidenten nicht geduldet.25 Diese Gesellschaft leugnet menschliche Verschiedenheit, normiert den Anderen, zwingt ihn zur Anpassung. Daraus ergibt sich die Bedrohung der Pluralität, und die Gesellschaft gewinnt die eigentliche Herrschaft über das Individuum; „der gewaltlose Zwang öffentlicher Mißbilligung ist so stark, daß der Andersdenkende sich in seiner Einsamkeit und Ohnmacht nirgendwo hinwenden kann und am Ende entweder zum Konformismus oder zur Verzweifelung getrieben wird.“26 Die Gesellschaft, wo das allgemeine Interesse und die einstimmige 22 23 24 25 26 Greven, 1993, S. 70. VA, S. 52. VA, S. 53. „Die einheitliche Ausrichtung der Meinung ist eine bedrohliche Erscheinung und gehört zu dem Kennzeichen unseres modernen Massenzeitalters. Sie zerstört das gesellschaftliche wie das persönliche Leben, das auf der Tatsache beruht, daß wir von Natur aus und von unseren Überzeugungen her verschieden sind. Denn daß wir unterschiedliche Ansichten vertreten und uns bewußt sind, daß andere Leute über dieselbe Sache anders denken als wir, bewahrt uns vor jener gottähnlichen Gewißheit, welche allen Auseinandersetzungen ein Ende bereitet und die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die eines Ameisenhaufens reduziert. Wo es eine einhellige öffentliche Meinung gibt, besteht die Tendenz, Andersdenkende physisch zu beseitigen, denn massenhafte Übereinstimmung ist nicht das Ergebnis einer Übereinkunft, sondern ein Ausdruck von Fanatismus und Hysterie.“ (KZ, S. 89). ZZ, S. 90. 121 Meinung in voller Freiwilligkeit erreicht werden, lässt sich aus dem Konformismus herleiten, den Arendt als das letzte Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung versteht.27 Die Normalisierung der modernen Gesellschaft ist in der Tat die einzige Lösung und Alternative „vom als unversöhnlich erlebten Widerspruch zwischen weltloser Intimität und anonymer Gesellschaft“.28 Die zahllosen gesellschaftlichen Regeln laufen darauf hinaus, „die Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen und spontanes Handeln wie hervorragende Leistungen zu verhindern.“29 Die gesellschaftlich normierten Einzelnen sind nur ein Exemplar vom Ganzen. In diesem Kontext wird die moderne Gesellschaft als die Formel vom „Individualismus ohne Individuum“ 30 bezeichnet. Im Bereich von Arbeit, Konsum und Freizeit werden die isolierten, atomisierten und unabhängigen Menschen durch die normalisierten Rahmen wieder vergesellschaftet. Diese spezifische Dialektik charakterisiert unsere Gesellschaft. Denn „je mehr wir uns voneinander gelöst haben, um so abhängiger sind wir alle vom Ganzen geworden. Die ideelle und existentielle Individuation geht Hand in Hand mit der realen Vergesellschaftung“.31 Unter der Bedingung der normalisierten Egalität endet das menschliche Handeln, wie Arendt befürchtet, „schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität“.32 2.2 Die Subjektivierung der Beziehung: Intimität Man verbindet Intimität mit Wärme, Vertrauen und der Möglichkeit zu offenem Ausdruck von Gefühlen des Herzens.33 Mit dem Wort „Intimität“ meint Hannah Arendt das innerste Gefühlsleben des Individuums. In der modernen Gesellschaft hat sich die Funktion des privaten Bereiches verändert. Das Private, das in der Antike eigentlich einen Zustand der Abwesenheit von anderen kennzeichnete, nimmt in der Neuzeit „die Sphäre der Intimität“34 an. In keiner Epoche vor der Neuzeit hat nach Arendt das Private die Funktion einer Sphäre der Intimität übernommen. 27 28 29 30 31 32 33 34 Vgl. VA, S. 51. Marti, 1992, S. 514. VA, S. 51f. Guggenberger, 1987, S. 89. Guggenberger, 1987, S. 91. Hervorhebung im Original. VA, S. 411. In der Umgangsprache schließt das Wort Intimität „intime Beziehung, Vertraulichkeit“ mit ein. Es gehört zu dem Adjektiv „intim“, das erstens für „sehr vertraut, vertraulich“, zweitens „in jemandes Innern verborgen, geheim“ und drittens etwas „bis in die verborgensten Einzelheiten“ kennen, steht (Klappenbach/Steinitz (Hrsg.), 1969, S. 1972). VA, S. 48. 122 Die veränderte Funktion des Privaten, „Intimität zu gewährleisten“ 35, wird nicht wegen der Unterdrückung durch das Politische entdeckt, sondern wegen des Aufstieges des Gesellschaftlichen, das seinem Wesen nach konformistisch ist. In der konformistischen Gesellschaft wurde die „Innerlichkeit des Bewußtseins“ als die einzig „angemessene Domäne menschlicher Freiheit“ begriffen. 36 Kurz gesagt entsteht die Vorliebe für das Innenleben oder die Intimität aus der Angst davor und dem Protest dagegen, dass die Gesellschaft immer konformistischer wird.37 Von diesem spezifisch neuzeitlichen Zustand spricht Arendt: „Vor dem Druck der konformistischen Gesellschaft weicht man in ein Innenleben aus, das sie um so reicher und individualistischer gestalten konnten, als es überhaupt keine Folgen und keinen Einfluß auf die reale Welt hatte oder haben wollte“.38 Das moderne Phänomen der Intimität steht in engem Zusammenhang mit dem doppelten Verlust von öffentlichem und privatem Bereich. In der Gesellschaft, wo das Private öffentlich wird, verwandelt sich der öffentliche Raum in die Sphäre der Intimität. Nach Arendt gehört Rousseau zum „ersten bewussten Entdecker und gewissermaßen auch Theoretiker des Intimen“, der sich „gegen die ihm unerträgliche Perversion des menschlichen Herzens in der Gesellschaft, gegen das Eindringen der Gesellschaft und ihrer Maßstäbe in eine innerste Region“ wendet.39 Rousseau hält die Intimität für „Formen menschlicher Existenz“40 in der Gesellschaft. Er sieht in der Gesellschaft die inneren Konflikte, „die alle aus der doppelten Unfähigkeit stammen, sich in der Gesellschaft zu Hause zu fühlen und außerhalb der Gesellschaft zu leben.“41 Dieser Konflikt löst sich erst auf, wenn die Gesellschaft intimisiert wird, also wenn die moderne Gesellschaft von dem Prinzip der Intimität konstituiert wird. Das Prinzip der von Rousseau entdeckten Intimität ist „nicht Sache des Bürgers, sondern des modernen Menschen.“42 Erst durch die Intimisierung der Gesellschaft zerstört sich die 35 36 37 38 39 40 41 42 VA, S. 48f. Arendt zitiert es aus On Liberty von John Stuart Mill, ohne eine Quellseite anzugeben; zit. nach ÜR, S. 181f. „Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die moderne Entdeckung der Intimität wie eine Flucht vor der Gesellschaft, die sich der gesamten äußeren Welt bemächtigt hat, in die Subjektivität eines Inneren, in der allein man nun bergen und verbergen kann, was früher wie selbstverständlich in der Sicherheit der eigenen vier Wände aufgehoben und vor den Augen der Mitwelt geschützt war.“ (VA, S. 84). ÜR, S. 181; in seinem Buch über die Staatstheorie von Hobbes weist Carl Schmitt auf die neuzeitliche Verherrlichung des Innerlichen hin: „In dem Augenblick, in dem die Unterscheidung von Innen und Außen anerkannt wird, ist die Überlegenheit des Innerlichen über das Äußerliche und damit die des Privaten über das Öffentliche im Kern bereits entschiedene Sache. (…) Wer sich auf den Gegensatz von Innerlich und Äußerlich überhaupt einläßt, hat damit die letztliche Überlegenheit des Innerlichen gegenüber dem Äußerlichen, des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren, des Stillen gegenüber dem Lauten, des Jenseits gegenüber dem Diesseits bereits anerkannt.“ (Schmitt, 1938, S. 94f.). VA, S. 49; vgl. auch MfZ, S. 34. VA, S. 49. VA, S. 49. Herb, 2001, S. 66. 123 Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Raum und dem privaten Bereich völlig, wie Habermas zu Recht anmerkt: „Im gleichen Verhältnis, wie sich das Privatleben veröffentlicht, nimmt die Öffentlichkeit selbst Formen der Intimität an – in der Nachbarschaft ersteht die vorbürgerliche Großfamilie in neuer Gestalt. Hier wiederum verlieren die Momente der Privatsphäre und der Öffentlichkeit ihre Trennschärfe.“43 In dieser neuzeitlichen Stimmung, wie Arendt meint, „verwischen sich die Grenzen von intim und öffentlich; das Intime wird veröffentlicht, das Öffentliche nur im Intimen, schließlich im Klatsch erfahrbar und aussprechbar.“44 Arendt vertritt die These, in der intimisierten Gesellschaft werde das menschliche Zwischen zur Wüste. In der Gesellschaft als dem neuen Bereich des Intimen findet eine moderne Verinnerlichung jeder Beziehung statt. Die Verinnerlichung ist für Arendt das Resultat der gesellschaftlichen Grenzüberschreitung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich und stellt einen Verlust an Distanz zwischen Menschen, d.h. an Realität der Welt dar.45 „Weltverlust und Intimität zeigen die zwei Seiten ein und derselben Medaille der Moderne.“46 In der intimen Beziehung wird auch die Enthüllung eines Wer, die sich nur in der spezifischen Pluralität der anderen aktualisiert, unmöglich: „In dieser Verinnerlichung vollzieht sich die Apolitisierung des Menschen, der nun im Zwischen nur noch den Feind des Innern, des eigentlichen Menschen sieht. Es ist der Sieg des Privaten über das Öffentliche.“ 47 Diese Betrachtungsweise findet sich auch bei dem amerikanischen Sozialwissenschaftler Richard Sennett, der Student von Hannah Arendt an der Universität von Chicago war. In seinem berühmten Buch, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, beschreibt er den Niedergang der politischen Öffentlichkeit als „Tyrannei der Intimität“.48 Die Intimisierung der Gesellschaft bezeichnet Sennett in seinen am politischen Denken von Arendt geschuldeten Grundargumenten als die Veröffentlichung des Privaten und die Privatisierung des Öffentlichen. In der intimisierten Gesellschaft kennzeichnet sich die Zersetzung der Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem. Damit wird auch der Zwischenraum zwischen Menschen zerstört, weil wir in der Intimität versuchen, „Privatheit, das Alleinsein mit 43 44 45 46 47 48 Habermas, 1969, S. 174. RV, S. 31. „(…) wenn auch die vollentwickelte Intimität des privaten Innenlebens, die wir der Neuzeit und dem Niedergang des Öffentlichen zu danken haben, die Skala subjektiven Fühlens und privaten Empfindens aufs höchste gesteigert und bereichert hat, so konnte doch diese Intensivierung naturgemäß nur auf Kosten des Vertrauens in die Wirklichkeit der Welt und der in ihr erscheinenden Menschen zustande kommen.“ (VA, S. 63). Herb, 2001, S. 66. DTB, S. 426. Sennett, 1998. 124 uns selbst, mit der Familie, mit Freunden zum Selbstzweck zu machen“49. Sennett sagt im Folgenden: „In der modernen Gesellschaft nimmt das Problem der Öffentlichkeit eine doppelte Gestalt an. Verhaltensweisen und Fragestellungen, die unpersönlich sind, erwecken keine großen Leidenschaften; sie erwecken erst dann Leidenschaft, wenn die Menschen fälschlich mit ihnen umgehen, als handele es sich um etwas Persönliches. Dieses Problem von Öffentlichkeit erzeugt innerhalb des Privatlebens ein weiteres Problem. Die Welt intimer Empfindungen verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Intimität darstellen würde. Der Zerfall des öffentlichen Lebens deformiert also auch die intimen Beziehungen, die nun sämtliche Interessen der Menschen mit Beschlag belegen.“50 In der intimen Gesellschaft verwandelt sich das Politische selbst, das aus dem menschlichen Zwischen entsteht, in die Form „psychologischer Probleme“51. Anders gesagt ist der Verlust der gemeinsamen Welt in moderner Gesellschaft mit psychologischen Mitteln zu retten, weil das Innere „den gleichen Standards unterworfen ist“.52 Arendt spricht von einer „pervertierende(n) Umwandlung eines politischen in einen gesellschaftlich-psychologischen Begriff“.53 In der psychologischen Argumentation werden alle menschlichen Angelegenheiten in seelische Probleme uminterpretiert. Dementsprechend wird alles menschliche Handeln psychologisch interpretiert. Nach Arendt versucht die Psychologie, uns den Bedingungen des weltlosen „Wüstenlebens anzupassen“ und in dieser Bedingung „wohlfühlen zu lassen“.54 Wenn sich die Wirklichkeit und das Andere auf Subjektives, Gefühles und Empfundenes reduziert, dann findet die radikale Subjektivierung und Psychologisierung politischer Probleme statt, wie Sennett sagt: „Soziale Beziehungen jeder Art sind um so realer, glaubhafter und authentischer, je näher sie den inneren, psychologischen Bedürfnissen der einzelnen kommen. Die Ideologie der Intimität verwandelt alle politischen Kategorien in psychologische.“55 Die Intimisierung und Psychologisierung der menschlichen Angelegenheiten endet schließlich in der Zerstörung der Pluralität. Im Brief an McCarthy schreibt Arendt: „Innen gibt es keine Unterschiede, alle sind gleich. Nur was außen erscheint, ist wirklich, anders, ja einmalig. In einem Wort, unsere Gefühle sind alle die gleichen, der Unterschied ist, worin und 49 50 51 52 53 54 55 Sennett, 1998, S. 16. Sennett, 1998, S. 19. EU, S. 192. DTB, S. 646. EU, S. 139. WP, S. 181. Sennett, 1998, S. 329. 125 wie wir sie erscheinen lassen.“56 Die psychologische Auffassung menschlicher Angelegenheiten hat daher zur Folge, „den handelnden Menschen und seine Freiheit aus dem Gang der Ereignisse auszuschalten“, 57 weil es nur um die Analyse psychischer Zustände geht. Und so spricht Arendt vom „Trugschluss aller modernen Psychologie“ 58, die die eigene Sicht verabsolutiere.59 Sie hält fest: „Die Ergebnisse der modernen Psychologie sind höchst monoton und durchweg abstoßend und stehen in einem offensichtlichen Gegensatz zu der ungeheuren Vielfalt und dem Reichtum des wahrnehmbaren menschlichen Verhaltens; sie bezeugen damit den radikalen Unterschied zwischen dem Inneren und dem Äußeren des menschlichen Körpers.“60 Als eine moderne Form der Innerlichkeit verbindet sich die Intimität mit der Herausbildung der modernen Subjektivität. Die Subjektivierung der objektiv gegebenen Wirklichkeit ist nach Arendts Ansicht für die modernen Menschen charakteristisch. Das moderne Individuum bleibt nur „in der radikalen Subjektivität seines Gefühlslebens“.61 In der intimen Gesellschaft wird das öffentliche Leben mehr und mehr durch das Interesse an dem eigenen Selbst überlagert. Dabei kommen alle Beziehungen zur „Erweiterung des dualen Ich – und ich“62. Diese Subjektivierung ist sowohl mit der Vielfalt der Perspektiven als auch mit jeder Art von Differenz unvereinbar. Exkurs: Die politische Freundschaft Die intime Beziehung ist in der Tat modernes Surrogat für öffentliche Lebensweise. Im Gegensatz zur privaten und intimen Beziehung in der Gesellschaft spricht Arendt von der Freundschaft als der Beziehungsform des gesunden Gemeinwesens. So gehört die Freundschaft für sie „zu einer politischen Kategorie“.63 Die politische Freundschaft beruht auf der einfachen Tatsache, ohne andere Menschen sei Handeln nicht möglich. Das politische Gemeinwesen beruht auf der Freundschaft, die sich von der bloßen blutsgebundenen Verbundenheit ebenso unterscheidet wie von der modernen intimen Freundschaft, die sich nur auf Distanz zur öffentlichen Welt gründet. Durch den Begriff der Freundschaft will Arendt das Bild einer neuen politischen Beziehung des Menschen zeigen, in der sich die Pluralität rea56 57 58 59 60 61 62 63 BAM, S. 356. ZVZ, S. 209. DTB, S. 659. DTB, S. 389. DD, S. 44f. VA, S. 49; hier ist nennenswert, dass Rousseau als der Entdeckung der Intimität das politische Problem in der psychologischen Überlegung zu begründen versucht (vgl. ÜR, S. 123f.; siehe auch Abschnitt, III). DW, S. 190. Nitschke, 2000, S. 495ff. 126 lisieren lässt. Freundschaft bezeichnet „die Fähigkeit zu einem unvoreingenommenen und freien Dialog zwischen zwei Menschen, ohne die Absicherung durch eine gemeinsame kulturelle Zugehörigkeit.“64 Der Freundschaftsbegriff von Arendt trägt zwei wesentliche Elemente, also die Freundschaft „zwischen Gleichen“ einerseits und die Freundschaft in der gemeinsamen Welt andererseits. Die politische Freundschaft beruht auf der höchstemöglichen Gleichheit und auf „dem Vertrauen von ihresgleichen“65. Bekanntlich präzisiert Aristoteles bereits die Freundschaft als eine Gleichheit zwischen Freunden.66 Und zwei befreundete Menschen sind miteinander in der gemeinsamen Welt verbunden, ohne ihre verschiedenen Perspektiven und Personalität zu verlieren. Der Modus der Freundschaft ist daher nicht Gegeneinander, aber auch nicht das Füreinander, sondern das Miteinander, das einen personalen Bezug aufweist, ohne der Intimität und Nähe einer privaten Beziehung zu bedürfen.67 In der Freundschaft präsentiert sich die konkrete Einzigartigkeit des Individuums. Politisch gesagt beruht die Freundschaft auf der politischen Anstrengung, welche die Fremde miteinbezieht: „Die Fremdheit, die gleich in der ersten Bekanntschaft klar war, bleibt kein brutales Faktum, sondern ist - (…) dank der Menschlichkeit der Sprache - einzubeziehen in den Gang einer Freundschaft.“68 Die Freundschaft hat also nichts mit der menschlichen Natur zu tun, sondern sie ist das Produkt des politischen Handelns.69 Arendt koppelt die Menschlichkeit mit der Freundschaft statt mit der intimen Beziehung wie Brüderlichkeit. Sie preist daher Lessings Einsicht, dass die konkrete Freundschaft in der Öffentlichkeit von größerer Bedeutung sei als die abstrakte Vorstellung von Egalität oder 64 65 66 67 68 69 Nordmann, 2002, S. 306; wenn Arendt Freundschaft von der intimen Beziehung unterscheidet, behält sie die antike Auffassung im Auge, die politische Gemeinschaft habe Freundschaftscharakter. Im Anschluss an Aristoteles‟ Definition der Freundschaft weist Alasdaier MacIntyre darauf hin: „Freundschaft beinhaltet nach Aristoteles natürlich Zuneigung. Aber diese Zuneigung wächst innerhalb einer Beziehung, die definiert ist im Sinne einer gemeinsamen Treuepflicht gegenüber dem Guten und dem Streben nach ihm. Die Zuneigung ist zweitrangig, was nicht im mindersten bedeutet, daß sie unwichtig wäre. In moderner Sicht ist Zuneigung oft der Hauptaspekt; unsere Freunde sind für uns diejenigen, die wir gern haben, vielleicht sogar sehr gern haben. Freundschaft ist zum größten Teil die Beziehung für einen bestimmten emotionalen Zustand geworden, weniger für eine soziale und politische Beziehung (…). Vom aristotelischen Standpunkt betrachtet kann eine liberale politische Gesellschaft von heute tatsächlich nur als Ansammlung von Bürgern von nirgendwo erscheinen, die sich zu ihrem Schutz zusammengetan haben. Sie besitzen bestenfalls jene minderwertige Form der Freundschaft, die auf dem gegenseitigen Vorteil gegründet ist.“ (MacIntyre, 1987, S. 210). ÜR, S. 358. Aristoteles, NE 1157 b 36; im Hinblick auf dieses Wesen der Freundschaft lässt sich die Aussage von Aristoteles verstehen: „Sofern er also Sklave ist, ist keine Freundschaft mit ihm möglich, wohl aber sofern er Mensch ist (…). Denn wo man sich gleich steht, hat man vieles gemeinsam.“ (NE 1161 b 5ff.). Vgl. VA, S. 310. RV, S. 147. „Wo uns auch Gaben, Natur trennt, verbindet uns Freundschaft“ (RV, S. 147). 127 von einer Brüderlichkeit.70 Bei der Freundschaft geht es um die Weltbezogenheit: „Daß das Humane nicht schwärmerisch auftritt, sondern nüchtern und kühl; daß die Menschlichkeit sich nicht in der Brüderlichkeit erweist, sondern in der Freundschaft; daß die Freundschaft nicht intim persönlich ist, sondern politische Ansprüche stellt und auf die Welt bezogen bleibt.“71 Vor diesem Hintergrund unterscheidet Arendt die Freundschaft von der natürlichen Liebe im privaten Raum. Sie weist auf die weltzerstörende Gefährlichkeit der Leidenschaft der Liebe hin. Bei der Liebe existiert die Person unabhängig von dem Weltbezug: „In der Leidenschaft, mit der die Liebe nur das Wer des Anderen ergreift, geht der weltliche Zwischenraum, durch den wir mit anderen verbunden und zugleich von ihnen getrennt sind, gleichsam in Flammen auf (…). Die Liebe ist ihrem Wesen nach nicht nur weltlos, sondern sogar weltzerstörend, und daher nicht nur apolitisch, sondern sogar antipolitisch – vermutlich die mächtigste aller antipolitischen Kräfte.“72 Man muss gemeinsam Welt erleben, damit sich Freundschaften bilden. Die politische Freundschaft manifestiert sich in der gemeinsamen Liebe zur Welt und stellt eine Gemeinschaft „für etwas und gegen etwas in der Welt“73 dar. Ohne diese gemeinsame Welt, wie Hans Jonas sagt, „wird jede Beziehung pathologisch, parasitär, kannibalisch – und man hat nicht einmal etwas Wirkliches verschluckt.“74 Die Beziehung der Freundschaft erfolgt immer unter Weltbezug. Zugleich erscheint die konkrete Person nur unter Weltbezug, also im Horizont des weltlichen Miteinanders. Während die intimisierte Beziehung die Tendenz hat, den Einzelnen vollkommen zu negieren, gibt der Mensch in der Freundschaft Aufschluss darüber, wer er ist. Arendt schreibt: „Gemeinschaft ist das, was Freundschaft zustande bringt, und offensichtlich zielt dieses Gleichmachen auf die ständig zunehmende Differenzierung der Bürger, die einem agonalen Leben innewohnt.“75 Im Hinblick auf diese Personenthüllung in der Freundschaft ist das Prinzip des Respekts entscheidend. Dieses Prinzip entsteht, wie Aristoteles feststellt, nur in den gemeinsamen Angelegenheiten: „wer der Gemeinschaft nichts Gutes leistet, genießt auch keine Ehre.“76 Das Prinzip des Respekts bei Freundschaft bezieht sich auch auf das ehrenvolle Handeln der konkreten Person. In diesem Sinne ragt die Freundschaft nicht nur über den funktionalen Effekt für die politische Gemeinschaft hinaus. Respekt-haben gehört zur Anerkennung 70 71 72 73 74 75 76 Arendt bemerkt über Lessing: „Er wollte vieler Menschen Freund, aber keines Menschen Bruder sein.“ (MfZ, S. 41). MfZ, S. 36. VA, S. 309f.; vgl. IWV, S. 63f.; vgl. Thürmer-Rohr, 2001. Jonas, 1979, S. 368. Hervorhebung im Original. Jonas, 1979, S. 369. PP, S. 387. Aristoteles, NE 1163 b 5. 128 oder zur „Achtung vor der Person, die aber in diesem Fall aus der Entfernung gesehen ist, welche der weltliche Raum zwischen uns legt, wobei diese Achtung ganz unabhängig ist von Eigenschaften der Person, die wir bewundern mögen, oder von Leistung, die wir hochschätzen.“77 Arendts Ansicht zufolge ist der moderne Respektverlust ein Kennzeichen für die fortschreitende Intimisierung des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die moderne intime Beziehung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen „den Streit vermeiden und möglichst nur mit Menschen zu tun haben wollen, mit denen sie nicht in einen Streit geraten können.“78 Die Wärme der Intimität ersetzt den Redestreit in der Öffentlichkeit. Freundschaft bildet sich jedoch, wie Thürmer-Rohr meint, „nicht in der Ähnlichkeit oder Übereinstimmung der Perspektiven, sondern gerade in deren Unterschied.“79 In der Öffentlichkeit treffen sich Menschen miteinander als Freunde, die verschiedene Perspektiven haben. Im Arendtschen Sinne entsteht Freundschaft weder in der Streitlosigkeit noch in der Distanzlosigkeit noch in der Übereinstimmung der Perspektiven, sondern im Sprechen über die gemeinsame Welt und die Dinge dieser Welt. Indem Freundschaft das Miteinanderreden und den Austausch der Meinungen ermöglicht, bietet sie die beste Voraussetzung für Gespräch und Verstehen. 80 Aristoteles empfiehlt daher den Gesetzgebern, sich mehr um die Freundschaft als um die Gerechtigkeit zu bemühen.81 Er weist darauf hin, dass die Polisverfassungen nicht allein auf Rechtskriterien beruhen können, sondern freundschaftlicher Verbindungen bedürfen. Auf diese politische Bedeutung der Freundschaft gibt uns Arendt den Hinweis: „Das politische Element in der Freundschaft besteht darin, daß in dem wahrheitsliebenden Dialog jeder der Freunde die der Meinung des anderen innewohnende Wahrheit verstehen kann. Ein Freund versteht seinen Freund mehr als eine Person, weil er versteht, wie und in welch spezifischer Artikuliertheit die gemeinsame Welt dem anderen erscheint, während er als eine Person für alle Zeiten ungleich oder verschieden ist.“82 Die Bedingung der Pluralität bietet daher die besten Chancen für Freundschaften. Im Unterschied zum Gespräch in der Freundschaft spricht der Mensch in den Gesprächen der Intimität nur über sich selbst. In den intimen Gesprächen funktioniert Sprache nur „als 77 78 79 80 81 82 VA, S. 310. MfZ, S. 41. Thürmer-Rohr, 2001, S. 138. Vgl. PP, S. 387; „Verstanden werden ist das eigentliche Glück des Gesprächs“ (RV, S. 29). Vgl. Aristoteles, NE 1155 a 23ff.; an dieser Stelle formuliert Aristoteles: „Freundschaft ist es auch, die die Staaten erhält und den Gesetzgebern mehr am Herzen liegt als die Gerechtigkeit. Denn die Eintracht ist offenbar mit ihr verwandt, und auf diese ist das Hauptaugenmerk der Staatslenker gerichtet, während sie die Zwietracht als eine Feindschaft am meisten zu verbannen bemüht sind. Auch bedarf es unter Freunden der Gerechtigkeit nicht, wohl aber unter Gerechten der Freundschaft als eine Ergänzung der Gerechtigkeit, und das höchste Recht wird unter Freunden angetroffen.“ PP, S. 387. 129 Praxis, in der sich die Subjektivität der Subjekte konstituiert.“83 Wenn der Unterschied und der Streit der Meinungen im Raum der Öffentlichkeit andauern müssen, befähigt nur Freundschaft, diesen Streit und Unterschied zu ertragen. Denn „das Vertrauen in die Freundschaft ist so groß, daß man weiß, nichts kann verletzend sein.“84 2.3 Die Anonymisierung der Beziehung: Bürokratie Ein charakteristisches Merkmal der politischen Organisation moderner Gesellschaften ist für Arendt die Bürokratie, die das Politische durch die Verwaltung ersetzt. Um das Arendtsche Verständnis der Bürokratie zu verstehen, kann man zuerst vor allem auf Max Weber, der die Bürokratie als das spezifisch Kennzeichen der Moderne angesehen hat, zurückgreifen. Max Weber wollte durch den Bürokratiebegriff die Funktionsweise von organisierter Herrschaft in der kapitalistischen Gesellschaft erklären. Kalkulierbarkeit, Effizienz und Unpersönlichkeit sind das Wesen der bürokratischen Herrschaftsstruktur: „Im modernen Staat liegt die wirkliche Herrschaft, welche sich ja weder in parlamentarischen Reden, noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung im Alltagsleben auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums, des militärischen wie des zivilen.“85 Die unpersönliche und in ihrer Tätigkeit an allgemeingültige Normen gebundene Bürokratie entspricht der modernen Auffassung, dass auch die rationalisierte Verwaltung ohne „Ansehen der Person“86 ihre Tätigkeit ausübt. Daher definiert Weber die Bürokratie als „Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit“.87 Diese Analyse der modernen Bürokratie ist der Sicht Arendts nicht unähnlich. Hinsichtlich der Ähnlichkeit des Verständnisses von Bürokratie vertritt Clemens Knobloch die These, dass „kaum jemand Webers Lebensthema, die Rationalisierung und Bürokratisierung von Herrschaft, so stringent weitergedacht hat wie Hannah Arendt“.88 Für die Arendtsche Analyse der totalitären Herrschaft steht die Kritik an der Bürokratie im Mittelpunkt. Arendt betont, dass totalitäre Herrschaft das Mittel zur systematischen Massenvernichtung der modernen Bürokratie entliehen hat. 89 Welche Aspekte der modernen 83 84 85 86 87 88 89 Boll, 1997, S. 92; vgl. MfZ, S. 35. IWV, S. 113. Weber, WG, S. 825. Weber, WG, S. 664. Weber, WG, S. 129. Knobloch, 1993, S. 738. Vgl. EU, S. 405ff.; „Daß es im Wesen des totalen Herrschaftsapparates und vielleicht in der Natur jeder Bürokratie liegt, aus Menschen Funktionäre und bloße Räder im Verwaltungsbetrieb zu machen und sie damit zu entmenschlichen, ist von Bedeutung für die Politik- und Sozialwissenschaften, und über die 130 Bürokratie machten die Massenvernichtung durchführbar? Arendts Kritik der Bürokratie beruht auf drei Elementen der bürokratisierten Gesellschaft: Anonymität der Beziehung, Identifizierung der Politik mit der rationalen Verwaltung und Vernichtung des Machtpotenzials. Arendts erster Einwand gegen die bürokratische Gesellschaft ist, dass diese Gesellschaft die der Anonymität ist. Die Anonymität besagt, dass Menschen von anderen in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden. Die Bürokratie ist für Arendt „die anonyme Herrschaft auf dem Verordnungswege“90, also die „Herrschaft von Niemand“91. In der modernen Gesellschaft sind alle Lebensbereiche durch eine anonyme Maschinerie der Bürokratie entpersönlicht. Dafür sind die Anonymität und das Fehlen persönlicher Verantwortlichkeit charakteristisch. So kann sich kein politisches Bewusstsein entwickeln, „bei dem jeder Bürger sich mehr oder minder verantwortlich für die Abwicklung der Regierungsgeschäfte“ fühlt.92 Man entzieht sich der Verantwortung sowohl für die gemeinsame Welt als auch für seine Taten. Arendt schreibt: „Wir können niemanden für das, was geschieht, verantwortlich machen, weil es für die Taten und Ereignisse eigentlich keinen Urheber gibt.“93 In dieser Gesellschaft wird die Weise der menschlichen Beziehung so anonym, dass das menschliche Handeln die „Eigenschaft, über das Wer der Person mit Aufschluß zu geben“94, verliert und „daß die einmalige Identität der Handelnden selbst in ihm keine Rolle mehr spielt.“ 95 Es gibt zwischen der Tat und ihrem Täter keine Entsprechung. Das Handeln ohne Handelnde macht keinen Sinn, sondern es wird nur „zu einer Art Leistung wie andere gegenstandsgebundene Leistungen auch“.96 Jedes Handeln macht nur Sinn, wenn es auf konkrete Individuen angewiesen ist.97 Arendt formuliert: „Handeln, das in der Anonymität verbleibt, eine Tat, für die kein Täter namhaft gemacht werden kann, ist sinnlos und verfällt der Vergessenheit; es ist niemand da, von dem man die Geschichte erzählen könnte.“98 Das bedeutet, dass der unsichtbar gewordene Einzelmensch in der bürokratischen Gesellschaft so überflüssig werden könnte, dass er als der unsichtbare Funktionär des gesellschaftlichen Apparates immer austauschbar ist. 90 91 92 93 94 95 96 97 98 Herrschaft des Niemand, die eigentliche Staatsform der Büro-kratie, kann man sich lange und mit Gewinn streiten.“ (EJ, S. 18). EU, S. 443. VA, S. 51. EU, S. 676. IWV, S. 100. VA, S. 221. VA, S. 221. VA, S. 221. „Handeln ohne einen Namen, ohne ein dazugehöriges Wer, ist bedeutungslos“ (Arendt, 1998, S. 1007). VA, S. 222. 131 Arendts zweiter Einwand gegen die moderne Bürokratie besteht unmittelbar darin, dass es dabei nur um die Verwaltung geht und nicht um die politische und öffentliche Handlung. Das ist die Unterordnung des Politischen unter die Verwaltung. In diesem Zusammenhang bezeichnet Arendt die Bürokratie als „Herrschaft durch Verwaltung“99 oder als „Herrschaft des Büros“ 100 . Die Gefahr der bürokratischen Verwaltung besteht Arendt zufolge darin, „daß öffentliche und private Interessen sich auf eine höchst unappetitliche und schädliche Weise miteinander vermischen.“ 101 Die Vorteile der Bürokratie für eine wirtschaftlich wachsende Gesellschaft liegen auf der Hand. Die Bürokratie ist mächtig nicht deshalb, weil sie sich der Herrschaft bemächtigt, sondern deshalb, weil sie allein über die Fachkompetenz verfügt, die zur Erfüllung der komplexen Aufgaben des modernen Staates erforderlich ist. Diese Analyse findet sich schon bei Max Weber: „Die zunehmende Kompliziertheit der Wirtschaft“ und vor allem „die ökonomische Vergesellschaftung als solche“ in der modernen Gesellschaft befördern die Bürokratisierung.102 Die ökonomische Vergesellschaftung, also das Öffentlich-Werden der Ökonomie, ist mit der Durchsetzung des unpersönlichen, notwendigen Lebensprozesses identisch. Wo die „Verwaltung der Sachen“103 das Politische ersetzt und wo das Gesellschaftliche über das Politische triumphiert, wird die zentralistische Bürokratie notwendig. Anders ausgedrückt beruht die Bürokratie auf dem Verlangen nach starker Machtkonzentration in den Händen der bürokratischen Funktionäre. Arendt ist der Meinung, dass die anonyme Herrschaft der Bürokratie zur potentiell nicht weniger gewaltsamen Herrschaft wird, selbst wenn es sich nicht wie in früheren Zeiten um eine Tyrannei des Schreckens und der Unterdrückung handelt. Sie stellt fest: „Aber dieser Niemand, nämlich die hypothetische Einheitlichkeit des ökonomischen Gesellschaftsinteresses wie die hypothetische Einstimmigkeit der gängigen Meinungen (…) regiert deshalb nicht weniger despotisch, weil er an keine Person gebunden ist (…). Die Herrschaft des Niemand ist so wenig Nicht – Herrschaft, daß sie sich unter gewissen Umständen sogar als eine der grausamsten und tyrannischsten Herrschaftsformen entpuppen kann.“104 Die Bürokratie ist „keineswegs die mildeste der Herrschaftsformen“, die „daher der Freiheit sehr gut den Garaus machen kann.“105 Drittens lässt sich die Quelle der Macht im Zustand der Bürokratie wirksam zerstören. Unter bürokratischer Administration werden jene öffentlichen Räume überflüssig, wo die 99 100 101 102 103 104 105 EU, S. 459. IWV, S. 92. ÜR, S. 323. Weber, 1971a, S. 63 und 65. Engels, MEW, Bd. 20, S. 262. VA, S. 51. Arendt, 1962, S. 237; vgl. Tocqueville, 1962, Bd. 2, S. 342. 132 Menschen zur Diskussion und Meinungsbildung zusammenhandeln. Damit verbunden versteht sich die Politik nicht mehr als das menschliche Zusammenhandeln und –reden. Darüber hinaus wird in der bürokratisch – zentralisierten Niemandherrschaft die Freiheit des spontanen politischen Handelns drastisch gefährdet, „weil mit diesem Niemand niemand reden und vor ihm vorstellig werden kann.“106 Die seit den 60er Jahren aufgebrochenen Studentenunruhen in der ganzen Welt bezeichnet Arendt als Widerstand gegen die zentralisierten Bürokratien. Die zentralisierte Bürokratie sei, wie sich Arendt sicher ist, eine schreckliche Gefahr, weil sie die Macht von unten verhindert und den öffentlichen Raum als Machtquelle zerstört, indem sie die Menschen der Möglichkeit des Mithandelns beraubt.107 Die Macht wird durch Ohnmacht ersetzt.108 Aus dieser Ohnmacht entsteht der verhängnisvolle Gedanke, „daß das eigene Schicksal von einer übergeordneten Macht abhängt.“109 An anderer Stelle formuliert Arendt im Folgenden: „denn in einer vollentwickelten Bürokratie gibt es, wenn man Verantwortung verlangt oder auch Reformen, nur den Niemand. Und mit dem Niemand kann man nicht rechnen, ihn kann man nicht beeinflussen oder überzeugen, auf ihn keinen Druck der Macht ausüben. Bürokratie ist diejenige Staatsform, in welcher es niemand mehr gibt, der Macht ausübt; und wo alle gleichermaßen ohnmächtig sind, haben wir eine Tyrannis ohne Tyrannen.“110 106 107 108 109 110 WP, S. 14. Vgl. IWV, S. 101. Charles Taylors Sicht auf diese Frage ist nicht unähnlich. Eine Seite seines Unbehagens an der Moderne besteht darin, dass der Bürger in der bürokratischen Gesellschaft ohnmächtig wird: „Dadurch wird der Bürger in noch höherem Maße demotiviert, und der schädliche Zirkel des milden Despotismus schließt sich. Was sich jetzt in unserer äußerst zentralisierten und bürokratischen politischen Welt abspielt, ist vielleicht eine solche Entfremdung von der öffentlichen Sphäre, aus der sich dann der entsprechende Verlust der politischen Kontrolle ergibt.“ (Taylor, 1995, S. 17). ÜR, S. 144. MG, S. 203. 133 3. Kritische Argumentationen über Arendts Dualismus von Gesellschaftlichem und Politischem Festgestellt haben wir oben, dass der Ausgangspunkt der Arendtschen Kritik an der modernen Gesellschaft darin besteht, dass der Verfall des Politischen in der modernen Gesellschaft erfolgt, wo die öffentlichen Angelegenheiten den bürokratisierten - wirtschaftszentralistischen Verwaltungsapparaten überlassen werden und alle menschlichen Beziehungen sich in der Anonymität und Intimität herausbilden. Arendt sieht die moderne Gesellschaft als Massengesellschaft und darin das Potential totalitärer Elemente. In diesem Kontext spitzt Hannah Arendt den Dualismus von Politischem und Gesellschaftlichem zu, um die Krise des Politischen in der modernen Gesellschaft zu demontieren. In dieser Problematik wird die negative Sicht Arendts auf die Entwicklung einer modernen Gesellschaft kontrovers diskutiert und auch hart kritisiert.1 Der Vorwurf, Arendt verkürze den Politikbegriff, indem sie die Politik aus den Bezügen zum ökonomischen und gesellschaftlichen Lebensbereich herausnimmt, stellt den Kern der liberalen, linken und feministischen Kritik an Arendts Ausgrenzung des Sozialen aus der Sphäre des Politischen dar: Politik lasse sich in der Modern nicht als bestimmter Lebensbereich in Abgrenzung zu anderen Lebensbereichen definieren. Arendts Verachtung der sozialen und ökonomischen Fragen ist daher von Liberalen für „antimodernistisch“ 2 gehalten worden. Im Zusammenhang mit der Vorstellung, dass Arendt die Frage der sozialen Gerechtigkeit einfach ignoriert, hat die Linke lange die Auseinandersetzung mit dem Denken von Hannah Arendt „verweigert“.3 Die Ausblendung des Gesellschaftlichen ist unbehaglich auch für diejenigen, die Arendts politisches Denken als demokratische Konzeption annehmen wollen. 3.1 Die liberale Kritik: Politisierung oder Entpolitisierung? Nach liberaler Argumentation entspricht Arendts scharfe Trennung zwischen Gesellschaft und Politik nicht unserer Realität. Darüber hinaus sei der Vorrang des Politischen vor dem Gesellschaftlichen potentiell totalitär.4 Man fürchtet die Zerstörung der gewachsenen Lebensformen bis hin zu einer allgemeinen Nivellierung durch die allumfassende Politisierung 1 2 3 4 Vgl. Habermas, 1981a, S. 223ff.; Giehle, 1997, S. 929-948; Imhof, 1998, S. 15-24. Kateb, 1984, S. 183. Kallscheuer, 1993, S. 142-181; die Kerngründe für die Dialogverweigerung der Linken mit Arendts Denken sucht Michael Th. Greven in dreierlei: die falsche Gleichung zwischen Kommunismus und Faschismus in ihrer Totalitarismustheorie; Abwesenheit der antikapitalistischen Dimension in ihrer Theorie des Politischen; der normativ-ontologische Ansatz ihrer Politikbegriff (Greven, 1993, S. 88f.). Vgl. Kymlicka, 1996, S. 214. 134 der Gesellschaft. In dieser liberalen Betrachtungsweise weist Kateb darauf hin, dass Arendts Betonung des Politischen die Implikation der totalitären Politisierung hat. 5 Die Abwertung der gesellschaftlichen Sphäre führe zur Politisierung aller Sphären, und diese Politisierung könnte auf die totalitäre Herrschaft hinauslaufen. Im Gegensatz dazu ist die Gesellschaft nach der liberalen Ansicht der Sitz der Freiheit und „die höchste Form menschlicher Errungenschaften und die unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Moral und Vernunft, während das Politische reduziert wurde auf das harte Symbol des Zwanges, der zur Aufrechterhaltung geordneter sozialer Vorgänge nötig ist.“6 Was bedeutet die Politisierung? Nach Martin Rhonheimer wird der Begriff „Politisierung“ als Versuch verstanden, die Politik über die ihr zugesprochene Sphäre hinaus zu erweitern.7 Damit erscheint Politisierung für ihn a priori als etwas Verwerfliches, also als eine unsachliche Ausweitung der Politik auf die nicht–politische Sphäre und zugleich als „Aufsplitterung“ des „politischen Handlungszentrums“8. Daraus konstatiert er, dass sich das politische Phänomen wie Totalitarismus auf die totale Politisierung zurückführt. Dieser Begriff der Politisierung scheint zuerst im Zusammenhang mit dem alten Misstrauen gegenüber der Politik zu bestehen, das sich auf das etatistische bzw. staatszentrierte Politikverständnis bezieht.9 Betrachtet im Arendtschen Sinne, bedeutet Politisierung stets Steigerung des politischen Handelns, also „Verlagerung von gesellschaftlichen Sachverhalten aus dem Bereich des Unstrittigen in den Bereich des Umstrittenen und damit eine Steigerung jener Aktivitäten“ 10 , die notwendig sind, um gemeinsames Handeln in der Pluralität zu ermöglichen. Anders gesagt bedeutet die Politisierung für Arendt die aktive Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten und die politische Absicherung der Pluralität. Arendt ist der Meinung, dass die Beteiligung der Staatsbürger an allen Bereichen des öffentlichen Lebens der notwendige Weg zur Entfaltung einer bestimmten Dimension des menschlichen Lebens ist 11 und dass die Freiheit im politischen Bereich lokalisiert ist. Damit verbunden bedeutet die Politisierung die Entstehung der politischen Macht, und die politische Macht existiert nur in der Öffentlichkeit, wo Menschen miteinander handeln und sprechen. Die totalitäre Herrschaft 5 6 7 8 9 10 11 Vgl. Kateb, 1977, S. 165-166. Wolin, 1960; zit. nach Kymlicka, 1996, S. 214. Rhonheimer, 1985, S. 138-146. Rhonheimer, 1985, S. 143. Vgl. Vollrath, 1987, S. 31ff. Zu den Bedeutungen von Politisierung und Entpolitisierung siehe Rohe, 1978, hier S. 79. „Dem Menschen, wenn er öffentlich handelt, erschließt sich eine bestimmte Dimension menschlicher Existenz, die ihm sonst verschlossen bleibt und die irgendwie zum vollgültigen Glück gehört.“ (Reif, 1972, S. 46). 135 zeichnet daher vielmehr „Machtverlust und schließlich Ohnmacht“12 aus, also Entpolitisierung. Mit der Terminologie „Entpolitisierung“ wollte Arendt aber nicht meinen, dass es bei totalitärer Herrschaft weiniger Politik im Sinne der staatlichen Verwaltung gibt, sondern dass das politische Leben, das erscheint, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen, zerstört wird. Wenn Öffentlichkeit ihre politische Funktion verliert, vollzieht sich die Entpolitisierung der Masse der Bevölkerung.13 Arendt erkennt die Gefahr des erweiterten staatlichen Systems in der totalitären Herrschaft: „Wir wissen auch nicht, aber wir können es ahnen, wie viele Menschen sich in der Erkenntnis ihrer wachsenden Unfähigkeit, die Last des Lebens unter modernen Verhältnissen zu ertragen, willig einem System unterwerfen würden, das ihnen mit der Selbstbestimmung auch die Verantwortung für das eigene Leben abnimmt.“ 14 Im Gegensatz zu anderen Totalitarismusinterpreten, die totale Herrschaft als völlige Überpolitisierung der Gesellschaft verstehen,15 handelt es sich bei Totalitarismus für Arendt um die total entpolitisierte Gesellschaft. Mit seinem bornierten politischen Handeln ist der Totalitarismus im Grunde antipolitisch, ruiniert das politische Zusammenleben der Menschen. Auch wenn der totale Staat die voneinander Isolierten zu politischen Aktionen erzwingt, wird das nur durch die völlige Zerstörung der politischen Öffentlichkeit möglich.16 Der Totalitarismus ist daher ein antipolitisches Phänomen und steht „jenseits des Politischen“17. Die totalitäre Herrschaft stellt nicht nur eine Politik der Vernichtung, sondern die Vernichtung des Politischen selbst dar und damit entspricht sie der „absolut unpolitischen Politik und politischen Unpolitik“ 18 . In Anlehnung an Hannah Arendt formuliert Hans Buchheim, das totalitäre Phänomen sei keine Politisierung, sondern gerade eine Entpolitisierung, „weil dadurch die Quellen des politischen Lebens verschüttet werden.“19 In ganz ähnlicher Sicht bemerkt Erich Christina Schröder: „Es ist eine irrige Meinung, daß unter den totalitären Regimes das ganze Leben politisiert worden sei. Im Ge12 13 14 15 16 17 18 19 VA, S. 252. In diesem Kontext gesehen, scheint mir Grevens Kritik an der Arendtschen These der Entpolitisierung ein Missverständnis zu sein. Er vertritt die These: „Vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Entwicklungsgeschichte der modernen, zumeist bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften ist die Politisierung der ganzen Gesellschaft und ihrer Mitglieder im hier angesprochenen Sinne ein unübersehbares Faktum, und es erscheint mir ganz unsinnig, zum Beispiel die deutsche Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 als völlig entpolitisiert zu bezeichnen.“ (Greven, 1999, S. 59 und 93). EU, S. 906. Vgl. Gess, 2001, S. 192; in der liberalen Totalitarismuskritik spricht z. B. Raymond Aron von der „Politisierung und Kontrolle des gesamtgesellschaftlichen Lebens“ (Aron, 1971, S. 205). Dagegen siehe Marti, 1997, S. 74; zum Vergleich der Totalitarismuskonzeption von Raymond Aron und Hannah Arendt siehe Gess, 1996, S. 264-274. Vgl. EU, S. 975. Sternberger, 1979, S. 184. Vollrath, 1996b, S. 144 und 146. Buchheim, 1962, S. 83f.; vgl. auch d‟Arcais, 1993, S. 15. 136 genteil: die Menschen sind entpolitisiert worden, und die totalitären Führer waren sich der Notwendigkeit der Entpolitisierung der einzelnen auch immer bewußt.“20 Im viel zitierten Satz schreibt Arendt dazu: „Daher glaube ich auch, daß wir das Phänomen der totalen Herrschaft durchaus mißverstehen, wenn wir meinen, daß in ihr eine totale Politisierung des Lebens erfolgt, durch die Freiheit zerstört wird. Das gerade Gegenteil ist der Fall; wir haben es mit Phänomenen der Entpolitisierung zu tun, wie in allen Diktaturen und Despotien, nur daß diese Entpolitisierung hier so radikal auftritt, daß sie das politische Freiheitselement in allen Tätigkeiten vernichtet und sich nicht nur damit zufrieden gibt, das Handeln, also die politische Fähigkeit par excellence, zu zerstören.“21 Die Entpolitisierung bedeutet für Arendt, dass die Politik zu einer Funktion der Gesellschaft wird und dass das Gesellschaftliche politisiert ist. In der liberalen Forderung nach der Funktionalisierung der Politik sieht Arendt vielmehr die totalitäre Gefahr der Entgrenzung des Öffentlichen und des Privaten, die sich ereignet, wenn sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft miteinander identifizieren, weil dabei „die politisch-staatlichen Institutionen als bloße Fassade für Privatinteressen angesehen wurden“.22 Diese Entgrenzung, mit der Gesellschaft, Staat, Partei und alle Strukturen des menschlichen Seins nicht voneinander zu trennen sind, ist „ein Steinchen im Mosaik der totalitären Bewegung.“ 23 Arendt ist der Ansicht, dass die totalitäre Herrschaft nicht auf der politisierten Gesellschaft beruht, sondern vielmehr auf der „vergesellschafteten Politik“24. In der vergesellschafteten Politik geht es nur um das Gesellschaftliche, also um die ökonomische Sicherheit und Lebensinteressen der Individuen. Unter diesen Umständen bildet sich „das Einfallstor für die Gleichschaltung von Gesellschaft und Privatleben im Faschismus. Widerstand war nicht zu erwarten von Leuten, die einzig an die ununterbrochene Normalität ihres privaten Lebens dachten.“25 In der Verherrlichung des privaten Lebens „als der Güter höchstes“26 sieht Arendt eine Tendenz zur totalen Entpolitisierung des menschlichen Zusammenlebens, die auf die Verantwortungslosigkeit für die gemeinsame Welt verweist. Im Gegensatz zur liberalen Vorstellung ist Arendt der Ansicht, dass unter der Entwicklung der modernen Gesellschaft als der ständigen Erweiterung der Privatsphäre es sehr viel wahrscheinlicher ist, dass Korruption und Machtmissbrauch durch private Interessen verursacht würden, als dass diese durch den Missbrauch der öffentlichen Gewalten zu Schaden kommen würden. In der folgenden Fest20 21 22 23 24 25 26 Schröder, 1969, S. 152f. ZVZ, S. 204. EU, S. 719. Knobloch, 1993, S. 732. Fehér, 1988, S. 98. Knobloch, 1993, S. 732. VA, S. 399. 137 stellung zeigt sich Arendts Verständnis ausführlich: „Ich muß gestehen, daß es mir unbegreiflich ist, wie die heutigen liberalen Nationalökonomen (…) so sicher behaupten können, daß die Erhaltung des Privatbesitzes in einer immer reicher werdenden Gesellschaft ein ausreichender Schutz der bürgerlichen Freiheiten sein wird, d.h. daß dieser Besitz die gleiche Rolle spielen kann wie das Privateigentum. In einer Gesellschaft, in der der Besitz eines Jobs das einzige sichere Eigentum darstellt, sind diese Freiheiten nur durch den Staat garantiert; dies ist eine politische und keine ökonomische Sicherheit. Die Bedrohung der Freiheit in der modernen Gesellschaft kommt nicht vom Staat, wie der Liberalismus annimmt, sondern von der Gesellschaft, in welcher die Jobs verteilt werden und welche den individuellen Anteil an dem gesellschaftlichen Gesamtvermögen festsetzt.“27 Im Kontrast zur liberalen Kritik, dass Arendt die totale Politisierung aller Lebensbereiche erfordere, um die Entpolitisierung zu überwinden, vertritt sie die Auffassung, „daß, wenn eine Person sich auch in der Öffentlichkeit bewegt, sie deshalb dennoch das Recht jedes Staatsbürgers haben muß, ihren privaten Bereich abzuschützen“28. Sie hebt die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem hervor. Für Arendt bedeutet der Terminus „Politisierung“ keine Entgrenzung zwischen politisch und privat. Im Rückgriff auf die antike Polis ist sie der Meinung, die im politischen Bereich adäquaten Prinzipien sollten nicht unmittelbar auf andere Bereiche angewendet werden.29 Nur wenn der politische Bereich diese Grenze achtet, kann dieser Bereich als Raum der Freiheit und Gleichheit bleiben. In diesem Sinne ist es bemerkenswert, dass Arendt die negative Freiheit als Freiheit von Politik nicht für wertlos hält.30 Individuen haben ihr Recht auf Private, auf Fernbleiben, auf Apathie.31 So gesehen bedeutet die Politisierung nur, dass in jedem Moment die Möglichkeit und die Gelegenheit gegeben sein muss, an den gemeinsamen Angelegenheiten teilzunehmen. Weil Arendt die Gefahr erkennt, dass, wenn die öffentliche Gewalt in den privaten Bereich eingreift, sie legitime Privatinteressen verletzt, bezeichnet sie das Rechtssystem als „das Heilmittel gegen staatliche Übergriffe“32. In diesem Zusammenhang darf der Anspruch auf die Politisierung nicht verwechselt werden mit „Totalpolitisierung“33. Arendt besteht viel- 27 28 29 30 31 32 33 VA, S. 433, Anm. 74. Arendt, 1962, S. 294. „Die Polis regelte nicht alle Angelegenheiten, sondern nur eine begrenzte Anzahl gesellschaftlicher Tätigkeiten, und Angelegenheiten wie die Erziehung, das Gewerbe, die Landwirtschaft und der Handel waren der Privatinitiative überlassen.“ (Hansen, 1995, S. 81). Vgl. ÜR, S. 360. So gesehen scheint die Kritik Brunkhorsts nicht zutreffend zu sein: „Die politische Differenz ist nicht differenziert genug, um dem Individuum genügend Luft zum Atmen zu lassen, die es frei macht von der Politik, von der Gesellschaft, von der Natur“ (Brunkhorst, 1994b, S. 109). ÜR, S. 323. Guggenberger, 1991, S. 87. 138 mehr darauf, dass es für die Politik überaus wichtig ist, „die eigenen Grenzen zu respektieren“34, also die Begrenztheit des politischen Raums, „daß dieser Raum trotz seiner Größe begrenzt ist, daß er nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Gesamtheit dessen umfaßt, was in der Welt vorkommt.“35 Würden die unpolitischen Bedingungen menschlicher Existenz verschwinden, würde das Politische verabsolutieren. Hervorzuheben ist, dass Hannah Arendt die nicht-politischen Elemente unseres Daseins in ihrer Eigenständigkeit anerkennt.36 Die These der Entpolitisierung gilt auch für die heute politische Realität, deren Problem nicht ein Überfluss an Politik ist, sondern vielmehr ein schrecklicher Mangel, durch das das Handeln dem einzelnen Staatsbürger entzogen wird.37 Durch diese Analyse des totalitären Phänomens, wo ein tragisches Defizit an Politik erscheint, erfordert Arendt vielmehr ein „Mehr an Politik“38. Die Arendtsche Forderung nach dem Mehr an Politik bedeutet nicht die politisierte Verallgemeinerung aller menschlichen Tätigkeiten und ihrer Sphäre. Arendt geht es um die Politisierung der Politik.39 Die Frage der Demokratisierung der modernen Gesellschaft ist die Frage der Stärkung und Sicherung der politischen Pluralität, die nach Arendt in der politischen Öffentlichkeit geschaffen wird. Aus dem Zerfall der politischen Öffentlichkeit, in der Menschen zusammen handeln und sprechen, wie Arendt mahnt, könnten jederzeit totalitäre Regime entstehen. 3.2 Benhabibs Kritik: agonal oder narrativ? In differenzierter und positiver Weise übernimmt Benhabib die kritische Umdeutung der Arendtschen Dichotomie vom Politischen und Gesellschaftlichen. Sie versucht, Arendts Politikbegriff im Sinne der von Habermas verfochtenen Ideen deliberativer Demokratietheorie40 demokratietheoretisch umzudeuten. In Abgrenzung und Ergänzung zu Habermas ist Benhabib der Auffassung, dass man den Unterschied der Personen in den Diskursen be- 34 35 36 37 38 39 40 ZVZ, S. 370. ZVZ, S. 369. Vgl. Buchheim, 1962, S. 106. Vgl. d‟Arcais, 1997, S. 97. Bauman, 1992, S. 339. Ulrich Beck versteht Arendts These der Politisierung als die Forderung nach „Demokratisierung der Demokratie“ (Beck, 1996, S. 140-146, hier S. 146). Zum Ansatz der Arendtschen Theorie für die Demokratisierung, Wellmer, 1999, S. 152f. Nach der Theorie deliberativer Demokratie entsteht die Legitimität demokratischer Verfahren in erster Linie „aus der allgemeinen Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses, dessen Beschaffenheit die Erwartung auf rational akzeptable Ergebnisse begründet“ (Habermas, 1998a, S. 166). 139 rücksichtigen muss und den Anderen nicht universell verallgemeinern kann.41 Darüber hinaus ist ihre demokratische Theorie vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich das Konzept der demokratischen Partizipation nicht mehr nur auf einen eng definierten politischen Bereich beschränkt. Dass die öffentliche Partizipation auf allen gesellschaftlichen und kulturellen Ebenen keinerlei Themenbeschränkung unterliegen darf, ist das Fundament ihrer Demokratietheorie.42 Benhabib vertritt die starke These, die Frage der Grenzziehung selbst könne und dürfe dem öffentlichen Diskurs nicht entzogen werden, denn „ein Thema des öffentlichen Gesprächs könnte nicht im voraus bestimmt werden“. 43 Vor diesem Hintergrund versucht sie, die von Arendt gezogene Grenze zwischen Politischem und Gesellschaft zu tilgen. In hermeneutischer Rekonstruktion des Arendtschen Politikbegriffes behauptet sie, dass das Konzept der demokratischen Partizipation bereits in der Arendtschen Theorie des Politischen enthalten ist. Diese These untermauert Benhabib durch die tiefe Lesart der Arendtschen Frühschrift über Rahel Varnhagen,44 weil sie davon überzeugt ist, dass im Erzählen der Geschichte Rahel Varnhagens die Wurzel für Arendts spezifischen Zugang zur politischen Philosophie liegt. Für die Interpretation besteht das maßgebliche Anliegen Benhabibs darin, „Arendts politisches Denken zu dezentrieren“ und das „assoziative“ Modell des öffentlichen Raums als ein Kontrastbild zum agonalen Polis-Modell herauszuarbeiten.45 In dieser behutsamen Lektüre erblickt sie eine „alternative Genealogie der Moderne“46, in der Arendt Gesellschaft nicht nur kritisiert, sondern auch positiv zu würdigen weiß. Der Aufstieg des Gesellschaftlichen, also die Grenzüberschreitung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, komme immerhin in der Arendtschen Frühschrift als die Entstehung neuen öffentlichen Raums der Moderne, also als neue Form der sozialen Interaktion, zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang behauptet sie, „daß in den Quellen von Hannah Arendts Denken eine andere Genealogie der Moderne zu finden ist als die für ihre späteren Schriften so charakteristische.“47 Das in Rahel Varnhagen gefundene Modell der neuen Öffentlichkeit widerspricht Benhabib zufolge dem Modell von Arendts späterem Modell agonaler Öffentlichkeit, das in 41 42 43 44 45 46 47 Es ist sicher, dass Benhabib von Hannah Arendt die Notwendigkeit lernt, die Besonderheit von Personen in moralischen Diskursen ernst zu nehmen; vgl. Jaeggi, 1997b, S. 147-165, hier S. 148; Rieger, 2004, S. 47; Horster, 1999, S. 213ff.; Reiter, 2004, S. 225-236. Vgl. Rieger, 2004, S. 47f. Benhabib, 1991, S. 106; Habermas stimmt dieser These zu: „Grenzziehungen (….) müssen Gegenstand der politischen Auseinandersetzung sein dürfen.“ (Habermas, 1998c, S. 382). Benhabib, 1998, S. 29-73; das Buch Rahel Varnhagen, das mit dem Untertitel Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik erstmals 1958 in englischer Sprache veröffentlicht wurde, war schon fertig, als Arendt 1933 Deutschland verließ. Dazu siehe IWV, S. 212ff.; Young-Bruehl, 1986, S. 101ff. Benhabib, 1998, S. 53; vgl. auch Benhabib, 1991, S. 95-108. Benhabib, 1998, S. 55. Benhabib, 1998, S. 55. 140 VA vorherrscht.48 Rahel Varnhagens Salon war für Benhabib ein Raum der neuen Geselligkeit, wo sich die Verschiedenheit und Auszeichnung der privaten Einzelnen ausdrücken. Dieser Raum ist eine moderne bürgerliche Öffentlichkeit, oder, um mit Habermas‟ Worte zu sprechen, die „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ 49 . Benhabib beschreibt: „Dieser Raum der Geselligkeit, für den die Salons nur ein Beispiel sind, verweist auf eine Dimension, die in der genealogischen Darstellung vom Aufstieg des Gesellschaftlichen bei Arendt enthalten ist, in Vita activa jedoch völlig fehlt.“50 Nach Benhabib bleiben Spuren des anderen Modells der neueren Öffentlichkeit in den gesamten Werken von Arendt nicht getrübt. Das erscheine vor allem in der Arendtschen Akzentuierung der öffentlichen Welt und der Hervorhebung des nicht-staatlichen Politischen. Wenn Benhabib die These vertritt, dass Arendt in ihren früheren Werken, wie z. B. im Varnhagen-Buch und im Totalitarismus, als eine ernsthafte „Vertreterin der politischen Moderne“51 erschien und dass aber in späterem Werk, also in VA, ihre Haltung gegenüber der Moderne verändert ist, gibt sie uns jedoch keinen Hinweis darauf, wo der Grund für diese Lücke zwischen früheren und späteren Werken liegt.52 Und umstritten ist Benhabibs Bemühung, Arendts eigentliches Politikverständnis im Rahel-Buch aufzuzeigen. In der Tat widmet sich Arendt in diesem Buch, wie Vollrath bemerkt, „dem Problem der kulturellen jüdischen Identität und ihrer gesellschaftlichen Problematik“. 53 Der Verständnishorizont, der sich in der Biographie von Rahel Varnhagen zeigt, sei daher noch „vorpolitisch, individuell und gesellschaftlich“.54 Während Benhabib Salons versteht als die „Räume, in denen persönliche Freundschaften durchaus zu politischen Bündnissen führen können“55, thematisiert Arendt, auch wenn man ihr Buch über Rahel in der politischen Dimension interpretieren könnte, in der Biographie von Rahel Varnhagen den privaten Charakter von Salon und formuliert über romantische Innerlichkeit und über innerliche Reflexion als apolitische Qualität: „Wie die Reflexion die wirkliche, vorhandene Situation in der Stimmung vernichtet, so umgibt sie zugleich alles Subjektive mit der Weihe der Objektivität, Öffentlichkeit, 48 49 50 51 52 53 54 55 Vgl. Jaeggi, 1997b, S. 150. Habermas, 1969, S. 38. Benhabib, 1998, S. 66; die in VA geäußerte Öffentlichkeit sei „den Raum der Erscheinung, in dem moralische und politische Qualitäten offenbar, enthüllt und mit anderen geteilt werden. Dies ist ein kompetetiver Raum, in dem man um Anerkennung, Vorrang und Zustimmung konkurriert; letztlich ist es ein Raum, in dem man eine Garantie gegen die Vergeblichkeit und die Vergänglichkeit aller menschlichen Dinge sucht.“ (Benhabib, 1988, S. 172). Benhabib, 1998, S. 20. Vgl. Benhabib, 1998, S. 221f. Vollrath, 1990, S. 13. Vollrath, 1990, S. 13. Benhabib, 1998, S. 53. 141 höchster Interessantheit. In der Stimmung verwischen sich die Grenzen von intim und öffentlich“.“56 Die rigide Unterscheidung zwischen politisch und gesellschaftlich rekonstruiert Benhabib durch die Konversion der Handlungstheorie Arendts. Indem Benhabib Arendts Begriff des politischen Handelns in ein Modell des agonistischen Handelns versus eines narrativen differenziert, versucht sie, die von Arendt gezogene Grenze zwischen Politischem und Gesellschaftlichem abzuschaffen.57 Emphatisch akzentuiert Arendt die agonale Seite politischen Handelns, wenn sie sagt, dass das Handeln die Enthüllung dessen ist, wer man ist. Das politische Handeln ohne die agonale Seite, das Wer der Person zu enthüllen, wird für Arendt nur zu einer Art Leistung wie einem Gegenstand, der durch Herstellen hervorgebracht wird.58 An Habermas‟ Diskursmodell des öffentlichen Raums orientiert 59 , ist das Modell des agonistischen Handelns bei Benhabib gegenüber den tatsächlichen Gegebenheiten komplexer, moderner Gesellschaften nicht haltbar, weil agonales Handeln dann lediglich ein Sonderfall des Handelns sei, der das alltägliche transzendiert.60 Um eine Veralltäglichung des bei Arendt an außergewöhnliche Momente gebundenen agonalen Handelns zu ermöglichen, greift Benhabib „das Modell des narrativen Handelns“ als Form der demokratischen Interaktion auf. Diese demokratische Interaktion ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur auf den öffentlichen Erscheinungsraum angewiesen ist, sondern auch dass sie in vertraulich-privaten Bereichen, also im Alltag, erfolgen kann: Narratives Handeln sei in Arendts Theorie ein Handeln, das in ein Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und in ihm dargestellter Geschichten eingebettet ist. „Das narrative Handeln ist allgegenwärtig, denn es ist der Stoff, aus dem alles soziale Leben der Menschen, jedes Zusammenleben in Form des Sprechens und Handelns 56 57 58 59 60 RV, S. 70. Vgl. Benhabib, 1998, S. 204f. Vgl. VA, S. 221. Als historische Folie für die politische Öffentlichkeit gilt Habermas nicht die griechische Polis, sondern die sich im 18. Jahrhundert formierende bürgerliche Öffentlichkeit, die als „die diskursive Öffentlichkeit“ verstanden wird und im Kontrast zur antiken Polis als agonalistischem Modell steht: „Dem griechischen Modell der Öffentlichkeit fehlen beide Züge: denn der private Status des Hausherrn, von dem sein politischer als Bürger abhängt, beruht auf Herrschaft ohne irgendeinen durch Innerlichkeit vermittelten Schein der Freiheit; und agonal ist das Verhalten der Bürger bloß im spielerischen Wettwerb miteinander, der eine Scheinform des Kampfes gegen den äußeren Feind darstellt, und nicht etwa in der Auseinandersetzung mit der eigenen Regierung.“ (Habermas, 1969, S. 64). Angesichts seines Verständnisses der Öffentlichkeit bezeichnet Habermas daher Arendt letztlich als „Opfer eines auf moderne Verhältnisse unanwendbaren Politikbegriffs“, weil er die Wiederentdeckung vom antiken Vorbild als eine der Moderne nicht angemessene Horizontüberschreitung ansieht (Habermas, 1981b, S. 239). Benhabib konstatiert: „Arendts agonales Modell paßt nicht zur modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit, läßt sich auch nicht mit dem modernen politischen Kampf um Gerechtigkeit vereinen“ (Benhabib, 1995, S. 129). 142 gemacht ist.“ 61 Mit dem Konzept eines narrativen Handelns beseitigt Benhabib auch Arendts Themenbeschränkung und Grenzziehung zwischen Politischem und Gesellschaftlichem, weil das narrative Handeln als bedeutungsschaffendes Element zur Bedingung jeder gesellschaftlich-kulturellen Struktur überhaupt wird.62 Sofern das narrative Handeln im Mittelpunkt der demokratischen Öffentlichkeit steht, hat das öffentlich-politische Feld keine klaren Grenzen, die ein für allemal feststehen. So ist keine substantielle und transzendente Grenze zwischen privaten und öffentlichen Dingen zu bestimmen. Diese Grenze sei ein Ergebnis historischer Erfahrung. 63 Die Frage, was der konkrete Inhalt des Politischen ist, ist für Benhabib sekundär. Wichtig ist nicht so sehr, was verhandelt wird, als vielmehr die Art und Weise, wie der Diskurs stattfindet. Daher ist das demokratische Prinzip Benhabibs der inhaltlichen Auseinandersetzung entzogen: „Wichtiger als der Gegenstand des öffentlichen Diskurses ist in diesem Zusammenhang das Wie (…). Vom Standpunkt dieses prozeduralen Modells aus erscheinen weder die Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen noch jene zwischen der Arbeit unseres Köpers, dem Werk unserer Hände und dem Handeln besonders wichtig.“64 Benhabibs Vorschlag, das substantielle Öffentlichkeitsmodell durch ein prozedurales zu ersetzen, wäre viel hilfreicher für die Lösung des Problems, dass der Inhalt des von Arendt verstandenen Politischen leer ist und dass ihr Politikbegriff ohnehin eingeengt ist.65 Aber Benhabibs Variante ist problematisch in zwei Fragen, ob Arendt den öffentlichen Raum nur in einem funktionalen Sinn versteht und wie sich die konkreten Personen im prozeduralen Prozess manifestieren lassen. Nach Benhabibs Auffassung verfügt die Politik über ein überlegenes Problemlösungspotential, da es ihr um die diskursive Legitimität geht, die nur durch einen öffentlichen Dialog entstehen kann.66 Das Politische ist daher als gesamtgesellschaft- 61 62 63 64 65 66 Benhabib, 1998, S. 204. Zur Kritik an Benhabibs narrativer Variante des Handelnsmodells Arendts siehe Hark, 1999, S. 164; vgl. dazu auch Honig, 1994, S. 61f.; Jaeggi, 1997b, S. 155. Benhabib, 1995, S. 111. Benhabib, 1995, S. 104f. Es geht hier um den zentralen Einwand gegen Arendts Politikbegriff: Indem Arendt alle Gesellschaftlichen von der Politik ausschließt, mache sie den Inhalt des Politischen leer. Die Frage; worüber reden wir in inhaltlich entleertem Bereich des Politischen, wenn wir alle gesellschaftlichen Sachen von der politischen Diskussion ausschließen müssen? Dieses Problem formuliert Mary McCarthy, Arendts Freundin: „Nun, ich habe mich immer gefragt: Was eigentlich soll jemand auf der öffentlichen Bühne, im öffentlichen Raum noch tun, wenn er sich nicht mit dem Sozialen befasst? Soll heißen: Was bleibt da noch? (McCarthy, in: IWV, S. 87). Vgl. Benhabib, 1995, S. 3-29: „Ein deliberatives Demokratiemodell versucht genau diese Frage zu beantworten. Legitimität und Rationalität können dem deliberativen Modell zufolge in bezug auf einen kollektiven Entscheidungsfindungsprozeß in einem Gemeinwesen dann und nur dann erreicht werden, wenn die Institutionen dieses Gemeinwesens und ihre ineinandergreifenden Beziehungen so angeordnet sind, daß das, was als Gemeinwohl (…) aufgefasst wird, sich aus einem rational und fair geführten Prozeß der kollektiven Deliberation unter freien und gleichen Individuen ergibt.“ (S. 9). 143 licher Prozess verstanden. Aber es bleibt unklar, wie sich bei diesem Prozess die Besonderheit von konkreten Personen verwirklichen lässt. Benhabib antwortet nicht auf die Frage, wie sich gleichzeitig die individuelle Einzigartigkeit und Pluralität im deliberativen Prozess unverletzt bewahren können. Für Arendt gibt es die normative Voraussetzung des Politischen, die sich von dem Gesellschaftlichen unterscheidet. Damit eine Tätigkeit politisch ist, muss sie die menschliche Pluralität herausbilden und bewahren. Was Arendt von dem öffentlichen Diskurs ausschließt, ist das, was die Pluralität verletzten könnte. Das zerstört auch die Strukturen des politischen Handelns und macht den Prozess von politischer Kommunikation selbst unmöglich. Darauf bezogen gilt es zu beachten, wo Arendt die Grenze zwischen Politischem und Gesellschaftlichem setzt. Im Mittelpunkt der Politik steht für Arendt die Sorge um eine so oder anders beschaffene Welt.67 Wenn die weltlichen Angelegenheiten zum Thema des politischen Diskurses werden, ist dieses Thema zeitlich und räumlich immer offen und fließend. 68 Die thematische Offenheit des politischen Diskurses wird offensichtlich, wenn wir uns an Arendts Darstellung von der Wohnungsfrage in der Debatte in Toronto erinnern. 69 Für Arendt ist die Wohnungsfrage gesellschaftlich, insofern sie mit einem Konsens über die jedem zugestandenen annehmbaren Wohnverhältnisse zu tun hat. Die Lösung dieser Frage lässt sich eher vom Fachmann erwarten, als aus öffentlicher Diskussion. Diese Frage braucht nicht diskutiert zu werden. Bei den gesellschaftlichen Dingen können wir „mit Sicherheit Maßnahmen errechnen“70. Arendt insistiert, dass den sozialen und ökonomischen Angelegenheiten „nicht mit politischen Mitteln abgeholfen werden konnte, da es sich hier nicht um Dinge handelte, denen man durch Urteil, Entschluß und Überzeugung beikommen konnte, sondern einzig und allein auf dem Wege fachmännisch geleiteter Verwaltung.“71 67 68 69 70 71 IWV, S. 82. Von dieser thematischen Offenheit des politischen Diskurses spricht Arendt: „Das Leben ändert sich dauernd, und dauernd sind Dinge da, die dazu auffordern, daß über sie gesprochen wird. Zu allen Zeiten werden die Menschen, die miteinander leben, Angelegenheiten haben, die in den Bereich des Öffentlichen gehören – die es wert sind, in der Öffentlichkeit beredet zu werden. Was das im jeweiligen historischen Augenblick für Sachen sind, ist wahrscheinlich äußerst verschieden. Im Mittelalter zum Beispiel waren die großen Kathedralen die öffentlichen Räume, die Rathäuser kamen erst später. Und dort musste man vielleicht über eine Sache sprechen, die auch nicht ohne Interesse war: die Frage nach Gott. Was also zur jeweils gegebenen Zeit öffentlich wird, scheint mir äußert verschieden zu sein.“ (IWV, S. 88); vgl. Herberg-Rothe, 2004, S. 53. Auf die Frage Wellmers, was ein soziales Problem unserer Zeit ist, welches nicht gleichzeitig ein politisches Problem ist, antwortet Arendt folgendermaßen: „Das soziale Problem besteht zweifellos in angemessenen Wohnmöglichkeiten. Aber die Frage, ob solch angemessene Wohnmöglichkeit im Zeichen der Integration stehen soll oder nicht, ist mit Sicherheit eine politische Frage. Jede solche Frage hat zwei Gesichter. Und das eine sollte nicht diskutiert werden – es sollte keine Diskussion darüber geben, daß jedem eine anständige Wohnung gebührt.“ (IWV, S. 90f.). IWV, S. 89. ÜR, S. 116. 144 Hier ist sichtbar, dass der Maßstab des Politischen ist, ob es Dinge wert sind, in dem Bereich des Öffentlichen mit den verschiedenen Perspektiven aller Beteiligten diskutiert zu werden. Daher könnte man die Schlussfolgerung ziehen, dass die Wohnungsfrage gleichzeitig als gesellschaftlich und als politisch behandelt werden könnte. Arendt lehnt nur ab, dass die Dinge, die in der gesellschaftlichen Sicht behandelt werden müssen, zum Thema der politischen Debatte werden. Wenn die gesellschaftlich und technisch zu lösenden Dinge zum politischen Thema würden und wenn sich „politische Prinzipien in gesellschaftliche Werte transformieren“72 würden, könnte sich die Pluralität der Meinung und der Handlung aufheben. Schließlich könnte man urteilen: Benhabibs Theorie der deliberativen Demokratie verkennt den Aspekt des agonalen Handelns als des konstitutiven Prinzips der Pluralität für Arendts Theorie einerseits und schließt den kritischen Ansatz gegenüber der modernen – liberalen Gesellschaft, wo die Politik nur die Funktion und das Verfahren zur Einheit der Gesellschaft charakterisiert, aus. Die Politik als Funktion zu begreifen, erlaubt die Politik technisch zu gestalten und damit „jede Form der substanziellen Debatte zwischen verschiedenen Lebensformen unmöglich und unnötig zu machen“73. Das Politische existiert immer in der Auseinandersetzung der pluralen Meinungsdifferenz. „Radikaler Dissens ist konstitutiv für die moderne Demokratie. Moderne Demokratie heißt, daß es in allen lebenswichtigen Fragen Dissens und Konflikt geben kann.“74 In diesem Zusammenhang erhebt Wellmer den Einwand gegen Benhabibs Interpretation zutreffend. Er versucht einerseits, die Schwäche von Arendts Politikbegriff für die Demokratietheorie zu zeigen, und andererseits die Differenz zwischen den liberalen Theorien und Arendts Politikverständnis fruchtbar zu machen: „Dies legt eine alternative Interpretation nahe, eine Interpretation, die versucht, Arendts Begriff des Politischen demokratietheoretisch, etwa im Sinne von Habermas‟ Demokratietheorie, zu integrieren. Das Problematische dieses Interpretationsansatzes liegt in der Gefahr einer diskurstheoretischen Einebnung von Arendts Kritik am liberal-demokratischen Dispositiv“.75 Wellmer vertritt die These, die prozedurale Konzeption des Politischen definiere nur eine Bedingung der Freiheit und gebe uns noch keinen zureichenden Begriff der politischen Freiheit an die Hand. 76 Im Vergleich zum rationalen Diskurs hält Albrecht Wellmer, im Gegensatz zu Benhabib, den agonalen Charakter des Arendtschen Politikbegriffs für positiv und damit geht es ihm um „eine Verbindung von Deliberation und Han72 73 74 75 76 ÜR, S. 285. Jaeggi, 2003, S. 250. Brunkhorst, 1994b, S. 92. Wellmer, 1999, S. 134f. Wellmer, 1999, S. 152f. 145 deln“.77 Er konstatiert: „Und sie (Hannah Arendt: H. P.) hat, wie ich glaube, recht, wenn sie in den Bedingungen der Realisierung dieses Wunsches (nach politischer Freiheit: H. P.) ein voluntatives, ein performatives und kontingentes Element hervorhebt, das sich in Kategorien des Rechts und denen eines rationalen Diskurses deshalb nicht fassen läßt, weil es allererst einen Begriff politischer Freiheit ins Spiel bringt und auszuarbeiten erlaubt, der weder im Begriff des Rechts noch in dem des rationalen Diskurses bereits enthalten wäre.“78 77 78 Ahrens, 2005, S. 199. Wellmer, 1999, S. 155. 146 III. Philosophie und Pluralität 1. Politische Philosophie und Politische Theorie 1.1 Arendts Abkehr von der philosophischen Tradition Wie in VA klar gezeigt ist, wird Arendts Kritik an der modernen Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition des Westens geübt. Mit dem Phänomen der Negation der Pluralität in der modernen Massengesellschaft eng verbunden ist die Reflexion auf das Verhältnis von Politik und Philosophie.1 In der Tradition der Philosophie sieht Arendt die Geschichte der Politikvergessenheit. Bekanntlich hat Arendt ihren Denkweg in der Philosophie begonnen, als sie in der Begegnung mit den beiden bedeutendsten Hauptdarstellern der deutschen Existenzphilosophie, Karl Jaspers und Martin Heidegger, studiert hat. Damals ist sie im typischen „bildungsbürgerlichen Ressentiment des Unpolitischen“ geblieben. 2 In einem Brief an Gerhard Scholem äußert Arendt selbst ihr philosophisches Anliegen und ihr politisches Desinteresse: „ich (interessierte) mich in der Jugend weder für Geschichte noch für Politik. Wenn ich überhaupt aus etwas hervorgegangen bin, so aus der deutschen Philosophie.“3 In einem berühmten Fernsehgespräch von 1964 lehnt sie beharrlich ab, sich Philosophin zu nennen. Damals sagt sie: „Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf (…) ist politische Theorie (…). Ich habe meiner Meinung nach der Philosophie doch endgültig Valet gesagt. Ich habe Philosophie studiert (…) aber das besagt ja noch nicht, daß ich dabei geblieben bin.“4 In der Tat erweist sich ihr Denken als die ausdrückliche Abkehr von der philosophischen Tradition und zugleich als ein „Schritt in Richtung Politik“.5 Was drängte sie zum „Wagnis der Öffentlichkeit“?6 Uns geht es um die Frage nach dem Grund dafür. Die Beantwortung dieser Frage kann auf zweierlei Weisen geschehen: Einerseits aus ihrer persönlichen Erfahrung des Nationalsozialismus und andererseits aus ihrer Denkübung im Verständnis der politischen Realität. 1 2 3 4 5 6 „Ich bin mitten in meiner Vita activa, und das Verhältnis von Philosophie und Politik, das mir eigentlich noch mehr am Herzen liegt, habe ich gerade gründlich vergessen müssen.“ (BAJ, S. 326). Vollrath, 1991, S. 156-169, hier 156. Arendt, Brief an Gerhard Scholem, 20.07. 1963, in: IWV, S. 29. IWV, S. 44; umstritten ist, ob Arendt letztlich mehr von der Philosophie oder von der Politik her zu verstehen ist. Dazu siehe Speth, 1996, S. 74ff. Young-Bruehl, 1986, S. 148ff. MfZ, S. 85; dieser Ausdruck stammt eigentlich von Jaspers, 1965, S. 121. 147 Ohne Zweifel ist Arendts Interesse und Verständnis für die Politik in den Erfahrungen des wachsenden Antisemitismus und des totalitären Nationalsozialismus geweckt worden. 7 Als Jüdin ist Arendt durch den Kampf gegen den Nationalsozialismus in die politische Realität getreten, weil sie ihre Zugehörigkeit zum Judentum als eigenes Problem, und das heißt als politisches Problem zu begreifen begann.8 Das von der Erfahrung des Totalitarismus und Antisemitismus geprägte Politikverständnis gerinnt zur elementaren Grundlage ihrer politischen Theorie. Die Weltlosigkeit, Staatslosigkeit, Menschenrechte und die Überflüssigkeit der Menschen, die Arendt als Jüdin und als Staatenlose erfahren hat, begründen die thematischen Fundamente ihrer Theorie des Politischen. 9 Darauf weist Canovan in ihrer Reinterpretation von Arendts Werk hin: „Man kann (…) nicht (…) umhin, ihr ganzes politisches Denken im Licht ihrer Totalitarismustheorie zu verstehen.“10 Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungsweise kann man die Auffassung vertreten, dass Arendts politische Theorie weder in der romantischen Nostalgie der griechischen Antike noch in der existenzphilosophischen Einstellung wurzelt.11 Insofern wird ihr Denken als Antwort auf die politischen Katastrophen des 20. Jahrhundert in neuer Weise verständlich. Die persönliche Haltung der philosophisch Gebildeten zur politischen Krisenzeit bildet einen Hintergrund für die Arendtsche Auseinandersetzung mit der Tradition politischer Philosophie. Vor der politischen Katastrophe erschien die Haltung der philosophischen Intelligenten Arendt als unpolitische Gefährdung.12 Den philosophisch Gebildeten fehlte nach Arendts Sicht die Fähigkeit, politisch zu urteilen. Was Arendt gesehen hat, ist, dass viele der Philosophen der Zusammenarbeit mit den Nazis ausgesetzt waren. Insbesondere gab die Unterstützung des Nationalsozialismus von ihrem philosophischen Lehrer, Heidegger, den Ausschlag für ihre Abwendung von der Philosophie.13 Die damalige Erfah- 7 8 9 10 11 12 13 Vgl. Canovan, 1992, S. 2; Ludz, 1989, S. 627f.; Bernstein, 1996, S. 106f.; Pohlmann, 1998, S. 201ff.; Marchart, 2005, S. 20f. Arendts politisches Bewusstsein lässt sich auf das Interesse an der Judenfrage zurückführen. Für ihr politisches Interesse an der Judenfrage war der Einfluss von Kurt Blumenfeld und ihrem Mann, Heinrich Blücher, entscheidend. Sie schrieb an Jaspers 1946: „Meine nicht-bürgerliche oder literarische Existenz beruht darauf, daß ich dank eines Mannes politisch denken und historisch sehen gelernt habe und daß ich andererseits nicht davon abgelassen, mich historisch wie politisch von der Judenfrage her zu orientieren“ (BAJ, S. 67). Und im Jahr 1952: „Ich war von Hause aus einfach naiv; die sogenannte Judenfrage fand ich langweilig. Die Augen in dieser Hinsicht hat mir Kurt Blumenfeld geöffnet“ (BAJ, S. 234); vgl. Barley, 1988, S. 113ff.; Brumlik, 2001, S. 57-71. Judesein als unbezweifelbare Faktizität ihres Lebens festigt in ihr das Bewusstsein, „Paria“ zu sein. Ein Paria ist der, welcher „in der Wirklichkeit der politischen und sozialen Welt keinen angestammten Platz hat.“ (VT, S. 86). Canovan, 1997, S. 94; Crick, 1979, S. 232. Im Gegensatz dazu versteht Söllner Arendts Analyse des Totalitarismus als einen großen existenzphilosophischen Wurf (Söllner, 2006, S. 114ff.). Vgl. Sontheimer, 2005, S. 37f. Dazu siehe Young-Bruehl, 1986, S. 167ff. 148 rung erklärt Arendt in dem Interview mit Gaus: „Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den andern nicht. Und das hab‟ ich nie vergessen.“14 Arendts kritischer Tenor bezüglich der Tradition politischer Philosophie beschränkt sich nicht auf die Frage der Person. Ihre Kritik ist radikaler, weil sie jene antipolitische Gefährdung nicht aufgrund dieser oder jener Zufälle, sondern in der ihnen zugrundeliegenden paradigmatischen Tradition sieht. Durch eine radikale Neuinterpretation der Tradition der politischen Philosophie findet sie „eine Art von Feindseligkeit gegen alle Politik bei den meisten Philosophen“. 15 Diese Feindseligkeit gilt für sie als „Antipolitik“ 16 . Darauf bezogen empfindet Arendt die Bezeichnung „Politische Philosophie“ als sehr widersprüchlich. 17 In diesem Zusammenhang vertritt Arendt die umstrittene These, dass die spezifisch antipolitische Wurzel des totalitären Phänomens, also die Vernichtung der menschlichen Pluralität und die Abschaffung des Politischen, in der Tradition der politischen Philosophie des Westens verankert sei. Nicht nur mit dem Totalitarismus, sondern auch mit dem modernen Gesellschaftsphänomen ist die westliche politisch-philosophische Überlieferung Arendts Auffassung zufolge verbunden. In EU wie in VA analysiert Arendt diesen Zusammenhang in historisch-phänomenologischer Weise. Daraus folgt, dass der Totalitarismus kein bloßer Unfall in der Geschichte war, sondern er mit der Tradition politischer Philosophie zu tun hat. Daher dehnt Arendt ihre politische Totalitarismusanalyse zu einer Fundamentalkritik an der philosophischen Abneigung gegen politische Pluralität aus: „Nun habe ich den Verdacht, daß die Philosophie an dieser Bescherung nicht ganz unschuldig ist. Nicht natürlich in dem Sinne, daß Hitler etwas mit Plato zu tun hätte (…). Aber wohl in dem Sinne, dass diese abendländische Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und 14 15 16 17 IWV, S. 56; schon 1931 bemerkte Jaspers Arendts Enttäuschung über die akademisch Gebildeten: „Fast glaube ich, eine antiakademische Stimmung – begreiflicherweise – bei Ihnen wahrzunehmen.“ (BAJ, S. 50). IWV, S. 45. Nach Hella Mandt ist „Antipolitik“ mehr als Geringschätzung und Verständnislosigkeit gegenüber Politik. Sie definiert Antipolitik als „die bewusste und bedachte Ablehnung der Politik“, die auf der Feindseligkeit gegen Politik beruht (Mandt, 1987, S. 386). IWV, S. 45. 149 auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte.“18 1.2 Die Tradition politischer Philosophie Um auf die Arendtsche Kritik an der Tradition politischer Philosophie eingehen zu können, soll zunächst geklärt werden, was unter „Tradition“ zu verstehen ist. Arendt definiert den Begriff „Tradition“ als „die Kette, an die das Weltverständnis und der Erfahrungshorizont jeder neuen Generation, ob sie sich dessen bewußt war oder nicht, angeschlossen wurde.“19 Der Begriff der Tradition entstand, als die Römer ihr eigenes Denken der griechischen Überlieferung unterwarfen. Vor dieser eindrucksvollen Annahme eines fremden Erbes war der Begriff „Tradition“ in seinem speziellen Sinn unbekannt.20 In diesem Verständnis legt Arendt besonderen Nachdruck auf Tradition in der politischen Philosophie. „Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierten Anfang, sie beginnt mit den Lehren Platos und Aristoteles‟. Ich glaube, sie hat in den Theorien von Karl Marx ein ebenso definitives Ende gefunden.“21 Das „Ende der Tradition“ bedeutet aber nicht notwendigerweise den Verlust der Macht des traditionellen Begriffsgerüstes über die Gedanken der Menschen und über die Realität des Politischen. Die „außerordentliche Stärke und Zähigkeit unserer Denktradition“22 kann, wie Arendt meint, vielmehr dann tyrannischer und bezwingender werden, wenn die Tradition ihre lebendige Kraft verloren hat, wenn die Begriffe abgenutzt und die Kategorien platt geworden sind, weil es keinen Verbindungspunkt zu Alternativen mehr gibt.23 Daher lässt sich das Ende der Tradition nur durch die Reflexion über die Tradition verwandeln in „die große Chance, auf die Vergangenheit mit einem von keiner Überlieferung getrübten Blick zu schauen“.24 In diesem Kontext betrachtet stellt die Kritik der Tradition keine Ablehnung der Tradition dar, sondern die Forderung nach dem Nachdenken über die Tradition, also „die Forderung, ohne Geländer zu denken“.25 Wenn von der Tradition politischer Philosophie des Westens die Rede ist, haben wir es jedoch keineswegs mit einem einheitlichen Konzept politischer Philosophie zu tun.26 Man 18 19 20 21 22 23 24 25 26 BAJ, S. 203. ZVZ, S. 34 und S. 190. Vgl. ZVZ, S. 34. ZVZ, S. 23. ÜR, S. 229. Vgl. ZVZ, S. 34f. ZVZ, S. 38. Ludz, 1989, S. 628. Der amerikanische Politikwissenschaftler, Gunnell, erhebt starken Einwand gegen die Behauptung, dass die einheitliche Tradition in der Geschichte der politischen Philosophie existiert, und er bezeichnet diese 150 kann überhaupt keine generelle Kritik der verschiedensten Konzeptionen in der geschichtlichen Entwicklung dieser Denkungsart üben, weil jede Konzeption der politischen Philosophie die der eigenen Zeit entsprechende historische Bedeutung hat. Der Zusammenhang zwischen der zeitlichen Krisenerfahrung und Theoriebildung ist bereits seit Plato für die politische Philosophie charakteristisch. Für diese „zeitkritische Ordnungsreflexion“ 27 spielt die Tradition, wie Arendt erkennt, eine bedeutsame Rolle als „Leitfaden durch die Schatzkammern der Vergangenheit“28. So gesehen lässt sich Arendts Kritik der Tradition politischer Philosophie nicht als die gesamte Ablehnung der Geschichte des politischphilosophischen Denkens verstehen. In der Tat kehrt Arendt in ihrer Übung politischen Denkens immer wieder zu bestimmten Werken der politischen Philosophen zurück. Die verschiedenen Philosophen sind die Gesprächspartner für ihr politisches Denken.29 Bei Arendts Kritik handelt es sich um die „ursprünglich anti-politische Tradition“30, die auf die politische Realität beständig gewirkt hat und wirkt. Diese Kritik ist eine Art Destruktion, die darauf abzielt, die Elemente und Ursprünge der nicht-politischen Begriffe des Politischen aufzudecken und zu klären. Damit versucht Arendt, „die Grundlagen der politischen Philosophie seit Platon umzuwälzen, insofern diese eine endgültige Flucht aus der Politik ist“.31 Anders gesagt ist ihr politisches Denken der Kampf gegen die politische Philosophie ohne Politik. In diesem Kampf wendet sich Arendt der Welt des Politischen zu, die von der Philosophie traditionell missachtet worden ist. Was sind „fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart“?32 Was ist die antipolitische Tradition der politischen Philosophie, die Arendt beklagt? Arendt scheut sich nicht, zu sagen, dass zu dieser Tradition der Versuch gehört, „Politik als das 27 28 29 30 31 32 Behauptung als die Mythisierung der Tradition. In diesem Zusammenhang versucht er, die wissenschaftliche Bedeutung von Autoren wie Arendt, Leo Strauss und Eric Voegelin „unter dem Gesichtspunkt der Mythisierung der Tradition als einheitliches Corpus aus seiner Entstehung“ zu erklären. Hier scheint es unübersehbar zu sein, dass Gunnell ihre unterschiedliche Haltung gegenüber der Tradition politischer Philosophie nicht berücksichtigt. Auch wenn Leo Strauss und Eric Voegelin den Niedergang der Tradition abendländischen politischen Denkens beklagen, versuchen sie, im Gegensatz zu Arendt, die Tradition politischer Philosophie zu retten (Dazu siehe Gebhardt, 2004a, S. 61ff.). Im Gegensatz zu Gunnells Behauptung richtet sich das politische Denken Arendts gegen das Vergangene als Tradition und Autorität. In diesem Sinne spricht Julia Kristeva in ihrer Festrede anlässlich der Hannah-Arendt-Preisverleihung im Jahr 2006 von Arendts „Entmystifizierung der politischen Tradition“ (Kristeva, 2007, S. 6). Stammen, 1997, S. 15- 46, hier S. 26ff. ZVZ, S. 34. Vgl. Ludz, 1989, S. 628: „In einer irreduziblen Weise ist ihre Methode des Philosophierens mit ihren politischen Einsichten legiert, und in ihren Haltungen als politische Theoretikerin sind ihre Erfahrungen als Philosophin gegenwärtig. Die Philosophie verschwindet also nicht aus ihrem Werk, aber man kann offensichtlich nicht von Arendt als von einer Philosophin sprechen.“ (Nordmann, 1994, S. 29). ZVZ, S. 217. Kristeva, 2001, S. 357; vgl. Parekh, 1981, S. 1ff. Arendt, 1957. 151 Problem der Pluralität zu eskamotieren“.33 Die „Bankrotterklärung sämtlicher politischer Philosophie“34, die bei modernen Phänomenen wie dem Totalitarismus gezeigt wurde, führt Arendt darauf zurück, dass die traditionelle Philosophie des Politischen die menschliche Bedingung der Pluralität als notwendige Voraussetzung jeglicher politischer Welt nicht ernst nimmt. Unter solcher Tradition hat die Politik immer wieder mit metaphysischen Begründungen gearbeitet.35 Die politische Theorie Arendts ist in der Tat der Ausdruck des Versuches, „die Metaphysik und die Philosophie mit allen ihren Kategorien (…) zu demontieren.“ 36 Der Gegenstand dieser Demontage ist „die politische Geschichte“37, die immer „von Leuten geprägt worden war, die ein kontemplatives Leben führten und alles Seiende von diesem Standpunkt aus betrachteten.“38 Hinsichtlich dieser Demontage kündigt sich Arendts „anti-foundationalism“ und die „postmoderne“ Seite ihres traditionelle metaphysische Maßstäbe verwerfenden Denkens an.39 Arendts Abschied von der metaphysischen Tradition politischer Philosophie ist zunächst durch ihre Ablehnung aller philosophischen Bemühung gekennzeichnet, die Gründung des menschlichen Zusammenlebens und die Begründung der Politik durch die Wesensbestimmung des Menschen gekennzeichnet. Die sogenannte politische Anthropologie Arendts ist der Ausdruck der Ablehnung der metaphysischen Tradition.40 Sobald die Philosophie den Menschen im Singular betrifft, als ob es nur einen Menschen gäbe, sei sie ihrem Wesen nach unpolitisch.41 In einem Brief an Eric Voegelin erwähnt Arendt ihre Vorstellung von der Tradition politischer Philosophie: „Wie kommt es, daß wir aus unserer Tradition nicht 33 34 35 36 37 38 39 40 41 DTB, S. 96. Hervorhebung im Original. Barley, 1990, S. 89. „Das metaphysische Denken aber ist seit alters her – nämlich seit Platon und Aristoteles – mit einer Metaphysik des Politischen verbunden. Diese ist in ihren Schlüsselbegriffen wie in ihrem ganzen Horizont von Annahmen getragen, die nicht der politischen Erfahrung entsprungen sind, sondern dem metaphysischen Verständnis des Seins. Das mindeste, was man sagen kann, ist, daß Platon und Aristoteles als Gründer der politischen Metaphysik die griechischen Erfahrungen mit dem Bereich des Politischen an die metaphysische Auslegung des Seins angeglichen haben.“ (Vollrath, 1979a, S. 20). DD, S. 207. DD, S. 207. DD, S. 16. Canovan, 1992, S. 278; vgl. Heuer, 1997, S. 600; vom Ende oder vom Tod der Metaphysik ist die Rede für die sogenannte postmoderne Position charakteristisch: „Den postmodernen Theoretikern zufolge, stand die westliche Metaphysik mindestens seit Platon unter dem Bann der Metaphysik der Präsenz. Für die postmodernen Theoretiker verbirgt die Suche nach dem Realen nur das Begehren der meisten westlichen Philosophen, die Welt ein für alle Mal zu beherrschen, indem man sie in ein illusorisches, doch absolutes System einschließt, das nach Meinung der Philosophen ein einheitliches Wesen jenseits von Geschichte, Besonderheit und Veränderung repräsentiert bzw. ihm entspricht. Insofern das Reale der Grund der Wahrheit ist, muß die Philosophie als privilegierte Repräsentation des Realen und Hinterfragen der Wahrheitsansprüche eine grundlegende Rolle in jedem positiven Wissen spielen.“ (Flax, 1990, 32f.; zit. nach Benhabib, 1993a, S. 10). Vgl. Gerhardt, 1990a, S. 11. ZVZ, S. 348. 152 imstande waren, die uns von unserer Zeit gestellten politischen Fragen zu beantworten. Dies führt zu der weiteren Frage: Was ist Politik seit Platon? Und sind die seit Platon gegebenen Antworten zureichend? Ich weiß, daß es Ihnen hybrid klingen wird, wenn ich sage: ich glaube nicht. Ich habe den Verdacht, daß in dieser, der rein politischen Hinsicht, irgendetwas in unserer philosophischen Tradition nicht in Ordnung ist. Ich weiß nicht, was es ist, aber es scheint mir im Zusammenhang mit der Pluralität der Menschen zu stehen und mit dem Faktum, daß die Philosophie es vorwiegend mit dem Menschen zu tun gehabt hat.“42 Die metaphysische Tradition politischer Philosophie ist eng mit den Zweiweltlehren, die davon ausgehen, dass die Erscheinung nur ein Trugbild, ein bloßer Schatten des wahren Seins sei, verknüpft. In der Metaphysik, die man die Lehre vom Ganzen nennt, wird die Vielfalt der Erscheinungen in der Welt unterschätzt. Indem sie die konkrete Vielfalt auf bestimmte Elemente zu reduzieren trachtet, versucht die metaphysische Tradition, das Ganze des menschlichen Lebens und der menschlichen Welt zu erklären. Der Dualismus, also „der Vorgang des Grundes, der nicht erscheint“43, gehört Arendt zufolge zum ältesten und hartnäckigsten Irrtum der Metaphysik, der zur hierarchischen Beziehung zwischen der Philosophie und der Politik führt. Wenn die erscheinende Welt und die menschlichen Angelegenheiten etwas Trügerisches und Falsches wären, fragt man sich, was der Sinn der Politik ist. Im Gegensatz zur metaphysischen Konstellation von bloßer Erscheinung und von wahrem Sein besteht Arendts Anliegen in „Rettung der Erscheinung“44. Der Dualismus von Erscheinung und Sein hat mit der Weltlosigkeit der philosophischen Lebensweise zu tun. Die Philosophie, die sich für die hinter den vielfältigen Phänomenen stehenden verborgenen Wesen interessiert, lenkt den Menschen von seiner wahren Verantwortung für die gemeinsame Welt ab. Wie Arendt immanent kritisiert, ist für das philosophische Leben die Verschiebung des Interesses von der Welt auf das introspektive Selbst charakteristisch. Wesen und Würde des Menschen werden allein in der geistigen Seele angesetzt, die wesenhaft unsterblich ist. Im Politikverständnis von Arendt hingegen geht es um die Sorge um die gemeinsame Welt als den Bereich der pluralen Erscheinungen. 45 Arendt behauptet: „Nichts in dieser unserer Welt ist vielleicht eine größere Überraschung 42 43 44 45 Arendt an Eric Voegelin am 08. 04. 1951; zit. nach Breier, 2001, S. 63. DD, S. 32ff. DD, S. 63; vgl. auch DD, S. 29. „Die Philosophie mag eine Vorstellung von der Erde überhaupt als der Heimat des Menschengeschlechts haben, für das in seiner Gesamtheit ein ewiges, überall gültiges, ungeschriebenes Gesetz existiert; die Politik hat mit Menschen im Plural und nicht mit einem Menschengeschlecht oder dem Menschen überhaupt zu tun, und diese Menschen sind Bürger vieler Nationen und Erben vieler Vergangenheiten. Sie leben innerhalb des positiven Rechts und ihre Gesetze sind die festen Gehege, welche den Raum, in dem Freiheit kein Begriff und keine Vorstellung, sondern eine lebendige politische Realität ist, einschließen, ihn schützen und abgrenzen.“ (MfZ, S. 93f.). 153 als die schier unendliche Vielfalt ihrer Erscheinungen.“ 46 Diese Betonung der Erscheinungswelt ermöglicht das neue Verständnis der Phänomene der weltlichen Pluralität. 1.3 Die politische Theorie als die Theorie der Pluralität Arendts Kritik an der Tradition politischer Philosophie ist ein Ausdruck des Versuches, die wesentlichen Bestandteile der politischen Theorie aufzuzeigen. Von dieser Kritik entwirft Arendt „ein neues Lexikon politischer Theorie“.47 In diesem neuen Lexikon konzipiert sie den Begriff der Pluralität als das Fundament der politischen Theorie, weil Pluralität „den Grundzug des politischen Phänomens“48 darstellt. Wenn Arendt sich selbst nicht als politische Philosophin bezeichnet und wenn sie von der politischen Theorie spricht, kann man die Frage aufgreifen, ob und wo der Unterschied zwischen politischer Philosophie und politischer Theorie liegt.49 Allerdings hat Arendt die Differenzierung politischer Theorie von politischer Philosophie nicht eindeutig thematisiert. Trotzdem hat sie in ihrem Werk die Eigenständigkeit der Politischen Theorie in der Politikwissenschaft aufgestellt. Wolin lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Hannah Arendt als Politische Theoretikerin, die sich von einer politischen Philosophin unterscheidet. Er bezeichnet diese Unterscheidung als eine besondere Leistung Arendts, dass sie die politische Theorie zu einem eigenständigen Gebiet der Politikwissenschaft macht, und zwar zum Kern der Disziplin.50 Wenn man die politische Philosophie als Versuch definiert, um es mit Leo Strauss zu sagen, „Meinungen über die politischen Grundprinzipien – die Natur der politischen Dinge und die richtige oder gute politische Ordnung – durch Wissen zu ersetzen“51, wird sie unterschieden sowohl vom politischen Denken, „das über politische Ideen reflektiert und dem die Unterscheidung von Meinen und Wissen gleichgültig ist“, als auch von der politischen Theorie, „welche die politische Situation ihrer Zeit mit dem Ziel einer Politikempfehlung analysiert, ohne politische Grundprinzipien in den Blick zu nehmen.“52 Während die politische Theorie den Versuch macht, das politische Handeln und die auf ihm beruhende politische Wirklich46 47 48 49 50 51 52 DD, S. 30. Disch, 1996, S. 24. Vollrath, 1988, S. 488. Die Trennung von politischer Theorie und politischer Philosophie wird häufig äquivok behandelt. Unter Verweis auf den angloamerikanischen Raum, in dem beide Begriffe promisk gebraucht werden, wehrt Wolfgang Kersting gegen enge Grenzziehungen zwischen politischer Philosophie und politischer Theorie (Kersting, 1999, S. 49). Vgl. Wolin, 1979, S. 188. Strauss, 1955, S. 124; zit. nach Kauffmann, 2000, S. 182f. Kauffmann, 2000, S. 183. 154 keit zu verstehen, lässt sich politische Philosophie als normativer Entwurf einer gerechten politischen Ordnung in ihrer zeitlosen Wahrheit fassen.53 Während die politische Philosophie auf philosophische Erkenntnis von der Wahrheit für die richtige politische Ordnung abzielt, versucht die politische Theorie, „den Rang und die Würde der Meinung als eines Vermögens menschlicher Vernunft ausdrücklich geltend zu machen“.54 Wenn von politischer Theorie die Rede ist, lässt sie sich von dem Begriff dieser philosophischen Theorie unterscheiden. In der philosophischen Sprache definiert sich Theorie als eine hochabstrakte, handelnsferne und weltfremde Betrachtungsweise. Das Problem der Theorie ist seit Plato ein Problem der Erkenntnis des wahrhaften Allgemeinen durch „das göttliche Schauen“55. Dieses theoretische Wissen erhebt sich eindeutig über die Ebene der weltlichen Erfahrung. Vielmehr kann die Verdorbenheit unserer politischen Begriffe, Kategorien und Besinnung für Arendt auf die Trennung zwischen Theorie und Erfahrung zurückgeführt werden. Nach ihrer Überzeugung hat der „Mangel an primitivster begrifflicher Klarheit und Deutlichkeit, was entscheidende politische Erfahrungen und Realitäten anlangt, auf der abendländischen Geschichte im Grunde seit dem Perikleischen Zeitalter gelegen, als die Denker sich von den Handelnden schieden und das Denken begann, sich von politischer Faktizität und Erfahrung zu emanzipieren bzw. beschloß, diese Wirklichkeitsaspekte nicht eigentlich ernst zu nehmen.“56 Die politische Theorie wird nur möglich, wenn man Politik mit den „von der Philosophie ungetrübten Augen“57 sieht. Zum politischen Theoretisieren muss man das Faktum der Pluralität und die Phänomene einer von der Pluralität geordneten Welt als „die elementaren Probleme des Politischen“58 anerkennen. Für Arendt geht die politische Theorie von der Wirklichkeit der Welt und von der in ihr herauszubildenden Pluralität der Menschen aus. Daraus leitet Margaret Canovan ihre schlussfolgernde Deutung ab, dass Hannah Arendts wichtigster Beitrag zur politischen Theorie darin liegt, das Wort „Pluralität“ eingeführt und den Sinn für seine Bedeutung geschärft zu haben.59 In einer kurzen und ausgezeichneten Formulierung stellt Ursula Ludz treffend fest: „Nie zuvor und danach ist mit gleicher Intensität die Pluralität des Menschen als Voraussetzung allen Theoretisierens und Philosophierens über Politik in die Debatte geworfen worden.“60 53 54 55 56 57 58 59 60 Vgl. Kymlicka, 1996, S. 14. ÜR, S. 295. Plato, Pol. 517 d. ÜR, S. 229. IWV, S. 45. ZVZ, S. 24. Canovan, 1992, S. 281. Ludz, 1993, S. 179. 155 Die Aufgabe der politischen Theorie besteht darin, die politische Realität und Erfahrungen aus verhängnisvoller Vergessenheit und Verallgemeinerung zu retten und neu zu aktualisieren. 61 Sie ist daher der Hüter der politischen Realität, die sich ungeachtet aller Zufälligkeit durch die politischen Erfahrungen des Handelns herausgebildet hat. Die Eigentümlichkeit der politischen Theorie von Arendt bemerkt ihr Lehrer, Karl Jaspers. In der Erwiderung auf die Kritik seiner Schrift Wohin treibt die Bundesrepublik nennt er Arendt im Gegensatz zu den Politologen, bei denen „Sätze aus den großen Werken der Philosophie und des politischen Lebens mitschwimmen wie zu Trümmern gewordene Redensarten“, eine ursprüngliche Denkerin der Politik, die „verstehend auf dem Wege über das Verstehen der gegenwärtigen Wirklichkeit“ zu neuen Erkenntnissen gelangt.62 Politisches Theoretisieren ist von Arendt als ein auf Erfahrungen und Phänomene bezogenes Nachdenken bezeichnet worden. Sie stellt keinen normativen Entwurf eines bestimmten politischen Ideals dar, sondern ergibt sich „aus Geschehnissen der lebendigen Erfahrung“63 in der politischen Welt, die die Handelnden stiften, bewahren, verändern oder abschaffen. Die Erfahrungen und darin die Erinnerungen, die der politischen Theorie zugrunde liegen, sind weder geschichtlich noch philosophisch, sondern stets politisch.64 Im Gegensatz dazu besteht die Gefahr einer von Geschichte und Erfahrung unabhängigen Anwendung von Theorien darin, dass deren Plausibilität eher auf ihrer logischen oder methodologischen Stimmigkeit beruht als darauf, dass sie tatsächlichen Ereignissen angemessen sind. 65 Arendts Politische Theorie zielt nicht auf generalisierende Aussagen über die politische Wirklichkeit; sie wird daher „nicht zu einer naturalistischen Doktrin, sondern zu einer Öffnung der Wirklichkeit und ihrer pluralistischen Verfassung.“66 Aber wenngleich die Erfahrungen der Gegenstand politischer Theorie sind, bleiben sie blind, wenn sie nicht überprüft und überdacht werden. In diesem Sinne kann die Erfahrung selbst noch nicht die politische Theorie sein, weil die politische Theorie keineswegs die Nacherzählung geschichtlicher Ereignisse ist. Die bloße Erfahrung bleibt immer noch im Bereich des Vorurteils. Wenn die Vorurteile in offenen Konflikt mit der realen Erfahrung 61 62 63 64 65 66 Vgl. Wolin, 1979, S. 191. Jaspers, 1967, S. 186. ZVZ, S. 18. Vgl. Kohn, 1997, S. 32; in diesem Kontext ist die vorphilosophische Erfahrung der Polis für Arendt der Ausgangspunkt zur Wiedergewinnung der politischen Welt und zur politischen Begriffsbildung. Ihre historisch-phänomenologische Besinnung auf die vorphilosophische Erfahrung der Polis ist z.B. durch eine Feststellung gekennzeichnet: Die Aristotelische Bestimmung des Menschen als politisches und mit Sprache begabtes Wesen „ist in Wahrheit nur die artikulierte und begrifflich geklärte Wiedergabe der geläufigen Meinung der Polis über das Wesen, sofern er ein Polisbewohner und politisch ist.“ (VA, S. 37); vgl. Gebhardt, 2004a, S. 67. Vgl. NA, S. 87. Nordmann, 1993, S. 460. 156 des Gegenwärtigen geraten, beginnt man „sie auszuspinnen und zur Grundlage jener pervertierten Art von Theorien zu machen, die wir gemeinhin Ideologien oder auch Weltanschauungen nennen.“67 Die politische Theorie kann für Arendt nur durch die Überprüfung und Reflexion auf der Grundlage der Erfahrung und durch das öffentliche Schauen der einzelnen Phänomene aufgestellt werden. In diesem Zusammenhang ist die politische Theorie solches Nachdenken über die politischen und geschichtlichen Erfahrungen, um „die vergangenen Vorurteile durch maßstablose Urteile zu ersetzen“. 68 Damit erweist sie sich immer als kritisch, politisch und „vorläufig“69, und nicht definitiv. Arendt wendet sich gegen die Funktionen der politischen Theorie, die kausale Beziehung zwischen sozialen Phänomenen zu erklären und Vorhersagen über zukünftiges Verhalten und zukünftige Ereignisse zu treffen. Hinsichtlich des Anspruchs auf diese Funktion wird eine politische Theorie „zu einer selbstverständlichen Aussage, aus der alles andere in stringent logischer Weise abgeleitet werden kann.“70 In der theoretischen Versuchung, aus der politischen Realität die Elemente der Zufälligkeit zu eliminieren, von dem ontologischteleologischen Denken des Wesens bis zur methodologischen Denkungsart in der Neuzeit, sieht Hannah Arendt die totalitäre Transformation, die zum Verlust der „phänomenalen Evidenz menschlicher Realität“71 führt. Arendt stellt fest: „Wahrheit wird hier in der Tat das, was manche Logiker glauben, daß sie sei, nämlich Konsistenz – wobei aber davon abgesehen werden muß, daß diese Gleichsetzung tatsächlich die Verneigung der Existenz von Wahrheit insofern impliziert, als von Wahrheit immer erwartet wird, daß sie etwas enthüllt. Konsistenz dagegen ist eine Weise, Feststellungen zusammenzufügen, und ihr fehlt als solcher die Kraft der Enthüllung. Die neue aus dem Pragmatismus erwachsene logische Bewegung in der Philosophie befindet sich in erschreckender Nähe zur totalitären Transformation der den Ideologien inhärenten pragmatischen Elemente in das logische Schlussfolgern, wodurch sie ihre Bindungen an die Wirklichkeit und die Erfahrung ganz und gar durchtrennt. Der Totalitarismus geht zwar bekanntlich in gröberer Manier vor, ist aber deshalb unglücklicherweise auch noch viel effektiver.“72 67 68 69 70 71 72 WP, S. 78f.; Arendt sagt, Vieles in dem modernen Arsenal politischer Theorien entspringe dieser tiefsitzenden Abneigung gegen das Zufällige (IG, S. 329). Vgl. WP, S. 79. IWV, S. 112. ZVZ, S. 121. VA, S. 300. ZVZ, S. 398, Anm. 9. 157 2. Plato und die Entstehung der Tradition politischer Philosophie 2.1 Der Konflikt zwischen Politik und Philosophie In der Tradition der politischen Philosophie des Westens findet Arendt „die erstaunliche Zähigkeit“1. Das kommt zum Ausdruck im lapidaren Satz: „Nimm diesen ganzen Bereich menschlicher Angelegenheiten nicht zu ernst!“2 Diese Tradition begann, „als Plato entdeckte, daß eine Abwendung von der gemeinsamen Welt menschlicher Angelegenheiten im Wesen philosophischer Erfahrung zu liegen scheint.“3 Die so entstandene Tradition der politischen Philosophie bewahre einen „Grundakkord, der in endlosen Modulationen und Variationen durch die ganze Geschichte des Denkens der westlichen Welt nachklingt.“ 4 Denn dieser Grundakkord ertönt in Platos Denken als Anfang der Tradition politischer Philosophie am reinsten und deutlichsten, so ist die Auseinandersetzung mit Plato der unverzichtbare Ausgangspunkt für Arendts Kritik an der Tradition der politischen Philosophie. Um den antipolitischen Kernpunkt politischer Philosophie zu finden, kehrt Arendt zu ihrem Ursprung zurück. Durch dieses Zurückkehren erkennt Arendt, die Tradition politischer Philosophie beginne mit dem Konflikt zwischen Politik und Philosophie. Dieser Konflikt hat in der politischen Philosophie drei Folge: Unterordnung der Politik unter die Philosophie; Meinungsverachtung; Gründung der Akademie. 2.1.1 Die Unterordnung der Politik unter die Philosophie Für Platos politische Philosophie ist die politische Erfahrung entscheidend, dass die athenische Polis den Philosophen Sokrates vor Gericht stellte und verurteilte. Der Tod des Sokrates ist für Plato ganz unbestreitbar ein Anlass zum Philosophieren gewesen.5 Plato versteht 1 2 3 4 5 VA, S. 285. DU, S. 34; Plato sagt: „Es sind nun zwar die Angelegenheiten der Menschen großen Ernstes nicht wert“ (Plato, Nomoie 803 b 3). ZVZ, S. 33; „Unsere philosophische Tradition aber, sofern sie von Parmenides und Plato ihren Ausgang nimmt, ist ursprünglich im Gegensatz zur Polis und dem Bereich des Politischen gestiftet worden.“ (ZVZ, S. 211). ZVZ, S. 24; Alfred N. Whitehead sagt, dass „die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“ (Whitehead, 1979, S. 91). In seinem siebten Brief gibt Plato manchen Hinweis auf die Beweggründe seines philosophischen und politischen Denkens. Darin ist vor allem der Einfluss der Hinrichtung des Sokrates auf seine politische Philosophie ausführlich geschildert (Plato, Briefe VII 324 b – 326 b); vgl. Weber-Schäfer, 1976, S. 24; Scholz, 1998, S. 75ff. 158 seinen Tod als das Resultat vom Konflikt zwischen Politik und Philosophie.6 Das bedeutet, dass „die Geburt der Politischen Philosophie“7 des Abendlandes weder aus der „Philosophie über die Polis“ noch aus der Reflexion auf das Politische selbst entstand.8 Der Gegenstand der politischen Philosophie war von Anfang an nicht die Politik und ihre praktischen Problemen, sondern der Konflikt zwischen Philosophie und Politik. Platos Ansatz zur Lösung des Konflikts besteht in der Unterordnung des Politischen unter die Philosophie. Mit der Unterordnung der Politik unter die Philosophie negiert Plato die Vorstellung der Griechen, das Politische sei „Ausdruck einer besonderen Lebensweise, die zu anderen Lebensweisen in Konkurrenz steht“.9 Arendt hält fest: „Plato leugnete nicht, daß das Anliegen des Philosophen die ewigen, unveränderlichen und nicht menschlichen Angelegenheiten war. Aber er stimmte nicht zu, daß ihn dies unfähig mache, eine politische Rolle zu spielen. Er stimmte nicht der Schlussfolgerung der Polis zu, daß sich der Philosoph ohne Sorge um das menschliche Wohl in der ständigen Gefahr befände, ein Nichtsnutz zu werden.“10 Diese Unterordnung ist durch die Bemühung Platos gekennzeichnet, den Grund der Politik außerhalb der politischen Sphäre zu verorten. Plato versucht das politische Phänomen „aus Prinzipien des wahrheitsfähigen philosophischen Denkens“11 zu konzipieren, indem er die Methode, Verfahren des philosophischen Denkens unmittelbar auf die politische Lebensweise und das politische Phänomenfeld anwendet. Dadurch verliert die Politik ihre Autonomie, dass die Politik an sich einen eigentlichen Wert hat und dass die Politik für sich selbst vollzogen werden soll.12 Arendt sagt: „Plato (…) hat auf mancherlei Weise versucht, sich der Polis und dem, was sie unter Freiheit verstand, entgegenzustellen. Er hat es ver6 7 8 9 10 11 12 Vgl. ZVZ, S. 181; Arendt schreibt an Jaspers; „Es gibt seit dem Prozeß des Sokrates, d.h. seit die polis dem Philosophen den Prozeß machte, einen Konflikt zwischen Politik und Philosophie, dem ich versuche, auf die Spur zu kommen.“ (BAJ, S. 325). Meier, 2000, S. 11. WP, S. 54. Kauffmann, 2001, S. 120; hinsichtlich des Verhältnisses der zwei Lebensweisen ist Arendts Vorstellung aristotelisch, aber nicht platonisch (vgl. Plato, Pol. 618 a; vgl. VA, S. 27). In der Auseinandersetzung mit Plato grenzt Aristoteles die Lebensweise der vita contemplativa von der Lebensform der vita activa ab, obwohl die theoretische Lebensform für ihn den höchsten Rang einnimmt (vgl. Aristoteles, NE 1095 b 14f). Wie Arendt feststellt, „hat Aristoteles dagegen Einspruch erhoben, den Philosophen Einfluß im Bereich des Politischen einzuräumen“ (ZVZ, S. 348). In einer Formulierung von NE erkennt Aristoteles eindeutig die andere Lebensweise als die philosophische an: „Daher gelten Anaxagoras und Thales und Denker ihrer Art als Repräsentanten philosophischer Weisheit, nicht aber der praktischen Einsicht, wenn man beobachtet, wie sie es nicht verstehen, ihren eigenen Vorteil wahrzunehmen – und man schreibt ihnen ein Wissen um bedeutende, großartige, schwer verständliche und unergründlich rätselhafte, fürs Leben aber unbrauchbare Dinge zu, weil sie nicht das suchen, was ein Gut für den Menschen ist.“ (Aristoteles, NE 1140 a 25-30; 1141 b 3f.; zit. nach PP, S. 382f.). PP, S. 383. Vollrath, 1988, S. 488. Zur Autonomie des Politischen siehe Bielefeldt, 1993, S. 86; vgl. Cooper, 1979, S. 139; Parekh, 1981, S. 8. 159 sucht durch eine politische Theorie, in der die Maßstäbe des Politischen nicht aus diesem selbst, sondern aus der Philosophie geschöpft sind, durch eine ins einzelne gehende Ausarbeitung einer Verfassung, deren Gesetze den nur dem Philosophen zugänglichen Ideen entsprechen, und schließlich sogar durch eine Einflußnahme auf einen Herrscher, von dem er sich erhoffte, er würde eine solche Gesetzgebung in die Wirklichkeit umsetzen“.13 Das Ziel dieser Bemühung besteht nicht nur darin, „die Philosophie für die Politik brauchbar zu machen“14, sondern vielmehr „die Lebensweise des Philosophen zu ermöglichen“15. Das bedeutet, dass Politische Philosophie von Anfang an politisches Handeln von Philosophen zum Schutz und zur Verteidigung des philosophischen Lebens gewesen sei.16 Vor diesem Hintergrund wird die Politische Philosophie ein Teil der Philosophie.17 Der von Plato erfahrene Konflikt zwischen Philosoph und Polis verdeutlicht sich vor allem innerhalb des Höhlengleichnisses, das man im 7. Buch von Politeia findet.18 Das Gleichnis beschreibt die Situation der Menschen und deren Bemühen, durch die Philosophie die eigentliche Wahrheit zu schauen: Unsere Umgebung gleiche bloßem Schatten, der gar nicht die eigentliche und wahre Wirklichkeit sei. Der Philosoph steige aus der Höhle in die Welt der Ideen hinaus, indem er die Pluralität der menschlichen Welt verlässt. Er kehre aber in die Höhle zurück, um die anderen Menschen aus ihrer Haft zu befreien. Politisch gesprochen ist der Aufstieg der wenigen Philosophen aus der Höhle zur Sonne die Bedingung der 13 14 15 16 17 18 WP, S. 54. PP, S. 399. VA, S. 24; um die Haltung der Philosophen gegenüber Politik aufzuzeigen, zitiert Arendt an vielen Stellen Pascals Bemerkung aus den Pensees: „Man stellt sich Platon und Aristoteles nur in der feierlichen Gewandung des Lehrers vor. Es waren Ehrenmänner, die wie andere Menschen mit ihren Freunden lachten; und wenn sie zu ihrer Zerstreuung ihre Gesetze und ihre Politik machten, war das für sie nur ein Spiel: es war der am wenigsten philosophische und am wenigsten ernste Teil ihres Lebens; der philosophischste war, einfach und ruhig zu leben. Wenn sie über Politik schrieben, dann taten sie es gleichsam, um ein Narrenhaus zu ordnen; und wenn sie zum Schein davon sprachen wie von einer großen Sache, so geschah das nur darum, weil sie wußten, daß die Narren, zu denen sie sprachen, Könige und Kaiser zu sein glaubten. Sie gingen auf deren Prinzipien ein, um ihre Narrheit so unschädlich wie möglich zu machen.“ (DU, S. 34f.; vgl. DD, S. 153; ZVZ, S. 96, Anm. 16). Kauffmann, 2001, S. 186; Arendt sagt, der Anspruch auf Herrschaft der Philosophen sei „nicht eigentlich um der Polis oder um der Politik willen, sondern vor allem der Philosophie willen und im Interesse der Sicherung des Philosophen“ (ZVZ, S. 173). Dieses Wesen der politischen Philosophie zeigt sich ausführlich in der Formulierung von Leo Strauss: „Unter diesem Gesichtspunkt bezeichnet das Adjektiv politisch in dem Ausdruck politische Philosophie primär nicht die philosophische Behandlung von Politik, sondern die politische, oder populäre, Behandlung der Philosophie, oder die politische Einleitung in die Philosophie – den Versuch, die geeigneten Bürger, oder eher ihre geeigneten Söhne, vom politischen Leben zum philosophischen Leben zu führen. Diese tiefere Bedeutung von politischer Philosophie stimmt gut mit ihrer gewöhnlichen Bedeutung überein, weil in beiden Fällen politische Philosophie im Lob des philosophischen Lebens gipfelt. Auf jeden Fall muß der Philosoph die politischen Dinge genau so verstehen, wie sie im politischen Leben verstanden werden, weil er letztlich beabsichtigt, Philosophie vor dem Tribunal der politischen Gemeinschaft und daher auf der Ebene der politischen Diskussion zu rechtfertigen.“ (Strauss; zit. nach Kauffmann, 1997, S. 116f.). Plato, Pol. 514 a - 521 b; vgl. ZVZ, S. 23 und 320f.; auch VA, S. 31. Siehe zur Arendtschen Interpretation vom Höhlengleichnis besonders Bluhm, 1999. 160 Möglichkeit der Befreiung der Staaten von ihrem gegenwärtigen Unheil. Die Rückkehr dieser Philosophen mit der Wahrheit in die politische Arena ist Ausdruck von Platos Versuch, seine eigene aus ganz anderen Bereichen stammende, völlig unpolitische Ideenlehre in der Polis politisch verwerten zu wollen. 19 In diesem Zusammenhang bezeichnet Arendt das Höhlengleichnis als das Zentrum der politischen Philosophie Platos, aber keineswegs als den Kern der Ideenlehre. Trotz der Verachtung des Bereichs der menschlichen Angelegenheiten 20 erscheint Platos Ernstnehmen des Politischen oder das „Pflichtgefühl“21 zumindest im Höhlengleichnis als die Rückkehr der Philosophen in die Höhle.22 Beim Höhlengleichnis geht es trotzdem nicht um die Rückkehr selbst. Vielmehr steht die Schlussfolgerung des Höhlengleichnisses in der Tötung des Rückkehrers durch die Bewohner der Höhle. Wenn der Philosoph den Menschen in der Höhle von der echten Wahrheit erzähle, um die stehende Welt zu bessern und zu retten, dann finden sie wohl gar keinen Glauben und verspotten ihn schließlich darüber auch noch und töten ihn sogar. Damit betont Plato den unversöhnlichen Konflikt zwischen Politik und Philosophie. In dieser Bemerkung am Ende des Höhlengleichnisses kann man Platos Deutung des Prozesses gegen Sokrates unschwer ablesen. Der Lebensweg des Sokrates versteht sich für Plato als Vorbild des rückkehrenden Philosophen. Der Weg des Sokrates endet aber nicht wie bei Thales mit einem harmlosen Spott.23 Die Unversöhnlichkeit zwischen den Bewohnern der Höhle und dem rückkehrenden Philosophen liegt Arendts Ansicht zufolge daran, dass der zurückkehrende Philosoph „seinen Gemeinsinn verloren hat, der nötig ist, um sich in einer allen gemeinsamen Welt zu orientieren, und darüber hinaus, weil das, was er in seinem Denken birgt, dem Gemeinsinn der Welt widerspricht.“24 Freilich verzichtet Plato nicht auf den Versuch, die Unversöhnlichkeit 19 20 21 22 23 24 Vgl. BAJ, S. 325. „Das Nicht-ernst-Nehmen des Politischen zeigt sich darin, daß die beiden Tätigkeiten, durch die Menschen als Menschen miteinander verbunden sind, nämlich das Sprechen und das Handeln in ihm gar nicht erwähnt werden, daß die Höhlenbewohner vielmehr dadurch charakterisiert sind, daß sie aneinander gefesselt, aber nicht einander zugewandt, auf eine Wand starren, an der die Schatten und Abbilder der Dinge erscheinen.“ (ZVZ, S. 180). Nach der Interpretation von Egon Flaig stellt die Höhle die Gesamtheit aller politischen und sozialen Kommunikationssphären dar (Flaig, 1994, S. 34- 70). Cassirer, 1949, S. 84. Nach Arendts Auffassung gibt es drei Gründe dafür, warum der Philosoph in die Höhle zurückkehrt: Erstens die Möglichkeit der Befreiung von der Lebensnotwendigkeit nur durch das Politische. Zweitens die Angst des Menschen, von Schlechteren, als er ist, regiert zu werden. Drittens die Pflicht des Bürgers, was er weiß, auch Anderen mitzuteilen (DTB, S. 497). Nach Plato verkörpert Thales den der Schau des Seienden zugewandeten weltfremden Philosophen. In seinem Dialog Theätet überliefert Plato dazu die Geschichte vom Spaziergang des Thales, der mit dem Blick nach oben, also zum Himmel, in einen Brunnen fiel und deshalb von einer thrazischen Magd verspottet wurde: „Der nämliche Spott paßt auf alle, die sich ganz der Philosophie ergeben haben.“ (Plato, Theätet 174 a ff.). PP, S. 395. 161 dieses Konflikts zu überwinden. Dies hat zur Folge, dass es der Notwendigkeit der Herrschaft der Philosophen bedarf, um das philosophische Prinzip zur Stabilisierung auch der menschlichen Angelegenheiten zu dienen. Das heißt die wahrhafte Versöhnung. Platos Ansatz zur Lösung des Konflikts zwischen Philosophie und Politik endet schließlich mit dem Anspruch auf die absoluten Maßstäbe, also mit der Transzendentalisierung des Politischen. Arendt sagt: „Der Konflikt (…) ist durch Plato nicht beigelegt, sondern von ihm nur diktatorisch zugunsten der Philosophie entschieden worden – was dann allerdings für nahezu die gesamte politische Theorie des Abendlandes maßgebend geworden ist.“25 2.1.2 Die Meinungsabwertung Die Unterordnung der Politik unter die Philosophie führt zur „Meinungsabwertung“, „die seit Parmenides und Plato die philosophische Tradition des Abendlandes beherrscht und der zufolge nicht so sehr Irrtum oder Lüge wie das bloße Meinen als der Gegensatz der (philosophischen) Wahrheit erscheint.“26 Plato unterscheidet die durch Vernunft erkennbare Wahrheit von der durch die Überredung veränderbaren Meinung. Für Plato sind Vernunft und richtige Meinung zwei verschiedene Arten, „da sie gesondert entstanden und von unähnlicher Beschaffenheit sind. Denn das eine entsteht in uns durch Belehrung, das andere durch Überredung; das eine ist stets mit wahrer Begründung verbunden, das andere ist unbegründbar; das eine ist durch Überredung nicht zu bewegen, das andere ist umzustimmen.“27 Vor allem die Tatsache, dass Sokrates nicht fähig gewesen war, seine Richter von seiner Unschuld zu überzeugen, nährte Platos Zweifel an der Tauglichkeit der Überzeugung, unter deren Einfluss jede Meinung zustande kommt. Aus dieser Skepsis von Überzeugung und Meinung, die polismäßig sind, fordert Plato einen absoluten transzendenten Maßstab sowohl für die politische Ordnung als auch für alle menschliche Handlung, um die Willkür und Ungewissheit menschlichen Handelns durch die Gewissheit metaphysischer Einsicht zu ersetzen. Das Wissen der Wahrheit ist für Plato Voraussetzung vernünftigen Handelns, um das Mannigfaltige zur Einheit zu bringen, das Chaos unseres politischen und sozialen Lebens in eine einheitliche Ordnung zu bringen.28 Die Meinung hingegen stellt für Plato die Übel und das Chaos in den menschlichen Angelegenheiten dar. Der Konflikt zwischen Wahrheit und Meinung bildet daher den in25 26 27 28 ZVZ, S. 181; vgl. PP, S. 381 und ZVZ, S. 173. ÜR, S. 295. Plato, Timaios 51 e. Vgl. Plato, Pol, 517 c 3-5. 162 haltlichen Ausgangspunkt für den Konflikt zwischen Philosophie und Politischem. 29 Im Hinblick auf die Lösung dieses Konflikts ist Platos politische Philosophie der Versuch, die Meinung durch Wahrheit zu ersetzen.30 Plato unterscheidet Wahrheit und Meinung anhand der drei Maßstäbe, nämlich Subjekt von Erkenntnis, ihr Gegenstand und ihre Form. Die Wahrheit grenzt sich zuerst im Blick auf das sie wissende Subjekt von Meinung ab. Die Wahrheit ist nur für einige Wenige zugänglich. „Nur diese Wenigen werden die wahren Maßstäbe allen Lebens verstehen, einschließlich der politischen Angelegenheiten, an denen als solchen sie aber nicht länger interessiert sein werden.“31 Bei der berühmten Definition von Aristoteles ist die Philosophie als Wissen von der Wahrheit bestimmt.32 Die Aufgabe der Philosophie liegt in der intellektuellen Erkenntnis der Wahrheit. Den Philosoph nennt Plato daher „weisheitliebend“, nicht „meinungsliebend“.33 Dieses höchst schwierige Geschäft der Philosophie vermögen immer nur wenige Menschen zu vollbringen.34 Die Wahrheit lasse sich in den wenigen göttlichen Menschen erfahren, weil philosophische Seelen naturgemäß ganz selten sind. 35 Das Vermögen, die Wahrheit zu erkennen, das Plato Vernunft nennt, ist nur den Göttern und wenigen unter den Menschen verliehen.36 Im Gegensatz zur Vernunft als dem Göttlichen im Menschen hat die Meinung mit der „Torheit der Menge“37 zu tun, die in der eigenen Situation befangen ist. Im Gegensatz zur Wahrheit ist die Meinung die „Denkungsart der Vielen oder der Meisten“.38 Das seelische Auge der großen Masse vermöge es nicht, die göttliche Wahrheit zu schauen. An einer Stelle sagt Plato: „Der Philosoph hingegen, in vernunftmäßigem Verfahren mit der Idee des Seienden stets beschäftigt, ist wiederum wegen der Helligkeit der Gegenstand keineswegs leicht zu erblicken. Denn die Geistesaugen der meisten sind in das 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 In Politik und Philosophie argumentiert Arendt im Folgenden: „Eng mit seinem Zweifel an der Tauglichkeit der Überredung ist Platos wütende Verurteilung der doxa, der Meinung, verbunden, was sich nicht nur wie ein roter Faden durch seine politischen Werke zieht, sondern auch einer der Ecksteine seines Begriffs der Wahrheit wurde. Die platonische Wahrheit wird immer als das genaue Gegenteil von Meinung verstanden, selbst wenn doxa nicht erwähnt wird. Das Schauspiel, wie Sokrates seine doxa den unverantwortlichen Meinungen der Athener unterwarf und von einer Mehrheit überstimmt wurde, veranlaßt Plato, Meinungen zu verachten und sich nach absoluten Maßstäben zu sehen. Solche Maßstäbe, durch die menschliche Taten beurteilt werden könnten und menschliches Denken ein gewisses Maß an Verlässlichkeit erlangen könnte, wurden von nun an zur vorrangigen Triebkraft seiner politischen Philosophie und beeinflussten entscheidend selbst die rein philosophische Ideenlehre.“ (PP, S. 381f.). „Philosophie in der vollen und ursprünglichen Bedeutung des Begriffs ist der Versuch, Meinungen über das Ganze durch Erkenntnis des Ganzen zu ersetzen.“ (Strauss, 1977, S. 13). ZVZ, S. 320. Vgl. Aristoteles, Metaphysik 993 b 20. Vgl. Plato, Pol. 480 a. Vgl. Plato, Pol. 504 a 2 ff. Vgl. Plato, Pol. 491 b. Vgl. Plato, Pol. 508 d; Timaios 51 d; vgl. ZVZ, S. 341. Plato, Pol. 496 c. Held, 1986, S. 10. 163 Göttliche ausdauernd hineinzusehen unvermögend.“39 Platos gesamte politische Philosophie beruht auf der Vorstellung, wie Arendt feststellt, „daß Wahrheit gerade unter den Vielen weder gewonnen noch mitgeteilt werden, daß also der Philosoph, der Wahrheitssucher und –sager, nur als einzelner mit einzelnen existieren kann.“40 Politisch betrachtet gerinnt dieser Konflikt zwischen Wahrheit und Meinung zur abendländischen Tradition des Gegensatzes von Wenigen und Vielen.41 Diese Tradition berechtigt zur aristokratischen Herrschaft von wahrhaften Wenigen. In diesem Zusammenhang betont Egon Flaig, dass Plato die philosophische Natur von den anderen unterscheidet: „Nur wer von Natur aus zur Philosophie geeignet ist, wird zur Weisheit geführt; allen anderen soll verboten sein, sich mit Philosophie zu beschäftigen“.42 Ein Brennpunkt im Konflikt zwischen Wahrheit und Meinung ist bei Plato die Frage nach dem Gegenstandsbereich. Meinung und Wahrheit grenzen sich voneinander anhand ihrer Gegenstände ab: Die Wahrheit betrifft das, was weder entsteht noch vergeht, und die Meinung das Kontingente. 43 Während die Wahrheit „Übersicht der ganzen Zeit und alles Seins“44 gibt, ist die Meinung durch die Einseitigkeit und Befindlichkeit gekennzeichnet. Dieser Gegensatz von Wahrheit und Meinung wird zur Grundlage der westlichen Philosophie.45 Die Erfahrungen und Erscheinungen der menschlichen Angelegenheiten geben bestenfalls eine richtige Meinung über die sichtbaren Dinge. Sie gibt für Plato jedoch keine wirkliche Erkenntnis, sondern sie ist mangelhaftes Wissen. Der Gesamtbereich der Meinung ist ver39 40 41 42 43 44 45 Plato, Der Sophist 254 a. ZVZ, S. 335. Kant ist Arendt zufolge eine Ausnahme. Im Gegensatz zu Plato, demzufolge äußerst wenige zur Philosophie geeignet sind, geht es bei Kant um eine „allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“ (Kant, 1974a, B 782). Kant ist Arendts Auffassung zufolge der Meinung, dass jeder gewöhnliche Mensch fähig ist, ein Leben der Lust oder Unlust zu beurteilen: „(Das Philosophieren) stellt die Wenigen nicht den Vielen gegenüber“ (DU, S. 42-43). Flaig, 1994, S. 34-70, hier S. 40; Neschke-Hentschke betont, Plato rede in den Nomoi immer von der göttlichen Instanz im Menschen, welche herrschen solle. (Neschke-Hentschke, 1988, S. 609f.). Vgl. Plato, Pol. 478 a ff.: „Ebenso nun betrachte dasselbe auch an der Seele. Wenn sie sich auf das heftet, woran Wahrheit und das Seiende glänzt, so bemerkt sie und erkennt sie es, und es zeigt sich, daß sie Vernunft hat. Wenn aber auf das mit Finsternis Gemischte, das Entstehende und Vergehende, so meint sie nur und ihr Gesicht verdunkelt sich, so daß sie ihre Vorstellungen bald so, so herumwirft und wiederum aussieht, als ob sie keine Vernunft hätte“ (Plato, Pol. 508 d). Plato, Pol. 486 a. Diese platonische Tradition wirkt sich nicht minder in der Neuzeit aus. Beim jungen Hegel kommt sehr deutlich der platonische Ansatz zu seiner letzten systematischen Entfaltung. In der Vorlesung über die Geschichte der Philosophie beschreibt Hegel die Eigenschaft der Meinung: „Meinung ist eine beliebige subjektive Vorstellung, die nur mein ist und daher ihren Namen hat. Die Philosophie ist ein objektives Erkennen, ist Wissen der Wahrheit, kein Subjektives; sie ist gerade der Meinung entgegengesetzt, wie schon bei Plato“ (Hegel, 1993, S. 110). In diesem Zusammenhang bezeichnet Arendt Hegel als den letzten Philosoph, der im ganzen Sinne von Plato die allgemeine und unfehlbare Wahrheit unterschied von Meinung, die beliebig, zufällig, einseitig und somit irrational ist. Für ihn ist die Wahrheit noch wesentlich ein Gegenstand kontemplativer Betrachtung (vgl. ZVZ, S. 97 und S. 430f.). 164 änderlich und zufällig. Die Meinung richtet sich auf die unserer Erfahrungswelt entsprechenden wandelbaren Dinge, die unbeständig, wechselhaft, schwankend, parteiisch und rein subjektiv sind. Insofern ist auch die Meinung durch ihre Wandelbarkeit, Fehlbarkeit, Partikularitäten und Vielfalt gekennzeichnet. Jeder Mensch hat seine eigene Meinung, und die Meinung drückt immer aus, dass mir etwas so und so zu sein scheint oder mir als das und das erscheint.46 Weil die Meinung von einem eigenen Standpunkt über die erscheinende Welt ausgeht, existiert sie in deren Vielzahl und Vielfältigkeit. Dabei ist ein Meinungsstreit unvermeidlich. Deshalb wird der Bereich der Meinung von unversöhnlichem Streit beherrscht. Im Gegensatz zur Vielfalt der Meinung ist die Wahrheit Eine. Sie ist notwendig, unveränderlich und universal. Auf die unveränderliche Welt der Ideen richtet sich die Wahrheit. Der Gegenstand philosophischen Wissens sind die ersten Gründe und Ursachen jenseits der Erfahrung menschlicher Angelegenheiten, denn „erst von der Ursache her wird auch das Verursachte verstehbar“.47 Dementsprechend ist die Wahrheit das Unwandelbare und „das Unfehlbare“.48 Die philosophische Wahrheit hat ihren Ursprung und ihre Erkenntnisgrundlage außerhalb der menschlichen Angelegenheiten. Sie bezieht sich auf das Wissen um das Ganze der Welt, die „jenseits von Zeit und Raum war und „kein hier und jetzt“ hat.49 Obwohl die Abwertung der Meinung bereits für die vorsokratischen Philosophen charakteristisch war, versucht Plato zum ersten Mal auf radikale Weise, die philosophische Wahrheit für die Gestaltung und die Stabilisierung des politischen Zusammenlebens der Menschen umzusetzen.50 In diesem Kontext kann man sagen, dass Platos politische Philosophie „mit der Erkenntnis dieser unsichtbaren harmonischen Ordnung“ beginnt.51 Die Differenziertheit zwischen Wahrheit und Meinung besteht drittens im Unterschied der Form des Wissens. Für Plato entfalten sie die beiden entgegensetzten und sich entsprechenden Redeweisen: „Plato hat diesen ursprünglichen Antagonismus zwischen Wahrheit und Meinung dann weiter ausgeführt in dem Gegensatz zwischen philosophischer Dialektik und politischer Rhetorik“.52 Die der Wahrheitsfindung angemessene Form entspricht der philo- 46 47 48 49 50 51 52 Vgl. PP, S. 386. Zehnpfennig, 2001, S. 126. Plato, Pol. 477 e. Cassirer, 1949, S. 104. Hervorhebung im Original; Arendt hingegen vertritt die Überzeugung: „Das Prädikament des Politischen ist, dass es immer im Miteinander und im Hier und Jetzt verbleiben muss“ (DTB, S. 591). Vgl. ZVZ, S. 332f.; vgl. Held, 1986, S. 13. DD, S. 144. ZVZ, S. 333f.; vgl. ZVZ, S. 300 und VA, S. 36; für die Tradition politischer Philosophie ist diese Unterscheidung zwischen der philosophischen und der politischen Gesprächsform charakteristisch. Aristoteles sagt im Folgenden: „die Kunst der Überredung (und deshalb die politische Kunst der Rede) ist das Ge- 165 sophischen Dialektik, während die Rhetorik als ein Mittel des Überredens mit der Meinung zu tun hat. 53 Wo es Dinge gibt, die mit eigenen Wesen von Natur aus existieren, wird die politische Verständigung überflüssig. Zum Wissen über das Wesen der Dinge verhilft der Sprachakt nicht: „Nicht durch den Diskurs, sondern durch den Blick auf diese für das Auge des Geistes sichtbaren Formen wird dem Philosophen die Wahrheit mitgeteilt, und mit seiner Seele – die im Gegensatz zu seinem sichtbaren, vergänglichen und ständigem Wechsel unterworfenen Körper unsichtbar und unvergänglich ist – hat er an der unsichtbaren, unvergänglichen, unwandelbaren Wahrheit teil. Er hat teil, und zwar indem er sie sieht und schaut, und nicht (…) durch Argumentation.“54 Da die sprachliche Form, das Plato dialektisch nennt, „das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht“55, ist, findet es in der Isolierung von anderen und in der Sprachlosigkeit statt. Denn philosophische Wahrheit handelt von göttlichen Dingen und wird durch das geistige Schauen des Wesentlichen zum Wissen. Dann bleibt der Philosoph „in seiner wesentlichen Isolierung von allen anderen“. 56 Da „das Wahre von selbst, ohne ein Zutun des Menschen, in Erscheinung tritt“57, ist das Wissen der Wahrheit unabhängig von anderen, während die Meinungen auf andere angewiesen sind. Für das Schauen des Wahren braucht man keine Worte, denn „Worte sind, wie Plato meint, zu schwach für das Wahre, das daher überhaupt in der Rede nicht gefasst werden kann“. 58 Daher ist die Quelle der Philosophie das „sprachlose Staunen“59. Die Wahrheit lässt sich weder mitteilen noch in Gestalt von Worten erwerben. Für Plato ist die Sprache letztlich nur ein matter Abglanz des Scheins der Ideen, zu denen der Zugang nicht auf sprachliche Weise geschaffen wird, weil sich die Wahrheit nur durch das sprachlose Staunen über das, was ist, wie es ist, erkennen lässt. Sein Hauptpunkt ist nämlich der, dass das Wort selbst nicht zur Kenntnis der wahren Idee führen kann. Jede Wahrheit bringt daher das menschliche Gespräch notwendigerweise zum Stillstand.60 So transzendiert die 53 54 55 56 57 58 59 60 genstück zur Kunst der Dialektik der Kunst der philosophischen Rede“ (Aristoteles, Rhetorik 1354 a 12ff. und 1355 b 26ff.); vgl. Plato, Gorgias 448. Vgl. Hetzel, 2006, S. 25ff.; zum Konzept des Überredens siehe Abschnitt, IV. ÜDB, S. 64. Plato, Der Sophist 263 e. ZVZ, S. 338. VA, S. 351. VA, S. 370; vgl. Plato, Brief VII 341 c. PP, S. 396. Zur Sprachauffassung Platos fasst Gadamer folgendermaßen zusammen: „Plato will mit dieser Diskussion der zeitgenössischen Sprachtheorien zeigen, daß in der Sprache, in dem Anspruch auf Sprachrichtigkeit keine sachliche Wahrheit erreichbar ist und daß man ohne die Worte das Seiende erkennen müsse rein aus sich selbst.“ (Gadamer, 1965, S. 412). 166 Wahrheit den Bereich des Politischen, der sich auf das Mitsprechen gründet. Arendts Ansicht zufolge entspringe Platos Verachtung der Politik seiner Verachtung des Geredes. 61 Arendt sagt: „Denn was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann. Es mag Wahrheiten geben, die jenseits der Sprechenden liegen, und sie mögen für den Menschen, sofern er auch im Singular, d.h. außerhalb des politischen Bereichs im weitesten Verstand, existiert, von größtem Belang sein. Sofern wir im Plural existieren, und das heißt, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.“62 Im Gegensatz zur Form der Wahrheitsfindung spielt für die Bildungsform der Meinung die menschliche Pluralität und die Sprache eine unabdingbare Rolle. Die Meinung lässt sich in Gestalt von Miteinanderreden darbieten, mitteilen und herausbilden. Das heißt die „Überredungskünsten, mit denen der Redner die Meinungen der Menge beeinflußt und schließlich die Vielen überzeugt.“63 Im Gegensatz zur Wahrheit sind Meinungen nur in der Öffentlichkeit möglich und entstehen und bewähren sich im Vorgang der Überzeugung mittels des Sprechens. „Wo das Sprechen aufhört, hört die Politik auf.“64 Wenn die Wahrheit in den politischen Bereich eintritt, wird sie zu einer bloßen Meinung im Plural. Plato selbst zeigt uns im Höhlengleichnis, „daß die Wahrheit in der Menge der Meinungen und Ansichten verloren geht, daß, was er für Wahrheit hielt, urplötzlich zu einer Meinung unter vielen Meinungen degradiert wird“.65 Aufgrund dessen wird die Wahrheit unausweichlich absolut und despotisch, wenn sie sich im politischen Bereich durchsetzen wollte. Politisch gesprochen würde sich der Anspruch auf die absolute Wahrheit im politischen Bereich „von anderen Formen der Tyrannis“66 nicht abgrenzen. Arendt weist daher auf die „Affinität des Philosophen und des Tyrannen seit Plato“ hin. 67 Sie scheut sich nicht zu sagen „daß innerhalb des Bereiches menschlicher Angelegenheiten jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt“68, weil die absolute Wahrheit zutiefst pluralitätsfeindlich ist. 61 62 63 64 65 66 67 68 DTB, S. 397. VA, S. 12. ZVZ, S. 333. WP, S. 196. ZVZ, S. 337. ZVZ, S. 348; Beiner wirft Arendt ihre „harsche und unplausible“ „Gleichsetzung von Wahrheit mit Tyrannei“ vor, die eine eng begrenzte Wahrheitskonzeption voraussetzt (Beiner, 2004, S. 140f.). DTB, S. 45. ZVZ, S. 333; vgl. ÜR, S. 248. 167 2.1.3 Die Gründung der Akademie Der oben formulierte Konflikt zwischen Philosoph und Polis führt praktisch zur Gründung der Gemeinschaft von Philosophen. Um 387 v. Chr. gründet Plato in Athen eine Philosophen-Schule, die Akademie benannt wird. Die Gründung der Gemeinschaft von Philosophen bedeutet, dass Philosophen sich letztlich aus der Polis zurückgezogen haben. Anders gesagt ist die platonische Akademie der Ausdruck des radikalsten Bruches mit der griechisch-polisweltlichen Vorstellung, gutes Leben sei nur möglich in der Polis.69 Das ist kein Wunder, weil es Plato anfangs nicht um die Verwirklichung einer guten Politik, der guten Polis, sondern um die Sicherheit und das Schützen des philosophischen Lebens ging. Die Gründung des Reiches der Philosophen ist Platos definitive Antwort auf die Grundfrage von Sokrates; die Frage, welcher Staat sei den Philosophen angemessen sei? 70 Geschichtlich betrachtet steht die Gründung der Akademie in unmittelbarem Zusammenhang mit Platos Erfahrungen der Krise der Polis und des Todes von Sokrates. Plato zieht aus dem gewaltsamen Tod seines Lehrers durch den Schierlingsbecher die Konsequenz. Er verzichtet darauf, seine Mitbürger auf der Agora zum Philosophieren anzuhalten. Stattdessen reflektiert er über ein neuartiges Ordnungsprinzip, welches die Sicherheit der Philosophen garantieren konnte. Weil sich Plato und seine Schüler weigerten, „das Schicksal des Sokrates zu teilen“71, brauchen sie ihren eigenen Zusammenschluss statt der Gemeinschaft mit ihren Mitbürgern.72 Vor diesem Hintergrund musste Plato die erste Schule der Philosophen bilden, also „den neuen Gesellschaftstypus, der zum Träger ihrer Wahrheit werden konnte“.73 Helmut Kuhn stellt fest: „Was sich mit der Hinrichtung des Sokrates, des Philosophen in der Gestalt des vollkommenen Bürgers, vollzogen hatte, trat mit der Schulgründung im Hain des Akademos außerhalb der Mauern Athens auf neue und endgültige Weise in Erscheinung: die aus der Krisis des athenischen Staatswesens geborene Philosophie trennte sich in Loyalität von dem politischen Leben der väterlichen Polis.“74 Die Gründung der Akademie hat nach Arendt mit drei philosophischen Grundkonzeptionen zu tun: Vergänglichkeit des politischen Lebens; Exklusivität von Politik und Freiheit; Priorität der Wenigen vor der Menge.75 Die wichtigste Schlussfolgerung, die Plato aus dem Tod des Sokrates zog, ist, dass die Polis keine Gemeinschaft des Erinnerns und der Unsterblich69 70 71 72 73 74 75 Vgl. Scholz, 1998, S. 125. Plato, Pol. 497 b. DD, S. 195. Vgl. PP, S. 392f. Voegelin, 1959, S. 110. Kuhn, 1969, S. 4; vgl. Weber-Schäfer, 1976, S. 24ff. Vgl. ZVZ, S. 91. 168 keit mehr sein kann. Für Plato könne die Polis aber nicht mehr damit betraut werden, die Erinnerung an den Philosophen zu bewahren.76 Daher verzichtet er auf den Glauben, dass die Polis der Ort ist, „woran diese Menschen sich hielten, um von der Trauer des Lebendigen nicht übermannt zu werden und aus der Finsternis der Kreatur in die Helle des Menschlichen zu gelangen.“77 Für die Antike bot die Polis „jedem ihrer Bürger den politisch gesicherten, öffentlichen Raum“, „in dem seine Taten ohne alle Hilfe und Vermittlung unsterblich werden konnten.“78 Anders gesagt war die Polis für Bürger eine ihre individuelle Sterblichkeit überdauernde, weltliche Erinnerungsgemeinschaft. Die Möglichkeit der Unsterblichkeit galt dem vorphilosophischen Denken der griechischen Polis als eines der stärksten Motive des politischen Handelns. Mögliche Unsterblichkeit war „der höchste und tiefste Sinn aller Politik, vor allem der nur den Griechen eigenen politischen Organisationsform der Polis“.79 Wenn Polis wie in Perikles‟ Grabrede das Getane und Gesprochene der Sterblichen unsterblich weiter gemacht hätte80 und wenn der Anspruch von Aristoteles in Polis verwirklicht werden könnte,81 gäbe es keine radikale Wendung gegen die Politik. In der Tat war der Lobpreis des politischen Lebens mit dem Verschwinden der griechischen Polis verschwunden. Angesichts des geschichtlichen Verfalls der Polis wurden das politische Leben und die politische Sphäre nicht mehr als eine Garantie gegen die Vergänglichkeit des Handelns der Einzelnen angesehen, und die Polis war kein Raum mehr, sterblichen Menschen Unsterblichkeit zu gewähren.82 Diese geistigen Auswirkungen der Auflösung des griechischen Stadtstaates wirken weitreichend in der ganzen Geschichte der politischen Philosophie fort. Vor allem werden sie durch die Vereinigung mit dem urchristlichen Glauben, dass das Leben unsterblich und die Welt sterblich sei, zur Grundlage einer großen denkerischen Tradition. 83 Arendt schreibt im Folgenden: „Wenn die Welt vergänglich war, konnte es keinen Sinn haben, sich mit Politik zu befassen, denn die Sache des Öffentlichen, der res publica, war ja gerade, ein irdisch – weltlich Unvergängliches den sterblichen Men- 76 77 78 79 80 81 82 83 PP, S. 382. ÜR, S. 362. ZVZ, S. 90. ZVZ, S. 290. Perikles sagt, „daß Polis nicht mehr eines Homer oder anderer seiner Kunst bedürfe, sondern ohne solche Hilfe unvergängliche Denkmäler hinterlasse, wo immer sie hinkomme.“ (Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieg, Buch 2, Kap. 41; zit. nach ZVZ, S. 90 und S. 285; vgl. VA, S. 248). „Man darf aber nicht jener Mahnung Gehör geben, die uns anweist, unser Streben als Menschen auf Menschliches und als Sterbliche auf Sterbliches zu beschränken, sondern wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein“ (Aristoteles, NE 1177 b 31f.; vgl. VA, S. 69f.). Vgl. ZVZ, S. 90f.; „Entscheidend für alle politische Philosophie ist geblieben, dass sie mit dem Untergang der Polis und Platos Reaktion auf die Verderbtheit des Politischen begann.“ (DTB, S. 414). Vgl. ÜDB, S. 31ff. 169 schen zu garantieren.“84 In dieser Hinsicht hören die Philosophen auf, Bürger der Polis zu sein, und kehren in das rein geistige Leben zurück, um unsterblich zu sein. Eine Gesellschaft von Philosophen zu gründen heißt „der Gegenwart als einem Heillosen den Rücken zu kehren.“85 Die Gründung der Akademie hat entscheidenden Einfluss auf die Abgrenzung der Freiheit vom politischen Leben. Die Platonische Akademie bildet den Hintergrund unserer heutigen Vorstellung von Freiheit,86 die sich als Gegensatz zur Politik versteht. Die Konstituierung der Akademie, die der neue Freiheitsraum für die Philosophen ist, spiegelte die Entartung des politischen Lebens wider, weil Philosophen die Polis verlassen mussten, um die Akademie als den philosophischen Lebensraum betreten zu können. In diesem Augenblick verwandelt sich die menschliche Freiheit, die bisher mit der Ausübung der Bürgerrechte identisch gewesen war, in eine innere Freiheit. Die Befreiung von der Agora, dem zentralen Freiheitsraum der Polis wird „zur notwendigen Voraussetzung für die Freiheit des Akademischen“.87 Dies bedeutet auch, dass „das Politische in seiner Gesamtheit offenbar auf eine Stufe heruntergedrückt (wird), die innerhalb des Polispolitischen der Lebenserhaltung zukam; es wird zu einem Notwendigen, das einerseits im Gegensatz zur Freiheit steht und andererseits doch ihre Voraussetzung bildet.“88 Im Gegensatz dazu ist die philosophische Lebensform unabhängig von körperlichen Bedürfnissen und von äußeren Gütern. So bezeichnet Plato „die Politiker als Knechte und die Philosophen als Freie“.89 Dieser Gegensatz zwischen Politik und Freiheit wird zum „unabdingbaren Bestandteil“90 des abendländischen Freiheitsbegriffs. Also besteht die Freiheit nun in der „Enthaltung von allen öffentlichen Geschäften“.91 Daraus ergibt sich die traditionelle Überzeugung, dass Freiheit nur möglich ist, wenn man auf das politische Handeln verzichtet und sich aus der politischen Welt auf sich selbst zurückzieht.92 Die Gründung der Akademie bezieht sich auf die Unterscheidung von den Vielen und den Wenigen. Die akademische Gemeinschaft der Philosophen ist kein Bereich für gemeinsa84 85 86 87 88 89 90 91 92 ZVZ, S. 91. Jaspers, 1967, S. 27f. Arendts Ansicht zufolge ist „die Gründung der Akademie, gerade weil sie nicht, wie die Schulen der Sophisten und Redner, primär auf Erziehung für Politik zielte, so außerordentlich bedeutend geworden für das, was auch wir noch unter Freiheit verstehen.“ (WP, S. 57). WP, S. 54. WP, S. 58f. Scholz, 1998, S. 125. ZVZ, S. 91. VA, S. 24. Diese Auffassung der Freiheit spielt eine Rolle als ein Vorläufer der antipolitischen Haltung des Urchristentums. Zum Parallelismus von der akademischen Freiheit und Religionsfreiheit siehe WP, S. 60f. und ZVZ, S. 91. 170 mes Handeln von Vielen, sondern der Zusammenschluss der Wenigen. Also ist die platonische Akademie der exklusive Ort der Philosophen als „der Raum der Wenigen und ihrer Freiheit“93, weil sie die die Meinungswelt übersteigende, der Wahrheit angemessene Welt ist. Die Akademie ist „eine Grundkonzeption von den Wenigen“, „die ihrerseits wieder in freier Rede miteinander philosophierten.“94 Die Akademie war der Bereich, der den Wenigen die Freiheit vom gemeinsamen Bereich des Politischen verbürgt, weil der politische Bereich auf die Sphäre der Notwendigkeit reduziert ist: „Wie Befreiung von Arbeit und Lebenssorgen notwendige Voraussetzung für die Freiheit des Politischen war, so wurde Befreiung von Politik zur notwendigen Voraussetzung für die Freiheit des Akademischen.“95 Die Aufgabe der Politik besteht darin, den Wenigen die Beschäftigung mit Philosophie zu ermöglichen. Die Politik lässt sich aus dem Gesichtspunkt der Freiheit der Wenigen rechtfertigen. Zu dieser Freiheit, also der Überwindung der Notwendigkeit, dient die Herrschaft der Wenigen über die Vielen. „Zu diesen Versuchen gehörte auch die Gründung der Akademie.“96 Die akademische Gemeinschaft stellt daher „eine spezielle Gruppe, die sämtliche politischen Funktionen und Themen monopolisiert, dar.“97 In diesem Verständnis kündigt sich die scharfe Kritik Arendts am Elitismus Platos an. 2.2 Die Transformation des Handelns in Herstellen Der theoretisch-philosophische Status der platonischen Transzendentalisierung des Politischen wird in Arendts handlungstheoretischer Analyse deutlicher. Der Konflikt zwischen Philosophie und Politik war eigentlich ein Konflikt zwischen dem kontemplativen Leben und dem tätigen Leben. Arendts Auffassung zufolge hatten die Philosophen seit Plato „Grund genug für ihr tiefes Mißtrauen gegen die durch menschliches Handeln erzeugten Angelegenheiten der Menschen“.98 Ihr Misstrauen beruht auf der Last der Ungewissheit und Zufälligkeit, die wir Aporien des Handelns genannt haben. Die Tradition politischer Philosophie des Westens ist Arendt zufolge durch die beständige Bemühung gekennzeichnet, die 93 94 95 96 97 98 WP, S. 57. WP, S. 54. WP, S. 55. WP, S. 54; „Offenbar geraten die Wenigen, wo immer sie sich von den Vielen getrennt haben (…) in eine Abhängigkeit von den Vielen, und zwar in allen Fragen des Miteinander – Lebens, in denen wirklich gehandelt werden muß. Dabei kann diese Abhängigkeit im Sinne einer Platonischen Oligarchie so verstanden werden, daß die Vielen dazu da sind, die Befehle der Wenigen auszuführen, also das eigentliche Handeln zu übernehmen; in diesem Fall ist die Abhängigkeit der Wenigen durch Herrschaft überwunden“ (WP, S. 58). Flaig, 1994, S. 51. ZVZ, S. 105. 171 Ungewissheiten und die Zufälligkeit des Handelns zu überwinden und zu kontrollieren.99 Die so beginnende Philosophie des Politischen ist der Versuch, dem „Fluch der Kontingenz“100 zu entkommen. „Die Weisheit der Philosophie, die hier zum ersten Mal auf eine Abhilfe für die Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten sinnt, kommt zu dem Schluß, daß es ratsam sein mag, auf die Fähigkeit zum Handeln in ihren reinsten und radikalsten Formen zu verzichten, und zwar gerade darum, weil diese Philosophie, im Zuge des Konflikts mit der Polis, sich der Vergeblichkeit, der Schrankenlosigkeit und der Unabsehbarkeit der Folgen, die allem Handeln anhaften, so außerordentlich bewußt geworden war.“101 In der philosophischen Intention, die Zufälligkeit und Ungewissheit menschlicher Angelegenheiten zu überwinden und zu durchschauen, konnte Hegel sagen, die Philosophie habe „keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen“.102 Es ist bemerkenswert, dass fast alle philosophische Bemühung zur Überwindung der Zufälligkeit der menschlichen Angelegenheit hinausläuft auf die Vorstellung eines in der Geschichte seine Zwecke realisierenden übergreifenden Subjekts – ob dies nun im Gedanken der „List der Vernunft und des Weltgeist“ (Hegel), der „Naturabsicht“ (Kant) oder der „unsichtbaren Hand“ (Adam Smith) zum Ausdruck kommt. In der philosophischen Intention ist das Handeln nur zu „Exponenten“103 unsichtbarer Kräfte erniedrigt, die sich hinter dem Rücken der agierenden Menschen vollziehen und sich „ein Monopol auf Sinn und Bedeutung“ 104 aneignen. Arendt besteht hartnäckig darauf, es gebe eigentlich kaum einen unter den großen Denkern seit Plato, dem gerade das Handeln nicht suspekt gewesen wäre.105 Das grundlegende Problem des Handelns wird von Platon darin gesehen, dass sich alles menschliche Handeln in der Pluralität der unwirklichen Scheinwelt bewegt. Für Plato liegt der Anfang der Philosophie im Streben, aus der Unwissenheit, die sich aus der einfachen Tatsache der in jedes Handeln verstrickten Pluralität von Handelnden ergibt, 99 100 101 102 103 104 105 Über die Ungewissheit als Kennzeichen der Politik, Barber, 1994, S. 157; nach Dubiel hat Arendt Ungewissheit zum Zentralthema ihrer politischen Theorie gemacht. In der Tat ist die grundsätzliche Ungewissheit aller sich im Feld der menschlichen Pluralität abspielenden Angelegenheiten auch mit der Unmöglichkeit, das Wesen des Menschen zu definieren und die Identität der Person zu bestimmen, verbunden (Dubiel, 1994, S. 8). DW, S. 30. VA, S. 245. Hegel, 1955, S. 29; vgl. DD, S. 139; Arendt führt diesbezüglich das Zitat von Nietzsche an: „Man weiß die Herkunft nicht, man weiß die Folgen nicht: - hat folglich eine Handlung überhaupt einen Wert?“ (Nietzsche, Wille zur Macht, No. 291; zit. nach VA, S. 297, Anm. 76; vgl. ZVZ, S. 105f.). EU, S. 948 und ZVZ, S. 80. ZVZ, S. 81. ZVZ, S. 104. 172 herauszukommen.106 In Gesetze spricht Plato über den hinter dem Rücken der Menschen handelnden Unbekannten. „Gott ist das Maß aller Dinge“.107 Nach diesem Maßstab sollen die Menschen wie Marionetten gottgefällig spielen.108 So betrachtet wirkt sich die platonische Bemühung zur Überwindung des Handlungsproblems nicht minder in der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie aus. Obwohl sich die Geschichtsphilosophie als ein spezifisch neuzeitliches Phänomen bezeichnen lässt, 109 arbeitet sie mit der platonischen Tradition, sofern ihre ursprünglichen Impulse darin bestehen, „daß man durch die Einführung des Begriffs einer Menschheitsgeschichte dieser ursprünglich politischen Verlegenheit Herr werden könnte.“110 Hannah Arendt stellt fest: „So besteht Plato gerade in seiner politischen Philosophie darauf, daß die aus dem Handeln entstandenen Angelegenheiten zwischen den Menschen nicht wert seien, ernst genommen zu werden, daß das Tun und Treiben der Menschen untereinander vielmehr einem Puppenspiel gleiche, in dem die Drähte von unsichtbarer Hand gezogen werden, vielleicht von der Hand eines Gottes, der sich mit Menschen wie mit Marionetten die Zeit vertreibt.“111 Die Lösung der Aporien des Handelns gehört zur notwendigen Voraussetzung jeder philosophischen Weltanschauung. Ungewissheit ist durch Gewissheit zu ersetzen. 112 Arendts Auffassung zufolge findet Plato die Lösung in der Umwandlung von auf Pluralität beruhendem zufälligem Handeln in das Gewissheit verbürgende Herstellen, das „immer nur mit einem Subjekt zu tun“ hat. 113 Also beginnt die Tradition politischer Philosophie mit der Orientierung am Paradigma des Herstellens von Gegenständen. Diese Tradition hat in der Geschichte der politischen Philosophie mit einem politischen Perfektionismus zu tun, der die Aufgabe der Politik in der Realisierung irgendeines Ideals sieht. Arendt sagt: „Allgemein gesprochen handelt es sich nämlich immer darum, das Handeln der Vielen im Miteinander durch eine Tätigkeit zu ersetzen, für die es nur eines Mannes bedarf, der, abgesondert von den Störungen durch die anderen, von Anfang bis Ende Herr seines Tuns bleibt. Dieser Versuch, ein Tun im Modus des Herstellens an die Stelle des Handelns zu setzen, zieht sich wie ein roter Faden durch die uralte Geschichte der Polemik gegen die Demokra106 107 108 109 110 111 112 113 Vgl. VA, S. 478. Plato, Nomoi 716 c 4. Vgl. Plato, Nomoi 644 d f. Vgl. ÜR, S. 64 und VA, S. 377. VA, S. 228. VA, S. 229. „Um Gewißheit zu erlangen, mußte man Mittel und Wege finden, sich zu vergewissern, und um zu erkennen, mußte man etwas tun. Gewißheit wiederum konnte es nur unter einer doppelten Voraussetzung geben: erstens, daß es sich um die Erkenntnis von Dingen handelte, die man selbst gemacht hatte (…); und zweitens, daß die gewonnenen Erkenntnisse ihrerseits wiederum in einem zugreifenden Tun verifiziert werden konnten.“ (VA, S. 368). EU, S. 956. 173 tie, deren Argumente sich desto leichter in Einwände gegen das Politische überhaupt verwandeln lassen, je stichhaltiger und beweiskräftiger sie vorgetragen sind.“ 114 Die Reduktion des Handelns auf das Herstellen, die von Arendt „die älteste Sünde aller politischen Philosophie des Abendlandes“115 genannt wird, stellt einen Versuch dar, die dem Handeln eigentümlichen Elemente der Pluralität auszuschließen: „Im Modus des Herstellens zu handeln, bzw. in der Form eines Kalküls mit Konsequenzen zu denken, heißt, das Unerwartete und damit das Ereignis selbst auszuschalten“.116 Dies läuft für Arendt auf die Abschaffung des Politischen selbst hinaus. Arendt stellt als Kernthese für die Kritik an der Tradition der politischen Philosophie auf, dass der Impuls dieser Abschaffung trotz ihrer verschiedenen Entwürfe die antipolitische Grundstruktur der politischen Philosophie bildet. Plato versucht in seiner Ideenlehre, die menschlichen Angelegenheiten durch die Konzeption des Herstellens zu ordinieren. Auch wenn Plato zwischen Handeln und Herstellen unterscheidet117, zeigt sich seine Vermischung von Handeln und Herstellen deutlich in der Beschreibung von Praxis als „Machen des Guten“.118 Diese Auffassung der Praxis bedeutet, „das Verhältnis von Herstellen und Handeln zugunsten des Herstellens umzukehren“. 119 Nach Arendts Ansicht ist der Grund dieser Umkehrung die innere Verwandtschaft von Idee und Herstellen, die sich im letzten zehnten Buch der Politeia findet. 120 Er verbindet die Theorie mit der Poiesis, mit Herstellung. Für Plato sind unsere Augen in der Praxis „auf das Modell gerichtet“121. Die Platonische Idee beruhe offensichtlich „auf Erfahrung des Herstellens (…), wiewohl Plato die Ideen selbstverständlich dazu benutzt, um ganz andere, nämlich eigentlich philosophische Erfahrungen des Sehens mitzuteilen, greift er doch immer, wenn er die Plausibilität seiner Lehren illustrieren will, auf Beispiele zurück, die aus der Welt des Handwerks und des Herstellens stammen. So wird schließlich einleuchtend, daß eine einzige, immerwährende Idee über der Vielheit vergänglicher Dinge thront, weil diese Beziehung zwischen dem ewig Einen und dem veränderlich Vielen in offenbarer Analogie 114 115 116 117 118 119 120 121 VA, S. 279. ZVZ, S. 98. VA, S. 382; in Bezug auf die Entpolitisierung des Totalitarismus ist bemerkenswert, dass die totalitäre Ideologie und Terror auf der „Eliminierung des Zufalls und des Unvorhersehbaren aus allem Geschehen“ gegründet sind (EU, S. 734). Clemens Kauffmann zufolge unterscheidet Plato zwei Arten menschlichen Tuns, also Poiesis und Praxis. Poiesis sei die menschliche Tätigkeit „im Sinne des Machens, des in die äußere Welt eingreifenden, verändernden oder herstellenden Tuns“. Die Praxis, die „nicht das handwerklich-technische Herstellen“ ist, werde „innerhalb dieses Bereichs durch den Bezug auf ihr Objekt spezifiziert.“ (Kauffmann, 2001, S. 126). Kauffmann, 2001, S. 126. VA, S. 384. Vgl. VA, S. 452f.; im 10. Buch der Politeia meint Plato, dass „der Handwerker, der ein Bett oder einen Tisch herstellt, hierfür nicht auf ein anderes Bett oder einen anderen Tisch blickt, sondern auf die Idee des Bettes“ (VA, S. 453). Jullien, 1999, S. 13. 174 zu der Beziehung gesehen ist, die zwischen der Beständigkeit und Einzigkeit des Modells und den vielen entstehenden und vergehenden Dingen obwaltet, die in seinem Bilde hergestellt werden können.“122 Im Hinblick auf Arendts „technische Interpretation der platonischen Ideenlehre“123 gehört Plato zum Vater des „technokratischen Modells“ der modernen Gesellschaft, das Handeln „überflüssig“ machen zu wollen.124 Alle Probleme des Politischen sind damit letztlich auf Probleme technischer Verwaltung reduziert. Arendt vertritt die starke These, dass große Teile politischer Philosophie übrigens schon seit Plato, aber nicht erst seit der Neuzeit, das technische Herstellensdenken als das theoretische und praktische Modell des Politischen übernehmen: „Platon, der als erster utopische Staatsformen entwarf, in denen das menschliche Miteinander technisch geregelt werden kann, ist der eigentliche Begründer des utopischen Denkens in der Politik.“ 125 Die politische Philosophie der Neuzeit akzeptiert für Arendt Platos Vorschlag, „alle öffentlich-politischen Angelegenheiten so zu ordnen, daß sie denselben Kriterien unterstellt werden können, welche für die herstellenden Künste gültig sind“.126 In diesem Sinne stellt die Identifizierung des politischen Handelns mit Herstellen eine ununterbrochene Tradition der politischen Philosophie des Westens dar. Diese Transformation des Handelns hat Konsequenzen für die politische Realität. Der Totalitarismus ist eine spezifisch technologische Form von Politik. „Totale Beherrschung kann freie Initiative in keinem Lebensbereich erlauben, weil sie kein Handeln zulassen darf, das nicht absolut voraussehbar ist.“127 Arendts Ansicht zufolge beruht die totalitäre Herrschaft auf der traditionellen „Versuchung, menschliches Handeln am Modell des Herstellens von Gegenständen zu orientieren.“128 Hinsichtlich der Identifizierung von Handeln mit Herstellen gehört Plato zum „entschlossensten und einflussreichsten Gegner (…), den der politische Bereich je gehabt hat“.129 Seine Transformation des Handelns in Herstellen hat damit 122 123 124 125 126 127 128 129 VA, S. 168. Pöggeler, 1999, S. 144. VA, S. 281; vgl. Rapp, 1998, S. 957; die Technokratie der modernen Gesellschaft entspricht der Idee, „das offene, unkalkulierbare wirtschaftliche und politische Handeln nach dem Vorbild der Ingenieurtätigkeit und der exakten Naturwissenschaften messbar und beherrschbar zu machen“ (Rapp, 1998, S. 954). VA, S. 289; in der Tat ist Hannah Arendt nicht die einzige, die das technische Herstellungsdenken unter Berufung auf die antike Erfahrung vom praktischen Politikbegriff unterschieden hat (vgl. Hennis, 1977, S. 185ff.; Habermas, 1971, S. 48ff.; Riedel, 1969, S. 107). Aber anders als Arendt bezeichnen viele die Identifizierung von Handeln mit dem Herstellen im politischen Bereich als das spezifische Kennzeichen der Neuzeit, das den Bruch mit der Tradition der Antike darstellt und das vor allem bei Hobbes charakteristisch ist (vgl. VA, S. 383ff. und 292; ZVZ, S. 95). VA, S. 292. EU, S. 724. EU, S. 956. ZVZ, S. 365. 175 politisch zur Folge, dass die nichtpolitischen oder antipolitischen Begriffe zu Schlüsselbegriffen des Politischen werden. 2.3 Die politischen Konsequenzen der Transformation des Handelns Der Versuch von Plato, das Handeln durch Herstellen zu ersetzen, um die Aporien des Handelns aufzulösen, wird zur elementaren und nötigen Grundlage der Tradition politischer Philosophie. Auch diese falsche Grundlage ist nie korrigiert, ist von allen folgenden Denkern übernommen worden. Mit der Verwechslung von Herstellung und Handeln, also mit der ältesten Sünde aller politischen Philosophie, verliert das Politische seine Eigenständigkeit; stattdessen erobern antipolitische Kategorien den politischen Bereich, und ihre Diskussion wird zum Inhalt der politischen Philosophie: Zweckrationalität, die das Politische als das Mittel zum außerhalb seiner selbst liegenden Endzweck versteht; die Vorstellung, dass die Freiheit mit der Souveränität identisch ist; die Überzeugung, dass der Herrschaftsbegriff für die politische Realität im Mittelpunkt liegt. 2.3.1 Die Instrumentalisierung der Politik im Zweck-Mittel-Schema In der Transformation des Handelns in eine Form des Herstellens wird die politische Philosophie in die Bahnen eines Zweck-Mittel-Denkens gelenkt. Der Mensch versteht sich nun als Hersteller, der durch die Instrumentalisierung der Welt und das Vertrauen in Werkzeuge gekennzeichnet ist. Die Zweckrationalität oder Zweckdienlichkeit ist in der Tat die typische Denkweise im Bereich des Herstellens, in dem ein adäquates Verhältnis zwischen Mittel und Zweck herrschen soll. Wie wir durch die Handlungstheorie Arendts erkennen, ist alle herstellende Betätigung von einem isoliert gesetzten Zweck motiviert. Die herstellende Tätigkeit ist ein Mittel zu dem entsprechenden Zweck. Beim Herstellen kann der Herstellende seinen Zweck erreichen, weil er souverän ist. Dabei heiligt, rechtfertigt, rationalisiert und organisiert der Zweck das Mittel. Insofern bedeutet Zweckrationalität die Rationalität von Mitteln zu einem gegebenen Zweck. 130 Das Zweck-Mittel-Schema wird als einziges Paradigma zum Verstehen des Handelns begriffen. In VA schreibt Hannah Arendt im Folgenden: „Der durchschlagende Erfolg der Umwandlung des Handelns in eine Form des Herstellens ließe sich leicht an der uns selbstverständlich gewordenen Terminologie politischer Theorie und 130 Vgl. VA, S. 181f.; vgl. Ebert, 1977, S. 21-39. 176 des praktisch – politischen Denkens erweisen. Sie macht es nämlich nahezu unmöglich, über Fragen der Politik auch nur zu sprechen, ohne uns der Zweck – Mittel – Kategorie zu bedienen.“131 In Gorgias behauptet Plato, dass sich die Absicht nicht auf die Handlung richtet, sondern auf das Ziel der Handlung, das der Handelnde stets als ein Gut betrachtet. Die Bestimmung des Zieles sei Sache der Vernunft.132 Daher wird die Qualität der Handlung von ihrem Ziel aus bestimmt. Menschliche Handlungen besitzen von sich aus immer schon ein Ziel, um dessen willen sie vollzogen werden. Die Existenz des vorgegebenen Zieles gibt die klare Antwort auf die Frage, was gehandelt werden soll. So ist die Handlung auf ein Mittel zum vorgegebenen Ziel reduziert.133 Diese Beschränkung der Handlung auf das Handlungsziel hat eine lange Nachwirkung in der Tradition politischer Philosophie.134 Darauf bezogen war die Politik in der Tradition immer als ein Mittel bezeichnet. Obwohl die Bestimmung eines solchen Endzweckes durch die Jahrhunderte hindurch verschieden war, lässt sich die Politik immer wieder auf ein Werkzeug für einen höheren Zweck außerhalb ihres Bereiches zurückführen, wie sie bei Plato ein Werkzeug zum Schutz des Lebens der Philosophen ist: „Die Hoffnung, Handeln durch Herstellen ersetzen zu können, und die ihr innewohnende Degradierung der Politik zu einem Mittel für die Erreichung eines höheren, jenseits des Politischen gelegenen Zweckes – im Altertum des Schutzes der Guten vor der Herrschaft der Schlechten im allgemeinen und des Schutzes des Philosophen vor der Herrschaft des Mobs im speziellen, im Mittelalter des Seelenheils, in der Neuzeit der Produktivität und des Fortschritts der Gesellschaft – sind so alt wie die Tradition politischen Denkens.“135 In der Neuzeit wird diese Tradition noch radikaler. An die Stelle des Bürgers, der zur Teilnahme am Erfahrungsraum der Freiheit durch das Miteinanderhandeln und –sprechen fähig ist, tritt der Homo faber, der sich in der instrumentellen Rationalität bewegt. Beim Versuch von Hobbes, dem größten Vater der politischen Philosophie der Neuzeit, „mit Hilfe des Begriffs eines herstellenden Kalküls die Theorie der Politik neu zu begründen“136, ist das 131 132 133 134 135 136 VA, S. 291. Plato, Gorgias 467 c ff.; vgl. PP, S. 383; ZVZ, S. 181. Vgl. Ebert, 1977, S. 34. Arendt sagt, dass Marx‟ Tragödie auf dieser Tradition beruht: „Ein Zweck, der kein besonderer ist, ist kein Zweck, wie ein Handeln ohne Zweck ein zweckloses, sinnloses Handeln ist.“ (Marx, aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; zit. nach DTB, S. 95). VA, S. 291f. VA, S. 382. 177 Handeln gemäß den Vernunftkalkülen137 funktional und zweckbezogen. „Der Staat ist eine zweckrationale Veranstaltung zur Sicherung des Überlebenden und der Wohlfahrt der Untertanen“,138 und damit sind menschliches Handeln und Politik immer als Mittel zur Befriedigung des jeweiligen Verlangens verstanden. Damit reduziert sich der Staat für Hobbes auf „eine Maschine zum Zwecke des Schutzes der ihren Privatinteressen nachgehenden Individuen“139. Max Weber wiederum baut die gleiche Formel in seinem Verständnis der Handlung ein: „Jede denkende Bestimmung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien Zweck und Mittel.“140 Für Weber stellt die moderne Rationalität Zweck-Mittel-Kalkül dar. Daher ist das zweckrationale Handeln die zentrale Konzeption für die Webersche Auffassung der politischen Kategorien wie Macht und Herrschaft. Der Begriff dieser instrumentellen Rationalität, deren Markenzeichen „die Übertragung der Vorstellung vom Kosten und Nutzen abwägenden egoistisch-rationalen Akteur auf die Welt der Politik“141 ist, hat das Selbstverständnis der Moderne stark geformt. Die Zweckrationalität lässt sich als ein Funktionszusammenhang umschreiben, aber nicht als Sinnzusammenhang. Daraus folgt „die verhängnisvolle Verwechselung von Sinn und Zweck“.142 Die Vermischung von Sinn und Zweck beruht ursprünglich auf der Verwechslung von Handeln und Herstellen. Das Handeln wird nur unter dem Blickwinkel der zweckrationalen Erfolgsrechnung beurteilt, weil Zweck im Voraus die Linie, der ein Handlungsverlauf zu folgen hat, bestimmt, während der Sinn erst im Nachhinein erfassbar ist. Während jeder Zweck wiederum selbst zum Mittel für weitere Zwecke wird, muss ein Sinn dagegen ständig sein, und „er darf von seinem Charakter nichts verlieren, wenn er sich erfüllt, oder besser, wenn er dem Menschen in seinem Tun aufgeht oder sich ihm versagt und ihm entgeht.“143 In der Dominanz der nützlichen Zweckdienlichkeit sieht Arendt die Sinnlosigkeit, die Lessing mit dieser Frage stellt: „Und was ist der Nutzen des Nutzens?“144 Oh137 138 139 140 141 142 143 144 „(...) können wir definieren, das heißt bestimmen, was mit dem Wort Vernunft gemeint ist, wenn wir sie zu den Fähigkeiten des Geistes rechnen. Denn Vernunft in diesem Sinne ist nichts anderes als Rechnen.“ (Hobbes, LV, S. 32; vgl. ZVZ, S. 67). Euchner, 1985, S. 362. Fetscher, Einleitung, in: Hobbes, LV, S. XLI. Weber, 1988, S. 149; zit. nach Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a. M. 2002, S. 223; an anderer Stelle formuliert Weber im Folgenden: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zwecken, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt, also jedenfalls weder affektuell (...) noch traditional handelt“ (Weber, WG, S. 18). Schmidt, 2000, S. 213. ZVZ, S. 98. VA, S. 184. VA, S. 183; vom Dilemma des Utilitarismus, also seiner Sinnlosigkeit spricht Arendt: „Die Aporie des Utilitarismus besteht darin, daß er in dem Zweckprogressus ad infinitum hoffnungslos gefangen ist, ohne 178 ne eine inhaltliche Definition dieses Nutzens wird die Politik immer auf den utilitarischen Funktionszusammenhang degradiert. Im bloßen Funktionszusammenhang wird dann die Ausübung der Herrschaft nur noch durch formale Verfahren legitimierbar, weil der Zweck der Herrschaft identisch mit dem Nutzen der Beherrschten ist. In diesem zweckrationalen Verständnis reduziert sich die politische Institution auf eine Verwaltungsorganisation, in der die Eigenständigkeit des politischen Handelns erlischt. 2.3.2 Identifizierung von Freiheit und Souveränität In der Mentalität des Herstellens setzt die Durchsetzung eines Zwecks eine Souveränität voraus. Da der Herstellende die Idee des Gegenstandes des Herstellens besitzt, ist er souverän. Er realisiert die Idee bzw. Absicht und Zweck beim souveränen Herstellen.145 Im isolierten Zusammenhang mit der Idee steht er in Unabhängigkeit von seinem Mitmenschen. Souveränität besitzt nur „der Herstellende, aber niemals der Handelnde: Nur der Herstellende ist Herr und Meister; er ist souverän und darf sich aller Dinge als Material und Mittel für seinen Zweck bemächtigen. Der Handelnde bleibt immer in Bezug zu anderen Handelnden und von ihnen abhängig; souverän gerade ist er nie.“146 Arendt versteht Souveränität als „die Unabhängigkeit von allen anderen“ und „das Sich Durchsetzen gegen sie“.147 Philosophisch gesagt ist sie nur im Wollen und im Verkehr mit sich selbst, also im Aufhören des Handelns, zu erfahren. Die Philosophen wie die Herstellende erfahren Freiheit als Souveränität, die in dem Abstand liegt, „den die Weisen zwischen sich und den zwischenmenschlichen Bereich legen und erhalten.“148 Für diese philo- 145 146 147 148 je das Prinzip finden zu können, das die Zweck-Mittel-Kategorie rechtfertigen könnte, bzw. den Nutzen selbst.“ (VA, S. 183). Vgl. VA, S. 384. ZVZ, S. 295; „Die Isoliertheit gegen die Mitwelt, das ungestörte Alleinsein mit einer Idee, d.h. mit dem inneren Bild des herzustellenden Gegenstandes, ist die unerlässliche Lebensbedingung der Meisterschaft.“ (VA, 191f.). ZVZ, S. 213; der Begriff der Souveränität in der politischen Theorie entstand erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Die Souveränität ist für den modernen Staat charakteristisch und die Form, die dem Staate sein Wesen gibt, so dass der Staat und die Souveränität synonym sind (vgl. Staatslexikon, Art. „Souveränität“, Bd. 7, 1962, S. 136ff.). In weitem Sinne lässt sich der Begriff der Souveränität nicht nur auf der staatlichen Ebene, sondern auch in der individuellen Dimension verwenden; „Auf der einen Seite steht der einzelne, der frei ist, der die Macht über sich selbst hat (…) und der eine private Hoheit (…) ausübt. Und auf der anderen Seite der Monarch, der über das ganze Reich ein souveränes Recht ausübt.“ (Jouvenel, 1963, S. 212). In diesem Licht ist der Souverän „Selbstherrscher, selbstherrlich.“ (Staatslexikon, S. 136). Dieser Begriff des Souveräns ist die Konsequenz der Fortentwicklung der platonischen Tradition politischer Philosophie. Das Konzept der Souveränität stellt für Arendt die auf Plato zurückgehende Lehre von Selbstbeherrschung dar: „daß nur, wer sich selbst befehlen und sich selbst gehorchen kann, das Recht haben dürfe, anderen zu befehlen, und die Freiheit, anderen nicht gehorchen zu müssen.“ (ZVZ, S. 212 und VA, S. 303). VA, S. 298. 179 sophische Tradition verhindert die Bedingtheit der Pluralität vielmehr die souveräne Freiheit, weil man in Seinesgleichen niemals souverän ist. In diesem Sinne trägt der Begriff der Souveränität in sich das Prinzip der Ungleichheit. Damit verschwindet die politische Erfahrung, dass sich die Freiheit sowohl aus der Gleichheit als auch aus der „Bedingung der Nicht-Souveränität“149 ergibt. Diese „Gleichsetzung von Souveränität und Freiheit“ versteht Arendt als ein „grundsätzlicher Irrtum“ 150 der politischen Philosophie des Westens, weil „Souveränität, nämlich unbedingte Autonomie und Herrschaft über sich selbst, der menschlichen Bedingtheit der Pluralität widerspricht“151, während die Freiheit eigentlich „ein politisches Phänomen“152 im Plural ist. Arendt stellt fest: „Politisch hat sich vermutlich kein anderer Bestandteil des traditionellen philosophischen Freiheitsbegriffs als so verderblich erwiesen wie die ihm inhärente Identifizierung von Freiheit und Souveränität.“153 Als ein politisches Phänomen liegt das hervorragende Kennzeichen der Freiheit darin, dass sie bedingt ist, weil sie untrennbar mit dem Handeln zusammenhängt. In diesem Sinne ist die politische Freiheit immer die bedingte Freiheit.154 Im Gegensatz dazu erweist sich die Souveränität als „unbedingt, unwiderruflich und unbeschränkt“.155 Sie bedarf des Konzepts absoluter Herrschaft, damit sie politisch und praktisch funktionieren kann. Die souveräne Freiheit ermöglicht sich durch die Beherrschung des Subjekts über das Objekt. Der Begriff der Souveränität hat daher in der politischen Realität zwei Folgen: „(…) die Souveränität eines politischen Körpers ist immer nur ein Schein, der zudem niemals anders als mit den Mitteln der Gewalt aufrechterhalten werden kann“; noch dazu ein Schein, der nur dadurch zustande kommt, „daß eine Vielheit sich so verhält, als ob sie einer wäre und noch dazu ein einziger“.156 Die Tendenz der Souveränität zur Herrschsucht schließt das Miteinander der Menschen aus. Darauf weist Heuer wie folgt hin: „Souveränität schließt potentiell die Diskussion aus und befördert damit die Konfrontation. Das trifft sowohl auf das sogenannte autonome Individuum als auch auf den klassischen souveränen Staat zu. Die Beziehungen zwischen den Menschen (…) bleiben nur dann dialogisch und gewaltfrei, wenn sie gerade auf das Prinzip der Souveränität verzichten und stattdessen möglichst viele gemeinsame Räume der Beziehungen und Bindungen zwischen sich schaffen.“157 149 150 151 152 153 154 155 156 157 ZVZ, S. 214. VA, S. 298f. VA, S. 299. ZVZ, S. 210. ZVZ, S. 213. Zum Arendtschen Freiheitsbegriff siehe IV. Kriele, 1980, S. 58. ZVZ, S. 214f. Heuer, 1996, S. 117. 180 Wir haben oben schon erwähnt, dass die Gleichsetzung von Freiheit und Souveränität auf der philosophischen Feindlichkeit gegen Pluralität beruht. Von dieser Feindseligkeit kommt man zur philosophischen Schlussfolgerung, dass Freiheit im Verkehr nur mit sich selbst erfahren wird; in der Souveränität als „Selbstbeherrschung“ ist der eigentliche Raum für die Freiheit des Menschen „das Seinige“, das „sich selbst beherrscht und ordnet“.158 Wenn man Herr seiner selbst ist, kann man sich gegen die Zufälligkeit des Handelns verteidigen. Im Gegensatz dazu: Wer nicht einmal sich selbst beherrschen kann, erfährt noch größeres Unheil und Unglück, wenn er über Andere herrschen muss. Daraus folgt, dass Selbstbeherrschung die Herrschaft über Andere rechtfertigt. „So wird Selbstbeherrschung für Plato das höchste Kriterium für die Fähigkeit, andere zu beherrschen; die Befehlsgewalt des Philosophen-Königs ist legitim, weil die Seele imstande ist, dem Körper Befehle zu erteilen, und weil die Vernunft die Fähigkeit besitzt, die Leidenschaften zu beherrschen.“159 Diese Vorstellung der Selbstherrschung wirkt sich in dem neuzeitlichen Grundsatz, dass der Mensch nur das versteht, was er selber macht. In der Auseinandersetzung mit dem traditionellen Verständnis der Freiheit stellt Arendt fest, dass Menschen tatsächlich nicht frei sein könnten, wenn Souveränität und Freiheit wirklich dasselbe wären, „denn im Bereich menschlicher Angelegenheiten kann Souveränität schließlich und endlich immer nur auf Gewaltherrschaft durch einen Tyrannen hinauslaufen.“160 Wenn im Bereich des Politischen Pluralität unverzichtbar ist, muss auf den „Anspruch der Macht auf Souveränität“161 verzichtet werden, weil sich die politische Pluralität nur auf der „Entmachtung der Souveränität“ gründen lässt.162 2.3.3 Zentralisierung des Herrschaftsbegriffs im politischen Bereich Arendts Auseinandersetzung mit Plato liefert den Schlüssel zur Beantwortung der Frage, „wo der Begriff der Herrschaft in das Politische eingedrungen ist“. 163 Die Entwicklung des Begriffs „Herrschaft“ zum politischen Begriff ist nach Arendts Ansicht das größte Erbe vom philosophischen Denken von Plato für die abendländische Tradition politischer Philosophie. Arendt ist der Auffassung, dass Plato den Herrschaftsbegriff der Sphäre des Herstellens und Produzierens entnommen hat, um in der politischen Welt die Pluralität des Han158 159 160 161 162 163 Plato, Pol. 443 d. VA, S. 284; vgl. Plato, Pol. 578 d - 579 b. ÜR, S. 200. ÜR, S. 200. Breier, 1998, S. 164. BAH, S. 145. 181 delns und der Handelnden aufzuheben. Arendt sagt: „So groß ist die Verführung, die menschlichen Angelegenheiten durch die Einführung einer unpolitischen Ordnung zu stabilisieren, daß der größte Teil der politischen Philosophie seit Plato sich mühelos als eine Geschichte von Versuchen und Vorschlägen darstellen ließe, die theoretisch und praktisch darauf hinauslaufen, Politik überhaupt abzuschaffen. Schon die Rolle des traditionellen Herrschaftsbegriffs, bzw. der Vorstellung, daß alle Politik eine Form der Herrschaft sei und daß es zum Wesen des Rechtsstaates gehöre, das Herrschen und Beherrschtwerden, Befehlen und Gehorchen auf Grund positiver Gesetze zu regeln, ist kennzeichnend in dieser Beziehung.“164 Für die Griechen bezeichnete das Wort „politisch“ „den Gegensatz zu despotisch, ja zu allen Formen der Herrschaft Weniger über Viele.“165 Die Herrschaft, die ursprünglich nicht als eine Kategorie des Politischen bezeichnet worden ist, wird zum politischen Begriff durch den Versuch, die aus der menschlichen Pluralität entstehende Aporien des Handelns, also die Unabsehbarkeit und Ungewissheit allen Handelns, in einen Status der absoluten Gewissheit zu überführen und zu lösen; „auf alle Weise einer wird aus vielen“. 166 Mit dem Sieg des Herrschaftsaspekts im politischen Denken ist die Bedingung der politischen Pluralität zerstört.167 Plato beschäftigt sich in seiner gesamten politischen Philosophie mit der Frage der Herrschaft. 168 Sofern der Herrschaftsbegriff zum wichtigsten Strukturelement der politischen Philosophie wird, gehört „das Problem der Legitimation der Herrschaft“ zum „Grundproblem aller politischen Philosophie“.169 Der Kernpunkt dieses Problems steht in der Frage, wer zur Übernahme der Herrschaft überhaupt geeignet ist. Platos Lösungsvorschlag besteht bekanntlich darin, Philosophie mit politischer Herrschaft zu verbinden: „PhilosophenKönig“ soll herrschen, weil er die absolute Wahrheit weiß. 170 Die Möglichkeitsbedingung 164 165 166 167 168 169 170 VA, S. 281. Meier, 1983, S. 27; der Terminus ‚Herrschaft‟ stammt vom lateinischen dominium wie dem griechischen Despot. Das Wort Dominium bezeichnet die Gewalt des pater familias im privaten Bereich des Haushalts, also eine Verfügungsgewalt über Frauen, Kinder und Sklaven, und hat somit eine wesentlich weitere Bedeutung als die auf Befehl und Gehorsam eingeschränkte Beziehung. Plato, Pol. 443 e; vgl. VA, S. 284. Vgl. Ludz, 1993, S.173. Vgl. Annas, 1988, S. 373ff. Spaemann, 1977, S. 104; vgl. VA, S. 290. Plato, Pol. 473 c - d; „Wenn nicht (…) entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und Philosophie, (…) eher gibt es keine Erholung von dem Unheil für die Staaten.“ 182 einer gerechten politischen Herrschaft liegt nun in der „Koinzidenz von Wissen und Macht“171. Das philosophische Wissen ist so absolut, dass es zum Herrschen befähigt.172 Die Idee der vernünftigen Herrschaft lässt sich mit der Gesinnung begründen, dass Wissen Tun leiten muss. Jede Praxis wird der Theorie subordiniert. Die Platonische Trennung von Wissen und Tun bzw. von Theorie und Praxis wird für Arendt „als die Wurzel aller Herrschaftstheorien“173 verstanden: „Plato hat als erster die Menschen eingeteilt in solche, die wissen und nicht tun, und solche, die tun und nicht wissen, was sie tun.“174 Die von Plato übernommene Differenzierung zwischen Tun und Wissen ist in der abendländischen Tradition des politischen Denkens trotz verschiedenster Variationen nie wieder verheilt. Wenn Plato „Wissen mit Befehlen und Herrschen“ und „Handeln mit Gehorchen und Vollstrecken“175 identifiziert, ist das Handeln auf die bloße Ausführung des theoretischen Wissens reduziert. Anders gesagt ist der Begriff der Herrschaft als der politische Schlüsselbegriff durch das metaphysische Verständnis des Handelns und des Politischen begründet, dass sich alles menschliche Handeln unter der Leitung der theoretischen Erkenntnis abspielt.176 Die absolute Unterscheidung zwischen Wissen und Tun bezeichnet Arendt als den Kerngedanken von Platos Staatsmann: „Der vollkommene Herrscher handelt nicht; er ist der weise Mann, der eine Handlung einleitet und ihr beabsichtigtes Ziel kennt, und deshalb ist er der Herrscher.“177 Arendts Ansicht zufolge greift Plato für die Trennung von Wissen und Tun auf zwei Modelle zurück. Das Modell der Trennung von Wissen und Tun findet Plato zunächst in der Beziehungsform des Haushalts, in der es einer absoluten Herrschaftsgewalt des Hausherrn bedarf, der durch sein leitendes Wissen die Mitglieder seiner Familie zu einer Einheit zusammenfügt.178 Plato parallelisiert die Herrschaftsverhältnisse im Hause mit denen in der Polis. Despotisch herrscht der Hausherr über Sklaven, praktisch herrscht der Staatsmann über die Freien oder der Philosoph über die Bürger. Es ist kein Zufall, dass Plato in seinem politischen Werk die Worte benutzt, die der Haushaltssprache entnommen sind; Sklave, 171 172 173 174 175 176 177 178 Kauffmann, 2001, S. 139. In seinem Aufsatz Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon hält Hans Krämer fest, dass das philosophische Wissen für Plato unbegrenzt und absolut ist. Seiner Ansicht zufolge „ist das philosophische Wissen als einziges nicht mehr begrenzt, weil es sich auf die Totalität der Wirklichkeit bezieht. Noch mehr: es betrifft das Absolute selbst. Wenn aber jedem Wissen Autorität und Macht zugehört, so gehört im Grenzfall zum absoluten Wissen absolute Machtvollkommenheit“ (Krämer, 1966, S. 261). VA, S. 285. VA, S. 282. VA, S. 285. Wo es die Herrschaft gibt, also wo Wissen und Handeln sich getrennt haben, wie Arendt feststellt, gebe es keinen Raum für Freiheit (EU, S. 340). DU, S. 81. Vgl. ZVZ, S. 185; „Glieder von Haus werden durch den leitenden Geist des Herrn zu einer Einheit zusammengefügt; Das ist der wahre Sinn des Wortes Hausvater.“ (Brunner, 1956, S. 44; vgl. VA, S. 283). 183 Herr und Despot.179 Plato glaubt, „daß schließlich alle Bürger der Polis sich wie Glieder einer Familie führen und verhalten“ können.180 Diese platonische Tradition, die staatliche Herrschaft auf Haushalte und Familien zu gründen, bleibt noch bei der neuzeitlichen Staatstheorie. So formuliert Jean Bodin: „Ähnlich wie also die gut geführte Familie das wahre Abbild des Staates ist und wie die häusliche Gewalt der souveränen Gewalt ähnelt, ist auch die gerechte Herrschaft im Hause das Vorbild für die Regierung im Staat.“181 Wenn Plato die Übertragung der unpolitischen Familien- und Haushaltsstrukturen auf die ganze Polis vorschlägt, gibt es dafür zwei Gründe. Erstens: er wollte eine absolute politische Einheit herstellen, indem er die Staatsangehörigen wie Hausgenossinnen und Hausgenossen einem Herr-abhängigen-Verhältnis unterordnet. Dieser Versuch, die politische Ordnung von der Familie her zu konzipieren, läuft darauf hinaus, „die Grundqualität der Pluralität“ aufzuheben.182 Zweitens: dass das Herrschaftsverhältnis im Hause zur Anwendung auf die Polis kommt, hat damit zu tun, dass Plato die politische Herrschaft und die Ungleichheit der zwei verschiedenen Klassen als etwas Notwendiges oder als etwas Natürliches bezeichnet.183 In der Analogie der legitimen Herrschaft zum privaten Haushaltsverhältnis ist eine Schwierigkeit enthalten, „daß nämlich der Herrscher eine Art von Gott sein müßte, um sich von den Beherrschten so entscheidend zu unterscheiden wie der Herr von dem Sklaven oder der Hirt von seiner Herde.“184 Diese Schwierigkeit löst sich mit der Analogie von Herrschaft zum Herstellen auf: „Die Analogie zum handwerklichen Herstellen impliziert dagegen nicht mehr als die alltäglich erfahrene und bewährte Überlegenheit des Meisters über den in seiner Kunst unerfahrenen Laien, und das, was den Laien bewegt, sich dem überlegenen Urteil des Meisters zu fügen, ist nicht seine Person, sondern nur die von ihm vertretenen und beherrschten Regeln der Kunstfertigkeit.“185 Aus der Analogie von Herrschaft und Herstellen ergeben sich die gewalttätigen Elemente der Herrschaft.186 Das politische Handeln wird für Plato als die Durchsetzung und den Voll- 179 180 181 182 183 184 185 186 Vgl. ZVZ, S. 171f. und VA, S. 283f. VA, S. 283. Bodin, 1981, S. 107; für Bodin ist die Familie „eigentliche Quelle und Ursprung jedes Staates und sein wichtigstes Glied“ (S. 107). WP, S. 10f.; „Platos Forderung, die Verhaltungsregeln in öffentlichen Angelegenheiten aus dem HerrSklave-Verhältnis herzuleiten, lief in Wahrheit darauf hinaus, das Handeln a priori aus dem Verlauf der menschlichen Angelegenheiten auszuschalten.“ (VA, S. 283). Vgl. VA, S. 47 und ZVZ, S. 175. VA, S. 288. VA, S. 288f. „Dabei darf man eines in der geschichtlichen Entwicklung dieser Überlieferung nicht übersehen. Zwar muß Gewalttätigkeit, die alles herstellende Fabrizieren als eine seiner Grundvoraussetzungen durch- 184 zug metaphysisch begründeter Wahrheit verstanden. Allerdings zielt Plato mit der Philosophenherrschaft auf die gewaltlose Polis ab. Seine Frage ist, wie die absolute Herrschaft ohne Gewalt legitim begründbar ist. 187 Wenn Plato die Vernunftherrschaft vorschlägt, liegt seine Absicht darin, die Tendenz zur gewalttätigen Durchsetzung der selbstsüchtigen Zwecke politischer Macht zu beschränken. Die Elemente der Gewalt im politischen Bereich sind für Plato nur auf eine instrumentale Funktion beschränkt.188 Trotzdem ist Platos Idee der Führung des Politischen durch die Philosophie, also die Vernunft-Herrschaft, wie Arendt glaubt, nicht weniger tyrannisch und zwingend als andere. Daher spricht Arendt über „die Affinität zwischen Philosophie und Tyrannis, oder die Vorliebe der Philosophen für die vernünftige Tyrannei“189 seit Plato.190 In der Transformation des Handelns in das Herstellen werden Begriffe wie Souveränität, Gewalt und Herrschaft allgemeine Begriffe des Politischen. Hier beginnt die Verwirrung um die politischen Begriffe. In der Einleitung ihres Buches, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, schreibt Arendt dazu: „Meine Kritik gilt (…) dem Herrschaftsbegriff der klassischen politischen Theorie (…). Ich bin der Meinung, daß die Rückführung aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten oder Herstellen und die Reduzierung aller politischen Verhältnisse auf das Herrschaftsverhältnis nicht nur historisch nicht zu rechtfertigen sind, sondern in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffentlichen und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt und pervertiert haben.“191 187 188 189 190 191 herrscht, auch in allen politischen Systemen und Herstellen mehr oder minder dasselbe sind.“ (VA, S. 289). Diese platonische Bemühung hat einen starken Einfluss auf die begriffliche Ausprägung des modernen Autoritätsgedankens. Siehe dazu Abschnitt, IV. 2.2.1. Vgl. Plato, Pol. 519 e - 520 a; Nomoi 753 a. BAJ, S. 196. In dieser Hinsicht ist die Antwort von Kant auf Platos Anspruch auf die Vernunft-Herrschaft aufschlussreich. Kant verwirft die platonische Einheit von politischer Macht und philosophischer Autorität ironisch, weil die Herrschaft der widerspruchslosen Vernunft für ihn nicht weniger tyrannisch als andere: „Daß Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen, weil der Besitz der Gewalt das freie Urteilen der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“ (Kant, 1984, S. 49; vgl. DU, S. 44). Arendt, 1957, S. 7. 185 3. Rousseau und die Tradition politischer Philosophie In der platonischen Tradition ist es charakteristisch, wie festgestellt wurde, dass sich die Übel menschlicher Angelegenheiten, die aus menschlicher Pluralität entstehen, zunächst einmal durch die Errichtung jener homogenen Einheit vermeiden lässt. Die Einseitigkeit und der Meinungsstreit im Bereich menschlicher Angelegenheiten können nur durch die transzendenten Prinzipien aufgebrochen und überwunden werden. Diese Vorstellung von „Platos unmenschlichem idealem Staat“1 fährt bis in die Neuzeit fort. Rousseau bleibt bei dieser Tradition. Das originelle und ideale Mittel, das Rousseau gefunden hat, um die Rätselfrage der neuzeitlichen Staatstheorie, wie sich von Natur aus freie Personen in einem Staat vereinigen können, ohne dass der einzelne seine Freiheit verliert, zu lösen, entsteht aus der explosiven Mischung vom Prinzip der Volkssouveränität und dem Gemeinwillen. Rousseaus Theorie, die „nichts mehr und nichts weniger (ist), als was die Vielen in eine Einheit zusammenbinden sollte“2, stützt sich auf diese widersprüchliche Verbindung eines radikalisierten Demokratieprinzips mit einer angeblichen Metaphysik. Diese rousseausche Idee einer vollkommenen Ordnung des Staates impliziert am markantesten ein antipluralistisches und „ein totalitäres Element“.3 3.1 Das Repräsentationsprinzip Obwohl sich Arendts kritischer Blick auf das rousseausche Denken vor allem durch ÜR zieht, findet man einige Gemeinsamkeiten des Arendtschen Denkens mit dem Rousseauschen.4 Diese Einschätzung wird vor allem dadurch begründet, dass Arendt wie Rousseau eine Theorie der gut geordneten Gemeinschaft im Vorbild der antiken Polis entwickelt. Den Hintergrund der Skepsis, die Rousseau gegen die Entwicklung der modernen Gesellschaft hegt, bildet der Rückgriff auf die antike Unterscheidung von Privatem und Öffentlichem. 5 Rousseau bezeichnet das Private als die Gefahr für das Öffentliche. Er hält fest: „Nichts ist gefährlicher als der Einfluß von Privatinteressen auf die öffentlichen Angelegenheiten.“6 Zwischen Privatem und Öffentlichem liegt seiner Auffassung zufolge ein antagonistischer 1 2 3 4 5 6 PP, S. 399. ÜR, S. 97. Maier, 2004, S. 72; vgl. Talmon, 1961, S. 39. Cooper hält die Ähnlichkeit von Arendt und Rousseau für unwichtig. Er vertritt, dass die oberflächliche Gemeinsamkeit von Arendt und Rousseau mit ganz anderem Inhalt gefüllt wird (Cooper, 1979, S. 171, Anm. 74); vgl. Canovan, 1983, S. 287ff.; Herb, 2001, S. 59ff. Zu Rousseaus Kritik an der kapitalistischen Klassengesellschaft siehe GV, III-15. Rousseau, GV, III-4, S. 72. 186 Gegensatz, wie er mit folgenden Worten formuliert: „Je besser der Staat verfasst ist, desto mehr überwiegen im Herzen der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten die privaten. Es gibt sogar viel weniger private Angelegenheiten“. 7 Im Hinblick auf diese Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten glauben Autoren wie Miller, dass Arendt überhaupt in der Idee der politischen Gemeinschaft dem Gedanken Rousseaus folgt. 8 Aber wenn auch Arendt wie Rousseau ohne Zweifel dem Öffentlichen den Vorrang einräumt, ist es nicht zu übersehen, dass ihr Punkt auf der Differenzierung der verschiedenen Funktionen und dem unterschiedlichen Wesen des öffentlichen und privaten Raums für die menschliche Existenz liegt. Wie wir oben gesehen haben, liegt Arendts Absicht für die Unterscheidungen zwischen dem Privaten und Öffentlichen darin, aufzuzeigen, dass es Dinge gibt, die der Öffentlichkeit oder dem Privaten adäquat sind.9 Was die positive Bedeutung des Privaten angeht, liegt Arendts Verständnis in engerem Zusammenhang mit den Römern als den Griechen. Nach Arendt haben die Römer „niemals das Private dem Öffentlichen geopfert, sondern verstanden, daß diese beiden Bereiche in ihrer Existenz voneinander abhängen.“10 Also bilden diese beiden Bereiche das Repräsentationsgefüge des Menschlichen. Auf diese Frage bezogen ist der Unterschied zwischen Arendt und Rousseau ebenso groß wie der Unterschied zwischen Aristoteles und Plato.11 Viele Autoren finden die Gemeinsamkeit von Arendt und Rousseau unter anderem bei ihrer harten Ablehnung des politischen Repräsentationsprinzips. Als „eine radikale Demokratin“12 zählt Arendt in der Tat die Frage der Repräsentation „zu den kritischsten und beunruhigendsten Problemen moderner Politik“.13 Wie Rousseau erfasst Arendt scharfsinnig die Aporien der Repräsentation, die mit dem Anspruch der modernen politischen Theorie zusammenhängen: Entweder sei das Handeln des Repräsentanten ein schlichtes Surrogat für das direkte Handeln der Bürger, dann aber stellen Repräsentanten nur „die bezahlten Agenten der Wählerschaft“ dar, und das politische Handeln reduziere sich auf bloße Verwaltung; oder aber das Handeln des Repräsentanten sei völlig autonom, aber auf diese Weise repro7 8 9 10 11 12 13 Rousseau, GV, III-15. Vgl. Miller, 1979, S. 192. Vgl. VA, S. 88; vgl. Reist, 1990, S. 61; Canivez, 1981, S. 166. VA, S. 74. In seinem Buch Politik erhebt Aristoteles in der Tat Einwand gegen die platonische Behauptung, die größtmögliche Einheit sei das höchste Ziel des Staates. Plato macht nach Aristoteles die Polis zum großen Oikos, indem er eine Einheit erstrebt, die nur im Haus, nicht aber in der Polis sinnvoll ist. Im Gegensatz zum platonischen Staatsideal einer unzerstörbaren Einheit begreift Aristoteles den politischen Raum als eine Notwendigkeit, die durch die Vielheit konstituiert wird: „Es ist nämlich doch offenbar, dass ein Staat, wenn er nach dieser Richtung immer weitergeht und eine immer strengere Einheit zu werden sucht, zuletzt gar kein Staat mehr bleiben wird. Denn eine Vielheit seiner Natur ist der Staat“ (Aristoteles, Politik, 1261 a 16ff. und auch 1253 b 2); vgl. Herb, 2001, S. 63. Benhabib, 1998, S. 54. ÜR, S. 303. 187 duziere sich die schlichte alte Trennung zwischen Regierenden und Regierten, so dass die meisten Menschen auf die Rolle von Untertanen reduziert und ihres politischen Willens beraubt werden.14 In Gesellschaftsvertrag lehnt Rousseau auch unerbittlich das Repräsentationsprinzip ab, das mit dem Prinzip der Volkssouveränität unverträglich ist. Ihm zufolge könne die Volkssouveränität nicht repräsentiert werden, und auch sei ein Volk, das repräsentiert wird, nicht mehr frei, und es sei frei nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder. 15 Deshalb behauptet Rousseau, dass nur „die unmittelbare Ausübung der Souveränität durch das Volk selbst“16 legitim ist, aber nicht durch die Repräsentative. Hinsichtlich der Ablehnung vom Repräsentationssystem ist bemerkenswert, dass Rousseau das Volk als substantielle und homogene Einheit versteht. Rousseaus Gedanke von Unvertretbarkeit impliziert daher, so Ernst Vollrath, das „identitätsrepräsentative Paradigma“. 17 Damit sind Volks- und Repräsentantenwillen miteinander identifiziert. Bei Rousseau geht es um den repräsentativen allgemeinen Willen. So antizipiert Rousseau „die alte verhängnisvolle Überzeugung des Nationalstaates“, „daß die Nation im ganzen nur von einem Willen repräsentiert und in ihren Schicksalen geführt sein könne.“18 Der Gemeinwille ist für Rousseau in der Seele jedes Einzelnen als etwas Gleiches präsent, und durch diese Repräsentation sind die politischen und sozialen Unterschiede zwischen den Individuen zu beseitigen. Daher ist die Frage nicht in Betracht gezogen, wie sich die menschliche Verschiedenheit und die Meinungsvielfalt bewahren und vermitteln lassen. In Rousseaus Demokratie gibt es keine Individuen, die über die gemeinsamen Dinge frei urteilen und ihre eigene Meinung äußern können, sondern nur Individuen, die den gegebenen Gemeinwillen wahrnehmen und akzeptieren müssen. In diesem Zusammenhang kritisiert Arendt das rousseausche Repräsentationsverständnis eindeutig; Rousseau glaube an die „Legitimität des Repräsentativsystems“ ohnehin nicht; „Aber daß Rousseau ja vor allem die union sacrèe gepredigt hatte, die Eliminierung aller Meinungsdifferenzen und aller Unterscheidungen inklusive des Unterschieds zwischen Volk und Regierung, konnte man theoretisch mit dieser Einigung ebensogut von oben wie von unten anfangen, also den Volksgesellschaften den Ga- 14 15 16 17 18 ÜR, S. 304f. „Das englische Volk wähnt frei zu sein; es täuscht sich sehr. Es ist dies nur während der Wahl der Mitglieder des Parlaments. Sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts. In den kurzen Augenblicken seiner Freiheit verdient der Gebrauch, den es von ihr macht, daß es sie verliert.“ (Rousseau, GV, III-15). Herb, 2000, S. 169. Vollrath unterscheidet zwischen Identitäts- und Differenzrepräsentation (vgl. Vollrath, 2003, S. 210ff.). ÜR, S. 97. 188 raus machen, die offenbar ein wahres Treibhaus für Meinungen und Meinungsdifferenzen darstellten.“19 Wie Rousseau charakterisiert Arendt das Repräsentationssystem der modernen Demokratie als Ersatz für „direkte Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten“20 der Bürger, so dass moderne Repräsentation die Individuen der Freiheit politischen Handelns beraubt.21 Aber die Kritik von Arendt an der Repräsentationskonzeption wird mit ganz anderem Motiv erfüllt als die rousseausche Konzeption. Es gibt die Einschätzung, Arendt sei das Repräsentationsprinzip fremd.22 An einer viel zitierten Stelle von ÜR sagt Arendt: „Der Bürger ist repräsentiert, doch repräsentiert und delegiert können nur Interessen und die Sorge um die allgemeine Wohlfahrt der Wählerschaft werden, keinesfalls aber ihre Fähigkeit zu handeln oder auch ihre Meinungen.“ 23 Diese Formel bezeichnet Kari Palonen als „eine Variante der Rousseauschen These, daß der Wille nicht repräsentiert werden kann.“24 Aber diese Beurteilung ist vorschnell, weil Arendt hinsichtlich der politischen Urteilskraft das Repräsentationsprinzip im eigentlichen Sinne des Begriffes25 für eine spezifisch politische Fähigkeit hält. Arendt sagt: „Politisches Denken ist repräsentativ in dem Sinne, daß das Denken anderer immer mit präsent ist. Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mit repräsentiere.“26 Im Licht dieser Aussage gesehen lehnt Arendt keineswegs das politische Prinzip der Repräsentation ab. Was Arendt an der oben erwähnten Stelle meinen wollte, ist vielmehr, dass sich die Repräsentation ohne Institutionen, in denen der Bürger wirklich an öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen kann, auf das bloße Repräsentative der Interessen reduzieren 19 20 21 22 23 24 25 26 ÜR, S. 309f. ÜR, S. 350. Das moderne Repräsentativsystem hat mit der Verwandlung des Freiheitsgedankens zu tun. Zur Entstehung des Repräsentativsystems formuliert Benjamin Constant: „Doch da die Freiheit, die wir benötigen, von derjenigen der Alten verschieden ist, muss sie anders beschaffen sein als diese. Je mehr Zeit und Kraft der Mensch des Altertums für die Ausübung seiner Rechte aufbrachte, für desto freier hielt er sich. Je mehr Zeit uns modernen Menschen die Ausübung unserer politischen Rechte für unsere Privatangelegenheiten lassen wird, desto wertvoller wird uns die Freiheit sein. Daraus ergibt sich (…) die Notwendigkeit des Repräsentativsystems.“ (Constant, 1946, S. 56). Vor allem Claus Lefort beklagt Arendts tiefe Ablehnung gegenüber dem Begriff der Repräsentation: „Der Begriff der Repräsentation ist ihr fremd, oder vielmehr: er widerstrebt ihr.“ (zit. nach Vollrath, 1996b, S. 150). ÜR, S. 346. Palonen, 2006, S. 207. Nach einer Minimaldefinition ist die Bedeutung der Repräsentation „an die Stelle von etwas treten“ (Podlech, 1984, S. 509); nach der Definition von Leibholz; Zum Wesen der Repräsentation gehört, „daß etwas, was nicht real Präsentes wieder präsent, d.h. existentiell wird, etwas, was nicht gegenwärtig ist, wieder anwesend gemacht wird.“. (Leibholz, 1966, S. 26). ZVZ, S. 342. 189 lässt. Hier beruft sich Arendt auf Thomas Jefferson: „Er (Jefferson: H. P.) erkannte die tödliche Gefahr, die darin lag, daß die Verfassung einerseits alle Macht dem Volke gegeben hatte, ohne die Möglichkeit zu bestimmen, in deren Rahmen diese Volk nun auch sich als Bürger und Bürger einer Republik betätigen und bewähren konnte. Dies konnte nur darauf hinauslaufen, einem Volk von Privatleuten alle Macht auszuliefern, da sie ja als Bürger kaum eine Funktion hatten.“27 Der Grund für Arendts Misstrauen gegenüber den demokratischen Organisationsprinzipien, also dem allgemeinen Wahlrecht und Parteisystem besteht darin, dass „die Parteien mit ihrem Monopol der Nominierung derer, die überhaupt zur Wahl gestellt werden, nicht mehr als Organe der Volksmacht anzusehen sind, sondern vielmehr als die sehr wirksamen Hilfsmittel, durch welche eben diese Macht des Volkes eingeschränkt und kontrolliert wird.“28 Wegen dieses Monopols der Kandidatennominierung verwandele sich „das Repräsentativsystem in eine Art Oligarchie“.29 In diesem repräsentativen Regierungssystem gibt es Arendts Ansicht zufolge keine Institutionen, „die eine wirkliche Beteiligung der Bürger ermöglichen“. 30 So läuft die Repräsentation in der parlamentarischen Parteiendemokratie nur auf „Verzicht auf Macht“ und auf Verzicht auf „die Lust am Handeln“ 31 hinaus. Im Gegensatz zum Modell der parlamentarischen Demokratie spricht Arendt über die Institution, wo die Vielfalt der Meinungen repräsentiert und garantiert ist. 32 Eine Formulierung von Arendt in ÜR gibt einen Beweis dafür, wie sorgfältig sie über die politischen Institutionen denkt: „Meinungen entstehen und bewähren sich in einem Prozeß allseitigen Meinungsaustausches, und eine Vermittlung ihrer Verschiedenheiten und Konflikte kann daher am besten zustande kommen, wenn man sie durch das Medium einer Körperschaft leitet, deren Glieder für diesen Zweck besonders ausgewählt sind. Nicht daß diese Meinungsrepräsentanten – die Senatoren – nun selbst, als Einzelne genommen, weise oder weiser als ihre Mitbürger wären, aber sie sind doch gewählt und in einer Institution versammelt, deren Sinn es ist, der möglichen Weisheit in öffentlichen Angelegenheiten eine Stätte im politischen Leben zu sichern; und die Institution selbst trägt den Bedingungen der Fehlbarkeit und Fragwürdigkeit menschlicher Weisheit Rechnung.“33 Im Licht dieser Aussage macht Roviello darauf aufmerksam, dass Arendts Kritik des Repräsentationsprinzips nicht eine „romantische Vision“ der Reduktion von Politik auf die di27 28 29 30 31 32 33 ÜR, S. 324. ÜR, S. 347. ÜR, S. 347. ÜR, S. 148. ÜR, S. 350 und 351. Vgl. Schindler, 2000, S. 264-275. ÜR, S. 293. 190 rekte Demokratie darstellt.34 Im Gegensatz dazu seien die institutionellen Räume der Republik als solche bereits Repräsentationsräume. Arendt geht es darum, dass diese repräsentativen Räume sich vom politischen Handeln der Bürger nähren. Solcherart repräsentative Institutionen bilden nicht ein Spiegelbild der einheitlichen Meinung des Volkes, sondern stellen stattdessen eine gereinigte und repräsentierte Vielheit von Meinungen dar.35 Roviello konstatiert: „Das Beharren darauf, daß die Meinung nicht repräsentiert – und daß sie nur durch das nämlich verknüpft mit dem ebenso hartnäckigen Beharren darauf, daß es notwendig ist, die passenden institutionellen Räume einzurichten, worin sich die Meinungen äußern und austauschen lassen, um so ihren tatsächlichen politischen Stellenwert zu erreichen. Diese Räume indes sind auf Anhieb solche der Repräsentation.“36 Im Gegensatz zu Rousseaus Vorstellung verankert Arendt die politische Freiheit in angemessenen Institutionen, die aus einem „Übereinkommen“ „zwischen Menschen, die verschiedener Meinung sind“, entstehen.37 Die Sicherung der Pluralität möglicher Perspektiven und der ihr entsprechenden Institutionen ist die wichtigste Grundlage für Arendts Verständnis der Repräsentation. In diesem Punkt grenzt sich Arendts Konzeption der Repräsentation vom rousseauschen Gedanken ab. 3.2 Volkssouveränität Die Vorstellung, dass eine gesellschaftliche Ordnung durch den Gesellschaftsvertrag entsteht, ist „der modernste Grundzug“ in Rousseaus Staatstheorie.38 Für Rousseau ist der Gesellschaftsvertrag „eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.“39 Rousseaus Frage ist, wie sich die moralisch legitime Form des Zusammenschlusses herausbilden lässt, ohne die Freiheit aufzugeben.40 Rousseau beginnt sei34 35 36 37 38 39 40 Roviello, 1997, S. 121. Arendt formuliert: „Vielheit der Interessen und Mannigfaltigkeit der Meinungen wurden allgemein für das Kennzeichen einer freien Staatsform gehalten, und ihre öffentliche Repräsentation war das Merkmal der Republik im Unterschied zur Demokratie, wo eine kleine Zahl von Bürgern sich zusammentut und persönlich die Regierung ausübt“ (ÜR, S. 291). Roviello, 1997, S. 122. ÜR, S. 96. Weiß, 1992, S. 1-17, hier S. 14. Rousseau, GV, I-6. Im Gegensatz zu Hobbes‟ Vorstellung meint Rousseau: „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen“ (Rousseau, GV, I-4). 191 ne berühmteste politische Schrift „Gesellschaftsvertrag“ mit der hypothetischen Feststellung: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ 41 Für ihn sind Ketten nichts anderes als die Gesellschaft. Aber widersprüchlich hebt Rousseau die gesellschaftliche Ordnung als die Voraussetzung von Recht hervor. Eine gute Gesellschaft musste gegründet werden, um die ursprüngliche Freiheit wiederherzustellen.42 Rousseaus Ausgangsfrage ist, was „legitime Ketten“43 sind, also die legitime Art, die „die Menschen zur Freiheit zwingt“.44 Das Grundproblem des Gesellschaftsvertrags, wie sich die Selbstbestimmung des Menschen mit der Ordnung des Staates und seinem Zwange versöhnen lässt, ist für Rousseau zu lösen, indem er das Konzept der Volkssouveränität zum Grund politischer Ordnung macht. Rousseaus Lösung ist an das Prinzip gebunden, dass die Gesellschaftsmitglieder die Souveränität gemeinschaftlich ausüben. Arendts Ansicht zufolge besteht der theoretische und philosophische Beitrag Rousseaus zur Tradition politischer Philosophie darin, dass „er anscheinend ein höchst ingeniöses Mittel gefunden hatte, eine Vielzahl von Menschen an den Platz zu stellen, der bisher von einer einzigen Person ausgefüllt worden war“. 45 Iring Fetscher weist auf die eigenartige Lösung von Rousseau hin, „daß die Aufgabe der Rechte nicht einer anderen Person (wie dem souveränen Monarchen oder den souveränen Aristokraten bei Hobbes) einseitig zugute kommt, sondern der Gemeinschaft aller, von der wir zugleich selbst ein Glied sind.“46 Daraus ergibt sich das demokratische Prinzip, „Quelle und Ursprung aller legitimen Macht liege beim Volk“.47 Das ist das Konzept der Volkssouveränität. Der Gedanke dieser Volkssouveränität scheint mit der platonischen Tradition zu brechen. An die Stelle der Idee, die als den absoluten Maßstab der politischen Ordnung nur die wenigen Wissenden erkennen können, tritt die Souveränität aller, die das Gesetz geben. „Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz.“48 Bei Rousseau, im Gegensatz zu Hobbes, gibt es keinen Souveränitätstransfer. Die Souveränität entstamme nicht nur dem Volk, sondern dort müsse sie bleiben.49 41 42 43 44 45 46 47 48 49 Rousseau, GV, I-1. Vgl. Fetscher, 1975, S. 103. Kersting, 1994, S. 151. ÜR, S. 147; vgl. Rousseau, GV, I-7, S. 21; „Das Thema des Rousseauschen Contrat social ist aber nicht die Aufhebung der Ketten, sondern ihre Legitimierung.“ (Fetscher, 1975, S. 102f.). ÜR, S. 97. Fetscher, 1975, S. 107. ÜR, S. 233. Rousseau, GV, III-15; im Anschluss an Rousseau vertritt Kant das Prinzip der Volkssouveränität; „Was ein Volk über sich selbst nicht beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das Volk beschließen.“ (Kant, 1968, S. 57). Rousseau, GV, II- 1. 192 Man muss jedoch hier gleich hinzufügen, dass die Rousseausche Volkssouveränität das platonische Staatsideal einer unzerstörbaren Ganzheit einschließt. Als Souverän sei das Volk für Rousseau eine „Menge, die in einem Körper vereint“ ist.50 Das Wort „Volk“ ist für Rousseau immer ein Singular, und es ist aber niemals im Begriff der Vielheit und der Unterschiede verstanden.51 Bei ihm stellt die Volkssouveränität hinsichtlich ihrer übergesetzlichen Rechtsposition die Absolutheit dar, so dass sie prinzipiell unveräußerlich und unteilbar ist. 52 Hobbes‟ Konzept von der übermächtigen Souveränität bleibt auch immanent bei Rousseau. Da er das Souveränitätsmonopol fordert, schlägt Rousseau keinerlei Methode zur Kontrolle der absoluten Souveränität vor. Insofern gibt es bei ihm kein politisches Mittel, um es zu verhindern, „daß die Prozesse der Beschlussfassungen mit dem ihnen inhärenten Majoritätsprinzip in den elektiven Despotismus der Demokratie, der Herrschaft der Majorität, ausarteten.“53 Die Volkssouveränität kann nicht durch Verfassungen und Grundrechte begrenzt werden, weil sie wie der absolute Herrscher „nicht in oder unter der Verfassung steht, sondern über ihr“.54 Nach dieser Auffassung kann man sagen, dass Rousseau die absolutistische Lehre der monarchischen Staatssouveränität „ohne Veränderung der Struktur“ auf die Volkssouveränität übertragen und damit ein potentiell totalitäres Modell geschaffen hat.55 Aus dem absoluten Charakter der rousseauschen Volkssouveränität lässt sich die Frage stellen, ob der absolute Volkswille die Freiheit in jenem Sinne stiften kann, einen dauerhaften politischen Raum zu konstituieren, weil der kollektive Wille wie der individuelle Wille sich jederzeit ändern kann.56 Der Wille ist nicht „rechtlich-formal“, sondern „naturalistisch“57. In diesem Zusammenhang verstehen die Männer der Französischen Revolution unter dem Volkswillen, bei dem alle Macht liegt, „eine Art Naturkraft außerhalb des politischen Bereichs“.58 Es ist ihre Überzeugung, dass der Volkswille weder organisiert noch konstituiert sei,59 weil, wie Rousseau die revolutionären Männer gelehrt hat, es unsinnig ist, „daß sich 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 ÜR, S. 120. Vgl. ÜR, S. 119. „Souveränität ist eine Eigenschaft, die absolut und unteilbar ist, an der man weder teilhaben noch graduelle Unterschiede feststellen kann, und die dem Souverän unabhängig von dem politischen Ganzen als sein eigenes Recht gehört.“ (Maritain, 1970, S. 254). ÜR, S. 214. Kriele, 1980, S. 227; vgl. Talmon, 1961, S. 42; Tönnies, 1994, S. 57ff. Becker, 2000, S. 245ff. Vgl. ÜR, S. 97. Brandt, 1973, S. 84. ÜR, S. 235. ÜR, S. 233. 193 der Wille Ketten anlegt für die Zukunft.“60 Dem fügt Rousseau hinzu: „Wenn daher das Volk einfach verspricht, zu gehorchen, löst es sich durch diesen Akt auf und verliert seine Eigenschaft als Volk.“61 Auf die Ablehnung des konstitutiven Konzepts bezogen betont Wolfgang Kersting vielmehr die Stärke der republikanisch-demokratischen Theorie von Rousseau: „Rousseau ist der erste Vertragstheoretiker, der das kontraktualistische Argument für die Begründung der These von der Demokratieabhängigkeit der Rechtsstaatlichkeit eingesetzt hat. Rechtsstaatlichkeit wird in seiner Theorie nicht durch Verfassung und Grundrechtsschutz gesichert, sondern durch das uneingeschränkt demokratische Verfahren der politischen Willensbildung.“62 Allerdings spricht Arendt von der politischen Freiheit, die nicht allein auf eine verfassungsmäßige Garantie angewiesen ist. Aber sie spricht zugleich von der Verfassung, „die ihrerseits von dem Nationalwillen und den wechselnden Majoritäten so wenig abhängt, wie etwa ein fertiges Gebäude von dem Willen des Architekten oder dem seiner Bewohner abhängig ist.“63 Bei Arendt sind Gesetz und Macht voneinander unterschieden und zugleich abhängig voneinander.64 Die Macht des Volkes sei weder unteilbar noch unfehlbar. Daher übe das Volk seine Macht gemäß bestimmten Regeln und im Zaun von Gesetzen aus, die ihre positive Existenz der Macht des Volkes verdanken.65 3.3 Der Gemeinwille als die metaphysische Begründung der politischen Ordnung In Bezug auf die Frage nach der Fundierung politischer Ordnung ist der Gemeinwille für Rousseau der Schlüsselbegriff. Rousseausche Volkssouveränität ist nur im Zusammenhang mit dem Gemeinwillen aufzufassen. Darüber hinaus ist der Gemeinwille der wesentliche Gesetzgeber und das einzige Gemeinsame, was die Menschen vereinbaren kann.66 Der Gemeinwille spielt die Rolle des entscheidenden Bauelements für den Plan der Staatsbildung. 60 61 62 63 64 65 66 Rousseau, GV, II-1, S. 28; im Gegensatz zu diesem Verständnis des Wortes Wille spricht Hamilton von einem „permanenten Willen“, die sich in einer Institution manifestieren sollte, „die in Stand setzt, dem, was gerade populär ist, Widerstand zu leisten“ (ÜR, S. 397). Rousseau, GV, II-1, S. 28. Kersting, 2003, S. 94. ÜR, S. 213. Die Legitimität der Gesetze kann für Arendt darauf zurückgeführt werden, dass sie in der Verfassung gründen. Arendt weist in ÜR darauf hin: „Der Ort der Macht wurde ins Volk verlegt, aber die Quelle aller Gesetze sollte die Verfassung werden, ein Schriftstück und Dokument, etwas Objektives, das man zwar so oder anders interpretieren und je nach Umständen abändern und erweitern konnte“ (ÜR, S. 204); vgl. Vollrath, 1995, S. 13ff.; Benhabib, 1993b, S. 104. Vgl. ÜR, S. 215 und 236. Rousseau, GV, III-15, S. 103; „Im strengen Sinne kann also von Volkssouveränität bei Rousseau eigentlich nicht die Rede sein, eher von einer Souveränität der volonté générale.“ (Röttgers/Linvers, 2001, S. 1110). 194 Nach diesem Bauplan versucht Rousseau, die „Konstruktion einer vielköpfigen Einheit“ zu bauen.67 Wenn Rousseaus Staatsordnung auf dem Gemeinwillen basiert, verliert beim Vertrag das Konzept der freien Einwilligung der Individuen als unerlässliche Vorbedingung für jeden Rechtsstaat erheblich an Bedeutung. Als der modernste Grundzug, die politische Konstitution durch aktive Beteiligung aller Menschen an der politischen Vereinbarung herauszubilden, endet Rousseaus Vertragsgedanke schließlich in der Passivität der Bürger.68 Diese Konsequenz zeigt wieder „die Stärke der antipolitischen Tradition in der Philosophie“69 seit Plato. Der Gemeinwille ist die transzendente Instanz im Unterschied zum Gesamtwillen, der „nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen“70 ist. Die Allgemeinheit bedeutet für Rousseau keine Mehrheit, die aus Einzelinteressen aufsummiert wird. Im Gegensatz zur liberalen Sicht stellt sich die Verfolgung des eigenen Interesses des Einzelnen für Rousseau nicht als eine politische Tugend dar, sondern vielmehr als Gefährdung des Gemeinwohls. Zur Überwindung dieser gemeinwohlschädigenden Einzelinteressen bedürfte es der tugendhaften Form des Gemeinwesens.71 Dabei handelt es sich um den Gemeinwillen. Der Gemeinwille ist dadurch gekennzeichnet, dass er nicht öffentlich diskutierbar ist. Lange öffentliche Diskussion gefährdet die Einheit des Volkes. Da das Volk nur einen Willen zu seiner Einheit haben muss, sind die vielfältigen Ansprüche von Sonderwillen und Privatinteressen für Rousseau ein Signal der politischen Verderbtheit: „lange Debatte jedoch, Meinungsverschiedenheiten, Unruhe zeigen das Emporkommen der Sonderinteressen und den Niedergang des Staates an.“72 In der Tat liegt das politische Ideal von Rousseau „jenseits von streitbarer Demokratie und idealer Kommunikationsgemeinschaft. Im Gegenteil signalisiert öffentlicher Diskurs bereits die Krisenstimmung der Republik. Wo öffentlich diskutiert und gestritten wird, ist das politisch Richtige schon fragwürdig, die selbstläufige Artikulation des Volksvotums im Sinne des Gemeinwillens bedroht.“73 Dieses rousseausche lautlose und absolut sprachlose Staatsideal steht im Gegensatz zur Polis, die „die schwatz67 68 69 70 71 72 73 ÜR, S. 97. Vgl. ÜR, S. 96; obwohl Kant dem Rousseauschen Volkssouveränitätsprinzip folgt, betont er im Gegensatz zu Rousseau das Prinzip der Gesetzgebung nur unter Voraussetzung der „Existenz eines öffentlichen Raums, wenn nicht für das Handeln, so doch zumindest für die Meinung“ (DU, S. 69). ZVZ, S. 216. Rousseau, GV, II- 3. ÜR, S. 99. Rousseau, GV, IV – 2. Herb, 1999, S. 113; Talmon betont diese Qualität des Gemeinwillens. Ihm zufolge ist der Gemeinwille nicht als Wechselwirkung von Meinungen aufgefasst, „die alle gleichermaßen Anspruch auf Gehör haben“ (Talmon, 1961, S. 39). Schmidt hingegen vertritt, dass Rousseau hinsichtlich des Gemeinwillens offenbar einen Vorgang der Diskussion und der freien Meinungsäußerung vor Augen hat. Diese Behauptung wäre durch die von Schmidt zitierte Aussage von Rousseau begründbar, „daß es im Staat keine Teilgesellschaften gibt und daß jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt.“ (Schmidt, 2000, S. 102). 195 hafteste aller Staatsformen“74 war. Polis war „das Treibhaus der Redner“75. Der rousseauschen republikanischen Konzeption fehlt das für die griechische Polis charakteristische agonale Element ganz, d.h. die Umstrittenheit, die einen Plural von Streitenden voraussetzt.76 In Rousseaus Republik gibt es keine Tugend der Polisbürger, die durch das Miteinanderreden und – handeln in der gemeinsamen Welt in Erscheinung tritt.77 Dem Gemeinwillen kommt dagegen „das öffentliche Schweigen“78 zu, das jede Debatte, Differenzen und Streit ausschließt. Weil der Gemeinwille „immer auf dem rechten Weg“79 ist, lässt sich das politische Übel, das aus der Vielfalt der Meinungen entsteht, für Rousseau erst durch den Gemeinwillen überwinden. An die Stelle der kommunikativen Meinungsbildung tritt der Gemeinwille.80 Versteht man den Gemeinwillen als den absoluten Maßstab, so wird die Frage gestellt, wie sich der Gemeinwille für den Einzelnen erkennen und gewinnen lässt. Und die Frage: Mit Hilfe welcher Mechanismen kann man wahrnehmen, was der Gemeinwille tatsächlich ist? Was ist das Kriterium, an dem zu ermessen wäre, ob dieser Wille richtig oder falsch ist? Also geht es um die erkenntnistheoretische Frage des Gemeinwillens. Rousseau sagt, das Gemeinwohl sei immer offenbar und evident, und „man braucht nur gesunden Menschenverstand, um es wahrzunehmen.“81 Für Rousseau ist jedes Individuum der Träger des Gemeinwillens in seiner Vereinzelung. Die Wahrnehmung des Gemeinwillens gelingt jedem Einzelnen durch seinen inneren Kampf gegen sich selbst, um sein eigenes Privatinteresse zu beseitigen. Diese Vorstellung geht von „Rousseaus Annahme vom Allgemeinen in jedem Besonderen“82 aus. Anders gesagt wohnt das Allgemeine dem eigenen Selbst inne. In seinem einzelnen Selbstbewusstsein kann der Bürger Rousseaus den allgemeinen Willen ganz 74 75 76 77 78 79 80 81 82 VA, S. 36. Magass, 1967, S. 13. Die Existenz der Meinungen bestimmte das Wesen der Polis. Die Frage von Burckhardt, „warum in der Polis trotz ihrer tyrannischen Züge und ihrer Rücksichtslosigkeit gegen Privates sich so ausserordentliche und ausserordentlich viele Individualitäten bilden konnten“, beantwortet Arendt: „Die griechische Freiheit war der Polis-Zwang zur doxa, das, was einem scheint, in der Partikularität des Aspekts artikuliert zu sagen und zur Diskussion zu stellen. (…). Diese doxa, dieser partikulare Aspekt, der sich mir bietet in der Partikularität, die ich bin, verglichen und zusammen mit allen Anderen, kann sich nur in der Mitteilung, dem Verstandenwerden und der Auseinandersetzung mit Anderen entwickeln.“ (DTB, S. 402). Vgl. Brandt, 1973, S. 93. Magass, 1967. Rousseau, GV, II-3. Im kritischen Blick auf das republikanische Modell Rousseaus bezeichnet Charles Taylor Arendts Theoriekonzeption als einen liberalen Republikanismus, der dem Wesen einer lebendigen demokratischen Gesellschaft am ehesten angemessen ist, weil Arendts Modell Meinungsunterschied und Streit den Platz einräumt, der ihnen in einer freien Gesellschaft gebührt, obwohl dieses Modell davon ausgeht, „daß es für die Mitglieder der Gesellschaft einen zentralen, einheitstiftenden Identifikationspol gibt“ (Taylor, 1992/1993, S. 12). Rousseau, GV, IV- 1, S. 112. Williams, 1972, S. 53. 196 zu seinem eigenen machen. Daraus folgt, dass sich der Gemeinwille nur „in dem lautlosen Dialog mit sich selbst“ manifestiert.83 An die Stelle des kommunikativen Weltbezugs tritt das innerliche Selbstverhör wie Descartes‟ Selbstzweifel. „In der volonté générale wird in der Tat jeder sein eigener Henker.“84 Der gesunde Menschenverstand stellt daher für Rousseau ein inneres Vermögen ohne allen Weltbezug dar. Durch ein Spiel dieses Verstandes mit sich selbst lässt sich der Gemeinwille als eine Art „zwingende Wahrheit“ durchsetzen.85 Der Gemeinwille lässt sich durch die Übereinstimmung mit sich selbst erkennen, nämlich die sittliche „Selbst-Beherrschung“86 über den eigenen Sonderwillen, der sündhaft und verbrecherisch ist. Die ständige Rebellion gegen sich selbst bildet die Einheit der Gesellschaft.87 Diese Verknüpfung der inneren Rebellion mit der Verbundenheit zur Gesellschaft bezeichnet Arendt als die mörderischste Lösung des Grundproblems aller politischen Philosophie des Abendlandes, wie man aus einer Pluralität eine Singularität machen könne. „Was diese Lösung so mörderisch macht, ist, daß der Souverän nicht mehr eine oder eine Vielheit von mich beherrschenden Personen ist, sondern gleichsam in mir sitzt – als der citoyen, der dem homme particulier entgegengesetzt wird.“88 Um der politischen Gemeinschaft anzugehören, muss der Bürger immer in der Lage sein, „in einer ständigen Rebellion gegen sich selbst und seine eigenen Interessen zu leben“.89 Dadurch verlagert sich das politische Handeln ins Innere jedes Einzelnen. Als das konstitutive Prinzip des Politischen wird das politische Miteinanderreden und -handeln durch den inneren Kampf des Willens gegen den Gegenwillen 90 ersetzt, der sich auf der mentalen Ebene des Geistes abspielt. In dieser psychologischen Überlegung spielen der politische Bereich und die öffentliche Organisation keine Rolle als das Medium der freiheitlichen 83 84 85 86 87 88 89 90 ÜR, S. 102. DTB, S. 242; vgl. ÜR, S. 124. VA, S. 360; „wer immer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, wird von der Gemeinschaft dazu gezwungen.“ (Rousseau, GV, I-7). VA, S. 303; in Emile sagt Rousseau: „Wer ist also der tugendhafte Mensch? Es ist derjenige, der seine Neigungen zu überwinden weiß. Denn alsdann folgt er seiner Vernunft, seinem Gewissen; er tut seine Pflicht, er hält sich in der Ordnung, und nichts kann ihn davon abbringen. Bisher warst du nur zum Scheine frei; du hattest bloß die unsichere Freiheit eines Sklaven, dem man nichts befohlen hat. Jetzt sei in der Tat frei, lerne, dein eigener Herr zu werden, befiehl deinem Herzen (…) und du wirst tugendhaft sein.“ (Rousseau, Emil, 1996, S. 591; zit. nach Sturma, 2001, S. 113). Die innere Rebellion wird nun zum politischen Prinzip; „Die Einheit der Nation ist dadurch garantiert, daß jeder Bürger den Landesfeind in seiner eigenen Brust trägt und mit ihm auch das Allgemeininteresse, das nur der gemeinsame Feind wecken kann. Denn der alle gemeinsame Feind ist das Einzelinteresse und der Eigenwille eines jeden. Nur wenn jeder Einzelne sich selbst in seiner Vereinzelung den Krieg erklärt, kann er in die Lage kommen, in sich selbst seinen eigenen Feind zu erzeugen, und dieser Feind jedes Einzelnen als Einzelnen ist der Allgemeinwille; wenn ihm dies gelingt, ist er ein wirklicher und verlässlicher Bürger des Nationalstaates geworden.“ (ÜR, S. 99). DTB, S. 242. ÜR, S. 99. „Alles Wollen wächst aus dieser ursprünglichen Konfliktsituation des Wollenden mit sich selbst.“ (ZVZ, S. 213). 197 Meinungsbildung. Die rousseausche Öffentlichkeit ist der Ort der Sieger, die beim Kampf gegen sich selbst ihre eigenen Interessen überwältigen. In der Öffentlichkeit dieser Sieger wollen alle Einzelnen dasselbe und müssen daher wesentlich gleich sein. Dadurch wird möglich, „daß das Selbst, das über sich selbst entscheidet, auf seine Individualität verzichtet.“91 Klaus Held formuliert im Folgenden: „In der Herrschaft des Citoyen in meiner Brust über den inneren Bourgeois findet nur ein Monolog der Einsicht statt, dem die stumme Fügsamkeit oder Aufsässigkeit der Ansicht korrespondiert. Tritt diese innere Herrschaft im Zusammenleben hervor, so ändert sich daran im Prinzip nichts. Nichts zufällig denkt sich Rousseau die Beschlüsse seiner Volksversammlung als ein fast schweigendes Einverständnis.“92 Da der Vereinheitlichung des politischen Gemeinwesens „eher ein Konsensus der Herzen als der Argumente dient“93, verlangt Rousseau die Durchsichtigkeit oder die Unverborgenheit des Herzens, so dass das Gesetz „weder auf Marmor noch auf Erz, sondern in die Herzen der Bürger“ geschrieben wird.94 Nur mit dem transparenten Herzen könnte man zum tugendhaften Bürger, der sich selbst mit dem Gemeinwillen identifizieren kann, werden, weil man nur in seinem Herzen den Gemeinwillen als die reine Stimme der Wahrheit vernimmt. In diesem Punkt ist der rousseausche Gemeinwille mit dem platonischen Begriff der Idee eins.95 Daraus wird die Gefahr des Gemeinwillenskonzeptes sichtbar: Wer entscheidet darüber, was der wahre allgemeine Wille ist? Wird diese Entscheidung im konkreten Zustand von der starken öffentlichen Meinung oder von der stärksten Partei getroffen? Daraus konnte Robespierre, der „die Offenbarung Rousseauscher Lehren in Fleisch und Blut“96 erfuhr, sagen, unser Wille sei der Gemeinwille. „Rousseaus Demokratie“, wie Habermas notiert, „postuliert am Ende die manipulative Gewaltausübung.“97 Von diesem Merkmal des Gemeinwillens spricht Arendt: „Das Einzige, was die auf der volonté générale gegründeten Nationalstaaten immer wieder vor dem unmittelbaren Zusammenbruch rettet, ist die phantastische Leichtigkeit, mit der jeder, der Lust auf die Last und Glorie der Diktatur hat, diesen sogenannten Nationalwillen manipulieren und sich unterwerfen kann.“98 91 92 93 94 95 96 97 98 Brandt, 1973, S. 97. Held, 1986, S. 28. Habermas, 1969, S. 111. Rousseau, GV, II-12; Plato spricht auch von der „Verfassung in uns selbst“ (Neschke-Hentschke, 1988, S. 603); vgl. Plato, Pol. 590 e 4. Vgl. Talmon, 1961, S. 37. ÜR, S. 154. Habermas, 1969, S. 112. ÜR, S. 212. 198 Der Gemeinwille bezieht sich auf die Legitimitätsfrage der Herrschaft. Rousseaus Ansatz zur Lösung dieser Frage liegt zuerst im Prinzip der Volkssouveränität. Das Volk ist souverän, aber da es nicht erkennen kann, was für es selbst am Besten ist, braucht es einen vernünftigen Führer, der den Weg ins Gemeinwohl kennt.99 Für die Gesetzgebung kommt das Volk zum Ausdruck als „eine Menge, die beseelt ist vom dunklen Drang zum Guten, aber da blind und ohne Verstand, der Führung und Erleuchtung bedarf.“100 Es ist kein Zufall, dass Rousseau im Kapitel vom Gesetzgeber auf Platon verweist, um dieses Problem zu lösen.101 In enger Anlehnung an Plato findet Rousseau die Quelle der gesetzgebenden Autorität nicht im Volk, sondern in der letzten und göttlichen Instanz, also im „Übermenschen, der in der Tradition des Philosophenkönigs Platons steht.“102 Er betont, dass die Formulierung und Ausarbeitung der Gesetze Sachverständigen überlassen werden müssen. „Um die für die Nationen besten Gesellschaftsregeln ausfindig zu machen, bedürfte es einer höheren Vernunft (…). Es bedürfe der Götter, um den Menschen Gesetze zu geben.“103 Dabei taucht die platonische Forderung nach der transzendenten Wahrheit als der Quelle legitimer Herrschaft wiederum auf. Weil die Vielen nicht fähig sind, ihr wahres Interesse zu erkennen, soll derjenige nach Plato herrschen, „der imstande ist, auf Grund seiner eigenen uneigennützigen Weisheit den vernünftigen Konsens aller zu antizipieren.“104 In der platonischen Tradition unterscheidet Rousseau zwischen Mengen und Wenigen, also zwischen Bürger und Herrscher: Der Herrscher formiert und konstituiert den Staat, wie der Ingenieur die Maschine erfindet. Er ruft wiederholt Platos Philosoph als Experte. Für ihn ist die Figur des Gesetzgebers ein erhabener Mann mit der höheren Vernunft, der den wahren wie allgemeinen Willen weiß.105 Die gesetzgebende Vernunft, die nicht jedem Menschen gegeben ist, muss das fast göttliche Werk vollbringen, dem Volk die Gesetze zu geben und das Ge- 99 100 101 102 103 104 105 „Von selbst will das Volk immer das Gute, aber es sieht es nicht immer von selbst. Der Gemeinwille ist immer richtig, aber das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer aufgeklärt. Man muß ihm die Gegenstände zeigen, wie sie sind, manchmal so, wie sie ihm erscheinen müssen, ihm den richtigen Weg zeigen, den er sucht, ihn schützen vor der Verführung durch die Sonderwillen, seinen Augen die Arte näher bringen und die Zeiten verkürzen, die Anziehungskraft augenblicklicher und spürbarer Vorteile ausgleichen mit der Gefahr entfernter und verborgener Übel. Einzelne sehen das Gute und weisen es zurück: die Öffentlichkeit will das Gute und sieht es nicht (…) Die einen müssen gezwungen werden, ihren Willen der Vernunft anzupassen, die andere muß erkennen lernen, was sie will.“ (Rousseau, GV, II-6, S. 42). Brandt, 1973, S. 116. Rousseau, GV, II-7. Brandt, 1973, S. 22; vgl. Imboden, 1963, S. 13. Rousseau, GV, II-7 und auch IV-8; vgl. ÜR, S. 238. Spaemann, 1977, S. 110f. Rousseau, GV, II-7. 199 meinwesen zu konstituieren. Mit dieser Konzeption der Gesetzgebung steht Rousseau im Widerspruch zu seinem Begriff der Volkssouveränität.106 Indem Rousseau den einmütigen Willen zum Prinzip der politischen Ordnung erhebt, 107 macht er die Pluralität und das politische Handeln überflüssig: „Der Wille kann in der Tat nur funktionieren, wenn er ungebrochen einer und in sich unteilbar ist; ein geteilter Wille ist unvorstellbar; es gibt kein mögliches Übereinkommen zwischen Menschen, die Verschiedenes wollen, wie es ein Übereinkommen gibt zwischen Menschen, die verschiedener Meinung sind.“108 „Die Politik des Willens“109 endet in der Abschaffung der Pluralität, weil sich ein sogenannter einheitlicher Wille im Staat nur durch die Überwältigung von anderen Willen durchzusetzen vermag. Im Prinzip des Gemeinwillens Rousseaus ist die Forderung nach der Eliminierung aller Meinungsdifferenzen und aller Unterschiede enthalten. Offensichtlich steht die rousseausche Intension noch in der Nachfolge der ältesten Tradition politischer Philosophie, die Einseitigkeit und Befangenheit der Denkart der Meinung im Blick auf die Überlegenheit des allgemeinen wahrhaften Willens zu überwinden. 106 107 108 109 Imboden bemerkt diesen Widerspruch. Nach ihm hatte Rousseau zwei Modelle als die begründbaren Herrschaftssysteme im Auge: „die vollkommene Demokratie und die Unterwerfung unter den gottähnlichen absoluten Herrscher“ (Imboden, 1963, S. 18). Aber diese vollkommene Demokratie hält Rousseau in Gesellschaftsvertrag für unmöglich: „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.“ (Rousseau, GV, III- 4). Konsequenterweise wendet sich Rousseau der Herrschaft der göttlichen Vernunft zu. Vgl. Hegel, 1995, § 258, S. 209. ÜR, S. 96; in ähnlichem Sinne bemerkt Habermas zum Problem des Willens: „Die positive Beziehung des Willens auf dem Willen anderer ist möglicher Kommunikation entzogen und durch eine transzendental notwendige Übereinstimmung isolierter Zwecktätigkeiten unter abstrakt allgemeinen Gesetzen substituiert.“(Habermas, 1974, S. 21). Howard, 1995, S. 67ff. 200 4. Karl Marx und die Tradition politischer Philosophie 4.1 Marx und das Ende der Tradition Durch die Auseinandersetzung mit dem Marxschen Denken führt Arendt die Kritik an der gesamten westlichen Tradition der politischen Philosophie fort. Sie spricht „über Marx in der Tradition der politischen Philosophie“1 und geht damit den metaphysischen Restbeständen im marxschen Denken nach, weil sie daran glaubt, dass Marx immer noch in Grundbegriffen der überlieferten politischen Philosophie bleibt, indem er nicht radikal genug mit der Tradition der politischen Philosophie bricht. In einem Brief an Kurt Blumenfeld schreibt Arendt: „(…) ich hatte vor, eine kleine Studie über Marx zu schreiben, aber sobald man Marx anfasst, merkt man, daß man gar nicht machen kann, ohne sich um die ganze Tradition der politischen Philosophie zu kümmern.“2 Arendt ist fest davon überzeugt, wie Canovan feststellt, „daß die Wurzeln des Totalitarismus nicht nur im Marxismus liegen, sondern in der ganzen Tradition des politischen Denkens seit Plato.“3 In Bezug auf die Tradition der politischen Philosophie hält Arendt zunächst die marxsche Theorie für revolutionär.4 Im kurzen Aufsatz Tradition und die Neuzeit bestimmt sie die Position der Marxschen Theorie für die Geschichte der okzidentalen Philosophie des Politischen als deren „definitives Ende“5. Das Ende der Tradition ist für die Arendtsche Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie von großer Bedeutung, denn am Ende wie am Anfang wird die Tradition „rein und unmoduliert“ ins Licht gebracht.6 Das Ende der Tradition ist eingetreten, wo Marx die von Plato und Aristoteles gebildete Hierarchie von Theorie und Praxis aufzuheben versuchte, indem er die Philosophie in der Praxis verwirklichen will. Arendt hält fest: „Das Ende dieser Tradition politischer Philoso1 2 3 4 5 6 IWV, S. 149. Arendt, Brief an Blumenfeld, 16. November, 1953; hier zitiert aus Young-Bruehl, 1986, S. 388. Canovan, 1997, S. 86f.; vgl. auch Schäfer, 1993, S. 32; Arendt hat das Buch, das sie „Totalitäre Elemente des Marxismus“ nannte, als Ergänzung zu Elemente und Ursprünge der totaleren Herrschaft geplant. In der Tat war die projektierte Arbeit zu den totalitären Elementen im Marxismus eine Reaktion auf die Kritik an der ersten Ausgabe des Totalitarismusbuches, die auf die mangelnde Auseinandersetzung mit dem Stalinismus abhob. Aber ihre Argumente über Marx wurden offenbar in Vita activa und in die Aufsatzsammlung Zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgenommen. Dazu siehe Young-Bruehl, 1986, S. 385f.; Ludz, 1993, S. 145. Vgl. BAJ, S. 196; in der Tat fängt Arendt die Marx-Interpretation um einer „Ehrenrettung Marx‟“ willen an (S. 196); „Ich will ihn nicht retten als Wissenschaftler (…) und sicher nicht als Philosophen, wohl aber als Rebellen und als Revolutionär“ (S. 203f.). ZVZ, S. 23; „Marx, der der letzte politische Philosoph des Westens ist und der noch in der Tradition steht, die mit Plato begann, versuchte schließlich, diese Tradition, ihre grundlegenden Kategorien und Hierarchie der Werte, auf den Kopf zu stellen. Mit dieser Umkehrung war die Tradition in der Tat an ihr Ende gelangt.“ (PP, S. 399). ZVZ, S. 24. 201 phie konnte kaum anders kommen als dadurch, daß ein Philosoph der Philosophie den Rücken kehrte, um sie in der Politik zu verwirklichen.“7 Arendts Auffassung zufolge glaubt Marx, dass sich das Reich der Idee nur in der gemeinsamen Welt menschlicher Angelegenheiten verwirklichen lässt, während sich der Philosoph in der abendländischen Tradition der Philosophie um der Verwirklichung der Idee, also des Philosophierens willen, von den menschlichen Angelegenheiten abwandte. Das ist der Hauptpunkt der Marxschen Rebellion gegen die traditionelle Philosophie.8 Die Verweltlichung der Philosophie, oder um mit Hegels Worten zu sprechen, die „Versöhnung des Geistes mit der Wirklichkeit“9 tut sich Marx zufolge durch die Praxis auf. Die These der Verwirklichung der Philosophie durch die Praxis ist der Kernschlüssel zum Verständnis des Marxschen Denkens. Die Verwirklichung der Philosophie bedeutet, „die Idee aus der Sphäre des reinen Denkens in die der Praxis zu überführen, den Zwiespalt zwischen Idee und Wirklichkeit nicht bloß in der philosophischen Erkenntnis sondern in der sinnlichen Praxis aufzuheben.“10 Daher stellt sich das Marxsche Denken, wie Helmut Fleischer mit Recht sagt, als eine „Philosophie der emanzipatorischen Praxis“ dar.11 Damit verbunden bezeichnet Arendt Marx als Antipode der traditionellen Philosophie: „(Marx) war sich klar darüber, daß seine Rebellion gegen die Tradition und gegen Hegel nicht auf seinem Materialismus beruht, sondern einzig auf seiner Weigerung, den Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Leben in die ratio zu setzen, beziehungsweise Hegel darin zu folgen, daß nur der Geist das wahre Wesen des Menschen und die wahre Form des Geistes (…) der denkende Geist ist. Worum es Marx ging, war nicht nur, daß der Mensch unmittelbar Naturwesen, sondern daß er ein tätiges Naturwesen ist.“12 Ungeachtet seiner bewussten Rebellion gegen die philosophische Tradition, nämlich seines Sprungs aus der Theorie in die Praxis, hat Marx Arendts Ansicht zufolge den überlieferten Rahmen der politischen Kategorien nicht verlassen. Vor allem sei das marxistische Ideal, der politische Staat solle verschwinden und absterben13, der definitive Endzustand der harten Feindlichkeit gegen Politik, die sich beständig in der Geschichte westlichen Denkens des Politischen zeigt. Weil Marx den Staat als ein bloßes Werkzeug der Diktatur der herr7 8 9 10 11 12 13 ZVZ, S. 23f. Vgl. Marx, MEW, Bd. 1, S. 384; diese Rebellion von Marx, die Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit zu schließen, erscheint bereits in seiner Dissertation. An dieser Stelle schreibt er, „daß das Philosophisch – Werden der Welt zugleich ein Weltlich – Werden der Philosophie“ werden muss (Marx, 1971, S. 17); dazu siehe Held, 1976, S. 23ff. ZVZ, S. 98 und auch VA, S. 383. Landshut, 1971, S. XX. Fleischer, 1970, S. 183. ZVZ, S. 50. Marx, MEW, Bd. 1, S. 232; vgl. auch VA, S. 57. 202 schenden Klasse auffasst, würde der Staat in der klassenlosen Gesellschaft überflüssig werden. Die Politik ist für Marx eine Art von Herrschaftsinstrument, während die gesellschaftliche Verwaltung die Utopie vom politik- und staatsfreien Zusammenleben ist. Das Absterben des Staates bedeutet für Marx das Ende des Privilegs des Politischen vor dem Gesellschaftlichen. Mit diesem Ende reduziert sich die Politik auf bloße „Verwaltung von Sachen“. 14 Daraus erklärt sich der Grund dafür, warum es bei Marx keine politische Theorie gibt.15 Arendt hält fest: „Es liegt nahe, das Versagen der revolutionären Tradition angesichts der einzigen neuen Staatsform, die aus der Revolution selbst geboren ist, mit Marx‟ vorherrschendem Interesse an der sozialen Frage und seinem kompletten Desinteresse an der Staatsfrage zu erklären.“16 Trotzdem beschäftigt sich Marx auch mit dem Problem der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, das die Schlüsselfrage der politischen Philosophie ist. An die Stelle des abgestorbenen Staates tritt die homogene, klassenlose Gesellschaft als Gattungswesen, wo die absolute Freiheit bei Marx verankert ist. Marx ist schlüssig darüber, wie Arendt feststellt, „daß eine Vergesellschaftung des Menschen automatisch zu einer Harmonisierung der Interessen führen würde“. 17 Den Hintergrund der Betrachtungsweise, „daß ein vollständiger Sieg der Gesellschaft schließlich in das ‚Reich der Freiheit‟ führen würde“18, bildet das älteste Selbstverständnis, Freiheit sei außerhalb der Politik. Um der philosophisch-theoretischen Grundlage der Anti-Pluralität für das Marxsche Denken nachzugehen, konzentriert sich Arendt auf seinen Arbeitsbegriff und dessen Verhältnis zu seinem Geschichtsverständnis. Dabei handelt es sich um die Reduktion der verschiedenen Tätigkeitsweisen auf die Arbeit einerseits und um die Verwechslung und Vermischung der Politik mit Geschichte andererseits. 4.2 Der Doppelcharakter des marxschen Arbeitsbegriffs Die Arbeit ist ein Schlüsselbegriff des Marxschen Denkens. In der Tat kann man sagen, dass der Ansatz von Arendts Handlungstheorie in einer intensiven Auseinandersetzung mit 14 15 16 17 18 Engels, MEW, Bd. 20, S. 262: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen.“ Vgl. Iorio, 2003, S. 307. ÜR, S. 332; für die Blindheit der Staatsfrage unterscheidet sich Marx‟ Denken Arendts Ansicht zufolge von der Vorstellung der Bourgeoisie nicht. Beide erforderten die Identität von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Darauf weist Arendt zu Recht hin: „Immerhin darf bemerkt werden, daß die eigentümliche und oft gerügte Blindheit Marx‟ in der Staatsfrage aufs engste damit zusammenhängt, daß er alles vom Standpunkt der Bourgeoisie aus, wenn auch oft mit umgekehrten Vorzeichen, betrachtete. Sein Staatsbegriff jedenfalls ist mit dem der Bourgeoisie nahezu identisch; er sieht im Staate genau das, was die Bourgeoisie wollte, daß er sei.“ (EU, S. 316, Anm. 33; vgl. EU, S. 719). VA, S. 56. VA, S. 57. 203 Marx‟ Arbeitsbegriff liegt. Ferner liegt die Kritik am Marxschen Arbeitskonzept in der untrennbaren Verknüpfung mit dem Kontext des Arendtschen Gesamtwerkes.19 Auch wenn die Neuzeit mit der Verherrlichung der Arbeit begann, war Marx der einzige, der wirklich an der Arbeit als solcher interessiert war und die Tätigkeit der Arbeit zum Gegenstand der Philosophie machte.20 In seiner Rebellion gegen die Tradition der abendländischen Philosophie definiert Marx: die Arbeit schaffe den Menschen selbst. Die Arbeit ist für Marx nicht nur die Quelle aller Produktivität und Werte, sondern auch der Ausdruck der Menschlichkeit des Menschen. Dass der Mensch sein eigenes Sein und Wesen durch die Arbeit produziert, ist der Kerngehalt der Marxschen Anthropologie.21 Marx formuliert sein Verständnis der Arbeit ausdrücklich in der Deutschen Ideologie: „Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr Leben selbst (…). Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion“.22 Hinsichtlich der Verherrlichung der Arbeit ist die Unterscheidung der verschiedenen Tätigkeitsformen in der marxschen Theorie nicht vorhanden, wie die klassische Philosophie unter dem absoluten Primat der Kontemplation alle verschiedenen Tätigkeitsweisen des Menschen unterschiedslos nur als eine Tätigkeit angesehen hat, den Bedürfnissen eines körperlichen Lebewesens Befriedigung zu verschaffen. Bei der Glorifizierung der Arbeit reduziert Marx alle menschlichen Tätigkeitsweisen auf den Modus der Arbeit. Wenn es Marx um die Praxis geht, verweist sie auf den Begriff der Arbeit.23 Marx` Arbeitskonzept ist durch einen Doppelcharakter gekennzeichnet.24 Marx begreift die Arbeit zuerst im Sinne des sinnlichen Umgangs mit der Natur. Hier geht es um den biologi19 20 21 22 23 24 Vgl. Schindler, 1995, S. 126. Vgl. VA, S. 119. Hinsichtlich der Frage, die zu ersten Themen der abendländischen Philosophie gehört, also die Frage, was es denn eigentlich ist, das den Menschen zum Menschen macht, steht die Marxsche Bestimmung des Menschenbildes als ein arbeitendes Wesen im Gegensatz zur aristotelischen Definition, nach der sich der Mensch durch die Fähigkeit der Sprache vom Tier unterscheidet. Im Hinblick auf die Sprachlosigkeit der Arbeit berücksichtigt diese Anthropologie niemals das Menschensein in der kommunikativen Pluralität (vgl. ZVZ, S. 30). Marx, MEW, Bd. 3, S. 21. Klaus Held stellt mit Recht fest: „Das Leben, zu dem die Philosophie zurückkehrt, heißt daher bei Marx Praxis. Praxis bedeutet ursprünglich im Griechischen Handeln und ist von anderen Arten menschlichen Tätigseins, z. B. der lebenserhaltenden Arbeit, zu unterscheiden. Bei Marx ist Praxis ein umfassender Begriff geworden, der alle Formen menschlichen Tätigseins umfasst. Das heißt aber nicht, daß der Begriff bei Marx nur als Sammeltitel fungierte. Unter den verschiedenen Tätigkeiten, die er bezeichnet, ist nämlich eine Tätigkeit die maßgebende, von der her alle anderen Tätigkeiten interpretiert werden. Diese grundlegende Tätigkeit bezeichnet der Begriff der Arbeit“ (Held, 1976, S. 30f. Hervorheben im Original). „Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert. Alle Arbeit ist andererseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besonderer zweckbestimmter Form, 204 schen Aspekt der Arbeit. In diesem Fall entspricht die Arbeit einer Grundbedingung des menschlichen Lebens selbst: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.“25 Diese marxsche Betrachtungsweise der Arbeit als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur bildet den Hintergrund der Arendtschen Bestimmung der Arbeit.26 Arendt teilt mit Marx, dass die Arbeit nichts anderes als die Tätigkeit von Menschen ist, „ihre Lebensmittel zu produzieren.“27 In diesem Verständnis hält Arendt die Tätigkeit der Arbeit für nicht-politisch, so dass das Potential der Verständigungsverhältnisse nicht aus der Produktivität der Arbeitsverhältnisse hervorgehen könnte, auch wenn der kollektive Arbeitsprozess die Arbeitsproduktivität entwickelt. Arendt schreibt: „Nun kann aber offenbar weder die ungeheuer gesteigerte Produktivität bzw. Fruchtbarkeit des Arbeitens – und Lebensprozesses noch seine eventuelle Vergesellschaftung verhindern, daß die ihnen entsprechenden Erfahrungen privatester Natur bleiben und sich der Mitteilbarkeit ebenso entziehen wie alle sonstigen körperlichen Erfahrungen“.28 Im Gegensatz zum biologischen und physischen Aspekt des Arbeitsbegriffs hat Marx zweitens einen Begriff der teleologischen Arbeit, die „Gebrauchswerte“ produziert. Über die Funktion der Reproduktion des Lebens hinaus stellt die Arbeit die schöpferische Tätigkeit des Menschen dar. An einer Stelle unterscheidet Marx den Baumeister von der Biene hinsichtlich der Kategorie von Wollen und Bewusstsein: „Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich zugehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle im Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.“29 Dann fügt Marx hinzu: „Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt.“30 Diese Arbeit heißt für Marx nun die be- 25 26 27 28 29 30 und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte.“ (Marx, MEW, Bd. 23, S. 21). Marx, MEW, Bd. 23, S. 192. Vgl. VA, S. 16. Marx, MEW, Bd. 3, S. 21. VA, S. 137f. Marx, MEW, Bd. 23, S. 192f. Marx, MEW, Bd. 23, S. 193. 205 wusste und planende Lebenstätigkeit. An anderer Stelle charakterisiert Marx die menschliche Arbeit noch ausführlicher: „Das Tier ist unmittelbar eines mit seiner Lebenstätigkeit. Es unterscheidet sich nicht von ihr. Es ist sie. Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. Er hat bewusste Lebenstätigkeit.“31 Diese Lebenstätigkeit wird in handlungstheoretischer Perspektive von Arendt als das Herstellen verstanden. „Hier spricht Marx offenbar nicht mehr vom Arbeiten, sondern Herstellen, um das er sich sonst nicht kümmert – und der Erfolg ist, daß er das Wort ideell wie von ungefähr benützen muß, und zwar durchaus in der platonischen Prägung.“32 Im Hinblick auf den Doppelcharakter des Arbeitsbegriffs vertritt Arendt die These, dass Marx das Arbeiten mit dem Herstellen identifiziert.33 Durch diese Identifizierung versucht Marx, die Naturalität der Arbeit als der physischen und notwendigen Tätigkeit für die Reproduktion des Lebens zu überwinden. Daraus stellt sich der Praxisbegriff von Marx in der Perspektive des Herstellens dar. Hier folgt Marx ganz dem traditionellen Denken, dass Wissen Tun leitet. Das Bestreben, alle Tätigkeitsweisen durch das Herstellen zu ersetzen, wie Arendt davon überzeugt ist, „ist nicht neu, war aber natürlicherweise niemals so mächtig und bedeutungsvoll wie in den letzten hundert Jahren, da Menschen (…) sich zum ersten Mal wesentlich als arbeitende Wesen verstanden und bestimmten. Dieses neue Selbstverständnis der Menschen fand seinen ersten theoretischen Ausdruck in Marx.“ 34 Arendts Hauptkritik an der Arbeitstheorie von Marx besteht darin, dass er in die alte Versuchung gerät, menschliches Handeln auf das Modell des Herstellens von Gegenständen reduzieren zu wollen.35 Man findet in der Identifizierung vom Arbeiten und Herstellen die Spannung zwischen Materialismus und Idealismus.36 Arendts Ansicht zufolge hält Marx „ganz unbefangen an der kategorialen Interpretation des Handelns als zwecksetzender Tätigkeit eines Subjekts“ fest.37 Die im Sinne des Herstellens verstandene Arbeit hat es immer nur mit einem Subjekt 31 32 33 34 35 36 37 Marx, MEW, Ergänzungsband I, 1974, S. 516. VA, S. 442. Vgl. VA, S. 120. EU, S. 956. Schäfer sieht Arendts Hauptkritikpunkt an Marx bei der Reduktion des Handelns auf das mit dem Herstellen identifizierte Arbeiten. Bei Arendt gehe es darum, „daß Marx Handeln, Praxis, grundbegrifflich nach dem Muster von Herstellungs- oder Produktionsprozessen dachte und folglich Politik nur als instrumentelles und strategisches Handeln begreifen konnte.“ (Schäfer, 1993, S. 45). Vgl. VA, S. 225f.; die Marxsche Kritik an konventionellem Materialismus zeigt sich in der ersten These über Feuerbach: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (…) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt.“ (Marx, MEW, Bd. 3, S. 533. Hervorhebung im Original); vgl. VA, S. 460, Anm. 8. Vollrath, 1977, S. 84. 206 zu tun, weil der Mensch im Prozess des Herstellens seine kontemplativ vorgegebenen Zwecke vergegenständlicht. Die Entäußerung heißt, dass ein innerer Zweck im Prozess der Arbeit in ein äußeres Resultat verwandelt wird. Nun ist die Arbeit für Marx die zentrale Form der Selbstverwirklichung des Menschenwesens. 38 So versteht er Gegenstände, die durch Arbeit produziert sind, als die Entäußerung und Vergegenständlichung des menschlichen Selbst. In dem produzierten Gegenstand schaut der Mensch sich selbst an. Die gegenständliche Entäußerung des menschlichen Wesens bedeutet „die Humanisierung der Natur durch Arbeit“39. Diese Vergegenständlichung des menschlichen Selbst bezeichnet Marx als die menschliche Wirklichkeit. Er sagt: „Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft, die gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte, als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eigenen Verwesenskräfte wird, werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seiner Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände; d.h. Gegenstand seiner selbst.“40 Die Arbeit bildet durch die Entäußerung „die sich selbstverwirklichende Wirklichkeit“. 41 Diese Wirklichkeit durch Selbsterzeugung oder Selbstverwirklichung der Arbeit ist im Ganzen unabhängig von der Gegenwart anderer, während die menschliche Wirklichkeit für Arendt das Resultat des Handelns zwischen Menschen darstellt. Für die Selbstverwirklichung muss man den Preis des Verlusts der weltlichen Wirklichkeit bezahlen. In diesem Licht gesehen, impliziert die marxsche Philosophie der Arbeit den neuzeitlichen enormen Subjektivismus, wo das weltlose Ich das Fundamentalste allen Denkens und aller Erkenntnis ist. In diesem neuzeitlichen Subjektivismus ist der Mensch von einer gemeinsamen Welt entfremdet.42 38 39 40 41 42 Das Konzept dieser Entäußerung in der Arbeit stellt Honneth ausgezeichnet in kurzer Formulierung dar: „Was die zentrale Fähigkeit des Menschen ausmacht, ist die Fähigkeit, sich im Produkt seiner Arbeit zu vergegenständlichen; nur im Vollzug einer solchen Vergegenständlichung erhält das Subjekt die Chance, sich der eigenen Kräfte zu vergewissern und dementsprechend zu Selbstbewußtsein zu gelangen.“ (Honneth, 1995, S. 23). Kallscheuer, 1993, S. 210; für Marx ist Humanismus identisch mit Naturalismus. Er versteht daher Humanismus als „die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen und der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.”(Marx, 1971, S. 235. Hervorhebung im Original). Marx, 1971, S. 241. Hervorhebung im Original. Vollrath, 1969, S. 243. „Was man gewöhnlich als den Subjektivismus der modernen Philosophie bezeichnet, kann man auch als die im Begriff vorweggenommene Artikulation der Weltentfremdung moderner Menschen sehen.“ (ZVZ, S. 66). 207 Da Marx in der Tätigkeit der Arbeit die Selbstverwirklichung der Menschennatur sieht, gilt ihm der Verlust dieses Charakters der Arbeit als Entfremdung von sich selbst. 43 Diese Selbstentfremdung lässt sich für Marx durch Rückkehr auf sich selbst aufheben. Marx formuliert: „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums, als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen.“44 Die Überwindung dieser Selbstentfremdung läuft Arendts Ansicht zufolge vielmehr auf die Weltentfremdung hinaus. Arendt meint: „Die Weltentfremdung der Neuzeit ist eingedrungen in die Politik mit Marx, der von der Selbstentfremdung des Menschen spricht. Entscheidend ist, daß Marx die Welt nur verändern wollte, um den Menschen zu erlösen, und zwar von der Welt. Der Mensch sollte soviel Zeit wie nur möglich für sich selbst, für sein Selbst und dessen Entwicklung haben; dies war der Begriff von Freiheit. Dies der Marxsche Humanismus.“45 4.3 Das Gattungswesen als die Einheit zwischen Gesellschaft und Individuum Wenn die Arbeit als die selbstbezogene Tätigkeit bestimmt ist, lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Assoziation und Arbeit stellen. Anders gesprochen wird die Grundsatzfrage aufgeworfen, welche Rolle die Arbeit als „die wenigst weltliche aller menschlichen Tätigkeiten“ 46 für die soziale Integration überhaupt noch spielen kann. In ihrem Denktagebuch fragt Arendt wie folgt: „Der Mensch als der arbeitende Produzent seiner Welt, die ihm durch die Menschen (die Gesellschaft) aus der Hand geschlagen wird, pervertiert in die gespenstische Gegenständlichkeit. Dies impliziert, dass nur das Subjekt einer Tätigkeit menschlich ist und dass Menschen, insofern sie nicht nur und nicht wesentlich als Subjekte von Tätigkeiten zusammen sind, dieses Tätig-sein pervertieren. Wie aber sollen Menschen als reine tätigende Subjekte je anders zusammen kommen, wenn ihre Tätigkeit (Arbeit) immer dem eigenen Bedürfnis ursprünglich entspringt und nur sekundär – Tausch - sich auf den Andern richtet, nämlich nur insofern das vom Andern Produzierte benötigt wird?“47 Aber für Marx ist die Arbeit als das gesellschaftliche Gattungswesen des Menschen gedacht. In den elf Thesen über Ludwig Feuerbach schreibt Marx: „Aber das 43 44 45 46 47 Zum Konzept der Selbstentfremdung, Marx, MEW, Ergänzungsband I, 1974, S. 515. Marx, 1971, S. 235. Hervorhebung im Original. WP, S. 192. VA, S. 120. DTB, S. 75f. Hervorhebung im Original. 208 menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“48 Das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, welches das menschliche Wesen ausmacht, ist für Marx das Gattungsleben als Kollektivsubjekt gesellschaftlicher Arbeit. „Der vollendete politische Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen“.49 Wenn Marx über die „gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit oder Produktivkräfte gesellschaftlicher Arbeit“50 spricht, fasst er sie unter dem Begriff einer Entwicklung des „Gattungsvermögens“51 zusammen. Dieses Gattungsvermögen ist mehr als die Summe individueller Arbeiten. Indem Marx die menschliche Gattung als Subjekt der Arbeit bestimmt, versucht er den Gegensatz von Gesellschaft und Individuum aufzulösen und einen Bildungsprozess des menschlichen Zusammenseins aufzustellen. „Der Mensch ist ein Gattungswesen, nicht nur indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigene als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegenstand macht, sondern – und dies ist nur ein anderer Ausdruck für dieselbe Sache –, sondern auch indem er sich zu sich selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält.“52 Die Gattung stellt die Allgemeinheit dar. Die Gattung ist, wie Herbert Marcuse sagt, „das in allen Besonderheiten sich als dasselbe erhaltende Allgemeine“.53 Nur in der Gattungsallgemeinheit sei der einzelne Mensch ein universelles Wesen. Hier taucht, wie wir gesehen haben, Rousseaus Annahme vom Allgemeinen in jedem Besonderen auf. Wie der Gemeinwille Rousseaus stellt das Gattungsleben die Harmonie von bürgerlichem und privatem Leben sicher. In der Tat zitiert Marx Rousseau in der Schrift Zur Judenfrage, hier meint er, die Vollkommenheit der Gattung sei „Zurückführung der menschlichen Welt (…) auf den Menschen selbst.“54 Bei dieser Zurückführung streitet Marxens Bürger wie Rousseaus Bürger zwischen zwei Willen, also zwischen einem unwahren und einem wahren. Das Individuum wird durch die Selbstbeherrschung über seinen unwahren Willen zum Gattungswesen, das „der sozialisierte Mensch“ 55 oder „die vergesellschaftete Menschheit“ 56 ist. Das Individuum als Gattungswesen repräsentiert die Menschheit. 48 49 50 51 52 53 54 55 Marx, MEW, Bd. 3, S. 6. Marx, MEW, Bd. 1, S. 354; zur Interpretation des Gattungswesens bei Marx siehe Vollrath, 1971, S. 306ff. Marx, MEW, Bd. 23, S. 349. Marx, MEW, Bd. 23, S. 349: „Im planmäßigen Zusammenwirken mit anderen streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“ Marx, MEW, Ergänzungsband I, 1974, S. 515. Marcuse, 1969, S. 20; vgl. Vollrath, 1971, S. 316. Marx, 1971, S. 199. Marx, 1971, S. 47. 209 In der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte und somit in der Entstehung der „bürgerlichen Gesellschaft“ sieht Marx die Gefahr für den Zerfall der Einheit des Gemeinwesens. Marx geht es in der Tat um die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung. Für Marx gilt es „das wirkliche widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituieren“.57 Die Überwindung der Aufspaltung der bürgerlichen Gesellschaft fällt mit dem Gattungswesen zusammen. Wie sich in Marxens These zeigt, das menschliche Gattungsvermögen entwickele sich durch die individuelle Arbeit, wollte Marx durch das Konzept der gesellschaftlichen Arbeit und durch den Kollektivsubjektsbegriff der Arbeit den Egoismus des Individuums liquidieren und zugleich auf eine Einheit von Individuum und Gesellschaft hinführen. Im menschlichen Gattungsleben ersetzt sich die bürgerliche Gesellschaft durch „die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit“58. Die menschliche Befreiung gelingt, wenn der einzelne Mensch Gattungswesen wird: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch (…) in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine forces propres als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“59 Um das Leben des Individuums in Verbindung mit dem Gattungsleben zu bringen, bedarf es „wahrlich keiner anderen spezifisch menschlichen Vermögen als die Arbeit“, denn „das Einzelleben ist dem Gattungsleben eingefügt durch die Arbeit, die die Erhaltung des Eigenlebens und das der Familie besorgt.“60 Der politisch-staatliche Bereich ist zweifellos völlig überflüssig, wenn sich das Gattungswesen als die Vereinigung von Individuum und Gesellschaft voll verwirklichen kann. Dieser Endzustand sei, wie Kallscheuer bemerkt, kein politischer mehr, sondern ein existentieller und ein gesellschaftlicher.61 Es ist kein Zufall, dass Marx „das Gattungsleben selbst“ als „die Gesellschaft“ bezeichnet. 62 Nur im Gattungsleben lassen sich die Pluralität und die ihr entsprechende Politik als „Spiegelbild der Schwäche der menschlichen Natur“63 überwältigen. Damit verbunden ist diese Vereinigung von Individuum und Gattung durch Arbeit der vollkommene Ausdruck des Naturalismus, so dass 56 57 58 59 60 61 62 63 Marx, MEW, Bd. 3, S. 535. Marx, 1971, S. 184. Marx, MEW, Bd. 3, S. 7. Marx, 1971, S. 199. VA, S. 409. Kallscheuer, 1993, S. 208. Marx, 1971, S. 194. PP, S. 399. 210 menschliche Geschichte ein wirklicher Teil der Naturgeschichte sei.64 Arendt stellt im Folgenden fest: „Erst wenn die Menschen nicht mehr als Privatpersonen handeln, die um ihr eigenes Leben und Überleben besorgt sind, sondern, wie Marx zu sagen pflegte, als Gattungswesen, für welche die Reproduktion ihres individuellen Lebens aufgeht im Lebensprozeß des Menschengeschlechts, kann der kollektive Lebensprozeß einer vergesellschafteten Menschheit sich nach den Gesetzen einer ihm inhärenten Notwendigkeit entfalten, d.h. den Automatismus der Fruchtbarkeit in dem doppelten Sinn loslassen, der ungeheueren vervielfältigenden Vermehrung von Einzelleben und einer entsprechend ungeheuer vervielfältigenden Vermehrung von Konsumgütern.“65 Durch die Arbeit wird der Einzelne zugleich selbstverwirklicht und vergesellschaftet, weil der Mensch „in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen“ oder „Gattungswesen“ wird.66 Es gibt „ontologisch keine Dimensionsdifferenz zwischen Gattung und Individuum“.67 Bei Marx liegt der einzige Weg zur Überwindung der Selbstentfremdung eigentlich im vollendeten Gattungsleben.68 Der Begriff des Gattungswesens als das Medium der vergesellschafteten Menschen hat daher nichts mit der menschlichen Pluralität zu tun. Der Mensch als Gattungswesen äußert „die bloße „Multiplizität von Gattungsexemplaren, die einander bis zur Austauschbarkeit gleichen, insofern sie nämlich lediglich in ihrer Eigenschaft als lebende Organismen sind, was sie sind.“69 Das Gattungswesen ist die bloß unendlich erweiterte Einzelheit. Die Verschmelzung der Vielen in ein natürliches Gattungswesen bedeutet die totalitäre Aufhebung sowohl der Individualität als auch der Pluralität, die sich nur durch das politische Handeln herausbilden lassen. 4.4 Identifizierung des Politischen mit „Geschichtemachen“ Aus handlungstheoretischer Perspektive übt Arendt Kritik nicht nur am Arbeitsbegriff von Marx, sondern auch an seiner Geschichtsauffassung. Sie vertritt die These, dass es den totalitären Kern des marxschen Denkens im Verständnis der Geschichte gibt, dass man Geschichte machen könne. Die Machbarkeit von Geschichte wird im Sinne eines herstellenden 64 65 66 67 68 69 VA, S. 409. VA, S. 136. Marx, 1971, S. 235; vgl. ZVZ, S. 385. Kallscheuer, 1993, S. 208. „Bei Marx ist (…) gerade die Differenz der Ort der Entfremdung; aus der Entfremdung befreit man sich durch die Reduktion der Differenz auf die Identität und durch die Auflösung des Individuums in der versöhnten Gemeinschaft, also in der Gattung Mensch, die endlich Eins geworden ist.“ (d‟Arcais, 1993, S. 46). VA, S. 271. 211 Verfahrens begriffen: „Daß man aus Marx eine totalitäre Ideologie entwickeln konnte (…), hat letztlich seinen Grund in diesem Grundmißverständnis, das Marx, sofern er Handeln und Herstellen identifizierte, großenteils aus einer bereits populär gewordenen Tradition des Denkens übernahm und intensivierte.“70 Wenn Marx in Anlehnung an Hegel die Arbeit „als Selbsterzeugungsakt des Menschen“71 und zugleich im Gegensatz zu Hegel die Geschichte „als Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit“72 versteht, gehören Geschichte und Arbeit bei Marx zusammen. Die Verbindung der Geschichte mit der Arbeit, also das Verständnis der „Geschichte als der vom Menschen gemachten Geschichte, die eng mit seiner Auffassung von Arbeit verbunden ist“73, ist das spezifische Kennzeichen der Geschichtsphilosophie von Marx.74 Die neuzeitliche Geschichtsphilosophie versteht den Geschichtsprozess als „geheime, hinter dem Rücken der handelnden Menschen wirkende Kräfte, durch welche der jeweilig greifbare Vorgang und das zutage tretende Ereignis Bedeutung und Sinn erhalten“.75 Dieser Ansatz der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie ist ohne Hegel nicht denkbar.76 Für die moderne Geschichtsphilosophie macht Hegel den entscheidenden Schritt, indem er die gesamte Weltgeschichte als einen realen, vom philosophischen Betrachter prinzipiell unabhängigen Prozess der Verwirklichung der Vernunft ansieht. Allein mit dem betrachtenden Blick des Philosophen lässt sich „der allen Handelnden unbewusste, eindeutige Zweck“ 77 der Geschichte erkennen. Für ihn gibt es den Geschichtsprozess, der von der Entfaltung historischer Gesetzmäßigkeiten beherrscht wird.78 Die menschliche Geschichte hat ihre Bedeutung nur in der Enthüllung des absoluten Geistes und gehört zu einem „unheimlich einheitlichen Ganzen“.79 Damit werden die menschlichen Angelegenheiten dem geschichtlichen Gesetz und dem Geschichtsprozess als vorgefasst zielgerichtetem Gesamtprozess unterworfen. Hegel reduziert „die Politik auf die Geschichte“ und zugleich „die Geschichte auf die metaphysische Philosophie“.80 Er spricht im Folgenden: „Es kommt nichts Anderes heraus, als 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 Arendt, Gestern waren sie noch Kommunisten, in: IG, S. 232; zur Marxschen Geschichtsphilosophie siehe vor allem den Aufsatz Geschichte und Politik in der Neuzeit, in: ZVZ, S. 80-109. Marx, 1971, S. 281. Marx, 1971, S. 247f. Arendt, Antrag auf Guggenheim-Stipendium, 1952; zit. nach Heuer, 1987, S. 52. Emil Angehrn weist darauf hin, dass Marx eine Kritik und zugleich eine bestimmte Weiterführung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie übernimmt. Den Grund dafür sieht er darin, dass Marx dem geschichtsphilosophischen Verständnis von Hegel verhaftet ist (Angehrn, 1991, S. 105ff.). ZVZ, S. 80. Nach Arendts Auffassung ist das gesamte neuzeitliche Geschichtsbewusstsein von Hegels Überzeugung geprägt, „daß Wahrheit dem Zeitprozeß selbst innewohne und in ihm sich offenbare.“ (ZVZ, S. 87). ZVZ, S. 98. Vgl. ÜR, S. 63f.; vgl. DU, S. 77f. WE, S. 49. Parekh, 1981, S. 42. 212 was schon vorhanden war.“81 In solchem geschichtsphilosophischen Verständnis von Hegel findet Hannah Arendt eines der wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zu einer Wiederherstellung des politischen Handelns, weil die Freiheit des politischen Handelns nur dadurch möglich ist, dass die zukünftigen Handlungen jetzt nicht gewusst werden und dass es einen Neuanfang gibt.82 Gäbe es den objektiven geschichtlichen Prozess, dann würde das Handeln überflüssig. Im Hinblick auf dieses Verständnis der Geschichte kritisiert Marx allerdings Hegel, indem er den Geschichtsprozess mit der konkret-historischen Praxis verknüpft. Die Originalität des Marxschen Verständnisses der Geschichte besteht darin, dass er die von „Hegel nur erschauten höheren Ziele des geschichtlichen Prozesses in unmittelbar geplante Endzwecke politischen Handelns“ umdeutet.83 Erst in der Marxschen Vorstellung wird die Geschichte menschlich und „säkular“84. Nicht die Geschichte selbst, sondern die menschlichen Subjekte werden als der rationelle Kern der mystifizierten geschichtlichphilosophischen Subjekte aufgefasst: „Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“85 Marx sagt eindeutig: „Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie kämpft keine Kämpfe! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die Geschichte, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.“86 In Die deutsche Ideologie bezeichnet Marx „die Wissenschaft der Geschichte“87 als Darstellung der praktischen Betätigung. Die erste Voraussetzung aller Geschichte ist ihm zufolge, „daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um Geschichte machen zu können.“88 An anderer Stelle drückt sich der direkte Einwand gegen das Hegelsche Verständnis der Geschichte aus: „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h., es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.“89 81 82 83 84 85 86 87 88 89 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie; zit. nach MG, S. 165. Vgl. ÜR, S. 64. ZVZ, S. 97. Parekh, 1981, S. 42. Marx, MEW, Bd. 3, S. 535. Marx, MEW, Bd. 2, S. 98. Hervorhebung im Original. Marx, MEW, Bd. 3, S. 18. Marx, MEW, Bd. 3, S. 28. Hervorhebung im Original. Marx, MEW, Bd. 3, S. 26. 213 Die marxsche Geschichtsauffassung ist in der Tat die Entsprechung für die Aporie, die zwischen der Forderung nach der Objektivität der Geschichte und der nach der Humanisierung der Geschichte entsteht. Dieses Problem wollte Marx Arendt zufolge durch den Versuch lösen, „den Menschen als tätig handelndes Wesen zu verstehen, das heißt ihn zu politisieren“.90 Wenn Marx betont, die Entwicklung der Geschichte beruhe nicht auf der Interpretation der Welt, also auf dem Betrachten der absoluten Geschichte, sondern vielmehr auf der Praxis, die Welt verändern zu wollen,91 scheint Marx „den Ansatz einer Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“92 zu übernehmen. Aber die Lösung der oben erwähnten Aporie findet Marx schließlich im Begriff der gemäß dem objektiven Gesetz machbaren Geschichte. Wenn er das Handeln nur als „ein Geschichte-Machen“93 fasst, impliziert das die Grundüberzeugung, dass sich die Geschichte in der objektiven Struktur- und Prozesslogik des sozial-historischen Geschehens vollzieht; die Menschen treten als die Darsteller dieser gesetzmäßigen Geschichte ganz zurück, wenn Marx die gesamte menschliche Geschichte der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft aus dem „eisernen Gesetz historischer Notwendigkeit“94 erklärt. Wie Marx im Vorwort von Kapital betont, geht es ihm „um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen“.95 Nun begreift sich Geschichte bei Marx als gesetzmäßiger Entwicklungsprozess der Gesellschaft wie der Natur. Dieses Geschichtsverständnis von Marx ist in einer Aussage deutlich ausgedrückt, die Engels am Grabe von Marx machte: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“.96 Wie in der Natur existieren in der Geschichte allgemeine, wesentliche und notwendige Zusammenhänge. In dieser Voraussetzung ist die Praxis auf die selbstbezogene Ausführung eines Vorgegebenen eingeschränkt. Nach den vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten ist Geschichte machbar. In diesem Geschichtsbegriff erliegt Marx der „älteste(n) Sünde aller politischen Philosophie des Abendlandes“ 97. Kurz gesagt unterscheidet sich Marx nur im Blick auf die Praxis als ein Mittel zur Vollendung des vorgestellten Zwecks von Hegel, aber er verbindet sich im Verständnis der geschichtlichen Zweckmäßig- 90 91 92 93 94 95 96 97 ZVZ, S. 97; vgl. VA, S. 229. Vgl. Marx, MEW, Bd. 3, S. 535. Habermas, 1971, S. 234. ZVZ, S. 97. ÜR, S. 79. Marx, MEW, Bd. 23, S. 12. Marx, MEW, Bd. 19, S. 335. ZVZ, S. 98. 214 keit mit ihm. Diese widersprüchliche Geschichtsauffassung nennt Arendt „Marx‟ Tragödie“98 für seinen Praxisbegriff. Ausgehend vom im Sinne des Herstellens verstandenen Arbeitsbegriff fällt die Praxis mit der Gesetzmäßigkeit der Geschichte reibungslos zusammen. Wenn die Geschichte als das Produkt einer Herstellung aufgefasst wird, ist „nun das Subjekt, der Hersteller, weder der einzelne Mensch noch die zusammenhandelnden Menschen“, sondern „entweder ein hinter ihrem Rücken waltender Geist oder die Menschheit im ganzen.“99 Für Marx ist Praxis immer vom Erkennen der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig. Daher wird die Geschichte als „bewusstes Machen“100 verstanden. An die Stelle des Handelns setzt sich der dem Herstellen eigentümliche Begriff von Wollen, das identisch mit Kenntnis der Zukunft und des gesetzmäßigen Prozesses der geschichtlichen Entwicklung ist.101 Die marxsche Politisierung der Geschichte läuft daher auf Politik des Willens hinaus. Zum Wesen der teleologischen Auffassung des historischen Prozesses gehört es, „daß der Einzelne oder das Besondere nur dann und nur dadurch sinnvoll sein können, daß sie als bloße Funktionen verstanden werden.“102 In der Vorstellung der gesetzmäßigen Geschichte wird „die Vielheit der Menschen in ein Menschenindividuum zusammengeschmolzen.“103 Der Konzeption der die Geschichte machenden Praxis fehlt ein Begriff vom Handeln, das auf der menschlichen Pluralität beruht. In diesem Verständnis der Geschichte gibt es totalitäre Elemente, „die Menschen gleichsam aus der Geschichte des Menschengeschlechtes zu eliminieren.“ 104 Mit dieser Eliminierung verliert der marxsche Geschichtsbegriff seinen fundamental politischen Charakter. Da Arendt dagegen die Geschichte im Mithandeln und nicht in transzendentalen Ideen und Gesetzen fundiert, ist die Geschichte für sie „ihrem Wesen nach politisch“.105 Arendt argumentiert, es gebe in Marx‟ Verständnis der Geschichte „nicht die vielen Menschen, deren Miteinander – und Gegeneinanderhandeln schließlich zu Geschichte als Ergebnis führt.“106 Der Glaube, die Geschichte sei machbar, ignoriert für Arendt das Wesen des politischen Handelns. Der Grund dafür, dass die Geschichtsauffassung von Marx in der Vollendung des hegelschen Geschichtskonzepts endet, besteht darin, dass er die Aporie des Handelns durch das 98 99 100 101 102 103 104 105 106 DTB, S. 95. ZVZ, S. 108. Angehrn, 1991, S. 106. Vgl. Kolakowski, 1974, S. 23f. ZVZ, S. 81. WP, S. 12. EU, S. 734. VA, S. 230; zum Studium über Arendts historisches Denken siehe Vowinckel, 2001; Althaus, 2000. IWV, S. 97. 215 Herstellen überwältigen wollte. Aus dem „teleologischen Geschichtsgesetz“ möchte Marx bestimmte Direktiven und Garantien für die Zufälligkeit des menschlichen Handelns gewinnen.107 Dabei teilt Marx mit der traditionellen Philosophie die unaufhörliche Bemühung, die dem menschlichen Handeln anhaftenden Gefahren der Zufälligkeit zu überwinden.108 Vor diesem Hintergrund verbindet Marx den absoluten Zweck des geschichtlichen Prozesses mit dem gewollten Endzweck politischen Handelns. In diesem Endzweck verwirklicht sich „die siegreiche Überwindung der Zufälligkeit des Lebens.“ 109 Das bedeutet die Abschaffung des politischen Handelns selbst und damit der Freiheit.110 Hätte die Geschichte vorgegebene Ziele, gäbe es das sichtbare Ende der Geschichte. In Marx‟ Geschichtsphilosophie erreicht der Prozess der Geschichte das Ende, wenn der geschichtliche Zweck verwirklicht wird. Dieser Gedanke impliziert die Vorstellung des Fortschritts der Geschichte. Marx zufolge stellt sich der definitive Fortschritt der Geschichte in der klassenlosen Gesellschaft dar. Die Idee des Endes der Geschichte verweist in der Tat darauf, dass Marx die Geschichte im Sinne der Herstellung sieht. Dass es einen Anfang und ein definitives, voraussagbares Ende gibt, gehört zum von anderer Tätigkeit unterschiedenen Merkmal des Herstellens.111 Der Herstellensprozess schließt sich mit der Realisierung des Endziels ab. Der Traum vom Ende der Geschichte trägt totalitäre Züge. „Es ist typisch für totalitäres Denken, an einen Endkampf in der Geschichte zu glauben.“112 Im Gegensatz zur marxschen Geschichtsauffassung lehnt Arendt kategorisch alle Konzepte vom Ende der Geschichte ab. Die Geschichte, die sich aus dem Zusammenhandeln ergibt, hat kein Endziel. In einer kurzen Formulierung sagt Arendt: „Die Geschichte kennt keine Endgültigkeit; die Geschichte, die sie uns erzählt, hat viele Anfänge, aber kein Ende.“113 Das Ende der Geschichte bedeutet für Marx die Verwirklichung der politiklosen Gesellschaft. Marx erklärt die geschichtliche Entwicklung aus dem Klassenkampf, der auf dem entgegengesetzten, widerstreitenden Klasseninteresse beruht. 114 Für ihn wird Politik als „Klassenpolitik“115 bezeichnet. Wenn Politik auf Klassenkämpfe116 oder Klassenherrschaft 107 108 109 110 111 112 113 114 115 Vgl. Topitsch, 1958, S. 255 und 252. Vgl. VA, S. 278, vor allem S. 292; Topitsch, 1958, S. 254. Kolakowski, 1974, S. 25; vgl. Marx, 1971, S. 235. Vgl. ZVZ, S. 97; in ähnlichem Sinne bemerkt Erich Christian Schröder: „Alle Vorstellungen, nach denen die Politik die Bewerkstelligung geschichtlicher Endzwecke und der Vollzug geschichtlicher Gesetze sein soll, tendieren daher im Grunde auf eine Abschaffung des Handelns und damit der Freiheit und der Politik, ja der Geschichte selbst, wie es sich bei Marx ganz deutlich zeigt.“ (Schröder, 1969, S. 131f.). Vgl. VA, S. 169. IG, S. 235. IG, S. 235. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ (Marx, MEW, Bd. 4, S. 462). Negt/Mohl, 1985, S. 483. 216 zurückgerechnet wird, dient sie paradoxerweise als ein Mittel, um sich selbst aufzuheben, weil die Vollendung der Geschichte in der klassenlosen Gesellschaft, wo es keine Klassenkämpfe mehr gibt, nur die Selbstaufhebung des Politischen als des Klassenkampfs ist. Das Ende der Geschichte ist also „Abschaffung der Politik durch Politik“.117 Schließlich endet die Politisierung der Geschichte in der Entpolitisierung der Politik. Arendt konstatiert: „Alle Theorien, in welchen Handeln als Geschichte – Machen, und also als Herstellen, verstanden wird, führen letztlich zu der in Marx‟ Werk so klar ersichtlichen Konsequenz, in einer so oder anders beschaffenen, endgültig festgelegten Gesellschaftsordnung das Handeln, und damit das eigentlich Politische im Menschen, abzuschaffen. Die totalen Herrschaftssysteme, die Tyranneien und Diktaturen unseres Jahrhunderts, sind gerade deshalb so zerstörerisch, weil sie aus dieser Gesinnung entstanden sind und dies letztlich bezwecken.“118 116 117 118 „Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.“ (Marx, 1971, S. 523). WP, S. 197. ZVZ, S. 109. 217 IV. Politik und Pluralität 1. Identität und Pluralität Im Hinblick auf die moderne Krise der Politik gehört das Bestreben, das Politische in der menschlichen Pluralität zu begründen, zum Kernpunkt der Arendtschen „Rehabilitierung der Politik“.1 Es ist der originale Pluralitätsgedanke Arendts, dass Menschen durch das politische Handeln ihre Identität entfalten und zugleich die gemeinsame Welt gestalten und bewahren. Arendts Pluralitätstheorie unterscheidet sich daher von den Pluralismustheorien, die „den erheblichen Spannungen zwischen der Macht der Verbände und der Ohnmacht des einzelnen Bürgers zu wenig Aufmerksamkeit schenken“.2 Im Folgenden versuchen wir, das Verhältnis des Politischem und der Pluralität aufzuzeigen. Die Pluralität ist für Arendt der handlungstheoretische Begriff. Deshalb stellt das politische Handeln die Grundlage für die Individualität und Integration dar. Insofern kann man diese Pluralität als offene Pluralität ansehen. Die Frage ist, auf welche Art und Weise das politische Handeln Selbst und Welt miteinander verbindet und damit die plurale Einheit ermöglicht. 1.1 Gleichheit und Differenz Arendt begründet den Begriff Pluralität zuerst in der ontischen Tatsache, „daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern.“3 So stehen die Natalität und Pluralität in so engem Zusammenhang, dass Pluralität „auf dem alles menschliche Zusammensein begründenden Faktum der Natalität“ beruht.4 Die menschliche Mehrzahl oder die quantitative Pluralität wurzelt im biologischen Vorgang der Geburt, also „in der Tatsache, daß Menschenwesen, neue Menschen, wieder und wieder durch Geburt in der Welt erscheinen.“5 Ausgehend davon, dass das Geborensein des Menschen die existenzielle Voraussetzung für die Pluralität ist, hat die Pluralität zwei entgegengesetzte Eigenschaften, die der Natalität innewohnen: Gleichheit und Verschiedenheit. In der menschlichen Geburt drückt sich dieses paradoxe Verhältnis aus, also sind wir gleich und zugleich unterschiedlich. In der Geburt sind „zwar alle 1 2 3 4 5 Gebhardt, 2004b, S. 306; Benhabib erläutert zu Recht im Folgenden: „Die Entdeckung der menschlichen Pluralität wird Arendt in die Lage versetzen, an den Begriffen des menschlichen Handelns und der menschlichen Identität sowie schließlich der Kategorie der Welt grundlegende Änderungen vorzunehmen.“ (Benhabib, 1998, S. 96). Schmidt, 2000, S. 236. VA, S. 17. VA, S. 217. DW, S. 206. 218 dasselbe“ als Menschen.6 Diese gleichartige Pluralität bezeichnet Arendt als die Voraussetzung für das kommunikative Handeln: „Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird.“7 Andererseits impliziert das Geborenwerden die Tatsache, „daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.“8 In die Welt werden Menschen als Einzelne, die einmalig, unverwechselbar und unwiederholbar sind, hineingeboren. Kommunikatives Handeln zwischen Menschen wird durch ihre Gemeinsamkeit möglich, aber auch wegen ihrer Unterschiedlichkeit geradezu notwendig. Die grundlegende Differenz zwischen den Menschen, die sich aus der Geburt an sich ergibt, bedeutet eine andere Vorbedingung der Pluralität. Darüber hinaus ist die Anerkennung dieser gebürtlichen Differenz die Grundlage für die Pluralität. Von der Bedeutung der Verschiedenheit spricht Arendt: „Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung; eine Zeichen- und Lautsprache wäre hinreichend, um einander im Notfall die alten gleichen, immer identisch bleibenden Bedürfnisse und Notdürfte anzuzeigen.“9 Arendt geht noch weiter. Wie wir schon erwähnt haben, geht Natalität bei Arendt über ein verborgenes privates Faktum hinaus. In einem zentralen Sinne zeichnet die Natalität das weltbezogene Handeln aus, das wiederum die individuelle Einzigartigkeit und die spezifisch menschliche Pluralität hervorbringt. In diesem Zusammenhang unterscheidet Arendt die Besonderheit, Verschiedenheit und Einzigartigkeit voneinander. Die Besonderheit gehört zu jedem einzelnen Exemplar einer Gattung. Solche Besonderheit ist allem Seienden eigen. Im Unterschied zur Besonderheit gründet sich die Verschiedenheit in lebendigen Prozessen. Als Spezifikum des organischen Lebens10 ist die Verschiedenheit die Vorbedingung der Pluralität. Von der Verschiedenheit unterscheidet Arendt die spezifisch menschliche Einzigartigkeit, die durch die aktive Artikulation der Verschiedenheit entsteht.11 Die Einzigartigkeit sei nicht so sehr ein Tatbestand bestimmter Qualitäten oder entspreche nicht der einzigartigen Zusammensetzung bereits bekannter 6 7 8 9 10 11 VA, S. 17. VA, S. 213. VA, S. 17. VA, S. 213. Vgl. Bösch, 1999, S. 571. Vgl. VA, S. 214. 219 Qualitäten in einem Individuum, sondern beruhe vielmehr auf der Differenzierung von anderen durch das Sprechen und Handeln.12 Die Differenzierung heißt sich selbst entwerfen. „Die Differenzierung ist Vollzugsmoment der Pluralität.“13 Das Handeln ist der Vorgang der Differenzierung. Durch das Handeln entsteht etwas, was vorher noch nicht existierte. Das Handeln bedeutet daher die „Geburt des Jemand“.14 Mit dieser Auffassung wird der diskursbedingte und anti-essentialistische Charakter der Pluralität verständlich gemacht. Die Pluralität stellt für Arendt die Vielzahl des einzigartigen Jemand dar: Die „menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.“15 Im Sinne, dass die Pluralität der Effekt des menschlichen Handelns und Sprechens ist, gilt die Pluralität für den handlungstheoretischen Begriff: „Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins; Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, er realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.“16 Nun geht „die angeborene Pluralität“17 zur politischen Pluralität über. Entscheidend dafür ist die öffentliche Welt, wo sich zwischen Menschen bildet. Politisches Handeln produziert Strukturen, die gleichzeitig die Bedingungen für weiteres Handeln festlegen. Es schafft neue Beziehungen und Realität. Das ist die gemeinsame Welt einzigartiger Wesen: „Menschen im eigentlichen Sinn kann es, mit anderen Worten, nur geben, wo es Welt gibt, und Welt im eigentlichen Sinn kann es nur geben, wo die Pluralität des Menschengeschlechts mehr ist als die einfache Multiplikation von Exemplaren einer Gattung“.18 In diesem Zusammenhang bilden Menschen selbst durch das politische Handeln die Bedingung der Pluralität, also Einzigartigkeit des Individuums und die gemeinsame Welt. So ist Arendts Pluralitätsbegriff das konstitutive Prinzip der Beziehung zwischen dem einzigartigen Individuum und der gemeinsamen Welt. Im Hinblick auf diese fundamentale Annahme der Pluralität gewinnt Politik identitätsbildende wie weltbildende Dimension. 12 13 14 15 16 17 18 VA, S. 217; „Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift, aber nicht in dem Sinne, daß es dafür eines besonderen Entschlusses bedürfte“ (VA, S. 214). Bösch, 1999, S. 571. VA, S. 217. VA, S. 214. VA, S. 217. DTB, S. 768. WP, S. 106. 220 Im Phänomen des Totalitarismus zeigt sich das Verhältnis der politischen Welt zur Einzigartigkeit des Individuums am klarsten. Wie gesehen, wird die individuelle Einzigartigkeit nur in der Öffentlichkeit erreicht, also nur im Bezugsgewebe mit anderen. Differenzierung wird daher erst durch die Teilhabe an der Öffentlichkeit politischer Diskurse herausgebildet. Totale Herrschaft zielt auf die Vernichtung der Öffentlichkeit und damit der Individualität ab, indem sie jeden Menschen auf eine sich immer gleichbleibende Identität von Reaktion reduziert. Vor allem in dem Konzentrationslager ist die Pluralität Arendt zufolge aufs extremste zerstört. Der Zweck des Konzentrationslagers besteht endgültig darin, alle Menschen zu den „gleichen Bestien“ zu machen.19 Dort ist die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der menschlichen Person überflüssig, so dass jeder durch andere ersetzt werden könnte. Die „Zerstörung der Individualität“20, die identisch mit der Ertötung der Fähigkeit des Menschen ist, mit anderen zu handeln, fällt mit der Abschaffung der öffentlichen Welt zusammen. Zusammenfassend lässt sich die Arendtsche emphatische Hervorhebung der Einzigartigkeit im politischen Handeln keineswegs nicht als die Forderung nach dem politischen Elitismus verstehen, sondern als eine Kritik an der modernen homogenen Gesellschaft. Bei Arendt geht es um die Gefahr einer alle Unterschiede einreißenden Gesellschaft, die die Bedingungen des Politischen zerstören würde. Diese Gesellschaft negiert die Differenz der Individuen, indem sie jeden Menschen zum leistungsorientierten Wesen macht. 21 Im Gegensatz dazu geht es bei Arendts Konzept der Pluralität um das Prinzip des Verbindens und Trennens, also um die Dialektik von Gemeinsamkeit und Differenz.22 Individualität und gemeinsame Welt erscheinen nicht als Gegensätze, sondern als gegenseitige Voraussetzungen. Das Verbinden und Trennen können sich Arendts Ansicht zufolge nur durch das Handeln im politischen Raum vollziehen. 1.2 Der handlungstheoretische Begriff der Identität Für die Analyse des Konzeptes der Pluralität Arendts sollte zunächst der Begriff der personalen Identität thematisiert werden. Wenn von Identität die Rede ist, scheint sie „unsere moderne Identitätskrise“ 23 unter der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingung wiederzugeben. Was hat die moderne Identitätskrise mit der Krise des Politischen zu tun? Für Arendt stellt die moderne Krise der politischen Handlungsfähigkeit die Unmöglichkeit der Herausbildung personaler Identität dar. Der handlungstheoretische Begriff der Identität bezeichnet einen identitätsstiften19 20 21 22 23 EU, S. 934. EU, S. 935. Vgl. d‟Arcais, 1997, S. 106f. Vgl. Benhabib, 1997, S. 43. DD, S. 186. 221 den Charakter politischen Handelns. Der handlungstheoretische Begriff der Identität hellt die persongebundene Dimension des Arendtschen Begriffs des Politischen auf. 1.2.1 Der Begriff der Identität Bevor wir die Arendtsche Einstellung zum handlungstheoretischen Begriff der Identität untersuchen, beginnen wir damit, die klassische Bestimmung der Identität zu betrachten. Als ein klassischer Begriff der Philosophie lässt sich der Begriff der Identität zuerst in der Tradition des authentischen Selbstseins suchen. Die Identität wird in der wahrnehmbaren Sich – Selbstgleichheit und in der Kontinuität begründet.24 Die Identität kommt in der Einheit des Selbst und in einem fortdauernden Selbst zustande, das sich immer gleich bleibt. So versteht sich Identität als das ein- und dasselbe Sein des einzelnen Individuums. Die hier gestellte Frage ist, was ein Einzelding zu einem solchen macht. Mit diesem Identitätsproblem verbunden beschäftigt sich die philosophische Tradition mit dem Substanzproblem.25 Schon in Platos Philosophie findet sich die Bedeutung von Selbigkeit, die keine Relation meint, sondern unbezügliches Sein. Nach platonischer Tradition besteht der Mensch aus einem Körper und einer davon getrennten substantiellen Seele, die „das eigentliche Selbst des Menschen“ ist.26 So war das Problem der Identität die ontologische Grundfrage nach der Substantialität von Seiendem. In der Neuzeit tritt an die Stelle der Substanz die Kontinuität des Bewusstseins. Anders gesagt macht das Bewusstsein eine Person zu sich selbst. 27 Die Identität ist das im subjektiven Bewusstsein aufgebaute und durchgehaltene Bild. Dieses neue Paradigma der Identität findet sich vor allem bei John Locke. In seinem kurzen Text Über Identität und Differenz bestimmt John Locke die durch Bewusstsein konstituierte Einheit von Gedanken und Handlungen als die Identität der Person. Selbstbewusstsein wird als ein konstitutiver Bestandteil der hinreichenden Bedingung für die personale Identität betrachtet.28 Daher versteht er die personale Identität als „ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann.“29 24 25 26 27 28 29 Vgl. Lorenz, 1976, S. 144. Vgl. Henrich, 1979, S. 137. Aristoteles, NE 1166 a 16. Im Gegensatz dazu hält Arendt fest: „Das Bewusstsein ist wesentlich sprunghaft und ohne Kontinuität. Die Verwandlung oder Verfälschung des Gedächtnisses in das Bewusstsein schneidet den Umgang, die Kommunikation des Menschen mit der Welt ab und ist darum das Zeichen der Isoliertheit des Individuums oder besser: des Gefangenseins des Individuums in sich selbst. Bewusstsein aber könnte auch ein einziges Individuum haben, wenn es ganz ohne seinesgleichen zu leben gezwungen wäre.“ (DTB, S. 104). Vgl. Thiel, 1997, S. 151. Locke, 1968, S. 419; vgl. Thiel, 1997, S. 162f. 222 In dieser Tradition ist die Identität unverwechselbares und einmaliges Wesen von der Geburt aus. Im Gegensatz dazu bedeutet die personale Identität für Arendt mehr als die Verschiedenheit oder Selbigkeit im Sinne eines, das sich immer gleich bleibt.30 Vielmehr zeigt sich die personale Identität im Sinne von einem wandelbaren Selbst. Wie Arendt betont, „bleibt dieses Selbst immer veränderlich und etwas unbestimmt. In der Form dieser Veränderlichkeit und Unbestimmtheit verkörpert dieses Selbst (…) die Menschlichkeit aller Menschen.“31 So beruht die personale Identität bei Arendt auf der Einzigartigkeit des Selbst, die sich im Zusammenhandeln und sprechen aktiv artikuliert. Handelnd und sprechend schafft das Individuum „etwas noch nicht Dagewesenes“.32 Anders gesagt bietet das Zusammenhandeln und –sprechen dem unbestimmten und veränderlichen Selbst eine Möglichkeit, mit der eigenen Stimme zu sprechen und als das einzigartige Wesen vor allen anderen erkennbar zu erscheinen.33 Die Frage der Identität ist für Arendt die Frage nach dem Wer. „Das eigentlich personale Wer“34 unterscheidet sich nicht nur von der selbstbewussten Subjektivität der Neuzeit, sondern auch vom Was der Person, das sich als „Eigenschaften, Gaben, Talente, Defekte“35 darstellt, die der Einzelne besitzt. Die personale Identität als die Frage des Wer ist abhängig von den Qualitäten des politisch denkenden und handelnden Menschen, die vor anderen erscheint. In der Beziehung zum Anderen erlangen die Menschen Arendt zufolge „ihre volle Wirklichkeit als Menschen, weil sie nicht nur sind (…), sondern erscheinen.“ 36 Die Frage des Wer ist daher öffentlich. Arendt schreibt: „Wir müssen erscheinen, sehen und gesehen werden, hören und gehört werden; was wir zeigen, sind wir, nicht umgekehrt. Wir können nicht einfach umhergehen und uns zeigen, wie wir sind. Was wir sind, ist nicht wichtig, es ist privat.“37 Arendts These, die Identität des Menschen erscheine durch das Handeln und das Sprechen in der Gemeinschaft mit anderen, steht der Vorstellung gegenüber, dass eine essentielle Identität exis30 31 32 33 34 35 36 37 Ein Denker wie Dieter Henrich schränkt den Begriff der Identität auf den Begriff der Selbigkeit ein: „Ist etwas ein Einzelnes, so ist ihm Identität zuzusprechen. Es hat keinen Sinn zu sagen, daß es Identität erwirbt oder verliert.“ (Henrich, 1979, S. 135). PP, S. 390. Krappmann, 1971, S. 11. Vgl. PP, S. 389. VA, S. 219; Die italienische Philosophin Adriana Cavarero argumentiert, dass Arendt die Frage des Wer in den Mittelpunkt stellt: „Das Wer ist also eine unwiederholbare ausgesetzte und sich aussetzende Identität, eine innerste und vollkommene Äußerlichkeit des Selbst, womit in der Terminologie Hannah Arendts das Wort Subjekt mit seiner impliziten Substantialität sorgfältigst vermieden wird. Das Wer ist, mit anderen Worten, ganz einfach die Bezeichnung für die Einzigartigkeit, die sich in der Beziehung und im Mit-Erscheinen zeigt und sich damit zugleich von jeder anderen Einzigartigkeit unterscheidet.“ (Cavarero, 1997, S. 213). VA, S. 219. PP, S. 390. Hervorhebung im Original. Unveröffentlichte Schriften Arendts; zit. nach Breier, 2001, S. 71; an anderer Stelle sagt Arendt: „Wenn ich erscheine und von anderen gesehen werde, bin ich gewiß Einer; sonst könnte man mich gar nicht erkennen. Und solange ich mit anderen zusammen und kaum meiner selbst bewußt bin, bin ich so, wie ich den anderen erscheine.“ (DD, S. 182); „Meine Identität ist an meine Erscheinung und damit an die Anderen, denen ich erscheine, gebunden. Mein Selbst qua Identität gerade empfange ich von Andern.“ (DTB, S. 734). 223 tiert. Relevant sind nicht die innerlichen und wesentlichen Instanzen, sondern allein die sichtbar werdenden, sprechenden und handelnden Personen. Daher versteht Arendt „alle Identitäten als Tun und nicht als Sein“.38 Die Identität beruht nicht auf „einer absoluten Selbstsucht“39, sondern auf der „Ex-position des Selbst“ 40 , in der sich eine konkrete differenzierte Einzigartigkeit zeigt.41 Darin liegt kein Tod des Subjekts, sondern die Kritik einer bestimmten verdinglichenden und substantialistischen Beschreibung des Subjekts. Hinter der erscheinenden Person gibt es kein eigentliches Personales. Damit lehnt Arendt das „alte Vorurteil des Vorrangs des wahren Seins vor der bloßen Erscheinung“42 ab. Das bedeutet, dass Arendt die Identität als einen politischen Begriff verstehen, aber nicht als einen psychologischen und nicht als einen irgendwie gearteten philosophischen Begriff. 1.2.2 Die Offenheit der Identität Wie alle Angelegenheiten, die sich direkt im Miteinander der Menschen vollziehen, ist auch die Frage des Wer durch die vieldeutige und unnennbare Ungewissheit gekennzeichnet, denn die personale Identität besteht eben auch in der unvorhersehbaren Möglichkeit des Anders-werdenkönnens. Hier geht es um die Offenheit der Identität: „Das unverwechselbar einmalige des Wereiner-ist, das sich so handgreiflich im Sprechen und Handeln manifestiert, entzieht sich jedem Versuch, es eindeutig in Worte zu fassen.“43 Die Offenheit der Identität ist politisch von herausragender Bedeutung, weil sie offener Politik entspricht. Eine Identität, die auf die Anerkennung durch Andere angewiesen ist, wird als instabil, zumindest als offener Prozess verstanden. Wenn die Identität a priori vorgegeben und fixiert wäre, wären die Ausgrenzung und Zerstörung des Anderen und Fremden die notwendigen Bedingungen von Identität.44 Die Gefahr der Objektivierung der Identität kulminiert im Phänomen des Totalitarismus. „Wer der zu Verhaftende und Liquidierende ist, was er denkt und plant, ist von vornherein entschieden, sein wirkliches Denken und Planen interessiert keinen Menschen. 38 39 40 41 42 43 44 Pulkkinen, 2001, S. 48; die Verbindung von der Identität und dem Handeln bedeutet die menschliche Freisetzung in einem doppelten Sinne: „zum einen ihn zu befreien aus einer Ohnmachtsposition des Ausgeliefertseins an von außen festgesetzte Determiniertheiten und Konformitäten und zum anderen ihn freizusetzen (…) für das Recht auf Verantwortung für sich selbst und sein Handeln“ (Schües, 1997, S. 163). VA, S. 220. Cavarero, 1997, S. 223. „Das Selbe ist nicht das Einerlei des Gleichen, sondern das Einzige im Verschiedenen und das verborgene Nahe im Fremden.“ (DTB, S. 65). DD, S. 37. VA, S. 222. Vgl. VA, S. 220; vgl. Nordmann,. 2002, S. 305; Schindler, 1999, S. 151. 224 Was sein Verbrechen ist, ist objektiv, ohne alle Zuhilfenahme subjektiver Faktoren festgestellt.“45 Die ursprüngliche Fremdheit und Verschiedenheit der Vielen wird in der Öffentlichkeit gemildert, weil sie sich darin als Gleichberechtigte anerkennen. Für Arendt ist die unbegrenzte Beteiligung an Kommunikations- und Handlungsprozessen die notwendige Bedingung der Möglichkeit der Identität des Individuums. Deshalb, weil der politische Raum identitätsstiftende Bedeutung hat, fordert Arendt eine Ausweitung der Zugangsberechtigung zum politischen Raum für alle Menschen. Der Ausschluss vom Politischen bedeutet daher die Beraubung der Möglichkeit der Identität, also „der Wirklichkeit, die durch das Gesehen- und Gehörtwerden entsteht.“46 Im Gegensatz dazu ist die offene Politik möglichste Vorbedingung der offenen Identität.47 In Bezug auf den offenen Charakter der Identität besteht die fundamentale Bedeutung des Handelns für das menschliche Existieren in seiner identitätsstiftenden Qualität. „Ohne diese Eigenschaft, über das Wer der Person mit Aufschluß zu geben, wird das Handeln zu einer Art Leistung wie andere gegenstandsgebundene Leistungen auch.“ 48 Die handlungstheoretische Bestimmung der Identität begründet die Doppeldimension der Identität: Zuerst hat die Identität nicht mit der Selbstaneignung zu tun. Das Handeln ist maßlos, nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke. Keine Identität lässt sich daher planvoll und zielbewusst verwirklichen. Die Identitätsbildung wird nicht als souveräner Akt begriffen. Damit verbunden ist die Identität anders als „die Qualität des hergestellten Dinges“.49 Sie hat daher nichts mit der selbstmächtigen Identität des souveränen Subjekts zu tun. 50 So ist „das eigentlich personale Wer-jemand45 46 47 48 49 50 EU, S. 654. VA, S. 57. Auf diesen Charakter der Identität weist Lothar Krappmann im Folgenden hin: „Die vom Individuum für die Beteiligung an Kommunikation und gemeinsamem Handeln zu erbringende Leistung soll hier mit der Kategorie der Identität bezeichnet werden. Damit das Individuum mit anderen in Beziehungen treten kann, muß es sich in seiner Identität präsentieren; durch sie zeigt es, wer es ist. Diese Identität interpretiert das Individuum im Hinblick auf die aktuelle Situation und unter Berücksichtigung des Erwartungshorizontes seiner Partner. Identität ist nicht mit einem starren Selbstbild, das das Individuum für sich entworfen hat, zu verwechseln; vielmehr stellt sie eine immer wieder neue Verknüpfung früherer und anderer Interaktionsbeteiligungen des Individuums mit den Erwartungen und Bedürfnissen, die in der aktuellen Situation auftreten, dar.“ (Krappmann, 1971, S. 11). VA, S. 221. ZVZ, S. 301. In diesem Zusammenhang vertritt Lübbe die These, dass die Identität nicht mit teleologischen Kategorien beschrieben werden könne. Die personale Identität ist für Lübbe nicht die Realisation einer Intention. Und daher ist auch unsere eigene Identität nie das Produkt unserer Absicht (Lübbe, 1979b, S. 657). Darüber hinaus schließt Lübbe, weil er die Identität nicht als das Resultat des Handelns ansieht, vom Bildungsprozess der Identität das Handlungssubjekt aus. Für ihn wird der Prozess der Bildung der eigenen Identität nur als autopoietischer Prozess aufgefasst, in dem das Individuum selbst vollständig untergeht. Daher stellt Lübbe das Problem der Identität nicht auf den Horizont der Pluralität der Handelnden. Die Geschichte als das Resultat des Handelns für Arendt stellt sich bei Lübbe als „Vorgänge ohne Handlungssubjekt“ dar (Lübbe, 1977, S. 69). Nun ist der Handelnde im Verhältnis zu der Geschichte „nicht deren Handlungssubjekt, sondern lediglich das Referenzsubjekt seiner Geschichte“ (Lübbe, 1979a, S. 280). Dem Begriff der Identität Lübbes mangelt das Moment der individuellen Formung. Er erkennt keine Identität als Produkt des individuellen Handelns im ständigen öf- 225 jeweilig-ist unserer Kontrolle darum entzogen, weil es sich unwillkürlich in allem mitoffenbart, was wir sagen oder tun.“51 Zweitens beruht die Offenheit der Identität auf dem „subjektiven Faktor“52 des politischen Handelns, die Person zu enthüllen.53 Das performative Handeln äußert keine vorhergehende Essenz, sondern es enthüllt den Handelnden.54 Tatsächlich betont Arendt den die Person enthüllenden Faktor des politischen Handelns im Gegensatz zur traditionellen Einsicht, das politische Handeln in Bezug auf die Verwirklichung der materialistischen und objektiven Zwecke zu verstehen. Dabei wird der lediglich funktionalen und instrumentellen Charakter des politischen Akteurs hervorhebt. Was die offene Identität angeht, gehört die Gründung der personalen Identität zur Wirklichkeit der Politik, die zwischen handelnden Personen stattfindet. Daher könne das Personhafte des Menschen nur da erscheinen, wo es eine öffentliche Welt gibt. 55 Buchheim stellt fest: „Weil damit teils das Person-Sein Voraussetzung der Politik ist, teils Politik sich auf die Eigenarten des Person-Seins einlassen muß, kehren diese als typische Erscheinungen praktizierter Politik wieder. Und insoweit lassen sich – umgekehrt – typische Erscheinungen der Politik als Auswirkungen des Person-Seins auf die Politik erklären.“56 1.2.3 Die Narrativität der Identität Die Verbindung von Identität und Pluralität ist durch den narrativen Charakter der Identität gekennzeichnet. In VA § 25 beschreibt Hannah Arendt die narrative Eigenschaft des Handelns. Sie 51 52 53 54 55 56 fentlichen Raum: „Die Identität eines Individuums beruht demnach für Lübbe auf einer Geschichte von reinen Kontingenzen, auf deren Verknüpfung das Individuum selbst keinerlei Einfluß mehr hat.“ (Meuter, 1993, S. 255). Obwohl Lübbe festhält, die Identität beruhe nicht auf zielkonsistenten Handlungen, berücksichtigt er aber keine Unterscheidung von Herstellen und Handlung, die von Arendt vorgenommen wird. Daher erkennt er kein Verhältnis des Handelns zur Identität. Darauf weist Angehrn hin: „Aus dieser Sicht wäre dann gegen Lübbe festzuhalten, daß nicht schon die begriffliche Konvergenz von Handeln (…) und Geschichte, sondern erst die Deutung des Geschichtsbegriffs nach dem spezifischeren Modell herstellender Tätigkeit für die Geschichtsphilosophie fatal ist.“ (Angehrn, 1985, S. 85). Das Handeln ist im Arendtschen Sinne die die Identität konstituierende Form. Im Vergleich von Arendt und Lübbe stellt Angehrn fest: „Allerdings wäre es nach dem Konzept von Arendt dann auch nicht nötig, den Handlungsbegriff so strikt vom Geschichtsbegriff fernzuhalten, den spezifischen Begriff eines (politischen) Handelns nämlich, der sehr wohl eine Zukunftsausrichtung hat, aber darin ein Sicheinlassen in gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge bezeichnet, die nicht unter der Kontrolle des Handelnden verbleiben, sondern von diesem freigelassen werden und sozusagen autonom einen Sinn des Geschehens konstituieren, der erst im nachhinein festgestellt werden kann. Vielleicht wäre das Handeln in diesem Sinn sogar als das eigentliche Medium der Realkonstitution von Geschichte anzusehen.“ (Angehrn, 1985, S. 85). VA, S. 219. VA, S. 225. VA, S. 225f.; vgl. VA, S. 460, Anm. 8. Vor allem Honig betont die performative Dimension des Handelns: „Das Performative und das Agonale werden in Arendts Arbeit nicht zufällig miteinander verbunden. Das Politische ist bei Arendt immer agonal, weil sie sich um ihrer Auffassung vom Selbst als Pluralität, von der Identität als performativer Produktion und von der Handlung als Schaffung neuer Beziehungen und neuer Realitäten willen immer gegen die Anziehungskraft des Expressiven wehrt“ (Honig, 1994, S. 61f.; vgl. Reist, 1990, S. 210; Villa, 1996, S. 52ff.). MfZ, S. 85 ; vgl. EU, S. 371; VA, S. 224. Buchheim, 1990, S. 97. 226 selbst benutzt jedoch niemals die Bezeichnung Narrativität.57 Die Narrativität des Handelns liegt am Wesen des menschlichen Handelns, die Geschichte herauszubilden, die erzählt werden kann: „Diese bleibende Befindlichkeit, welche die Identität der Person ausmacht, enthüllt sich sichtbar, aber doch in spezifischer Ungreifbarkeit im Handeln und Sprechen, während sie greifbar und gewissermaßen handhabbar in der Lebensgeschichte hervortritt; aber diese Lebensgeschichte liegt vollendet und damit potentiell wie ein Ding unter Dingen erst vor, wenn sie an ihr Ende gekommen und der Träger tot ist. Das Wesen einer Person – nicht die Natur des Menschen überhaupt (die es für uns jedenfalls nicht gibt) und auch nicht die Endsumme individueller Vorzüge und Nachteile, sondern das Wesen dessen, wer einer ist- kann überhaupt erst entstehen und zu dauern beginnen, wenn das Leben geschwunden ist und nichts hinterlassen hat als eine Geschichte.“58 Die Narrativität sorgt „für eine gewisse Vereinheitlichung der unterschiedlichen Sinneffekte der Erzählung“.59 Der Begriff der narrativen Identität bedeutet „die Einheit einer Person als die Einheit einer bestimmten erzählten oder zumindest erzählbaren Geschichte“ 60. Anders gesagt lässt sich die Identität einer Person nicht mit abstrakten Kriterien wie etwas Wesentliches im Menschen verstehen, sondern nur in Bezug auf die jeweilige konkrete und erzählbare einzigartige Lebensgeschichte des Individuums.61 Die Identität eines Individuums angeben heißt auf die Frage antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde? Diese Antwort kann nur narrativ ausfallen: „Die erzählte Geschichte gibt das wer der Handlung an. Die Identität des wer ist also selber bloß eine narrative Identität.“62 Handlungen sowie deren Akteure werden nämlich durch Erzählungen identifiziert. Durch diese Identifizierung in narrativen Formen hat der Mensch als der konkrete Einzelne im Gegensatz zur anonymen Handlung die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Die Erzählung enthüllt den Täter und identifiziert, daß er handelt. „Narrativität meint die Art und Weise, auf die Handlungen zu individuellen Handlungen werden und die Identität des Selbst sich konstituiert.“63 Die Narrativität der Identität hat Doppelcharakter: Zuerst ist die narrative Identität durch die Passivität gekennzeichnet. Wie das Handeln auf die Anwesenheit anderer angewiesen ist und daher nicht souverän ist, ist der Handelnde auch nicht Verfasser seiner eigenen Lebensgeschich57 58 59 60 61 62 63 Zur Bedeutung der Narrativität in Arendts politischem Denken; Straßenberger, 2005; Benhabib, 1988; Lenz, 2001, S. 203-239. VA, S. 242; vgl. VA, S. 226f. Ricoeur, 1991, S. 395. Meuter, 1993, S. 10. „Das Nichtmitgeteilte, das Nichtmitteilbare, das, was niemandem erzählt wurde und auf niemanden Eindruck machte, das, was nirgends eingehet in das Bewußtsein der Zeiten und ohne Bedeutung in dem dumpfen Chaos des unbestimmten Vergessen versinkt, ist verdammt zur Wiederholung.“ (RV, S. 104f.). Ricoeur, 1991, S. 395. Benhabib, 1995, S. 139. 227 te.64 Obwohl die Geschichte das Resultat des Handelns ist, wird die Geschichte dagegen als Werk eines Erzählers herausgebildet oder verfasst: „Kein Mensch kann sein Leben gestalten oder seine Lebensgeschichte hervorbringen, obwohl ein jeder sie selbst begann, als er sprechend und handelnd sich in die Menschenwelt einschaltete.“65 Andererseits hat die narrative Identität auch aktive subjektive Dimension. Die narrative Identität beruht nicht nur darauf, die Geschichte als das vergangene Handeln zu erzählen, sondern auch auf dem gegenwärtigen narrativen Handeln. In diesem Licht betrachtet ist die narrative Struktur der menschlichen Identität nicht nur als „die unablässige Nacherzählung der Vergangenheit“66 zu bezeichnen. Wenn die narrative Struktur ein politisches Organisationsprinzip ist, besteht ihre zentrale politische Bedeutung darin, dass die vergangenen Handlungen in Form der redenden und immer noch beredeten Geschichten weiterleben. In der narrativen Struktur sind die Taten der Menschen vor der Vergänglichkeit zu retten.67 Der Grund dafür, warum Geschichte und Erfahrung des Handelns erzählt werden müssen, ist: „nichts ist flüchtiger und vergeblicher als menschliche Worte und Taten; wenn sie nicht erinnert werden, überleben sie kaum den Augenblick ihres Vollzugs“.68 Narrative Identität hat daher mit dem Interesse an der Unvergänglichkeit des Vergänglichen zu tun. „Die Flüchtigkeit des Handelns, seine Gebundenheit an den immer einmaligen Akt des Sprechens und die unmittelbare Interaktion machen eine narrative Tradierung notwendig, ohne die sowohl die handelnden Personen selbst wie der Sinn eines Handlungsgeschehens dem Vergessen anheim fallen würden.“ 69 In diesem Sinne ist das „Geschichtenerzählen“ für Arendt „politisch“.70 So gesehen gehört die narrative Identität zur politischen Identität. Der öffentliche Raum stellt daher „den öffentlichen Erzählraum“71 und damit den Raum politischer Identität dar. 64 65 66 67 68 69 70 71 „Die wirkliche Geschichte, in die uns das Leben verstrickt und der wir nicht entkommen, solange wir am Leben sind, weist weder auf einen sichtbaren noch einen unsichtbaren Verfasser hin, weil sie überhaupt nicht verfasst ist.“ (VA, S. 231). VA, S. 174. Benhabib, 1998, S. 155. In diesem Sinne war die antike Polis diese narrative Struktur. Nach Arendts Verständnis war die Polis ein Erinnerungsraum, so dass sich die Polis verstand als Organisation, um „die Taten der Menschen vor der Vergänglichkeit zu bewahren“ (ZVZ, S. 58). ZVZ, S. 105. Straßenberger, 2005, S. 40. Kohn, 1997, S. 31. Althaus, S. 326. 228 1.2.4 Die politische Identität Wie wir oben gesehen haben, kommt es für die personale Identität auf das „Subjekt des Handelns und Sprechens“ an.72 Aber die Enthüllung des handelnden und sprechenden Subjekts ist für Arendt „unwillkürlich“.73 Damit ist gemeint, dass die Person-Identität mit dem weltlichen gemeinsamen Zwischenraum zu tun hat, der einen integrierenden Bestandteil des Miteinanders darstellt. Und so spricht Arendt von „Intersubjektivität der Welt“74. Der Sinn der gemeinsamen Welt für Identität steht darin, dass die Objektivität der Welt das menschliche Leben stabilisiert. Sie ist die Möglichkeitsbedingung von Neuanfängen und zugleich von Kontinuität des Miteinanders. Der objektive Charakter der gemeinsamen Welt beruht Arendts Ansicht zufolge auf der Pluralität der handelnden, urteilenden und meinenden Menschen.75 Der subjektive Charakter der Perspektiven und der Meinungen ist durch das Miteinander in Schranken gehalten. Arendt sagt, „ohne den Erscheinungsraum und ohne ein Minimum an Vertrauen auf Handeln und Sprechen als Weisen des Miteinander wäre für Menschen weder die Realität der Außenwelt noch die ihrer eigenen Identität je wirklich vorhanden.“76 Der Erscheinungsraum ist ein Ort, wo sich der Mensch und die Welt „wirklich“ manifestieren. In diesem Zusammenhang findet man den identitätsstiftenden Charakter des politischen Handelns nicht nur bei dem Aufschluss des Wer, sondern auch bei der Gründung und Bewahrung des politischen Gemeinwesens. Arendt versteht das politische Handeln und Sprechen als das Medium, in welchem erst die Erfahrung des Wer und zugleich des Wir möglich wird. Diese doppelte Aufgabe des politischen Handelns wirkt wechselseitig. Die gemeinsame Welt lässt sich als Gemeinsames des Wer, also als politisches Wir, verstehen. Das ist jedoch keine Negation eines Wer. Das politische Wir beruht auf dem „wechselseitigen Sichtbarwerden des Wer einer ist“77. Wenn das Wer des Menschen sich auflöst und nicht mehr erscheint, geht das politische Wir selbst in Stücke. Über diese Korrelation zwischen Wer und Wir, zwischen Person und Pluralität formuliert Penta ausführlich: „Der Vorgang des Verfalls des Wir des Handelns kann zugleich und alternativ als ein Schwund des im Handeln erscheinenden Wer beschrieben werden, während sich das Verschwinden dieses Wer wiederum als Verfallserscheinung des Wir manifes- 72 73 74 75 76 77 VA, S. 220. VA, S. 220 und S. 224. DD, S. 59. Vgl. Vollrath, 1977, S. 213. VA, S. 264. Baule, 1996, S. 96. 229 tiert.“78 Wie wir gesehen haben, ist der Totalitarismus durch die Negation sowohl des Wer als auch des Wir gekennzeichnet. Der Begriff des Wir gehört zum Hauptelement des Arendtschen Konzepts der Pluralität. In DW spricht Arendt vom „Wir, der wahren Pluralität des Handelns“79. Dies Wir ist „nicht bloß eine Erweiterung des dualen Ich-und-ich zu einem pluralen Wir“.80 Wenn das Wir auf der wahren Pluralität des Handelns gegründet ist, nennt man es „das politische Wir“.81 Das plurale Wir wird durch die Vielfalt des einzigartigen Wer, also durch das antagonistische Miteinander, gesichert. Das plurale Wir oder die politische Pluralität meint „einen Jeden, aber gerade als Einzelnen, der sich zwar einer besonderen Vereinigung einer Menge von Menschen handelnd anschließen kann, aber von jedem anderen Menschen gerade unterschieden bleibt.“82 Es unterscheidet sich daher von Allgemeinheit aller Menschen bei Rousseau und vom Gattungswesen bei Marx. Hier lässt sich die Frage aufgreifen, wie sich das Wir hinsichtlich der vielen einzigartigen Personen konstituieren lässt. Wie lassen sich Menschen in „eine politische Identität“83 integrieren? Die politische Identität beruht nicht auf Gemeinschaft, sondern auf einer geteilten Welt, die zwischen den Individuen besteht. Das politische Wir ist die kommunikative Gemeinsamkeit. 84 Auf dem gemeinsamen Handeln und Sprechen im öffentlichen Raum gründet sich das politische Wir.85 Sofern die Einheit des politischen Wir aus dem politischen Handeln entsteht, ist sie keine absolute, sondern eine bedingte und eine gebrochene Gemeinsamkeit. Diese Gemeinsamkeit unterscheidet sich sowohl von dem im politischen Feld repräsentierten allgemeinen Willen als kollektiver Identität als auch von irgendeiner präexistenten substantiellen Zugehörigkeit. Wie ihre Kritik am Nationalismus zeigt, lehnt Arendt den Begriff der Nation als die natürliche, präpolitische Einheit des ursprünglichen Volkes ab.86 Nach der ideologischen Vorstellung des Na- 78 79 80 81 82 83 84 85 86 Penta, 1985, S. 133. DW, S. 191. DW, S. 191. Vollrath, 1977, S. 45. Vollrath, 1977, S. 45; ähnlich meint Szankay: „Wenn wir hier über das 'Wir' sprechen, so ist dabei weder von etwas Substantiellem oder Kollektivem, noch über eine Art von Selbstbewußtsein die Rede. Das Wir, von dem aus wir auch sprechen können, ist auch kein Kollektiv-Ego. Es ist (…) an das Andere gerichtet und gewendet“ (Szankay, 1995, S. 58). Meier, 1979, S. 392. Diese Gemeinsamkeit ist schließlich auch „nicht die Identität der immer schon Geeinten", sondern "das, worauf sich Verschiedene und Unterschiedliche als das ihnen Gemeinsame geeinigt haben“, also eine „Gemeinsamkeit, deren Stiftungsgrund gerade die bewahrte Differentialität ist.“ (Vollrath, 1990, S. 21 und 23). Vgl. Assmann, 1992, S. 137f. Angesichts des Nationalstaats scheinen Arendts Vorstellungen in Widerspruch zueinander zu stehen. Neben der starken Kritik am Modell des Nationalstaats wird der Nationalstaat bei Arendt in Bezug auf das Menschenrecht für positiv gehalten. Denn: „Nur innerhalb eines Volkes kann ein Mensch als Mensch unter Menschen leben – wenn er nicht vor Entkräftung sterben will. Und nur ein Volk, in der Gemeinschaft mit anderen bewohnte Erde eine von uns allen gemeinsam geschaffene und kontrollierte Menschwelt zu konstituieren.“(DT, S. 73). Dies Spannungsverhältnis sieht Benhabib als die „Paradoxien des Nationalstaats in der modernen Welt“ an. Benhabib macht uns darauf aufmerksam, dass Arendt die Unterscheidung zwischen jüdischer Heimat und der 230 tionalismus ist „die Nation ein unvergänglicher Organismus, das Produkt einer unvermeidlichen natürlichen Entfaltung angeborener Qualitäten; die Völker werden nicht als politische Organisationen, sondern als übermenschliche Persönlichkeiten betrachtet.“87 Die Durchsetzung des Prinzips des Nationalismus führt zur „Eroberung des Staates durch die Nation“.88 Daraus folgt, dass die Frage der Identität allein am Kriterium der völkischen Verbundenheit, der natürlichen Homogenität, der nationalen Zugehörigkeit im Sinne der Abstammung entschieden wird. Im Gegensatz dazu beruht das politische Wir für Arendt nicht auf dem einzelnen Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer vorgängigen, nicht zur Disposition stehenden sozialen Bindung, sondern auf der politischen Zugehörigkeit, die die Pluralität, die Differenz und den Meinungsaustausch voraussetzt.89 Eine gemeinsame politische Identität ist nicht durch den gemeinsamen Interessenund Erfahrungshorizont einer Nation oder eines Volkes gegeben, sondern entsteht durch das Versprechen als „die zentrale politische Fähigkeit“, die sich „überhaupt nur unter der Bedingung der Pluralität betätigen (kann), der Anwesenheit von Anderen“.90 Das politische Wir wird nicht als exklusives und geschlossenes System aufgefasst, das nur zum Ausschluss anderer führen kann. Das politische Wir schließt jeden Herkunftspartikularismus aus, so dass die politisch konstituierte Gesellschaft von vornherein für alle offen ist. Das politische Wir ist „inklusiv und nicht exklusiv, auch wenn der Zugang zeitlich geregelt, sachlich kontingentiert und sozial kontrolliert ist“.91 Das politische Wir ist nicht für etwas zu halten, was ewig, unveränderlich, allgegenwärtig und vollständig ist. Im Zusammenhandeln ist stets „ein Wir mit der Veränderung unserer gemeinsamen Welt beschäftigt“92, „um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Realität zu schaffen“.93 Das politische Wir sei „keine göttliche Schöpfung, sondern eine von Menschen herbeigeführte Folge von Ereignissen“94. Die gemeinsame Welt und Bezüge werden im 87 88 89 90 91 92 93 94 Idee eines jüdischen Nationalstaates übernimmt. Daher zeige sich der Volksbegriff in den zwei Sinnen, auf der einen Seite „das Volk als „demos“, das sich auf die demokratische Selbstorganisation bezieht, und auf der anderen Seite das Volk als „ethnos“, das von gemeinsamer ethischer Herkunft ist (Benhabib, 1997, S.47ff. und 1998, S. 85f.; vgl. Blätter, 2000, S. 691ff.; Greven 1993). DT, S. 159. EU, S. 487. „Arendt war deshalb skeptisch gegenüber politischen Bewegungen bzw. Gemeinschaften, die sich auf eine gemeinsame Identität ihrer Mitglieder beriefen. Die Subsumierung der Einzelnen unter totalisierend gedachte Identitäten, wie Geschlecht oder Kultur, Ethnie, Volk und Nation auf der Basis dieser Identitäten galt Arendt als Indiz der Zerstörung des politischen Raums, dessen unabdingbare Prämisse ja gerade die Pluralität und individuelle Verschiedenheit der Menschen, die gleichzeitige Antwort zahlloser Aspekte und Perspektiven ist.“ (Hark, 2001, S. 155; vgl. Cavarero, 1997, S. 222). VA, S. 311 und 302. In diesem Punkt unterscheidet Brunkhorst Arendts Verständnis des politischen Gemeinwesens vom aristotelischen Republikanismus (Brunkhorst, 1994a, S. 357). DW, S. 190. VA, S. 252. DW, S. 193. 231 aktuellen Kontext des Anfangens gestiftet und erneuert. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu beachten, dass Arendts Verständnis der politischen Welt sich wesentlich vom antiken Verständnis des Weltbezugs unterscheidet. Die Welt ist in der antiken Philosophie als „die an sich seiende Ordnung“95 verstanden, und das Individuum ist ein Glied der kosmischen Ordnung.96 Da die Welt für die griechische Philosophie eine absolute Realität und eine objektive Vernunft ist, hängt die Existenz dieser Ordnung nicht von der menschlichen Handlung ab. 97 Dagegen orientiert sich das Urchristentum wegen des Misstrauens gegen die vergängliche irdische Welt am Prinzip der unendlichen Person.98 Aus diesem Gegensatz zwischen Person und Welt ergibt sich die disjunktive Beziehung zwischen Individuum und politischer Welt. Aber für Arendt setzt die politische Welt das Handeln der konkreten Individuen voraus.99 Nach ihrer Ansicht ist es ein Vorurteil, dass der eigentlich politische Raum immer und überall schon vorhanden sei, wo Menschen zusammenleben.100 Die freie „Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen“101 werden nur durch das Handeln und Sprechen gespeist. Die politische Identität ist nicht nur auf die Einrichtung von Mauern beschränkt, sondern ist abhängig von der Art und Weise, wie Menschen im öffentlichen Zusammensein die gemeinsamen Angelegenheiten behandeln.102 Im Rückgriff auf die antike Polis sieht Arendt den Wesenszug der Polis in der Gemeinsamkeit der einzigartigen Personen und im pluralen Handeln der Menschen. Als die politische Welt war Polis in der Tat „eine Gemeinschaft von Bürgern, die sich nicht territorial verstand, wie ein moderner Staat, sondern personalistisch“. 103 Nicht das Territorium und seine 95 96 97 98 99 100 101 102 103 Schulz, 1992, S. 184. Vgl. VA, S. 402. „Die griechische Philosophie begann nicht bei der Reflexion auf das Handeln der Menschen, sondern mit dem Nachdenken über Aufbau und Ordnung der Welt.“ (Dihle, 1985, S. 46). Vgl. VA, S. 67f.; diese Verwandlung findet sich auch bei der Änderung des Personbegriffs. Das lateinische Wort persona, auf das das deutsche Wort „Person“ zurückgeht, meint ursprünglich „Schauspieler“ und „Maske“, die der Schauspieler trägt. Aus dieser Grundbedeutung wird der Ausdruck persona in der übertragenen Bedeutung als Rolle, die der Mensch in der Gesellschaft spielt, gebraucht (vgl. Fuhrmann, 1989, S. 269). Aber im Anschluss an die theologische Diskussion der Spätantike bedeutet der Begriff der Person das Wesentliche im Menschen. Person ist ein Individuum aufgrund seines Vermögens, Bewusstsein, Vernunft und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Dieses Verständnis lässt sich im Gegensatz zur öffentlichen als die subjektive Begründung des Personseins bezeichnen. In dieser individualistischen Begründung des Personseins führen sich die Freiheit der Person und ihre daraus abgeleitete Würde auf das einzelne vernunftbegabte Individuum zurück. Auf dieser Auffassung der Person gründet sich die spezifisch neuzeitliche Vorstellung menschlicher Subjektivität und Individualität. Zum Personverständnis von Hannah Arendt, Die Sonning-Preis-Rede, 2005, S. 10; ÜR, S. 136; MfZ, S. 85ff. Vgl. Noetzel, 1999, S. 158. Vgl. VA, S. 250; WP, S. 38. VA, S. 18. Siehe dazu Castoradis, 1990, S. 310; in ganz ähnlichem Sinne hält Vernant fest, „daß die polis nur in dem Maße existiert, wie sich in ihr eine Öffentlichkeit herausbildet.“ (Vernant, 1982, S. 46). Wesel, 1997; zit. nach Weber-Schäfer, 2000, S. 14; Aristoteles stellt fest, dass eine Polis „eine Gemeinschaft von Bürgern hinsichtlich einer Staatsverfassung“ ist und dass niemand bloß dadurch ein Bürger ist, dass er seinen Wohnsitz an einem bestimmten Platz hat (Aristoteles, Pol. 1276 b 1 und 1275 a 7). 232 Grenzen sowie die darin eingeschlossene Menschenmenge machen das Wesen der Polis aus.104 Als Öffentlichkeit sei die Polis „Organisationsstruktur ihrer Bevölkerung, wie sie sich aus dem Miteinanderhandeln und – sprechen ergibt; ihr wirklicher Raum liegt zwischen denen, die um dieses Miteinander willen zusammenleben, unabhängig davon, wo sie gerade sind.“105 1.3 Interdependenz von Selbst und Welt: Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger 1.3.1 Der existenzphilosophische Ansatz in der politischen Theorie Arendts Indem Arendt die menschliche Pluralität zu einem Grundprinzip des menschlichen Zusammenlebens erklärt, bietet sie uns einen Schlüssel, das Spannungsverhältnis zwischen Selbst und Welt aufzulösen. Dabei erscheinen das Selbst und die Welt nicht als Gegensatz, sondern als gegenseitige Bedingungsgefüge.106 Dieses Konzept der Pluralität Arendts entzündet sich vor allem an der Auseinandersetzung mit der Philosophie Heideggers.107 Welt und Selbst sind derart häufige und auch systematisch entscheidende Begriffe in der gesamten Philosophie Heideggers. Aber in seinem philosophischen System stehen sie in einem unverträglichen Widerspruchsverhältnis. Wie sich eine Gemeinsamkeit der Existenzphilosophen in der Fokussierung auf das Individuum entdecken lässt,108 geht es auch bei Heidegger zunächst darum, „die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation“109 festzuhalten. Damit verbunden kennzeichnet der Terminus „Selbst“ das Individuum in seiner Innerlichkeit, also in seinem spezifischen Verhältnis zu sich selbst.110 Die „grundsätzliche Schwierigkeit aller existenzphilosophischer Ansätze, die den konkreten einzelnen in den Mittelpunkt stellen, um von dort aus den Anderen angemessen thematisieren zu können“,111 bleibt bei Heidegger. Der Arendtsche Begriff der Pluralität vermittelt zwischen der Welt und dem Selbst. Die pluralistische Welt bietet bei Arendt dem Selbst die Chance, kommunikative Dynamik zu entfalten, und 104 105 106 107 108 109 110 111 Zur Differenzierung zwischen neuzeitlicher Staat und Polis siehe Ottmann, 2001, S. 9f. VA, S. 249f. Vgl. WP, S. 169. Arendts unmittelbare philosophische Diskussion mit Heidegger findet sich in drei Schriften. Dazu gehören die Aufsätze, Was ist Existenzphilosophie, eine Würdigung zu Heideggers 80. Geburtstag 1969 und eine Untersuchung zur Rolle des Willens in Heideggers Werk in Vom Leben des Geistes. Die existenzphilosophischen Denker beziehen sich alle Arendts Ansicht zufolge mehr oder weniger auf Sören Kierkegaard: „Mit Kierkegaard fängt die moderne Existenzphilosophie an. Es gibt nicht einen Existenzphilosophen, auf den sein Einfluß nicht nachweisbar wäre“ (WE, S. 61). Sein Denken richtet sich gegen das Hegelsche Gedankengebäude: „Dem Hegelschen System, das das Ganze zu fassen und zu erklären prätendierte, setzte er den Einzelnen, den individuellen Menschen entgegen, für den in dem vom Weltgeist dirigierten Ganzen weder Platz noch Sinn gelassen war“ (WE, S. 61). Heidegger, SZ, S. 38. Kierkegaard sagt: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Der Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (Kierkegaard, 1995, S. 9). Speth, 1996, S. 78. 233 daher ist sie konstitutiv für das Selbst. Anders gesagt macht die Bedingung der Pluralität ein Individuum zu einem einzigartigen Selbst. Im Gegensatz zu Arendt bemerkt Heidegger aber keine Interdependenz zwischen der Welt und dem Selbst. In diesem Punkt stellt Benhabib einen Abstand zwischen der Arendtschen Theorie des Politischen und der heideggerschen Existenzphilosophie fest: „Als sie (Arendt: H. P.) die Existenzphilosophie schließlich ablehnte und den Heideggerschen Welt-Begriff umgestaltete, setzte sie das Mitsein-in-der-Welt oder die Bedingtheit der menschlichen Pluralität wieder ins Zentrum unserer Erfahrung von Weltlichkeit ein. Die Entdeckung menschlicher Pluralität als einer fundamentalen Existenzbedingungen ist Arendts wahre Antwort auf die Existenzphilosophie, in der sie geschult war, und ihre Antwort auf deren eindrucksvollsten Vertreter, Martin Heidegger.“112 Der Einfluss von Heideggers philosophischen Konzeptionen auf Arendts politisches Denken ist trotzdem nicht zu leugnen.113 So betont man, dass sich die Verwurzelung Hannah Arendts in der deutschen Existenzphilosophie zum Verständnis der Arendtschen politischen Theorie unentbehrlich untersuchen lässt.114 In der Tat verdankt ihm Arendt die grundlegenden Kategorien wie Welt, Selbst, Tod, Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Dieser Einfluss lässt sich, wie Arendt selbst einräumt, unter anderem anhand von VA verdeutlichen. Anlässlich der Veröffentlichung von ihrem Buch VA schreibt Arendt an Heidegger: „Du wirst sehen (…), daß das Buch keine Widmung trägt. Wäre es zwischen uns je mit rechten Dingen zugegangen (…), so hätte ich Dich gefragt, ob ich es Dir widmen darf; es (VA: H. P.) ist unmittelbar aus den ersten Marburger Tagen entstanden und schuldet Dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles.“ 115 So könnte man die politische Theorie Arendts als den existentiellen Entwurf des Politischen, also „als die politische Anwendung der Existenzphilosophie“, interpretieren. 116 Aber es darf nicht übersehen werden, dass Arendt, auch wenn Heideggers Philosophie auf ihr politisches Denken Einfluss hatte, durch die kritische Auseinandersetzung mit den philosophischen Begriffen Heideggers ein eigenständiges „Welt- und Selbstverständnis“ antizipiert, das von Heidegger abweicht.117 Das drückt Rüdiger Safranski in der ausgezeichneten Formulierung aus: „Auf das Vorlaufen in den Tod wird sie antworten mit einer Philosophie der Gebürtlichkeit, 112 113 114 115 116 117 Benhabib, 1998, S. 96. Zum Überblick über Arendts philosophische Beziehung zu Heidegger siehe vor allem Thomä, 2003, S. 397402; Vollrath, 1988, S. 357-372; Barley, 1990, S. 39-60; Barash, 1989, S. 112-127; Sauerland, 1992, S. 610621; Pöggeler, 1999, S. 138-148; Grunenberg, 2008, S. 49-69. Vgl. Mommsen, 2007, S. 35; Jay, 1978, S. 348-364; Söllner, 2006, S. 114ff.; Parekh, 1981, S. 177. BAH, S. 149; vgl. Eittinger, 1995, S. 121. Jay, 1978, S. 351ff.; vgl. Parekh, 1981, S. 183f.; im Hinblick auf diese Interpretation sieht Jay in der politischen Theorie Arendts totalitäres Element, das sich im sogenannten „politischen Existentialismus“ zeigt. Beim politischen Existentialismus geht es um „eine unmittelbare Politisierung existentiellen Denkens durch einfache Analogiebildung zwischen den Bedingungen individueller und politischer Existenz“ (Schnädelbach, 1992a, S. 352). Meints, 2008, S. 73; vgl. Saner, 1997, S. 105; Benhabib, 1998, S. 171. 234 auf den existentiellen Solipsismus der Jemeinigkeit wird sie antworten mit einer Philosophie der Pluralität; auf die Kritik der Verfallenheit an die Welt des Man wird sie antworten mit dem amor mundi. Auf Heideggers Lichtung wird sie antworten, indem sie die Öffentlichkeit philosophisch adelt.“118 So gesehen wäre Hannah Arendt, wenn man sie so nennen könnte, „die einzige existenzphilosophische Denkerin, die radikal die Begrenztheit der Philosophie hinsichtlich der Politik gesehen und die Politik aus sich selber neu begründet hat.“119 1.3.2 Das weltlose Selbst Arendt favorisiert in erster Linie Heideggers Idee der „Destruktion der Tradition“120. Wenn sie das Selbst als Wer im Unterschied zum Was versteht, ist sie von Heidegger geprägt, der die „Destruktion der ontologischen Überlieferung“ zur Bedingung einer „wahrhaften Konkretion der Seinsfrage“121 macht. Dabei geht es um den „Vorrang der existentia vor der essentia“122, der im Kern der heideggerschen Existenzphilosophie betont wird. Schließlich wird „das Wort Sein durch das Wort Existenz ersetzt“123. Im Gegensatz zur Fundamentalontologie, die stets von bereits vorgebildeten, gewissermaßen fertigen Individuen ausgeht, ist für Heidegger das Wer kein Vorhandenes. Arendt selbst formuliert: „In Sein und Zeit ist der Begriff des Selbst die Antwort auf die Frage, wer der Mensch ist im Unterschied zu der Frage, was er ist; das Selbst ist der Begriff für die Existenz des Menschen im Unterschied zu seinen jeweiligen Eigenschaften.“ 124 In der Tat sagt Heidegger in Sein und Zeit: „Mit dem Ausdruck Selbst antworten wir auf die Frage nach dem Wer des Daseins. Die Selbstheit des Daseins wurde formal bestimmt als eine Weise zu existieren, das heißt nicht als ein vorhandenes Seiendes.“125 Aber in ihrem Aufsatz WE setzt sich Arendt kritisch mit Heideggers Selbst auseinander. Obwohl Heidegger im Hinblick auf den Begriff der Geschichtlichkeit Abschied vom metaphysischen Denken nimmt,126 bleibe er noch bei der Tradition des philosophischen Denkens, weil er den 118 119 120 121 122 123 124 125 126 Safranski, 1994, S. 163. Heuer, 1996, S. 108. Heidegger, SZ, S. 24; im Gegensatz zum kritischen Blick auf die Arendtschen existentialphilosophischen Denkmotive vertreten Autoren wie Vollrath, Bluhm und d‟Arcais die Ansicht, dass Arendt im existentialphilosophischen Ansatz das politische Denken als eine antimetaphysische Form entwarf (vgl. Vollrath, S. 19; Bluhm, 2003, S. 70; d‟Arcais, 1993, S. 27f.). Heidegger, SZ, S. 26. Heidegger, SZ, S. 43. WE, S. 49. DW, S. 173. Heidegger, SZ, S. 267. In einem Vortrag, gehalten auf der Tagung der „American Society of Political Scientists“, führt Hannah Arendt selbst aus, was sie von Heidegger gelernt hat und warum sie von ihm abweicht. Was das politische Denken betrifft, findet Arendt den heideggerschen Verdienst in seinen zwei Begriffen von Geschichtlichkeit und Welt, die 235 Menschen nicht als ein handelndes Wesen versteht.127 Heideggers Philosophie endet daher im Versuch, „mit den neuen Inhalten systematische Philosophie durchaus im Sinne der Tradition wieder zu beleben.“128 Nach dem Bericht von Young-Bruehl pflegte Arendt über Heidegger zu sagen, dass er nicht in der Lage war, einen Neuaufbau zu leisten,129 weil er die Welt nicht als Zwischenraum für und durch das menschliche Handeln sah. Arendts Auffassung zufolge erweist sich das Selbst Heideggers daher als weltlos. Für Heidegger äußert sich die Seinsgeschichte „im Denken des Handelnden“,130 während bei Arendt die Lebensgeschichte das Resultat des Handelns selbst ist. Bei ihm bezeichnet sich daher das Denken selbst als das Handeln, nämlich die „rein innere Handlung“ 131. Dazu sagt Arendt: „Bei Heidegger hat dieser Niemand, der angeblich hinter dem Rücken der handelnden Menschen am Werke ist, eine konkrete Verkörperung in der Existenz des Denkens gefunden, der handelt, während er nichts tut; natürlich eine Person, die sogar als Denker auszumachen ist – was freilich nicht bedeutet, daß sie in die Welt der Erscheinungen zurückgekehrt wäre. Der Denker bleibt der solus ipse in existenziellem Solipsismus, nur daß nun das Schicksal der Welt, die Seinsgeschichte, von ihm abhängt.“132 Der Denker ist nichts anderes „als das eigentliche Selbst“133, weil sich das Wesen des Seins im Denken enthüllt. Das Selbst ist in der Identifizierung des Denkens mit dem Handeln das Subjekt des Denkens. Arendts Ansicht zufolge ist die Philosophie für Heidegger „die ausgezeichnete existentielle Seinsmöglichkeit des Daseins“134 in einer Umformulierung der aristotelischen Tradition, in der der Bios theoretikos als die höchste Möglichkeit des Menschen bezeichnet wird.135 Das eigentliche reine Selbst wäre das Sein des Menschen nur, „wenn es sich aus diesem seinen In-der-Welt-sein auf sich selbst zurückziehen könnte“.136 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 von den traditionellen Perspektiven abweichen (Arendt, Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought, in; Hannah Arendts Papers; zit. nach Barash, 1989, S. 112). Im Gegensatz zu dieser Auffassung hält Roberto Esposito Heideggers Philosophie grundsätzlich für eine Philosophie des Handelns, die die Handlung als ursprüngliche Offenheit des Daseins begreift. In diesem Zusammenhang formuliert er im Folgenden: „Arendts eigene Auffassung von Politik als ursprünglicher Pluralität wäre ohne Rücksicht auf diese Wendung nicht zu verstehen; sie bezieht sich auf Heideggers Behauptung vom ontologischen Primat der praxis über die theoria, die den Ausgangspunkt der Existenzialanalytik bildet. Wenn das Dasein zuallererst Handeln ist, so kann sich dies nur aus der Beziehung zum anderen ergeben.“ (Esposito, 1997, S. 553). WE, S. 65. Young-Bruehl, 1986, S. 643. DW, S. 172; im folgenden Satz kann man das Verhältnis zwischen dem Denken und dem Handeln bei Heidegger ablesen: „Das Denken handelt, indem es denkt.“ (Heidegger, 1969, S. 145; zit. aus Thomä, 2000, S. 179). DW, S. 176. DW, S. 178. DW, S. 178. WE, S. 69. Vgl. WE, S. 69. WE, S. 70; Heidegger sagt: „Das Dasein ist sein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses Selbst geht.“ (Heidegger, SZ, S. 191). 236 Arendts Auffassung zufolge wertet Heidegger den Begriff des Handelns ab und ignoriert ihn. Darüber hinaus wolle Heidegger, wie er in Sein und Zeit erklärt, die Beschäftigung mit dem Terminus Handeln absichtlich vermeiden.137 Dazu bemerkt Sergio Belardinelli: „Was das Handeln und die spezifischen Kennzeichen anlangt, die Hannah Arendt ihm zuschreibt, ist es schwer, irgendeinen expliziten Zusammenhang mit Heidegger zu finden.“138 Heideggers Selbst ist ganz unabhängig vom Handeln und deshalb völlig isoliert von anderen. Heideggers Selbst legt daher „eine idealistische Radikalisierung des nicht – handelnden Selbst“139 dar. Deshalb wird die Wer-Frage für Heidegger in ganz anderer Art und Weise beantwortet als bei Arendt. Diesen Unterschied führt Paul Ricoeur aus: „Bei Heidegger gehört die Untersuchung des Wer in den gleichen ontologischen Bezirk wie die der Selbstheit. Hannah Arendt greift dies auf, und sie verknüpft die Wer-Frage mit einer eigentümlichen Spezifizierung des Handlungsbegriffes (…). Bei Heidegger ist es die Abhängigkeit der Problematik des Selbst vom Existenzial Dasein, die das Wer in das gleiche ontologische Gravitationsfeld hineinzieht. Was aber Hannah Arendts Wer anbelangt, so ist es durch eine Handlungstheorie vermittelt“.140 So betrachtet ist Dana Villas Einschätzung irreführend, dass Heideggers Werk als eine Art von Auftakt zu Arendts Wiedergewinnung des Handelns zu begreifen ist.141 Die heideggersche „Ersetzung von Handlungen durch Seinsweisen“142 hat nach Arendt drei Folgen. Hinsichtlich der Unabhängigkeit des Wer vom Handeln wird der Mensch zuerst auf bloße Funktion der Seins reduziert. Heidegger spricht nie vom Menschen, sondern ausschließlich vom Dasein, das gemäß seiner „Seinsmodi“ inmitten eines Vorgegebenen funktioniert. Als Hirt des Seins soll der Mensch seinsgemäß funktionieren. Bei Heidegger tritt daher an die Stelle von Freiheit, die ein Wesenszug menschlichen Handelns mit anderen ist, ein Dasein.143 „Es entfallen alle jene Charaktere des Menschen, die Kant als Freiheit, Menschenwürde und Vernunft vorläufig skizziert hatte, die aus der Spontaneität des Menschen entspringen und darum phänomenologisch nicht nachweisbar sind, weil sie als spontane mehr sind als bloß Funktionen des Seins und weil der Mensch in ihnen mehr intendiert als sich selbst“.144 So fährt Arendt fort: „Der Heideggersche Funktionalismus (…) enden schließlich nur dabei, ein Modell vom Menschen zu ent- 137 138 139 140 141 142 143 144 Vgl. SZ, S. 300; vgl. DW, S. 176. Belardinelli, 1990, S. 138. Penta, 1985, S. 136. Ricoeur, 1996, S. 76. Vgl. Villa, 1996, S. 211. Thomä, 2000, S. 191. Vgl. WE, S. 68. WE, S. 68; vgl. Thomä, 2000, S. 199. 237 werfen, demzufolge der Mensch noch besser inmitten eines Vorgegebenen funktionieren würde, weil er von aller Spontaneität befreit wäre.“145 Zweitens ist Heideggers Selbst durch seine Ausschaltung der anderen gekennzeichnet. Dies bedeutet die fehlende Rückbindung an eine mit anderen geteilte und verantwortete Praxis. In Sein und Zeit schreibt Heidegger: „Das Wer beantwortet sich aus dem Ich selbst, dem Subjekt, dem Selbst. Das Wer ist das, was sich im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnisse als Identisches durchhält und dabei auf diese Mannigfaltigkeit bezieht.“146 An die Stelle des Handelns tritt die Selbsterfahrung des Denkens in Bezug auf sich selbst. So erscheint die romantische Subjektivität wieder, denn das Dasein im Menschen ist ja nichts anderes als die für sich gesetzte Dimension der reinen „Innerlichkeit“.147 Heideggers Selbst erweist sich als introspektiv. Arendt weist darauf hin: „Der wesentlichste Charakter dieses Selbst ist seine Selbstischkeit, seine radikale Abtrennung von allen, die seinesgleichen sind“.148 Die Eigentlichkeit des Selbst beruht für Heidegger auf der „Treue der Existenz zum eigenen Selbst“149, während die Realität des Selbst im Arendtschen Sinne auf die Gegenwart anderer angewiesen ist. Daraus ist festzustellen, dass das heideggersche Selbstsein „der eigentliche Gegenbegriff zum Menschen“150 ist, weil der Begriff der Menschen die Pluralität der Menschen stets in sich einschließt.151 Benhabib stellt fest, „daß Heideggers Unfähigkeit, die menschliche Bedingtheit der Pluralität zu artikulieren, bei ihm dazu führte, daß er eine Vorstellung äußerst isolierter Selbstheit entwickelte“.152 Im Rahmen der radikalen Isolierung des Individuums besteht die Welt aus einer Mehrzahl von beziehungslosen Selbsten. Angesichts des isolierten Selbst und des Fehlens der Pluralität in Heideggers Dasein lässt sich eine Gemeinschaft nur noch durch Rückzug in ein „Überselbst“ wie Volk und Erde jenseits von Zusammenhandeln und –sprechen herstellen. Diese Idee ist Arendts Ansicht zufolge eine der intellektuellen Quellen des modernen Totalitarismus.153 145 146 147 148 149 150 151 152 153 WE, S. 69. Hervorheben im Original. Heidegger, SZ, S. 114. Helmuth Plessner hat Heidegger in die Geschichte der deutschen Innerlichkeit eingeordnet (Plessner, 1985, S. 239). Darauf weist Habermas auch hin: „Denn das solipsistisch angesetzte Dasein besetzt wiederum den Platz der transzendentalen Subjektivität. Dies erscheint zwar nicht mehr als omnipotentes Ur-Ich, aber doch noch als die Urhandlung der menschlichen Existenz, in der alles Existieren inmitten des Seienden gewurzelt sein muß. Dem Dasein wird die Autorschaft für das Entwerfen der Welt zugemutet.“ (Habermas, 1998b, S. 179). WE, S. 71. Heidegger, SZ, S. 391; „Sich selbst treu sein heißt nichts anders als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst. Damit verwirkliche ich eine Möglichkeit, die ganz eigentlich mir selbst gehört. Dies ist Auffassung im Hintergrund des modernen Authentizitätsideals und der Ziele Selbsterfüllung oder Selbstverwirklichung, in deren Sinne das Ideal normalerweise formuliert wird.“ (Taylor, 1995, S. 39). WE, S. 72. Vgl. EU, S. 604. Benhabib, 1998, S. 172. Vgl. WE, S. 73; vgl. MfZ, S. 178; zum Zusammenhang der heideggerschen Philosophie mit der totalitären Herrschaft im Hinblick auf Arendts Analyse des Totalitarismus siehe Erler, 2002, S. 347; Benhabib, 1998, S. 172; Brunkhorst, 1999, S. 50f. 238 Drittens laufen die heideggersche Vernachlässigung des menschlichen Handelns und die Verherrlichung des absoluten Selbigkeit auf die Orientierung am Tod als Eingehen ins Alleine hinaus. Der Tod versteht sich bei Heidegger als ein auf sein Selbst bezogenes absolut Vereinzeltes: „Der Tod mag zwar das Ende des Daseins sein; er ist zugleich der Garant dafür, daß es letztlich auf nichts ankommt als auf sich selbst“. 154 Im Tod realisiere der Mensch „das absolute principium individuationis“.155 Der Tod wird also absolut verinnerlicht.156 Der Heideggerschen Todesauffassung fehlt daher die Dimension des Anderen. In diesem Zusammenhang setzt Heidegger die philosophische Tradition seit Plato fort. Im Gegensatz zu solipsistischer Ontologie Heideggers macht die Natalität Arendts den Menschen zu einem Individuum, das des Handelns mit anderen fähig ist.157 Handeln als Neuanfang bedeutet die Verwirklichung der Geburt. Helmut Dubiel weist darauf zu Recht hin: „Das Existential des gerade Geborenen, des Neuankömmlings in der Welt prägt ihren Begriff des Handelns so sehr, daß sich mit einer gewissen Überspitzung sagen ließe, daß Menschen immer dann wiedergeboren werden, wenn sie öffentlich handeln. Dieser der Welt zugewandte Existentialismus steht in einem deutlichen Kontrast zu Heideggers nekrophiliem Sein zum Tode. Während dieser tragischen Weltsicht eine dramatische Abwertung alles Politischen und Öffentlichen eingeschrieben ist, eignet sich Arendts Philosophie, die politisches Handeln am Paradigma des Geborenwerdens entwickelt, zum Verständnis des schwierigen Phänomens weltimmanenter Legitimität.“158 Im Gegensatz zum „existenzialen Solipsismus“159 in der Heideggerschen Todesauffassung beschreibt die Weltbezogenheit des Selbst Arendt zufolge keinen Abfall vom Selbst, sondern dessen ursprüngliche Wirklichkeit. Die mit anderen gemeinsame Welt ist eine möglichste Bedingung zur Erhellung des Selbst. Mit anderen Worten: Das Selbst lebt und bildet sich im weltlichen Modus der Interaktion mit seinesgleichen. „So wie ich von mir selbst als einem Selbst nur weiss, weil es Spiegel gibt, so bin ich ein Selbst, identisch Eins, nur weil ich als solches von Anderen angesprochen, anerkannt usw. werde.“160 Am Ende ihres Essays WE spricht Arendt im Einklang mit Jaspers vom Verhältnis des Selbst und der menschlichen Pluralität: „Die Existenz 154 155 156 157 158 159 160 WE, S. 72. WE, S. 72. Heidegger erklärt abschließend: „Die Charakteristik des existenzial entworfenen eigentlichen Seins zum Tode lässt sich dergestalt zusammenfassen: Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Manselbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt, es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstigenden Freiheit zum Tode.“ (Heidegger, SZ, S. 266. Hervorhebung im Original). Eine kritische Haltung Arendts gegenüber Heideggers Begriffen zeigt sich Young-Bruehls Auffassung zufolge bereits in ihrer Dissertation: „Während Heideggers Werk um die zukünftige Todeserfahrung kreist, legt Arendts Dissertation, auch wenn sie auf Heideggers Zeitmodell beruht, ebenso viel Gewicht auf die Geburt, auf das, was sie später Natalität nannte.“ (Young-Bruehl, 1986, S. 126f.). Dubiel, 1994, S. 51. DW, S. 174; vgl. Heidegger, SZ, S. 188. DTB, S. 735. 239 selbst ist wesensmäßig nie isoliert; sie ist nur in Kommunikation und im Wissen um andere Existenzen. Die Mitmenschen sind nicht (wie bei Heidegger) ein zwar strukturell notwendiges, aber das Selbstsein notwendig störendes Element der Existenz; sondern umgekehrt nur in dem Zusammen der Menschen in der gemeinsam gegebenen Welt kann sich Existenz überhaupt entwickeln.“161 1.3.3 Die Welt als Gegensatz des eigentlichen Selbst Der Begriff der Welt bildet das Zentrum der heideggerschen Philosophie. Im Begriff der Welt Heideggers sieht Arendt eine Möglichkeit für die philosophische Wendung gegen das isolierte Subjekt.162 Heideggers Begriff „In-der-Welt-Sein“ war in der Tat ein Versprechen zur Überwindung des bewusstseinsphilosophischen Subjektivismus, weil für Heidegger das In-der-Welt-Sein immer schon ein Mitsein mit Anderen ist.163 In diesem Zusammenhang hat dieser Begriff für Arendt einen Ansatz zur politischen Interpretation der Welt geliefert: Die heideggersche Analyse des Menschenseins unter dem Gesichtspunkt eines In-der-Welt-Seins war die philosophische Möglichkeit, den politischen Bereich zum Gegenstand des Denkens zu machen. 164 Arendt sagt: „Heidegger selbst hat den ersten Schritt in diese Richtung getan, als er in Sein und Zeit begann, das menschliche Dasein durch eine ausgedehnte phänomenologische Beschreibung des Alltagslebens zu analysieren, wobei dieses Leben die Einsamkeit nicht kennt, sondern ständig im und unter dem Bann von anderen steht.“165 Im Hinblick auf Arendts Weltbegriff hebt ein Autor wie Belardinelli hervor, dass Arendts Konzept der Welt vom Begriff der Welt Heideggers am stärksten beeinflusst ist. Darüber hinaus vertritt er die Ansicht, dass Arendt ihr Prinzip der Pluralität aus dem Begriff der Welt Heideggers ableitet.166 In ähnlicher Sicht betont Brunkhorst: „Es ist aber falsch, wie oft behauptet wird, erst Arendt habe aus Heideggers Begriff der Welt ein pluralistisches Konzept gemacht. Pluralität ist schon die Pointe von Heideggers Begriffen der Welt und des In-der-Welt-seins. Welt ist für Heidegger immer schon perspektivisch ausgelegt. Sie ist als kontingentes Projekt, als geworfe- 161 162 163 164 165 166 WE, S. 80. In seinem Buch Sein und Zeit schreibt Heidegger: „Die Klärung des in-der-Welt-seins zeigte, daß nicht zunächst ist und nie gegeben ist ein bloßes Subjekt ohne Welt. Und so ist am Ende ebenso wenig zunächst ein isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen.“ (Heidegger, SZ, S. 116). Vgl. Habermas, 1998b, S. 160ff. Das Verhältnis von Arendts politischem Denken zu der heideggerschen Auffassung von In-der-Welt-sein ist bisher verstärkt in den Mittelpunkt der Arendt-Forschung gerückt. Dazu siehe Barash, 1989, S. 112ff.; Belardinelli, 1990, S. 135ff.; Thomä, 2003, S. 400ff.; Benhabib, 1998, S. 169ff. Arendt, Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought, 1953; zit. aus Young-Bruehl, 1986, S. 419. Vgl. Belardinelli, 1990, S. 135. 240 ner Entwurf je mein Horizont.“167 In diesem Kontext vertritt Roberto Esposito die These, Hannah Arendts Begriff der Welt werde als eine bloße Ausdeutung oder Konkretisierung von Heideggers In-der-Welt-sein verstanden.168 Im Gegensatz zu diesen Einschätzungen kann man Hannah Arendts Begriff der Welt als die Umdeutung und Revision von Heideggers Weltbegriff verstehen. In seiner eminenten Analyse versucht Barash zu zeigen, dass Arendts Weltbegriff keine bloße Ergänzung von Heideggers Sein und Zeit ist, sondern eine Neubewertung der philosophischen Tradition, die Heidegger fortschreibt.169 Im Kontrast zur Einschätzung Brunkhorsts vertritt Benhabib die Ansicht, dass sich die Originalität des Arendtschen Weltbegriffs in ihrer stärkeren Betonung des Prinzips der Pluralität zeigt: „Obwohl Heidegger die menschliche Pluralität für die menschliche Bedingtheit konstitutiv machte, indem er das In-der-Welt-sein des Daseins als eine Form des Mitseins analysierte, verunglimpften die grundlegenden Kategorien seiner existenzialen Analytik das menschliche Zusammensein gleichwohl als eine Form des Seins mit dem Man, statt die menschliche Pluralität zu erhellen.“170 In diesem Sinne sprechen viele Autoren davon, dass sich Arendts öffentliche Welt als der Raum des politischen Zusammenhandelns gegen den Begriff der Welt Heideggers richtet. Anders gesagt besteht die Differenz zwischen Arendt und Heidegger darin, dass Heidegger keine Beziehung zwischen Pluralität und Handeln erkennt.171 Hinsichtlich der Verachtung der menschlichen Pluralität bleibt Heidegger Arendts Ansicht zufolge bei der Tradition politischer Philosophie: „Diese Pluralität ist seit Plato (und bis Heidegger) dem Menschen im Wege“.172 Dieter Thomä hält fest: „Die Welt, die zu dieser Art von Interaktion gehört, rückt damit von Heideggers ursprünglichem Bild noch weiter ab; die Eigenständigkeit von Arendts Theorie und ihre Kompetenz für das politische Miteinander wird nur noch deutlicher. Umgekehrt aber gewinnt damit Heideggers eigene Konzeption der Welt auch wieder ihre Unabhängigkeit von Arendt zurück, und mit ihrer Hilfe lässt sich nun umgekehrt die Einsicht in einen Aspekt befördern, mit dem Arendt mehr Mühe hat als Heidegger.“173 Wir suchen nach der Beantwortung der Frage, warum Heidegger in seinem Begriff der Welt keine Implikation politischer Pluralität entwickeln konnte. Einer der Gründe dafür besteht darin, 167 168 169 170 171 172 173 Brunkhorst, 1999, S. 19. Esposito, 1997, S. 551f. Barash, 1989, S. 112-127; vgl. Thomä, 2000, S. 205; Benhabib, 1998; Vollrath, 1988. Benhabib, 1998, S. 171. „Die Differenz zwischen Arendt und Heidegger besteht also nicht darin, daß sie aus Heideggers Begriff der Welt ein pluralistisches Konzept gemacht hat, (…) sondern darin, daß der Mensch nicht nur In-der-Welt ist, sondern daß Arendt die Konstituierung des Selbst an eine mit anderen geteilte und verantwortete öffentlichpolitische Praxis rückbindet.“ (Meints, 2008, S. 79). DTB, S. 80. Thomä, 2000, S. 205; vgl. Vollrath, 1988, S. 361. 241 dass Heideggers Denken ein Begriff für Handeln als Interaktion fehlt.174 Im Hinblick auf seine Vernachlässigung des politischen Handelns stellt die Welt als der Raum des Handelns für Heidegger den Existenzmodus des uneigentlichen Daseins dar. Die Welt ist daher „als Strukturen einer durchschnittlichen Alltagsexistenz, d.h. des uneigentlichen Daseins“ verstanden.175 So ist die „öffentliche Wir-Welt“176 die „Seinsweise des Man“.177 Selbst wenn das Seiende ein Mitdasein ist, wie Michael Theunissen meint, „so ist doch der spezifische Sinn der zwischenmenschlichen Begegnung (…) in dieser Fassung des Begriffs von vornherein eliminiert.“178 Im Weltbegriff von Heidegger findet man die traditionelle Feindseligkeit des Philosophen gegen die menschlichen Angelegenheiten. Heidegger begreift das Dasein als faktischen Selbstvollzug, der unbeeinflusst von Welt vonstatten geht. Authentisch ist ein Dasein, das sich in einem Akt der radikalen Vereinzelung aus der Um- und Mitwelt löst, um sich auf sich selbst zurückzuziehen. Diesen Gegensatz zwischen dem Man und dem Selbst stellt Saner in der kurzen Formulierung dar: „Je selbstischer, desto eigentlicher; Je gemeinsamer, um so verfallender an das Man.“179 Darauf weist Arendt hin: „Wir entdecken die Feindseligkeit des Philosophen gegenüber der Polis in der Art, wie Heidegger das Alltagsleben des Man in seiner Durchschnittlichkeit analysiert und die Herrschaft der öffentlichen Meinung gegenüber dem Selbst betont: Der öffentliche Bereich wirkt sich vorwiegend darin aus, die wahre Wirklichkeit zu verdecken und die Erscheinung der Wahrheit zu verhindern.“180 Arendt wendet sich gegen die heideggersche Entwertung der Welt bezüglich der Eigentlichkeit des Selbst. Im Gegensatz zu Heideggers Vernachlässigung des politischen Handelns stellt die Welt bei Arendt ein durch gemeinsames Handeln geprägtes Bezugssystem dar. Arendt wandelt den heideggerschen Begriff der Sorge des Daseins um sich selbst in die Sorge um die Welt zwischen Menschen um. Der Standort des Arendtschen Verständnisses der Welt ist die Pluralität der in der Welt handelnden Menschen. Das stellt Jeffrey fest: „Während Heidegger die Welt und ihre Öffentlichkeit aus der Seinweise des jemeinigen Daseins entspringen lässt, wobei die Dauerhaftigkeit der Weltöffentlichkeit sich als eine uneigentliche Seinweise des Man enthüllt, das sich seine eigene Endlichkeit zu verheimlichen sucht, fasst Arendt die Öffentlichkeit der Welt ganz anders auf. Sie begreift die Öffentlichkeit der Welt bereits als symbolischen und 174 175 176 177 178 179 180 Vgl. Benhabib, 1998, S. 172. Habermas, 1998b, S. 178. Heidegger, SZ, S. 65. Heidegger, SZ, S. 127: „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als die Öffentlichkeit kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht.“ Theunissen, 1977, S. 170. Saner, 1997, S. 104; vgl. Heidegger, SZ, S. 128. Zit. nach Barash, 1989, S. 121. 242 kommunikativen Raum – als Zwischenraum-, der sich nicht aus der Jemeinigkeit des Daseins ableiten lässt, sondern aus einer ursprünglichen Pluralität entspringt, deren wesentlicher Sinn die Endlichkeit des Menschen übersteigt.“181 Für Arendt sind die Mitwelt und Mitmenschen nicht ein das Selbstsein störendes notwendiges Element der Existenz. Das Selbst verbindet untrennbar mit dem weltlichen Zusammenhandeln der Menschen. In diesem Zusammenhang ist Arendts These unschwer zu verstehen: Menschen seien „nicht bloß in der Welt, sie sind von dieser Welt“.182 Die Welt könnte für Arendt die menschliche Heimat werden, wenn die Welt zum Raum des Miteinanderhandelns und Miteinanderredens wird. Während Heidegger die Verdunkelung als das Wesen der öffentlichen Welt bezeichnet183, erhält die Öffentlichkeit für Arendt „eine Leuchtkraft“184, die verschwindet, wenn Menschen sich aus der öffentlichen Welt zurückziehen. Bei Arendt geht es nicht um die Verdeckung des eigentlichen Selbst durch die Öffentlichkeit, sondern um den Verlust der Leuchtkraft der Öffentlichkeit.185 Wo Arendt mit ihrer handlungstheoretischen Denkfigur der Pluralität die moderne Weltentfremdung bewältigen und das Handeln mit einer Verantwortlichkeit gegenüber der gemeinsamen Welt verbinden will, steht bei Heidegger eine Fundamentalkritik an der Uneigentlichkeit der öffentlichen Welt. Angesichts der Laudatio auf Jaspers, die sich als eine mittelbare Kritik an Heidegger verstehen lässt, schreibt Arendt: „Jaspers hat nie das allgemeine Vorurteil der Gebildeten geteilt, daß die Helle des Öffentlichen alle Dinge flach und platt mache, daß in ihm nur das Durchschnittliche zur Geltung komme und daß daher der Philosoph sich aus ihm entfernen müsse.“186 181 182 183 184 185 186 Barash, 1989, S. 122. DD, S. 30. „Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht (…), nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit des Daseins verfügt, sondern (…) weil sie unempfindlich ist gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit. Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus.“ (Heidegger, SZ, S. 127). MfZ, S. 83. Vgl. Jaeggi, 1997a, S. 26f. MfZ, S. 86. 243 2. Pluralität und Kategorie des Politischen Durch Kategorie erkennt man die Grundformen der Phänomene. Daher kann das Aufzeigen der Kategorien des Politischen den Zugang zum wesentlichen Phänomen des Politischen liefern.1 Die Radikalität der politischen Theorie Arendts findet sich vor allem in der kritischen Zurückweisung und Rekonstruktion der überlieferten Kategorien des Politischen. Durch die Auseinandersetzung mit den traditionellen Kategorien des Politischen stellt Arendt die Frage, ob die traditionellen Kategorien des Politischen die politische Qualität erhalten und in welchem Verhältnis sie zu politischen Phänomenen stehen. In der Betrachtung der politischen Kategorien rückt Arendt die Frage in den Mittelpunkt, was die sichtbaren „ursprünglichen Gegebenheiten in dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten“ sind.2 Wenn man nach dieser Gegebenheit der politischen Welt in der Vielfalt politischer Phänomene suchen will, muss man zuerst von einem Maßstab oder einer Konstellation ausgehen, welche in sämtlichen Erscheinungsformen des Politischen unbezweifelbar gemeinsam ist. Diese phänomenale Gemeinsamkeit sieht Arendt darin, dass alle politischen Phänomene Resultate der in der Pluralität mithandelnden Menschen sind.3 Politik und alle Begriffe, die aus dem politischen Bereich erwachsen, haben im „Faktum der Pluralität“ ihren phänomenalen Ursprung. Bei Arendt ist das Faktum der Pluralität die Grundbedingung dafür, „daß es so etwas wie Politik unter Menschen gibt“.4 Durch das Konzept der Pluralität verleiht Arendt allen zentralen politischen Begriffen „einen originär demokratischen Sinn“.5 Dabei geht es um die folgenden: Freiheit, Autorität und Macht. Im Licht der Pluralität versucht Arendt, die politische Qualität dieser Begriffe zu erschließen. 2.1 Die Freiheit als ein politisches Phänomen Für die politische Grundstruktur ist die Freiheit als Legitimationskriterium heute beinahe allgemein anerkannt. Die Freiheit, die in Wahrheit als unverzichtbare Grundbedingung für die Realisierung der Menschenwürde bezeichnet wird, gilt als die einzige Sache, für die „es sich zu kämpfen lohnte“. 6 Eine nähere Bestimmung des Begriffs „Freiheit“ erweist sich jedoch als 1 2 3 4 5 6 „Kategorien sind verallgemeinernde Begriffe, in denen prägende Elemente des Politischen deutlich werden. Sie sollen Zugänge zum Politischen eröffnen, indem sie in Schlüsselfragen umformuliert das Wesentliche, das Verallgemeinerbare von Politik aufschließen.“ (Massing, 1999, S. 11). MG, S. 174; vgl. auch MG, S. 193. Vgl. DTB, S. 16. VA, S. 17. Schönherr-Mann, 2006, S. 144. ÜR, S. 9. 244 schwierig, weil der Begriff der Freiheit historisch sehr verschiedene Ansprüche und Prinzipien enthält. Der Streit um den Freiheitsbegriff verweist daher auf „heute aktuelle Konflikte und gesellschaftspolitische Positionen“.7 Das Problem der Freiheit steht im Mittelpunkt der politischen Theorie von Arendt. In der Totalitarismusanalyse wie in der Untersuchung der modernen Gesellschaft thematisiert Arendt die Krise der Freiheit. In der Revolutionsgeschichte geht Arendt dem „Freiheitsmythos“ 8 nach. Arendts politisches Denken geht, wie Jaspers sagt, vom „Traum der politischen Freiheit“ aus.9 Arendt findet das spezifische Kennzeichen der Freiheit in ihrer Korrelation mit der Pluralitätskonzeption heraus. Die Freiheit ist für sie kein Begriff, sondern „ein wesentlich politisches Phänomen“10, das in der menschlichen Pluralität erfahrbar ist: „Die politische Freiheit ist nur möglich in der Sphäre der menschlichen Pluralität.“11 2.1.1 Politik und Freiheit Die Beziehung zwischen der Politik und der Freiheit ist vielleicht die zentrale Herausforderung für die politische Ideengeschichte. Arendts politisches Denken ist durch die Identifizierung von Politik und Freiheit gekennzeichnet. Die Freiheit steht nicht im Kontrast zum Politischen, sondern hat „von allem Anfang an, jedenfalls im Abendland, das eigentliche Wesen von Politik bestimmt“.12 Das Buch Was ist Politik? beginnt Arendt mit den Sätzen: „Auf die Frage nach dem Sinn von Politik gibt es eine so einfache und in sich so schlüssige Antwort, daß man meinen möchte, weitere Antworten erübrigten sich ganz und gar. Die Antwort lautet: Der Sinn der Politik ist Freiheit“13. Im Aufsatz Freiheit und Politik formuliert Arendt im Folgenden: „Man kann nicht über Politik sprechen, ohne immer auch über Freiheit zu sprechen, und kann nicht von Freiheit sprechen, ohne immer schon über Politik zu sprechen“14, denn die Freiheit sei ein „ausschließlich und radikal politischer Begriff“ und „der Inbegriff des politischen Lebens“.15 Noch mehr: Freiheit sei „nicht nur eines unter den vielen Phänomenen des politischen Bereichs, wie Gerechtigkeit oder Macht oder Gleichheit; Freiheit (…) ist tatsächlich der Grund, warum 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Greven, 1995, S. 116. Besier, 2006b. BAJ, S. 542. ZVZ, S. 210. DW, S. 191. ÜR, S. 9. WP, S. 28. ZVZ, S. 201. ZVZ, S. 211. 245 Menschen überhaupt politisch organisiert zusammenleben. Der Sinn von Politik ist Freiheit, und ohne sie wäre das politische Leben sinnlos.“16 Die Politik ist für Arendt der Ort der Freiheit und ihre Lebensweise. Das Wesen der heutigen „Krise des Politischen“17 besteht Arendts Auffassung zufolge darin, dass wir das Verhältnis des Politischen zur Freiheit und zum Menschensein nicht mehr erhellen können. In dieser Zeit, wo man sich im Namen der Freiheit gegen die Politik wendet, ist die Frage gestellt: „Hat Politik überhaupt noch einen Sinn?“18 Vor allem scheint die Erfahrung der totalitären Herrschaftsform die Vereinbarkeit von Politik und Freiheit gar nicht zuzulassen. Dabei handelt es sich vielmehr um die bittere Feindschaft zwischen Politik und Freiheit. Zwecks Erweiterung der Freiheit sollten möglichst große Gebiete des menschlichen Lebens aus dem Einflussbereich der Politik ausgeklammert werden. Dieser Gegensatz zwischen Politik und Freiheit ist charakteristisch nicht nur für den individualistischen Liberalismus, sondern auch für den Sozialismus. Wie wir gesehen haben, ist „das Reich der Freiheit“ für Marx keineswegs in dem politischen Bereich erreicht und erreichbar. So teilt der Sozialismus mit dem Liberalismus die Vorstellung: „Je weniger Politik (…) desto mehr Freiheit, oder je kleiner der Raum, den das Politische einnimmt, desto größer der Raum, der der Freiheit gelassen ist.“19 Die Unvereinbarkeit zwischen der Politik und der Freiheit beruht Arendts Ansicht zufolge auf dem Vorurteil gegenüber der Politik überhaupt. Wenn die Politik als Herrschaft verstanden wird, ist die Freiheit im Kontrast zum Politischen gesehen. Insofern lässt sich die Utopie der Freiheit nur durch die Selbstaufhebung der Politik verwirklichen.20 Bestenfalls bezeichnet sich die Politik als das funktionale Werkzeug der Freiheit. Das Verhältnis zwischen Politik und Freiheit ist so verstanden, „daß die Politik ein Mittel ist und die Freiheit ihr höchster Zweck“ 21. Damit verbunden lässt sich Freiheit nur durch staatliche Sicherheitsmaßnahmen gleichsam herstellen. Dabei existiert die Politik als der souveräne Gestalter, der den Zweck individueller Freiheit ermöglicht. 22 Daraus entsteht die Gefahr des „Despotismus der Freiheit“ 23 . Im Gegensatz zu dieser Betrachtungsweise ist die Freiheit für Arendt nicht das Ziel oder der Zweck von Politik; 16 17 18 19 20 21 22 23 ZVZ, S. 231. WP, S. 13. WP, S. 77. ZVZ, S. 202. Vgl. DW, S. 206. WP, S. 69. Auch wenn Benjamin Constant bei seiner Unterscheidung zwischen der Freiheit der Modernen und der Freiheit der Alten den Wert der (politischen) Freiheit der Alten betont, sieht er sie nur als Mittel zur Gewährleistung der privaten Freiheit an: „Die persönliche Freiheit, ich wiederhole es, ist die wirkliche moderne Freiheit. Die politische Freiheit gewährt ihr Schutz: die politische Freiheit ist deshalb unentbehrlich.“ (Constant, 1946, S. 52). ÜR, S. 226. 246 und die Freiheit ist „vielmehr der eigentliche Inhalt und der Sinn des Politischen selbst, aber nicht sein Zweck. In diesem Sinne sind Politik und Freiheit identisch, und wo immer es diese Art von Freiheit nicht gibt, gibt es auch keinen im eigentlichen Sinne politischen Raum.“24 Die Politik ist „Praxis der Freiheit“25. Dass der Sinn von Politik Freiheit ist, bedeutet „daß die Freiheit beziehungsweise das Frei-Sein im Politischen und seinen Tätigkeiten beschlossen liegt.“26 Kurz gesagt ist das politische Handeln selbst das Zeichen der Freiheit. Die Bezeichnung „Politische Freiheit“ verwendet Arendt unter der Vereinbarkeit von Politik und Freiheit. Die politische Freiheit ist im positiven Sinne die „handelnde Freiheit“. 27 Diese Freiheit impliziert eine Doppeldimension des Handelns, also die „Verantwortung für das Gemeinwesen“ 28 einerseits und die Enthüllung der Person andererseits. Diese Dimensionen des politischen Handelns verweisen auf den Inhalt der Freiheit. So stellt die Wortverbindung „Politische Freiheit“ weder die Freiheit von Politik noch die Freiheit durch Politik dar. Die politische Freiheit weist für Arendt die „Freiheit zur Politik“29 auf. Die politische Freiheit sei „das Recht auf aktive Teilhabe der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten“. 30 Sie ist das Ergebnis der politischen Anstrengungen in Worten und Taten: „Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns“.31 Wenn man Freiheit und Politik zusammenbringen will, so muss man sie zuerst in ihrem Ursprung aufsuchen, weil es darauf ankommt, ob diese beiden Begriffe wirklich gleichen geschichtlichen Lebenswelten zugehörten. Aus dieser geschichtlichen Betrachtung können „ein anderes Bewußtsein von Freiheit“ und „ein anderer Begriff von Politik“32 erwachsen. Arendts Versuch, den Politikbegriff der antiken Polis zu vitalisieren, entspricht dem Versuch, den Zusammenhang von Politik und Freiheit wiederherzustellen und die Freiheit als politische Wirklichkeit zu verstehen. Arendts Denken bahnt uns den Weg zur Wiederentdeckung der politischen Freiheit. Arendts Auffassung zufolge liegt der Ursprung des Freiheitsbegriffs in der Poliswelt: „Freiheit als ein politisches Phänomen datiert von dem Entstehen der griechischen Polis.“33 Was politische Freiheit wirklich bedeutet, spricht Herodot für die Polis aus, „daß man weder beherrscht wird noch selber herrscht und daß daher Menschen nur (…) in dem Unter – seinesgleichen 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 WP, S. 52. Reist, 1990. WP, S. 203. ÜR, S. 173. ÜR, S. 356. Barley, 1990, S. 116; Penta, 1985, S. 82. ÜR, S. 281. ZVZ, S. 201. ZVZ, S. 205; vgl. WP, S. 38. ÜR, S. 35; vgl. Meier, 1975, S. 426. 247 Sein frei sein können.“34 Der Grund dafür, dass die Freiheit der politischste Begriff in der griechischen Begriffswelt war und dass die Polis das Reich der Freiheit war, besteht darin, dass in der Polis „alle Angelegenheiten vermittels der Worte (…) geregelt werden und nicht durch Zwang oder Gewalt“35. Herrschaft und Freiheit waren zwei gegensätzliche Werte des menschlichen Zusammenlebens. Das Herrschaftsverhältnis zerstöre den politischen Raum, und „das Resultat dieser Zerstörung ist die Vernichtung der Freiheit für Herrscher und Beherrschte.“ 36 Jenseits vom Herrschaftsverhältnis bewegt sich jeder in der Polis unter seinesgleichen: „Ohne solche Anderen, die meinesgleichen sind, gibt es keine Freiheit, und darum ist der, der über Andere herrscht und daher auch von Anderen prinzipiell verschieden ist, zwar glücklicher und beneidenswerter als die, welche er beherrscht, aber er ist um nichts freier.“37 Eindrucksvoll ist, dass sich die griechisch-polisweltliche Freiheit als politisches Phänomen mit der Krise der Polis rasch in „die Freiheit der individuellen Lebensführung“ verwandelte. 38 Und damit wird die Trennung von Freiheit und Politik schlagartig klar. Angesichts dieser Trennung ist es nicht verwunderlich, dass man sich von dem politischen Leben für Freiheit abkehrt. Nun wird die Freiheit, die ein politisches Phänomen war, zum philosophischen und religiösen Thema. Die philosophisch und religiös verstandene innere Freiheit tritt an die Stelle der Freiheit als weltlicher Realität. Vor allem die philosophische Vorliebe für das kontemplative Leben richtet sich auf solche andere Freiheit, also eine Freiheit, die außerhalb des Miteinanders anhebt. Arendt weist darauf hin, „daß der abendländische Freiheitsbegriff entscheidend durch eine lange und schwer zu überblickende Geschichte religiösen und philosophischen Denkens vorgeformt ist, und zwar gerade in jenen langen Jahrhunderten zwischen dem Untergang der antiken und der Geburt der neuzeitlichen Welt, in denen es politische Freiheit nicht gab und Menschen aus Gründen, die uns hier nichts angehen, sich für eine solche Freiheit auch nicht interessierten. So versteht man selbst in politischer Theorie gemeinhin unter politischer Freiheit überhaupt kein primär politisches Phänomen, sondern im Gegenteil die mehr oder minder ungehinderte Ausübung nicht-politischer Betätigung, die jeweils von einem Staat erlaubt und garantiert ist.“39 Den verlorengegangenen politischen Freiheitsbegriff entdeckt Arendt wieder in der Geschichte der Revolutionen. Diese Entdeckung ermutigt sie zur Unterscheidung zwischen Befreiung und Freiheit. Aus der politischen Erfahrung der Zeiten zentralisierter Unterdrückung mag man politische Freiheit als die Abwesenheit der staatlichen Einschränkungen und Zwänge verstehen. Es 34 35 36 37 38 39 ZVZ, S. 225. VA, S. 36. ÜR, S. 37. WP, S. 39. Krämer, 1977, S. 245; vgl. Günther, 1979, S. 65; ZVZ, S. 210f. ÜR, S. 35. 248 ist zweifellos, dass das freiheitliche Handeln nicht nur den Verzicht auf Gewalt voraussetzt, sondern auch die ökonomische Unabhängigkeit, denn die Freiheit beginnt dort, wo die Sorge um das Leben die Menschen zu unterdrücken aufhört. In diesem Zusammenhang kann man sagen, dass der große Reichtum des Landes oder die Befreiung der Unterdrückten die Voraussetzung für die Verwirklichung der politischen Freiheit ist. Auch in der antiken Polis, wo der Freiheitsbegriff entstand, setzt Freiheit zunächst einmal die Unabhängigkeit von ökonomischen wie physischen Notwendigkeiten voraus. 40 In diesem Zusammenhang lehnt Arendt die ökonomische und politische Emanzipation als die wichtigste moderne Errungenschaft für die menschliche Freiheit nicht ab.41 Man muss jedoch gleich hinzufügen, dass diese moderne Emanzipation höchstens eine Voraussetzung für die Freiheit sein kann, aber nicht diese selbst.42 Obwohl Arendt nicht ausschließt, dass die Vorbedingung der politischen Freiheit ein Gewicht hat, ist für sie eher entscheidend, dass die politische Freiheit in erheblich große Gefahr gerät, die Unfreiheit im Namen der Freiheit verewigen zu können, wenn die Politik auf ein Mittel zur Lösung der sozialen Fragen reduziert wird und wenn die politische Freiheit mit Sicherheit gleichsetzt wird.43 Dann wird die politische Freiheit durch „Zwang für Freiheit“44 oder Herrschaft für Volk ersetzt. Politisch gesehen impliziert der Zustand der Befreiung oder der Emanzipation gleichzeitig zwei Möglichkeiten, entweder zur Errichtung der Freiheit oder zur Tyrannei zu führen. Durch die Geschichte der Revolutionen erkennt man, dass die wirtschaftliche Befreiung von der Armut oder die politische Befreiung vom Zwang nicht unmittelbar die politische Freiheit verursacht.45 Arendt vertritt die 40 41 42 43 44 45 „Es ist ja selbstverständlich, daß öffentliche Tätigkeit nur dann möglich ist, wenn für die viel vordringlicheren Lebensnotwendigkeiten gesorgt ist.“ (VA, S. 79). Arendt unterscheidet zwischen zwei Aspekten der Freiheit, also negativer und positiver Freiheit: „Die Menschheit hat immer gewußt, daß es zwei Aspekte der Freiheit gibt, einen negativen, nämlich frei zu sein vom Zwang durch andere, und einen positiven, nämlich frei zu sein im Handeln, um nicht so sehr das Ich –will wie das Ichkann zu verwirklichen. Ferner ist stets mehr oder weniger verstanden worden, daß beide miteinander verbunden sind, daß niemand zur Tat frei sein kann, der nicht frei von Zwang ist.“ (ZVZ, S. 239f.). Vgl. DW, S. 197. „Aber selbst wenn man die freie Marktwirtschaft ökonomisch nur für einen Segen hält, dürfte diese Freiheit doch immer noch sehr sekundärer Natur sein, wenn man an die wirklich politischen Freiheiten denkt – Gedanken- und Redefreiheit, Versammlungs- und Organisationsfreiheit. Auf keinen Fall ist auf ein wie immer geartetes Wirtschaftssystem in Sachen der Freiheit Verlaß. (…) und niemals können die wirtschaftlichen Faktoren automatisch in die Freiheit führen oder als Beweis für die freiheitliche Natur einer Regierung ins Feld geführt werden.“ (ÜR, S. 280). Vgl. ÜR, S. 147. Gegen die Arendtsche Einsicht in die Geschichte der Revolutionen erhebt Habermas den Einwand, dass Arendt die Emanzipation des Einzelnen zur Freiheit gering schätzt: „Wir können die Bedingungen politischer Freiheit sinnvoll nur im Zusammenhang einer Emanzipation von Herrschaft diskutieren. Diese Kategorie von Herrschaft darf politische Gewalt und soziale Macht nicht trennen, sondern muß sie als das zeigen, was beide sind: als Repression. Unter Bedingungen sozialer Abhängigkeit bleibt das beste Recht auf politische Freiheit Ideologie.“ (Habermas, 1981a, S. 227). Aber in seiner Überlegung von Arendts Macht-Begriff, die zehn Jahre später nach seiner Analyse der arendtschen Revolutionstheorie beschrieben wurde, räumt er selbst interessanterweise ein, „daß die technisch – ökonomische Bewältigung der Armut keineswegs schon die praktisch- politische Sicherung der öffentlichen Freiheit bedeutet.“ (Habermas, 1981b, S. 239). 249 These, die politische Freiheit lasse sich da realisieren, „nur wo der Befreiungskampf gegen den Unterdrücker die Begründung der Freiheit wenigstens mitintendiert.“46 Von der brüchigen Bezugnahme von Befreiung und Freiheit formuliert Arendt im Folgenden: „Daß Befreiung und Freiheit nicht dasselbe sind, daß Freiheit zwar ohne Befreiten nicht möglich, aber niemals das selbstverständliche Resultat der Befreiung ist, daß der Freiheitsbegriff, der der Befreiung eigen ist, notwendigerweise nur negativ ist, und daß also die Sehnsucht nach Befreiung keineswegs identisch ist mit dem Willen zur Freiheit“.47 2.1.2 Die öffentliche und die bürgerliche Freiheit Dem Begriff der Öffentlichkeit kommt in Arendts Verständnis der Freiheit eine Schlüsselrolle zu. Politische Freiheit ist öffentlich, aber nicht bürgerlich48 oder privat. Sie ist auf Öffentlichkeit angewiesen und zugleich schafft Öffentlichkeit. So stehen die Freiheit und die Öffentlichkeit im wechselseitig konstitutiven Verhältnis. Die Verbindung der Freiheit mit der Öffentlichkeit liegt im Zentrum vom republikanischen Freiheitsbegriff Arendts.49 Im Hinblick auf das Polisleben hat die Öffentlichkeit den Doppelcharakter: „sowohl als ein Sektor gemeinschaftlicher Interessen – im Gegensatz zu den Privatangelegenheiten - als auch als ein Bereich von Handlungen, die offen vor aller Augen vorgenommen werden – im Gegensatz zu geheimen Prozeduren.“50 Das Wort „öffentlich“ ist für Arendt mit dem Wort „politisch“ und „pluralistisch“ identisch und steht im Gegensatz zu „privat, selbstbezogen, eigennützig“. 51 Etymologisch betrachtet, bedeutet das Wort „öffentlich“ „publicus“ oder „vor der gemeind und Offenlich reden“.52 Die öffentliche Sphäre wird in den griechischen Quellen meistens mit der Polis identifiziert und ist „eine Gemeinschaft von Ebenbürtigen, die alle die gleiche Kapazität des Handelns besitzen“.53 In diesem Zusammenhang versteht man die öffentliche Freiheit als die Freiheit, gemeinsam mit den anderen die öffentlichen Angelegenheiten zu regeln. In diesem 46 47 48 49 50 51 52 53 ÜR, S. 42. ÜR, S. 34f. Wenn hier von der bürgerlichen Freiheit die Rede ist, wird das Wort „Bürger“ ausschließlich im Sinne von dem bourgeois, der als Privatperson seine Eigeninteressen verfolgt, verwendet, im Gegensatz zum Citoyen als Bürger, „der fähig sein müsse, an dem, was zur Regierung gehört, Anteil zu nehmen.“ (Sternberger, 1980b, S. 119); vgl. Aristoteles, Pol. 1275 b 18f. Zum republikanischen Freiheitsbegriff von Hannah Arendt siehe Gebhardt, 2004b; Vollrath, 1996b; Rödel/Dubiel/ Frankenberg, 1989, S. 52; Breier, 1996, S. 55ff.; Bonacker, 2006, S. 177-245. Vernant, 1982, S. 46. Meier, 1983, S. 27. Hölscher, 1978, S. 414; vgl. auch Habermas, 1969, S. 28; Held formuliert: „Das deutsche Wort öffentlich hat das Hilfreiche, daß es durch den sprachlichen Zusammenhang mit dem Wort offen das Hervortreten aus der lebensweltlichen Verborgenheit des instrumentellen Handelns anklingen läßt. Indem das Licht der Offenheitsdimension Welt in den Brennpunkten des öffentlichen Meinungsstreits aufleuchtet, gewinnt die Welt einen neuartigen Charakter“ (Held, 1993, S. 405). VA, S. 312. 250 Verständnis unterscheidet Arendt rigoros zwischen der öffentlichen Freiheit und der privaten. In die Öffentlichkeit treten heißt aus dem Privatleben heraustreten. Arendt hält fest: „Freiheit kann der Sinn von Politik nur sein, wenn wir unter dem Politischen einen öffentlichen Raum verstehen, der sich nicht nur von der Sphäre des Privatlebens abgrenzt, sondern sogar immer in einem gewissen Gegensatz zu ihr steht.“54 Was die Öffentlichkeit betrifft, hat die Freiheit zwei Merkmale: Erstens hat die öffentliche Freiheit mit der Wirklichkeit der Person zu tun. Durch die Teilnahme an der Öffentlichkeit, zu deren Wesen die Leuchtkraft gehört, kann man Aufschluss darüber geben, wer er ist.55 Wenn die Öffentlichkeit als Erscheinungsraum verstanden wird, enthüllen Menschen sich selbst in der Öffentlichkeit miteinander handelnd und sprechend. So ist die öffentliche Freiheit mit dem Prinzip der Individuierung verbunden: „Das Wort öffentlich (…) bedeutet (…), daß alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt. Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt.“56 Die öffentliche Freiheit erweist sich zweitens als weltlich. Die Weltlichkeit der öffentlichen Freiheit hat mit dem Interesse an der gemeinsamen Welt zu tun. Die Weltlichkeit bedeutet, dass sich das plurale Wir an der Veränderung unserer gemeinsamen Welt beteiligt. Sofern die Freiheit weltlich ist, lässt sich sie nicht als natürliche Ausstattung des menschlichen Daseins bezeichnen. Die Welthaftigkeit der Freiheit entsteht durch Pluralität, in der sich ein Gemeinsames präsentiert. Die weltliche Freiheit ist „nicht jene Innerlichkeit, in die man sich vor dem Druck der Welt beliebig zurückziehen kann“57. Die öffentliche Freiheit vollzieht sich im Zusammenhandeln und -sprechen über die gemeinsame Welt. Vor diesem Hintergrund verknüpft sich die öffentliche Freiheit mit der Verantwortung für die gemeinsame Welt. Die öffentliche Freiheit liegt in der Anerkennung der Pluralität der Perspektiven.58 Wenn der öffentliche Raum vom Privatinteresse oder einheitlichen Gesellschaftsinteresse unterdrückt wird und wenn er die unterschiedlichen Positionen ausschließt, wird die öffentliche Freiheit abge- 54 55 56 57 58 ZVZ, S. 209. In diesem Sinne ist die individuelle Freiheit nicht ganz identisch mit der privaten Freiheit. Daher hat die Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen nichts mit dem heutigen Gegensatz zwischen dem Individuum und dem politischen Welt; im Gegensatz zur öffentlichen Sphäre hat „die private Sphäre einen rein sozialen Charakter ohne jede Betonung des Individuellen“ (Hansen, 1995, S. 81). VA, S. 62. ÜR, S. 159. „Eine Sache kann sich unter vielen Aspekten nur zeigen, wenn Viele da sind, denen sie aus einer jeweils verschiedenen Perspektive erscheint. Wo diese gleichberechtigten Anderen und ihre partikularen Meinungen abgeschafft sind, wie etwa in der Tyrannis, in der alle und alles dem einen Standpunkt des Tyrannen geopfert ist, ist niemand frei und niemand der Einsicht fähig, auch der Tyrann nicht.“ (WP, S. 98). 251 schafft. „Wo alle das gleiche tun, handelt niemand mehr in Freiheit, auch wenn keiner direkt gezwungen wird.“59 Frei ist die Person tatsächlich also nur, wenn sie mit ihrer eigenen Perspektive an den öffentlichen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten teilnimmt. Im Hinblick auf die Pluralität der Perspektiven gehören die Mitrede und die Versammlung zur konkreten Praxis der öffentlichen Freiheit: „Freiheit der Rede bedeutet das Recht, in der Öffentlichkeit zu sprechen und gehört zu werden, und solange die menschliche Vernunft nicht unfehlbar ist, wird diese Freiheit die Voraussetzung für die Freiheit der Gedanken bleiben. Gedankenfreiheit ohne Redefreiheiten ist eine Illusion. Versammlungsfreiheit ist darüber hinaus insofern die Voraussetzung für die Freiheit des Handelns, als kein Mensch allein handeln kann.“ 60 Die absolute Unmöglichkeit zu dieser Praxis der öffentlichen Freiheit charakterisiert das Wesen des Totalitarismus.61 In der totalitären Herrschaft fällt der Verlust der Freiheit mit der Zerstörung des öffentlichen Raums vom Mitreden und Versammlung zusammen. Das Prinzip der totalen Herrschaft stellt daher für Arendt das Gegenprinzip zum Prinzip der öffentlichen Freiheit.62 Die so begriffene öffentliche Freiheit unterscheidet sich von der bürgerlichen Freiheit als „der negativen Freiheit“63, bei der es nur „um den Schutz der bürgerlichen Privatsphäre“64 geht. Im modernen Phänomen der Gesellschaft wird die Freiheit „nicht mehr im öffentlichen Bereich lokalisiert, sondern in der Privatsphäre“. 65 Nach der modernen Idee bürgerlicher Freiheit nimmt sich Politik nur in zunehmendem Maß der Sicherheit von Einzelnen an. In dieser Gesellschaft wird „der Verfolg des öffentlichen Glücks“66, der im antiken Denken „die höchsten und größten Möglichkeiten des Menschen“67 dargestellt hat, vielmehr für eitel gehalten. Der bürgerliche Freiheitsbegriff lässt sich durch den modernen Begriff des Bürgers begründen. Der moderne Bürgerbegriff entspricht dem Bourgeois, den Hegel den Bürger im System der Bedürfnisse nennt.68 Für die modernen Bürger werden „die Pflichten und Verantwortlichkeiten des Bürgers zu einer untragbaren zusätzlichen Last“.69 Sie sind „Privatpersonen, welche ihr ei- 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 ZVZ, S. 215. ZVZ, S. 248. „Der Totalitarismus ist die radikalste Verneinung der Freiheit.“ (Arendt, 2004, S. 15). „erstens die Zerstörung der öffentlichen Sphäre und die Abschaffung der Meinungsvielfalt zugunsten einer Einheitsmeinung, die als Wissen propagiert wird; zweitens die Aufhebung der Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre durch eine scheinbar unbegrenzte Politisierung des Privaten und das Verschwinden öffentlicher Politik; und drittens die Ausübung und Rechtfertigung von Gewaltherrschaft unter Berufung auf ein privilegiertes Wissens, die Ideologie, nicht aber auf einsichtige und zustimmungsfähige Prinzipien.“ (Rödel/Dubiel/Frankenberg, 1989, S. 52). ZVZ, S. 248; vgl. ÜR, S. 186 und 354. ÜR, S. 162. ÜR, S. 177. ÜR, S. 162. VA, S. 263. Hegel, 1995, § 190. EU, S. 673. 252 genes Interesse zu ihrem Zwecke haben.“70 Es sei der Bourgeoisie gleichgültig gewesen, „ob sie Untertanen einer Monarchie oder Bürger einer Republik waren. Für sie waren Monarchie und Republik genau das gleiche, nämlich ein Staat überhaupt, in dem es eine Polizei gab.“71 Damit erfordern sie nur einen Staat, der ihr Interesse am wirtschaftlichen Wachstum schützt. Dieser politische Charakter der Bourgeoisie bereitet Arendts Ansicht zufolge den Schauplatz für den Triumph des totalitären Syndroms des absoluten Apolitischen.72 Die bürgerliche Freiheit ist durch die Abneigung gegen die politische Macht gekennzeichnet. In diesem Punkt unterscheidet sich der moderne Bürger von der antiken Auffassung der Bürger.73 Die bürgerliche Freiheit stellt keinen Anspruch auf Mitbeteiligung an der Macht dar, sondern ist der Schutz und die Sicherheit, „die das Streben nach privater Wohlfahrt gegen den Staat sichern“74. Das stellt Arendt fest: „Macht und Freiheit gehen nicht mehr Hand in Hand, sie haben sich voneinander getrennt, und die verhängnisvolle Gleichsetzung von Macht und Gewalt, von Politik und Herrschaft, und die daraus folgende Definition des Staates und der Politik als notwendiger Übel beginnen wieder sich geltend zu machen.“75 Im Gegensatz dazu vertritt Arendt die These, Freiheit und Macht schließen sich nicht voneinander. Vielmehr stehen sie in der Wechselwirkung, so dass das eine das andere mehrt. 76 Die politische Macht entsteht Arendts Ansicht zufolge im Vollzug der öffentlichen Freiheit. Wie Arendt meint, sei niemand frei, „der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht“.77 In dem Sinne, dass Macht und Freiheit in der öffentlichen Sphäre der menschlichen Pluralität realisiert werden, seien sie „fast synonym“.78 Das Prinzip der bürgerlichen Freiheit beruht auf der modernen Überzeugung, dass sich die Freiheit wesentlich in der Positivierung vom Recht verwirklichen lässt. So setzt sich die bürgerliche Freiheit mit der rechtlichen Freiheit gleich.79 Der Rechtsstaat, der als Begriff im Frühliberalis70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 Hegel, 1995, § 187. EU, S. 316. Vgl. EU, S. 719. „Die Freiheit der Antike bestand in allem, was den Bürgern den größten Anteil an der Ausübung der gesellschaftlichen Macht zusicherte. Die Freiheit der Moderne liegt in dem, was die Unabhängigkeit der Bürger gegen die öffentliche Gewalt schützt“ (Herb, 1999, S. 87). Damit verbunden kritisiert Brumlik, dass Arendts strikte Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit in ihrer Fixierung auf das antike Ideal der Polis nicht mehr der weltgesellschaftlichen Gegenwart entspricht (Brumlik, 2007, S. 311-330). ÜR, S. 174. ÜR, S. 177. Von der Zusammengehörigkeit von Macht und Freiheit spricht Bernard Crick: „Freiheit bedeutet nicht, wie die Liberalen behaupten, daß man von der Macht, vor allem von der Staatsmacht, in Ruhe gelassen wird: Im Gegenteil, Freiheit ist wechselseitige Machtausübung.“ (Crick, 1979, S. 217). ÜR, S. 327. DW, S. 190; vgl. ÜR, S. 195. Dieser Gedanke findet sich schon bei der neuzeitlichen Vertragstheorie, wenn etwas Rousseau sagt: „Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt.“ (Rousseau, GV, I-8). 253 mus des 19. Jahrhunderts entstanden ist, eröffnet in Wahrheit die Möglichkeit, die Gesellschaft vor Machtkonzentrationen innerhalb des Staates und vor Übergriffen der Machthaber zu schützen.80 Er setzt der Staatsmacht Grenzen und gewährleistet den Schutz der bürgerlichen Grundrechte und –freiheiten. Das fundamentale Prinzip des Rechtsstaates ist jedoch die Unterwerfung von Politik unter das Recht. 81 „Damit rückt die Rolle der Verwaltung in den Mittelpunkt der Überlegung.“ 82 Unter diesem Gesichtspunkt können die bürgerlichen Rechte und Freiheiten durch die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie ebenso gut erreicht werden, ohne der Bürgerschaft erlaubt zu sein, an den öffentlichen Mächten teilzunehmen. Ohne aktive Teilhabe und Teilnahme des Individuums an den öffentlichen Angelegenheiten könnte auch die private Freiheit intakt bestehen bleiben. Arendt stellt fest: „Diese politische Freiheit muß von den bürgerlichen Rechten und Freiheiten unterschieden werden, die in allen Verfassungsstaaten die Macht der Regierung in Schranken halten und das Individuum in seinen legitimen privaten und sozialen Bestätigungen schützen. Solche Rechte und Freiheiten werden von dem politischen Körper garantiert, aber das Leben und die Aktivitäten, die sie schützen, sind nicht politisch im strengen Sinne. Vom politischen Bereich her gesehen, sind sie also negative Freiheiten, sie stecken die Grenzen nicht nur der Herrschaft, sondern auch des öffentlichen Raums als solchem ab.“83 Als Praxis der Freiheit ist die Politik nicht nur ein Instrument zur Sicherung individueller Rechtspositionen. Die moderne Überbetonung der bürgerlichen und rechtlichen Freiheit enthält die Gefahr, dass die Bürger von der Schaffung der öffentlichen Macht ausgeschlossen sind. Das Fehlen der politischen Freiheit unter der Herrschaft des aufgeklärten Absolutismus des achtzehnten Jahrhunderts besteht weniger im Absprechen der Rechte und der Freiheit der Individuen als in der Tatsache, dass „die Welt der öffentlichen Angelegenheiten ihnen nicht nur so gut wie unbekannt blieb, sie war unsichtbar“84. Ohne die „Helle des durch Macht gestifteten Öffentlichen“85 und ohne den öffentlichen Erscheinungsraum der Freiheit, in dem Menschen handelnd und sprechend in Erscheinung treten, führt die bürgerlich-rechtliche Freiheit zur Ohnmacht der Bürger und kann damit zur Unfreiheit werden. Der Einzelne gilt „als ohnmächtig und schutzbedürftig, er hat an Macht nicht mehr teil, es genügt, ihn gegen den Missbrauch der Macht zu 80 81 82 83 84 85 Vgl. Benda, 1995, S. 515ff. Vgl. Kriele, 1980, S. 109ff. Benda, 1995, S. 516; Arendt sagt: „Im achtzehnten Jahrhundert aber, wie auch im siebzehnten und noch im neunzehnten, lag die Aufgabe der Gesetze primär darin, Eigentum zu schützen, nicht Freiheit zu garantieren, denn die Freiheit mit all ihren Rechten und Privilegien war grundsätzlich durch das Eigentum garantiert (…). Im achtzehnten Jahrhundert aber fielen Besitz und Freiheit noch zusammen; wer von dem einen sprach, meinte auch immer das andere, so daß der Kampf um das Eigentumsrecht ein Freiheitskampf war“ (ÜR, 233f.). ZVZ, S. 248. ÜR, S. 159. VA, S. 262. 254 schützen.“86 In diesem Kontext hält Arendt die Verwechslung einer verfassungsmäßigen Garantie von bürgerlicher Freiheit mit der politischen Freiheit verhängnisvoll, weil die bürgerlichrechtliche Freiheit keine Garantie gegen totalitäre Abschaffung der menschlichen Pluralität gibt. 2.1.3 Freiheit und Willen Hinsichtlich der Verbindung von Freiheit und Pluralität besteht die schwierige klassische Frage darin, ob und inwiefern der Mensch mit dem Willen Freiheit erlangt und ob Wille und Freiheit zusammengehören oder vielmehr gegeneinander stehen. Vor allem in DW beschäftigt sich Arendt mit dem Verhältnis des Willens und der Freiheit. In der Polis war Freiheit der politischste Begriff. Damit verbunden hatte der Begriff der Freiheit in der antiken Philosophie keinen wesentlichen Platz.87 Erst als sich eine Individualisierung und die Verinnerlichung der Freiheitsvorstellung nach dem Untergang der Polis vollzogen haben, erfolgt ein begrifflicher Übergang von der politischen Freiheit zur inneren Freiheit des Individuums. Daraus folgt, „daß Freiheit erst dort beginnt, wo der Mensch sich aus dem Zusammenleben mit den vielen, also aus dem politischen Bereich, zurückgezogen hat, und daß er Freiheit in dem Umgang mit sich selbst, nicht mit anderen, erfährt“88 Mit dieser Wandlung wird die Freiheit als Gegenbegriff der Politik in der Geschichte der Philosophie gesetzt. Arendt schreibt: „die Philosophen haben erst angefangen, sich für die Freiheit zu interessieren, als sie nicht mehr im Handeln und im Verkehr mit anderen, sondern im Wollen und im Verkehr mit sich selbst erfahren wurde.“ 89 Wie sich schon bei Platos Gründung der Akademie zeigt, lokalisiert er die Freiheit in der Lebensweise von „Denkern von Gewerbe, die auf diese oder jene Art dem bios theoretikos verpflichtet sind“90, denn „Philosophie bedeutet Freiheit außerhalb der Polis“.91 Bei Aristoteles findet sich auch dieser veränderte Aspekt des Freiheitsbegriffes: „Frei ist der Mensch, der um seiner selbst willen, nicht um eines anderen willen ist“.92 Daraus enthält die Vorstellung der Freiheit einen immanenten Konflikt, der in dem gespannten Verhältnis zwischen der politischen Erfahrung der Polis und den nachfolgenden Versuchen griechischer Philosophen exemplarischen Ausdruck findet. Die Gleichsetzung von Freiheit mit politischem Handeln des Menschen, die aus der Erfahrungswirklichkeit stammt, wird ersetzt durch die Gleichsetzung von Freiheit mit dem Innenleben seiner Seele. 86 87 88 89 90 91 92 ÜR, S. 177. Vgl. DW, S. 19; vgl. Marquard 2007, S. 112. ZVZ, S. 211. ZVZ, S. 213. DW, S. 185. Kauffmann, 1997, S. 111. Aristoteles, Metaphysik 982 b 25f. und vgl. Politik, 1317 b 11. 255 Die Vorstellung der Freiheit im Sinne freier Persönlichkeit und Individualität wurde jedoch erst seit dem Auftreten des Christentums als selbstverständlich anerkannt und stark betont. 93 Die Geburt der Individuen bezieht sich auf die Erfindung des Begriffs des Willens, der in der Begriffswelt des Altertums kaum von Bedeutung war, weil der Wille das Problem der Freiheit voraussetzt. Als „der erste Philosoph des Willens“94 entwickelt Augustinus den Begriff der Willensfreiheit. Nach Arendts Interpretation versteht Augustinus die Willensfreiheit nicht im Sinne des Wahlfreiheit „zur Auswahl der passenden speziellen Mittel zu einem universellen Ziel“95, sondern im Sinne der Kantischen Definition der Freiheit als Selbstanfang: „Die Freiheit der Spontaneität ist fester Bestandteil der menschlichen Existenz. Ihr geistiges Organ ist der Wille.“ 96 Aber die Tradition christlicher oder neuzeitlicher Philosophie entfernt sich vom Augustinusschen Freiheitsbegriff, der „der letzte und höchste Ausdruck des antiken Freiheitsbegriffs“ ist.97 So verweist das christliche Freiheitsverständnis vielmehr auf seine radikale Ablehnung des Politischen und der Öffentlichkeit, also die Freiheit von Politik. Im Zentrum des Interesses steht eher das Wohl der Seele als das der Welt. In Bezug auf die christliche Abneigung gegen das politische Leben zitiert Arendt an vielen Stelle den Satz von Tertullian, der Jurist und Kirchenvater zu Beginn des 3. Jahrhundert: „Bei den Christen geht es nicht darum, einen Raum der Wenigen neben dem Raum der Vielen zu erstellen, auch nicht darum, einen Gegenraum für Alle gegen den offiziellen Raum zu gründen, sondern darum, daß ein öffentlicher Raum überhaupt, gleich ob für Wenige oder für Viele, wegen seiner Öffentlichkeit untragbar ist. Wenn Tertullian sagt, daß uns Christen nichts fremder ist als die öffentlichen Angelegenheiten, so liegt der Ton durchaus auf der Öffentlichkeit“.98 Mit der Akzentverschiebung vom öffentlichen Handeln auf die Innerlichkeit des wollenden Individuums ist gemeint, dass die Freiheit nicht in der vergänglichen Welt erfahrbar ist, sondern nur im unsterblichen und unendlichen Leben des Individuums überhaupt. 99 In dieser „älteren und radikaleren Umkehrung des Verhältnis von Leben und Welt“100 ist die moderne subjektive Freiheit verwurzelt. Dabei weist der Begriff des Wollens auf einen Rückzug aus der gemeinsa93 94 95 96 97 98 99 100 Hegels Auffassung zufolge ist die Idee, dass „das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat“, erst durch das Christentum in die Welt gekommen. Unabhängig von Geburt, Stand, Bildung sei der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt. Platon und Aristoteles haben diese Idee nicht gehabt (Hegel. 1991, § 482, S. 387). DW, S. 82; vgl. Dihle, 1985, S. 9ff. DW, S. 115. DW, S. 107. DTB, S. 405; vgl. ZVZ, S. 220. WP, S. 61; ZVZ, S. 319 und VA, S. 90; vgl. VA, S. 24 und ZVZ, S. 91; „Die Freiheit, die das Christentum in die Welt brachte, war eine Freiheit von der Politik“ (ZVZ, S. 310). „Was die christliche Umkehrung des Verhältnisses von Welt und Mensch politisch besagte, kann man sich vielleicht am besten darin klarmachen, daß das Leben des Einzelnen nun genau an die Stelle zu stehen kam, an der für das Denken der römischen Antike das Leben des Gemeinwesens gestanden hatte“.“ (VA, S. 401). VA, S. 407. 256 men Welt in Innen auf: „Aber das Ideal des Freiseins konnte jetzt, da sich der Akzent so entscheidend vom Handeln - Können auf das Wollen verschoben hatte, nicht mehr die Virtuosität des Mit - anderen - zusammen - Handelns sein“.101 Die Freiheit des Willens steht nicht mehr im Vermögen des Willens, etwas Neues zuwege zu bringen, sondern darin, dass der Mensch der Herr seiner Tätigkeit ist. Philosophisch ist diese Souveränität nichts anderes als absolute Autarkie. Daher ist der Anspruch absoluter Souveränität identisch mit dem Anspruch auf die eigene Willkür. Weil jedes Wollen stets „zu sich selbst in Imperativen spricht“102, ist die Beziehung des Willens zum Willen anderer unkommunikativ und monologisch: „Der Wille ist (…) durch Selbstbeziehung bestimmt als Vermögen, durch das ich mein Wollen will (…) und durch Selbstbewegung, weil er allein seines Tuns Herr ist und sich in Bewegung setzt.“103 Das Ideal der Willensfreiheit ist „die Souveränität, die Unabhängigkeit von allen anderen und gegebenenfalls das Sich –Durchsetzen gegen sie.“104 Diese traditionelle, philosophische Reduktion der menschlichen Freiheit auf den solipsistischen Willen verkennt nach Arendt, dass der Mensch ein bedingtes und auf andere angewiesenes Wesen ist. Hinsichtlich des Problems der Freiheit ist der Wille ein Grundwort der neuzeitlichen Philosophie. Nun ist der Wille mit dem Sein selbst identifiziert als „die höchste Macht“, die es in dem Menschen gibt.105 Die Neuzeit bezeichnet „die neue Innerlichkeit des Bewußtseins“ als die „einzig angemessene Domäne menschlicher Freiheit“106. Das verweist auf die neuzeitliche Verherrlichung vom Innerlichen des Menschen, seinem Willen. Auf dieser Verbindung von Wille und Freiheit beruht die souveräne Humanität der Neuzeit, die für die Geschichtsphilosophie charakteristisch ist. In dieser philosophisch-christlichen Tradition wird die Trennung von Freiheit und Politik als selbstverständlich anerkannt. Dass selbst Montesquieu, der die andere Besonderheit politischer Freiheit als philosophische Freiheit erkennt, politische Freiheit als „dasselbe wie Sicherheit“107 bezeichnet, zeigt die außerordentliche Stärke neuzeitlicher Trennung von Politik und Freiheit deutlich. In seinem großen Buch Der Geist des Gesetzes unterscheidet Montesquieu die politische Freiheit von der philosophischen Freiheit. Bei dieser Unterscheidung definiert er die philosophische Freiheit als eine innere Willensfreiheit und die politische Freiheit als eine weltlichrechtliche Realität. Die politische Freiheit habe daher nicht im Willen, sondern im Können Ursprung und Sitz: „Die philosophische Freiheit besteht in der Bestätigung des eigenen des Willens, 101 102 103 104 105 106 107 ZVZ, S. 213. DD, S. 210; vgl. DW, S. 92. Günther, 1979, S. 69. ZVZ, S. 213. Zur neuzeitlichen Verherrlichung des Willens siehe DW, S. 22ff. ÜR, S. 181. ZVZ, S. 202. 257 oder zumindest um es allen Systemen recht zu machen, in der Überzeugung, dass man seinen eigenen Willen betätige. Die politische Freiheit besteht in der Sicherheit oder der Überzeugung, man habe seine Sicherheit.“108 Im Hinblick auf die politische Freiheit wird die Funktion des Staates als Garantie persönlicher Sicherheit der Individuen betont. Im Gegensatz zur politischen Freiheit ist die reine Freiheit als „ein wollendes Selbst“109 für Montesquieu im Bereich des philosophischen Lebens zu finden. Niemand hat das Verständnis der Willensfreiheit in der Neuzeit einleuchtender vorgeführt als Hegel. Für ihn hat die Freiheit als der Zweck der Philosophie ihren Grund im Willen.110 Die Freiheit hat für Hegel mit dem Prinzip der Subjektivität als einem Prozess der Selbstrealisierung, die in einem Zustande der vollkommenen Aktualisierung des eigenen Wesens kulminiert, zu tun. Das Konzept der subjektiven Freiheit ist, gegenüber dem Altertum, das neue Prinzip der modernen Zeit.111 Er versteht die Freiheit daher als „das Beisichselbstsein des Menschen“112, nämlich als die absolute Ichbezogenheit des Wollenden: „Das Bei-sich-Selbst-seyn (…) ist die Freiheit, denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich mich auf ein Anderes, das ich nicht bin; (…) frei bin ich, wenn ich bei mir selbst bin.“113 Unter Bezugnahme auf diese Auffassung der Freiheit definiert Hegel die Handlung als „Äußerung des Willens als subjektiven oder moralischen“114. In Auseinandersetzung mit Hegel bezeichnet Arendt seine Philosophie als „Willensphilosophie“, in der sich „der von der Pluralität schlechthin unabhängige“115 Wille nur noch auf sich selbst bezieht und aus sich selbst versteht. In diesem Kontext versteht sie die neuzeitliche Willensphilosophie als „der letzte der metaphysischen Trugschlüsse“.116 Wir haben uns überlegt, ob überhaupt Wille und Freiheit zusammenpassen. Freiheit ist für Arendt kein Willensphänomen. Bei der Willensphilosophie hat die Freiheit keine welthafte Realität, sondern existiert nur im philosophischen Solipsismus, der fast die ganze philosophische Tradition bestimmt. Die Willensfreiheit opfert die gemeinsame Welt für ein isoliertes, einsames Selbst. Jede Willensphilosophie gilt daher als „eine Unfreiheitsphilosophie“. 117 Arendt formuliert: „das Freisein beginnt überhaupt erst mit dem Handeln, so daß Nicht-handeln-Können und 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 Montesquieu, 2006, S. 255; vgl. auch DW, S. 189. ZVZ, S. 215. Vgl. Hegel, 1991, § 526 und § 481. „Das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden.“ (Hegel, 1995, § 124). Ritter, 1969, S. 197. Hegel, Philosophie der Geschichte XI, S. 44; zit. nach Ritter, 1969, S. 197; Ritter stellt Hegels Verständnis der Freiheit fest: „Freiheit besteht nur, wenn der Mensch in seiner Innerlichkeit, in Vorsatz, Absicht und Gewissen wollen kann, dass er selbst in Allem sei, was er tut“ (Ritter, 1969, S. 283). Hegel, 1995, § 113. DTB, S. 84. DD, S. 210. Baruzzi, 1993, S. 91. 258 Nicht-Freisein auch dann ein und dasselbe bedeuten, wenn die (philosophische) Willensfreiheit intakt fortbesteht. Mit anderen Worten, die politische Freiheit ist nicht innere Freiheit, sie kann in kein Innen ausweichen; sie hängt daran, ob eine freie Nation den Raum gewährt, in welchem das Handeln sich auswirken und sichtbar werden kann. Die Macht des Willens, sich durchzusetzen und andere zu zwingen, hat mit diesem Freisein gar nichts zu tun.“118 Die politische Freiheit entsteht nicht aus einer Ausübung des allmächtigen Willens, sondern aus der menschlichen Pluralität. Die politische Freiheit setzt daher voraus, dass sich der freie Wille in politischen Gemeinschaften oder in der Bedingung der Pluralität einschränken lässt. Arendts Kritik an der Willensfreiheit zielt auf eine nicht-subjektive Begründung der Politik und auf die „Suche nach der Freiheit jenseits von Souveränität“119 ab. Die politische Freiheit besteht im Verzicht auf absolute Souveränität.120 Die wollende Freiheit überwindet durch das Handeln seine radikale solipsistische Souveränität und ist mit der politischen Freiheit vereinbar, die sich nur in der Existenz der menschlichen Pluralität greifbar realisiert. 2.1.4 Konstitution der Freiheit Der Mensch fühlt sich im Handeln frei, etwas Neues zu beginnen. In der Tat versteht Arendt das Anfangenkönnen als „die elementarste und ursprünglichste Erfahrung des gewaltigen Vermögens menschlicher Freiheit.“121 Sie fasst Freiheit als Spontaneität, als unsere Fähigkeit, um es mit Kants Worten zu sagen, „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“122. Vor diesem Hintergrund entsteht das Bild, dass die handlungstheoretische Dimension der Freiheit die entscheidende Rolle spielt, während ihre institutionellen Überlegungen ignoriert werden. In diesem Bild findet man bei ihrem Freiheitsbegriff „nicht nur ein romantisches Element, sondern auch ein halbanarchisches“.123 Ein Autor wie Mckenna wirft Arendt vor, dass sie die Freiheit als eine Form der vollkommenen Willkürlichkeit versteht, die unbeschränkt und grenzenlos ist. 124 Nach diesem Einwand halte Arendt Institutionen in ihrem Konzept politischer Freiheit für sekundäre Gebilde. So stehe ihr Freiheitsbegriff in einem unerträglichen Spannungsverhältnis zu jedem Prinzip der demokratischen Konstitution. 118 119 120 121 122 123 124 ZVZ, S. 216; vgl. ÜR, S. 380. Meyer, 2004, S. 159-180. „Wo Menschen (…) souverän sein wollen, müssen sie die Freiheit abschaffen. Wollen sie aber frei sein, so müssen auf Souveränität gerade verzichten.“ (ZVZ, S. 215). VA, S. 285. Kant, 1974a, B 478; vgl. ZVZ, S. 220, DW, S. 107 und EU, S. 969. Morgenthau, 1979, S. 241; zur Kritik an Arendts Geringschätzung der Institution, Gehlen, 1961, S. 485; Kallscheuer, 1996, S. 205; Sternberger, 1979, S. 120. Vgl. Mckenna, 1984, S. 339. 259 Die Spontaneität ist für Arendt ein wichtiges Element der Freiheit und ihre Vorbedingung. Aber für sie ist der „politisch organisierte Raum“125 auch das wesentliche Element dessen, was Arendt mit der politischen Freiheit meint. Deswegen lässt sich Arendts politischer Freiheitsbegriff im großen und ganzen nur erfassen, wenn man den politischen Freiheitsbegriff in Verbindung mit dem konstitutionellen und spontaneistischen Moment in den Blick bekommt.126 Das Problem der politischen Freiheit denkt Arendt immer in Bezug auf das Problem der politischen Institution. Es besteht kein Zweifel, „daß für Hannah Arendt politische Institutionen nicht etwa nur irgendeine beliebige, sondern eine für die Konstitution der Republik ganz zentrale Bedeutung haben.“127 Am Ende ihres Aufsatzes Freiheit und Politik spricht Arendt „von der Freiheit der Menschen – von ihrer Fähigkeit, das Unheil zu wenden, das immer automatisch verläuft und daher stets unabwendbar scheint; von ihrer Gabe, das unendlich Unwahrscheinliche zu bewirken und als Wirklichkeit zu konstituieren“.128 Die Spontaneität des Menschen ist eine in Willkür verendete leere Freiheit, wenn sie nicht „in dem Erscheinungsraum zur Geltung kommen kann“.129 Wie Arendt in einer Formulierung aus WP ausführlich zum Ausdruck bringt, lässt sich die Freiheit der Spontaneität für vorpolitisch halten, weil sie als auf den Einzelnen bezogene Fähigkeit nicht zwischen den Menschen entsteht: „Die Freiheit der Spontaneität, wiewohl ohne sie alle politische Freiheit ihren besten und tiefen Sinn verlöre, ist selbst noch gleichsam präpolitisch; sie hängt von den Organisationsformen des Miteinander – Lebens nur insofern ab, als auch sie schließlich aus der Welt heraus organisiert werden kann.“130 Es ist Arendts starke These, die Freiheit gewinne nur im politisch organisierten Raum „eine weltliche Realität“.131 Die politische Freiheit ist für Arendt nichts anderes als die weltliche „beschränkte Freiheit“132. Mit weltlich ist gemeint, dass die Freiheit ihre Bedingung und Grenze hat.133 Da die politische Freiheit nur in der menschlichen Pluralität entsteht, die nur „räumlich“ denkbar ist, besteht sie wesentlich in der räumlichen Beschränktheit. 134 In 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 ZVZ, S. 207; es ist bemerkenswert, dass der politische Raum für Arendt Doppelcharakter hat, wie Köster zu recht interpretiert; „sowohl eine Gruppe von Beziehungen, die topisch lediglich modelliert werden, als auch eine soziale Institution, die durch ihre reale räumliche Organisationsform wesentlich bestimmt ist.“ (Köster, 1992, S. 122); zum ähnlichen Verständnis des politischen Raums siehe Taylor, 1988, S. 69f. Vgl. Vollrath, 1996b, S. 143ff.; Wellmer, 1999, S. 125ff. Brokmeier, 1996, S. 102. ZVZ, S. 226. DW, S. 13. WP, S. 51. ZVZ, S. 226. DW, S. 191. „Jedes Gesetz schafft vorerst einen Raum, in dem es gilt, und dieser Raum ist die Welt, in der wir uns in Freiheit bewegen können. Was außerhalb dieses Raumes ist, ist ohne Gesetz und genau gesprochen ohne Welt; im Sinne menschlichen Zusammenlebens ist es eine Wüste“ (WP, S. 122). WP, S. 40f.; vgl. Heuer, 1996, S. 113. 260 ÜR schreibt Arendt: „Wo immer Freiheit je als eine greifbar weltliche Realität existiert hat, war sie räumlich begrenzt.“135 Hier stellt sich die Frage, in welcher Weise die beschränkte Freiheit mit der Freiheit als dem Anfangenkönnen zusammenhängt. Das Anfangenkönnen steht für Arendt nicht im Gegensatz zur pluralen und weltlichen Freiheit. Das Vermögen des Anfangens kann sich Arendts Ansicht zufolge „in Bezug auf die Welt und unter der Mitwirkung der anderen“ 136 realisieren. Es handelt sich um das öffentliche Anfangen, also das Anfangen mit den Anderen.137 Der Grund dafür, dass ein Anfang erst im Moment der Konstitution gesetzt wird, liegt daran, dass der Abgrund der Willkür in jedem Anfang steht. Dieser „Abgrund der Freiheit“138 macht den Bereich menschlichen Handelns verletzbar. Das Problem der willkürlichen Freiheit lässt sich für Arendt nicht durch kausale oder notwendige Gesetze auflösen, sondern einzig mittels der Pluralitätsfähigkeit des Handelns überwinden.139 Politisch gesagt bedeutet die politische Institution die Konstitution der Pluralität der Anfangenden. Im durch Pluralität eröffneten Raum findet das Anfangen mit den Anderen statt, das dem willkürlichen Anfangen entgegengesetzt ist: „Für Arendt ist die Begrenztheit der Anfänge eine Begrenztheit durch die Macht der Pluralität, durch die Versammlung noch anderer Anfänge, Standpunkte, Machtmanifestationen, die schon in der Welt sind.“140 Auf welche Art und Weise kann nun die politische Freiheit konstituiert werden? Die als eine weltliche Realität verstandene Freiheit ist „Qualität einer von Menschen errichteten Welt“141. Diese Welt legt die politische Institution dar, in der „Freiheit als ein positiver Modus des Handelns möglich“ wird.142 Die politische Institution definiert Arendt auf verschiedene Weise als „einen so integrierenden Bestandteil allen, auch des objektiven, Miteinanderseins“ 143, „den ob- 135 136 137 138 139 140 141 142 143 ÜR, S. 354; die Bedeutung des politisch organisierten Raums für die Frage der Freiheit findet sich auch in Arendts Feststellung des Verhältnisses von Menschenrechten und politischer Ordnung deutlich. In ihrer eigenen biographischen Erfahrung stellt Arendt fest, dass die Menschenrechte nur Geltung haben, wenn die politische Gemeinschaft die Rechte als die proklamierten Menschenrechte anerkennt und nur wenn sich die Menschenrechte in der politischen Ordnung durchsetzen: „Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben (und das heißt: in einem Beziehungssystem zu leben, wo man nach seinen Handlungen und Meinungen beurteilt wird), oder ein Recht, einer politisch organisierten Gemeinschaft zuzugehören – das wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen auftauchten, die solche Rechte verloren hatten und sie zufolge der neuen globalen politischen Situation nicht wiedergewinnen konnten.“ (Arendt, 1981, S. 158). ZVZ, S. 224. Vgl. Thürmer-Rohr, 1997, S. 142. DW, S. 197. Obwohl Kant die Freiheit mit dem Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen, gleichsetzt, sagt er, dass „ein absolut erster Anfang nicht der Zeit nach, sondern der Kausalität nach“ ist (Kant, 1974a, B 478). Thürmer-Rohr, 1997, S. 142. ÜR, S. 36. VA, S. 312; vgl. ÜR, S. 39; zum Gedanken des Konstitutionalismus bei Arendt siehe vor allem Brokmeier, 1994, S. 169-186; Vollrath, 1996b, S. 130-150; Gess, 2001, S. 207; Becker, 1998, S. 1031-1057; Roviello, 1997, S. 129; Kulla, 1999, S. 33f. VA, S. 224. 261 jektiven Zwischenraum“, „das Bezugsystem“144, „den politisch organisierten Raum“ und „die Gemeinschaft von Ebenbürtigen“145. In diesen verschiedenen Definitionen liegt der gemeinsame Akzent darauf, dass die politische Ordnung und Institution durch das freie politische Zusammenhandeln der Bürger geschaffen wird. Eine politische Konstitution beruht auf der politischen Fähigkeit, miteinander zu handeln. Anders gewendet hängt die Qualität einer politischen Institution von der Qualität des menschlichen Handelns ab. Die Weise dieser politischen Institutionalisierung unterscheidet sich deutlich von den naturrechtlichen Vertragstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts.146 Die auf dem Prozess wechselseitigen Handelns und Redens errichtete Institution bedeutet Eröffnung und Gründung eines freiheitlichen Handlungsraums. Arendt schreibt: „Die Menschen werden nicht von einer Zwangsinstanz von außen (oben), durch monopolisierte Gewalt in Zaum gehalten, sondern die Begrenzung ergibt sich aus dem Zusammenschluß der Vielen zu einem organisierten Ganzen, das dem Einzelnen aber auch erst die Chance gibt in Freiheit zu handeln“.147 Die politische Institution verweist auf die weltbildende Fähigkeit des Handelns in der Pluralität. Sie ist für Arendt die Grenze der Pluralität und zugleich ihre Quelle. 148 In diesem Zusammenhang kann man die politische Theorie von Arendt als eine Theorie der Konstitution der Pluralität ansehen. Aber in der Institutionalisierung der Pluralität verschwindet kein Potential des Anfangenkönnens. Die Konstitution der Pluralität setzt „die Erhaltung der Fähigkeit zum Anfangen, das Fortführen des Anfangens“ voraus.149 Auch wenn die gegründete Institution die Freiheit als Anfangenkönnen zu entmachten scheint, kann die Erhaltung der Fähigkeit zum Anfangen die versteinerten Institutionen wieder zum Leben erwecken. So gesehen ist die politische Institution der Ort, an dem sich die Beständigkeit und das Anfangen miteinander verbinden. Anfangen Gründung und Erhalten - Bewahren sind die miteinander verbundenen Grundmomente des Arendtschen Begriffs des Politischen.150 Den Zusammenhang zwischen Institution und Anfangenkönnen beschreibt Arendt an einer Stelle von EU: „Die Kontinuität menschlichen Zusammenlebens wird immer wieder durch das erschüttert, was wir gemeinhin Freiheit des Menschen nennen; und das ist politisch die Geburt jedes neuen Menschen, der in dieses Zusammenleben hineingeboren wird, weil mit jeder Geburt ein neuer Anfang, eine neue Freiheit, eine neue Welt anhebt. Diesen neuen Anfang hegen die Zäune der Gesetze ein und sichern zugleich seine Freiheit, schaffen ihm den Raum, in welchem allein Freiheit sich verwirklichen kann. So garantiert 144 145 146 147 148 149 150 VA, S. 225. VA, S. 312. Vgl. Greven, 1993, S. 80f. ÜR, S. 224. „Die Grenzen dieser Pluralität liegen in der Verfassung“ (IG, S. 236). Vollrath, 1996b, S.135. Vgl. ÜR, S. 260; vgl. Ricoeur, 1989, S. 111. 262 das Gesetz die Möglichkeit eines unvoraussehbar, absolut Neuen und zugleich die Präexistenz einer gemeinsamen Welt, deren Kontinuität alle einzelnen Anfänge übersteigt; also eine Wirklichkeit, die alle neuen Ursprünge in sich aufnimmt und von ihnen sich nährt.“151 Arendt spricht von der „Heilkraft der Institutionen“152 in der doppelten Bedeutung: Die politische Institution ist die „abgegrenzte Insel der Freiheit in einem Meer der Ungewissheit“153 der menschlichen Angelegenheiten. Institutionen ermöglichen gewissermaßen „Stabilität“154. Andererseits ist die politische Institution Hilfsmittel, die Überlagerung der gesellschaftlichen und geschichtlichen Notwendigkeit in den politischen Bereich verhindern zu können.155 Die politische Freiheit und die Pluralität des Handelns stehen dauernd in der Gefahr, von den Gesetzen der gesellschaftlichen und geschichtlichen Notwendigkeit überwuchert und zerstört zu werden. Für Arendt darf sich die politische Institution weder auf die Funktion von Administration oder von Ausgleich der Interessenkonflikte noch auf die Vollstreckung der notwendigen Gesetze der Geschichte reduzieren. 156 Die politische Institution der Freiheit gleicht daher „Oasen in der Wüste zufälliger Willkür“ und einer „Insel im Meer der Notwendigkeit“.157 Arendts Beschäftigung mit der politischen Ordnung steht bei der Analyse der Revolutionsgeschichte und der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus im Mittelpunkt. In ihrer Analyse der Geschichte der Revolutionen weist Arendt darauf hin, dass man erst von der politischen Freiheit sprechen kann, wenn „die neue gewonnene Freiheit in angemessenen Institutionen und Verfassungen“158 verankert ist. Für sie ist der Geist der Revolution die Gründung des öffentlichen Erscheinungsraums der Freiheit. Vor allem in der Überlegung des Totalitarismus als einer „neuen, in der Geschichte noch unbekannten Staatsform“159 thematisiert Arendt das Verhältnis der Krise der Freiheit zur Zerstörung der politischen Ordnung. Dabei vertritt Arendt die starke These, dass die eigentümliche Strukturlosigkeit totalitärer Herrschaft zur radikalen Zerstörung der politischen Freiheit führte.160 Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also nicht darin, „daß sie bestimmte Freiheiten beschneidet oder beseitigt, noch darin, daß sie die Liebe zur 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 EU, S. 957; hier ist Arendts Gesetzesbegriff entscheidend. Ein Gesetz kann nur durch die menschliche Pluralität begründet werden und zugleich begrenzt die menschliche Pluralität: „Alle Gesetze, außer den Geboten eines Gottes, sind Direktiven und nicht Imperative. Sie lenken das menschliche Miteinander wie Regeln das Spiel.“ (IG, S. 446). ÜR, S. 226. VA, S. 313. Göhler, 2004, S. 210. Vgl. Brokmeier, 1994, S. 178. Vgl. ZVZ, S. 210. ÜR, S. 354. ÜR, S. 185; vgl. ÜR, S. 161, 206 und 347. EU, S. 944. Vgl. Bluhm, 1996, S. 44ff. 263 Freiheit aus dem menschlichen Herzen ausrottet; sondern einzig darin (…), daß der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet.“161 Im Aufsatz Macht und Gewalt definiert Arendt die politische Institution als „organisierte und institutionalisierte Macht“. 162 Worum es geht, ist die Frage, wie die öffentliche Freiheit und Macht plural instituiert ist. Die politischen Institutionen gelten als Ergebnis kommunikativer Macht und zugleich als ihre Quelle.163 In diesem Zusammenhang ist Arendts Verständnis der politischen Institution mit der republikanischen Einsicht verbunden, dass die öffentliche Macht „Institutionen und Gesetze ins Leben (ruft)“.164 Der Raum politischer Freiheit, in dem Macht entsteht, ist ein Raum der Kommunikation über die Institution an sich. Die politische Institutionalisierung bedeutet die Beschränkung des Handelns durch das Handeln.165 In VA schreibt Arendt: „In diesem einzigen Fall erwächst das Heilmittel gegen die Unwiederruflichkeit und Unabsehbarkeit der von ihm begonnenen Prozesse nicht aus einer anderen und potentiell höheren Fähigkeit, sondern aus den Möglichkeiten des Handelns selbst.“ 166 Der institutionelle Rahmen des Politischen darf nicht nach dem Modell verdinglichenden Herstellens begriffen werden, sondern muss auf die Fähigkeit bezogen bleiben, politisch zu handeln. 167 Eine freiheitliche Ordnung des Politischen ist „eine lebendige Angelegenheit, die von niemandem hergestellt werden kann und die nicht als eine Idee begriffen und ergriffen werden kann. Sie ist nicht vollkommen und wird nie vollkommen sein, weil der Maßstab der Vollkommenheit hier nicht am Platze ist.“168 Die politische Institutionalisierung lässt sich für Arendt „im Sinne der das weitere Handeln ermöglichenden ersten Tat“ verstehen.169 In diesem Licht betrachtet ist die Kritik zu bezweifeln, dass Arendt die Aufgabe der Gesetz- und Verfassungsgebung aus ihrem Begriff vom Politischen herauslöst, indem sie diese Tätigkeit dem Herstellen zuordnet.170 Nach diesem Einwand tue Arendt das Problem der politischen Institutio161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 EU, S. 970. MG, S. 172; in ÜR spricht Arendt „von der vereinten Macht der Vielen“ (ÜR, S. 275). Vgl. ÜR, S. 227. MG, S. 172. Vgl. EU, S. 949; dazu Gess, 2001, S. 204; obwohl Schönherr-Mann Arendts Perspektive der Institutionalisierung betont, unterschätzt er jedoch die Bedingungsgefüge von Handeln und Institution (Schönherr-Mann, 1996, S. 146ff.). VA, S. 301. Vgl. Brokmeier, 1994, S. 169-186. IG, S. 236. ZVZ, S. 196; diese Institution versteht Vollrath als Republik des Handelns: „Der Begriff der Republik bedeutet also eine Vereinigung einer Menge von Menschen, bei welcher das Handeln von Menschen gemäß der phänomenalen Struktur des Handelns selbst das Prinzip der Stiftung und Bewahrung dieser Vereinigung ist. Die Stiftung dieser Vereinigung einer Menge von Menschen beruht ebenso auf dem anfangenden Sich-zusammenschließen zum Handeln, wie die Bewahrung dieser Vereinigung auf dem Fortführen des Sich-zusammenschließens im Handeln beruht“ (Vollrath, 1977, S. 74). Vgl. Höffe, 1993, S. 31; Bielefeldt, 1993, S. 90; Gehlen, 1961, S. 485. 264 nalisierung nach dem griechischen Vorbild als präpolitisch ab. Für die Griechen muss die Gesetzgebung in der Tat eine präpolitische Tätigkeit gewesen sein.171 Dagegen ist zu sagen, dass „nur für die Römer die gesetzgeberische Tätigkeit und damit die Gesetze selbst in den Bereich des eigentlich Politischen fallen.“172 Für die Römer war die Gesetzgebung alles andere als eine präpolitische Tätigkeit. 173 Im Anschluss an die Vorstellung der Römer versteht Arendt die Gründung der politischen Gemeinwesen und die Gesetzgebung als das Produkt des politischen Handelns, also als Ergebnis des Miteinanderhandelns und –sprechens zwischen ebenbürtigen Bürgern.174 Die politischen Institutionen und Organisation beruhen für Arendt „auf wechselseitigen Versprechen, gegenseitigen Verpflichtungen und Abkommen“.175 Die Fundamente eines neuen Gemeinwesens werden nur von den handelnden Vielen gelegt, denn die „weltbildende Fähigkeit des Menschen“ setzt „die menschliche Pluralität“ voraus.176 Wenn die Rede von der „Konstitution der Freiheit“177 ist, liegt der Akzent auf dem Verfassungsakt und nicht auf der Verfassung selbst. Anders ausgedrückt besteht die politische Freiheit „nicht als Institution, sondern als Kritik der Institutionen“.178 In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Arendt zivilen Ungehorsam als Verhaltensform der öffentlichen Freiheit befürwortet.179 Ziviler Ungehorsam entsteht nach Arendt dadurch, aus der Übereinstimmung mit anderen gemeinsam in die Öffentlichkeit zu gehen, um die Autorität bestehender Regeln herauszufordern.180 Die Möglichkeit des zivilen Ungehorsams spielt für Arendt eine Rolle als ein Kriterium der öffentlichen Freiheit. Arendt versteht zivilen Ungehorsam nicht nur als legitime Form politischen Widerstands, sondern auch als Möglichkeit der Bürger zur politischen Innovation, also das „Heilmittel gegen das Versagen der Institutionen“181. So ist ziviler Ungehorsam eine Art von Verfassungsakt oder von „politischer Institutionalisierung“182. In zivilem Ungehorsam zeigt sich klar, dass die öffentliche Freiheit die handelnde und meinende Freiheit ist, aus der die öffentliche Macht resultiert. Die öffentliche Freiheit derer, die an der öffentlichen Macht teilnehmen, schafft den öffentlichen Raum der Macht. Umgekehrt führt der Mangel an öffentlicher 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 Vgl. VA, S. 244; WP, S. 111ff. WP, S. 109. Vgl. ÜR, S. 242. Vgl. ÜR, S. 244; vgl. Heuer, 1996, S. 118; Vollrath, S.135; Rose, 2004, S. 91. ÜR, S. 235. ÜR, S. 227. ZVZ, S. 244; Arendt unterscheidet „zwischen der Konstitution, die ein Regierungsakt ist, und der Verfassung, durch welche das Volk eine Regierung konstituiert“ (ÜR, S. 190). Bauman, 1999, S. 31. Vgl. IG, S. 283-321; vgl. Gess, 2001, S. 210. Hier ist es entscheidend, dass Arendt den auf dem Forum der Öffentlichkeit praktizierten zivilen Ungehorsam als die Möglichkeit der Freiheit von der individuellen Verweigerung aus Gewissensgründen unterscheidet (vgl. IG, S. 295). IG, S. 321; „Die politische Institutionalisierung des zivilen Ungehorsams könnte das bestmögliche Heilmittel gegen dieses letztendliche Scheitern juristischer Überprüfung sein“ (S. 319). IG, S. 319. 265 Freiheit zur „Unfähigkeit, auf die eigenen Rechte zu pochen und Widerstand zu leisten“183 und zugleich zum Verlust der öffentlichen Macht. 2.2 Die Autorität als die Konstitution der Pluralität Wenn man die Autorität als einen politischen Grundbegriff betrachten will, stößt man gerade auf die Schwierigkeit, dass der Begriff „Autorität“ heutzutage nicht nur im politischen Raum für negativ gehalten wird, sondern auch in dem privaten. Wie Engels schon im Jahr 1873 gesehen hat, brauchen Menschen heute auch „nur zu sagen, dieser oder jener Akt sei autoritär, um ihn zu verurteilen“. 184 Im modernen Verständnis, dass „so etwas wie Autorität in dieser demokratischen und liberalen Staatsverfassung selber schlechterdings nicht zu finden sei oder jedenfalls legitimerweise nicht zu finden sei“185, scheint die Sehnsucht nach einer politischen Autorität eher die konservative Haltung zum Ausdruck zu bringen. Umgekehrt gibt es zugleich ein Verlangen nach der neuen Autorität angesichts der modernen Krise der Autorität. Unter solchen Umständen scheint Engels‟ Anspruch, die Frage der Autorität „ein wenig aus der Nähe zu betrachten“186, auch heute noch zeitgemäß zu sein. Die Frage der Autorität bezeichnet Arendt in der Tat als eines der „schwerwiegendsten Probleme“187 des gegenwärtigen Politischen. Zur Lösung des Problems sucht sie danach, was „echte Autorität“ war.188 Doch wäre es unzutreffend, Arendts Versuch, Autorität als politische Kategorie zu berichtigen, als die romantische konservative Sympathie für die alten Autoritäten anzusehen.189 Im Folgenden gilt es zu eruieren, ob sich der Begriff Autorität mit dem Verständnis des Politischen von Arendt selbst vereinbaren lässt: Was den Autoritätsbegriff zum unverzichtbaren Grundbegriff des Politischen macht: In welchem Verhältnis Autorität zu menschlicher Pluralität steht: Und ob sich die Autorität in Verbindung mit der Freiheit bringen lässt. 2.2.1 Der Begriff der Autorität und ihre politische Bedeutung In der Gegenwart ist Autorität, wie Arendt sagt, „das begrifflich am schwersten zu fassende Phänomen und daher das am meisten missbrauchte Wort“.190 Im politischen Bereich ist heute 183 184 185 186 187 188 189 190 Bauman, 1999, S. 32. Engels, MEW, Bd. 18, S. 305. Sternberger, 1980d, S. 119. Engels, MEW, Bd. 18, S. 305. ÜR, S. 207. ZVZ, S. 163 und auch ÜR, S. 232. Vgl. Reist, 1990, S. 28. MG, S. 175. 266 der Zweifel laut geworden, ob denn für die moderne Welt überhaupt noch so etwas wie Autorität erfahrbar sei. In einer solchen Situation versteht man gar nicht, was „Autorität überhaupt“191 ist und war. Dabei wird die begriffliche Verwirrung vertieft. In Bezug auf die begriffliche Verwirrung geht Arendt zuerst auf den Ursprung des Autoritätsbegriffs zurück, um den ursprünglichen politischen Gehalt des Begriffes Autorität zu rekonstruieren. Arendt überprüft kritisch den Autoritätsbegriff, der auf die Theorie und Realität politischer Geschichte des Westens wirkte und wirkt: „Welches sind die politischen Erfahrungen, denen der Begriff der Autorität entsprach und aus denen er entsprang? Welcher Art ist eine öffentlich-politische Welt, die durch Autorität konstituiert ist? Hat es Autorität in einem spezifischen Sinne, der über das Befehl-GehorsamsVerhältnis (…) hinausgeht, immer gegeben?“192 Dass der Begriff und das Wort „Autorität“ römischen Ursprung haben und dass es kein Äquivalent für die römische Autorität in der griechischen Sprache und in den griechischen politischen Erfahrungen gibt, ist bekannt. 193 Trotzdem hat die griechische politische Philosophie auf die begriffliche Ausprägung des modernen Autoritätsgedankens einen stärkeren Einfluss als der römische Autoritätsbegriff.194 In Wahrheit sieht man in Platos Anspruch auf die den menschlichen Angelegenheiten transzendenten absoluten Maßstäbe seine Bemühung, etwas wie Autorität in den Bereich der Politik zu übertragen. Der Autoritätsgedanke ist eigentlich auf die Idee der legitimen Herrschaft gegründet. Plato wollte einen freiwilligen Gehorsam der Bürger begründen durch etwas wie Autorität. Er leitet zuerst das Modell der Autorität aus dem präpolitischen Bereich ab, also aus der Beziehung zwischen Eltern und Kindern und zwischen Lehrer und Schüler.195 In Analogie zum präpolitischen Modell der Autorität fordert Plato blinden Gehorsam gegenüber den transzendenten absoluten Maßstäben. Weil diese Autorität absolut ist, unterscheidet sie sich von Herrschaft nicht.196 Der Absolutismus als die Eigenart der sogenannten autoritären Staatsform ist dieser griechische Ursprung der Autorität: „Aber auch das eigentliche Merkmal spezifisch autoritärer Staatsformen, daß die Quelle ihrer Autorität, das, was Macht in ihrem Vollzug legitimiert, außerhalb und innerhalb der Machtsphäre selbst sich befinden muß, also von Menschen nicht gemacht sein 191 192 193 194 195 196 ZVZ, S. 160. ZVZ, S. 170. Vgl. ZVZ, S. 170; vgl. Heinze, 1960, S. 56; Sternberger, 1980d, S. 127f. Vgl. ZVZ, S. 170. Vgl. Plato, Pol. 412 c ff. In diesem Sinne ist für Arendt der platonische Autoritätsbegriff antipolitisch: „Autorität ist das jedem Einzelnen in seiner Isoliertheit sich Offenbarende, an dem gemessen wird und das demnach, unter Voraussetzung der richtigen Handhabung des Maßstabes, immer gleiche Resultate zeitigen muss. Die Autorität des Maßstabes herrscht über alle und schaltet das Chaos und die Relativität der Meinungen aus. Diese Herrschaft selbst ist primär die Herrschaft in der Seele des Einzelnen als eines Isolierten.“ (DTB, S. 375). 267 darf, wie das Naturrecht oder die Gebote Gottes, ist durchaus noch im Sinne der platonischen Maßstäbe konstruiert.“197 Platos Forderung nach etwas wie Autorität entspricht sowohl der Ablehnung der Gewalt als auch dem Misstrauen gegenüber der diskursiven Überzeugung in der Polis. Plato schlägt die Herrschaft der Vernunft als die Form der autoritären Herrschaft vor. Die platonische Identifizierung von Autorität mit einer tyrannisch gewordenen Vernunft hat entscheidende Bedeutung für unseren Autoritätsbegriff.198 In der Herrschaft der Vernunft findet Plato jedoch einen „Haken“: Wenn die Wahrheit keineswegs von allen Menschen erkennbar ist, sondern nur von wenigen, wie man die Vielen der Wahrheit unterwerfen kann. 199 Wie lassen sich die transzendenten Maßstäbe ohne Gewalt durchsetzen? Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeit versucht Plato, einen Mittelweg zwischen der bloßen Gewaltherrschaft und der rein rationalen Einsicht des Weisen zu entdecken. Die Lösung findet Plato im Jenseits-Mythos von Belohnungen und Strafen nach dem Tode.200 Ohne den Glauben an die Höllenstrafe müssen die transzendentalen Maßstäbe leer bleiben. Als Sanktion funktionieren so die zukünftigen Belohnungen und Bestrafungen. Die platonische Höllenstrafe als „die Autorität der Nachwelt“ 201 ist die philosophische Erfindung zum politischen Zweck. Wenngleich die Lehre von der Hölle ein gewichtiges Element auch für das Autoritätsverständnis der katholischen Kirche ist, ist sie bei Plato nicht religiös, sondern politisch motiviert: „Die Lehre von der Hölle ist bei Plato klar ein politisches Instrument, das für politische Zwecke erfunden wurde.“202 Wie groß der Einfluss dieser bedrohlichen Erwähnung eines Jenseits mit Belohnung und Strafe auf die politische Geschichte ist, kann man dadurch unschwer erkennen, dass sie in der Geschichte der Revolution, die darauf abgezielt hat, eine neue Basis der Autorität zu schaffen, immer wieder aufgetaucht ist.203 In diesem Versuch, einen Autoritätsbegriff aus der transzendenten Quelle abzuleiten, gebe es „ein auf eigenständig politische Erfahrung gegründetes Autoritätsbewußtsein überhaupt nicht“.204 Dieser eigentlich antipolitische Autoritätsbegriff, der schon mit dem Herrschaftsbegriff identifizierbar ist, spielt im politischen Bereich eine sehr große Rolle. 197 198 199 200 201 202 203 204 ZVZ, S. 178. Vgl. ZVZ, S. 176. Vgl. ZVZ, S. 174. Vgl. ZVZ, S. 174 und S. 320. Popitz, 1986, S. 33f. ZVZ, S. 321. Vgl. ÜR, S. 246f. ZVZ, S. 186. 268 Auf die römische Bedeutung der Autorität geht Arendts politischer Autoritätsbegriff zurück. Autorität war im antiken Rom „der moralisch-politische Maßstab schlechthin“205 und gehörte „zu einem politischen Zentralbegriff“. 206 Etymologisch betrachtet kommt das Wort Autorität vom lateinischen Wort auctoritas, und dieses ist abgeleitet von dem Verb augere. Augere heißt „vermehren, zunehmen, wachsen lassen, auch fördern“207. Autorität wurde vom Römer im Sinne von Gründen und Fortführen der politischen Gemeinwesen verwendet. Bei Cicero findet sich diese Bestimmung: „Denn es gibt nichts, wobei menschliche Vollkommenheit näher an der Götter Walten heranreicht, als neue Staaten zu gründen oder schon gegründete zu bewahren.“208 In der Erfahrung der amerikanischen Revolution entdeckt Arendt die politische Bedeutung des römischen Autoritätsbegriffs wieder: „Daß Gründen und Erhalten zusammengehören und daß dies Zusammengehören sich lebendig in Vermehrungen der Fundamente manifestiert, daß also der revolutionäre Akt des völligen Neubeginns und der konservierende Geist, durch den das Neue durch die Jahrhunderte gegen den Ansturm der Zeit bewahrt wird, von vornherein miteinanderverbunden sind, diese Vorstellungen sind so typisch römisch, daß man sie in der Tat überall in lateinischer Literatur finden und sich aneignen kann.“209 Die Autorität war für Römer ein politischer Zentralbegriff in drei Dimensionen: Erstens hat der römische Autoritätsbegriff untrennbar mit dem politischen Handeln zu tun. Die politische Implikation vom Autoritätsbegriff ist unschwer zu verstehen, wenn man das römische Verständnis des Politischen erblickt. „Politik treiben hieß immer vorerst die Gründung der Stadt Rom bewahren und vermehren.“210 Genau genommen: auctoritas heißt „das Politische mehren, das Politische füllen und erfüllen“.211 Der Begriff der Autorität hängt daher mit dem Handeln zusammen, das der Gründung und Bewahrung der politischen Ordnung dient. 212 In diesem Kontext wohnt dem Autoritätsbegriff das Prinzip des Gründungsaktes inne. Im Gegensatz zum griechischen Verständnis greift Autorität für Römer weder auf eine göttlich geleitete Vernunft noch auf die natürliche Überlegenheit zurück, sondern einzig und allein auf den Gründungs- und Bewahrensakt, der im Kern des politischen Handelns besteht.213 Wenn die Grundlage der politischen Autorität die durch Handeln geschehende Gründung der Gemeinwesen ist, braucht man keine Götter, um der politischen Ordnung Autorität zu geben. 205 206 207 208 209 210 211 212 213 ZVZ, S. 190. Eschenburg, 1965, S. 12. Eschenburg, 1965, S. 9; vgl. auch ZVZ, S. 188 und ÜR, S. 258f. Cicero, De republica I. 7. 12; zit. nach ÜR, S. 259. ÜR, S. 260f. ZVZ, S. 187. Baruzzi, 1973, S. 175. Vgl. Baruzzi, 1984, S. 50ff. Vgl. ÜR, S. 252f. 269 In zweiter Hinsicht war der römische Autoritätsbegriff politisch, weil Autorität in einer bestimmten politischen Institution verankert war. Die Autorität gehörte zu einer von drei Begriffen der römischen Verfassungsordnung und wurde verkörpert in einer politischen Institution, dem römischen Senat. 214 Arendt sagt, „daß die Autorität des Staates in einer konkreten Institution verkörpert ist, die sich klar von den anderen Staatsgewalten der Legislative und der Exekutive abhebt“.215 So kann man sagen, dass Autorität „Schlüsselbegriff für die abendländische Idee der politischen Ordnung“216 war. Die Funktion der Autorität, die politische Welt zu stabilisieren und zu sichern, ist politisch, denn die verbindende Kraft der Autorität bezieht sich auf „das Prinzip wechselseitigen Versprechens und gemeinsamen Beratens“.217 Die dritte politische Komponente der Autorität besteht darin, dass ihre Quelle die öffentliche Anerkennung ist. Das bedeutet, dass sich die Autoritätsstruktur von der transzendenten oder naturrechtlichen Herrschaftsstruktur unterscheidet, die sich bei Plato wie bei Aristoteles zeigte. Die politische Autorität hat „nichts mit einer natürlichen Tugend zu tun, noch ist sie irgendwie charismatisch, noch ein Wert der Person an sich. Autorität hat man nur im Hinblick auf andere“.218 Wenn es um die politische Autorität geht, ist ein Minimum von öffentlichem Vertrauen erforderlich.219 Das Vertrauen, das Arendt als Quelle der Autorität bezeichnet, basiert nicht auf der Kraft außerhalb des politischen Bereiches, sondern auf den wechselseitigen Versprechen und der Anerkennung in der Öffentlichkeit. Für Arendt ist die Lösung des politischen Problems der Autorität in der „Idee gegenseitigen Vertrauens als einem Prinzip organisierten Handelns“220 zu suchen. Der Begriff der Autorität ist daher das fundamentale Konstruktionskonzept des politischen Gemeinwesens. 2.2.2 Die Interdependenz von Autorität und Freiheit Geschichtlich betrachtet ist es auffallend, dass die Degradierung des Autoritätsbegriffs im politischen Denken vor allem mit dem neuzeitlichen Aufbruch zur Freiheit aller Individuen zusammenfällt. Gegen die alte Autorität steht die neuzeitliche Vernünftigkeit „in jedem Individuum als 214 215 216 217 218 219 220 In der römischen Republik teilt sich die politische Ordnung in Volk, Senat und Beamte: Cicero sagt, die auctoritas wäre dem Senat, die potestas (Macht) den Magistraten und die libertas (Freiheit) dem Volk zuzuordnen (Cicero, De republica II, 57; zit. nach Eschenburg, 1965, S. 15; vgl. ZVZ, S. 189 und ÜR, S. 257). ÜR, S. 257. Fueyo, 1968, S. 217. ÜR, S. 275. Fueyo, 1968, S. 218. Vgl. ÜR, S. 358; im Gegensatz zu diesem öffentlichen Vertrauen spricht Arendt von „totaler Treue“, die „nur von absolut isolierten Individuen geleistet werden“ kann (EU, S. 698). Nach Arendt ist das politische Vertrauen „niemals absolut und niemals absolut zuverlässig“, weil es auf der Pluralität beruht (EU, S. 698). ÜR, S. 236. 270 legitime Quelle von Recht und Wahrheit“.221 Beim Kampf der Aufklärung gegen die überlieferten Autoritäten gilt „die Vernunft als letzte Instanz gegenüber allen herkömmlichen Autoritäten“.222 In der Erfahrung und dem Bewusstsein von individueller Freiheit, die zunächst als persönliche Souveränität und Unabhängigkeit verstanden wird, wird Autorität als ein abwertender Begriff verwendet. Wo es Autorität gäbe, da gäbe es keine Freiheit. Die Abschaffung der Autorität erweist sich als unentbehrlich um der individuellen Freiheit willen. Das verweist auch auf den neuzeitlichen Siegeszug der souveränen – individuellen Freiheit: „Freiheit ist nach unserer modernen Erfahrung das exklusive Gegenteil von Autorität. Und wenn es ohne Freiheit kein wahres Menschsein gibt, dann ist der Protest gegen Autorität unerläßlich zur Wahrung der Menschenwürde.“223 Aber diese oft gehörte antagonistische Entgegensetzung von Autorität und Freiheit bezeichnet Arendt als ein Missverständnis: „Autorität und Freiheit sind keineswegs Gegensätze, und einem Autoritätsverlust entspricht kein automatischer Freiheitsgewinn. Vielmehr leben wir bereits seit geraumer Zeit in einer Welt, in welcher dem fortschreitenden Autoritätsverlust eine ebenso evident fortschreitende Freiheitsbedrohung entspricht.“224 Diese Arendtsche positive Formulierung des Verhältnisses von Autorität und Freiheit hält man für romantisch und konservativ. Die Richtigkeit dieser Einschätzung ist jedoch anzuzweifeln, weil etwas wie die Restauration der überlieferten alten Autoritäten nichts mit der Intention von Arendt zu tun hat. Autorität ist für Arendt nicht identisch mit Gewalt oder Herrschaft, wie Freiheit nicht mit Willkür oder Souveränität. Die unversöhnliche Gegnerschaft von Autorität und Freiheit entsteht notwendigerweise dann, wenn unter Autorität Herrschaft, wenn unter Freiheit Willkür verstanden wird.225 Die Verbindung von Freiheit und Autorität verhindert die anarchistische Willkür und auch die tyrannische Herrschaft. Arendt formuliert: „Aufgabe der Autorität ist immer gewesen, die Freiheit zu begrenzen und gerade dadurch zu sichern, so daß eine autoritäre Staatsform ihre eigentliche Substanz verliert, wenn sie die Freiheit schlechterdings abschafft. Sie ist dann eben nicht mehr autoritär, sondern tyrannisch.“226 Auf die kontradiktorische Entgegensetzung von Freiheit und Autorität bezogen unterscheidet der Liberalismus gar nicht zwischen autoritärer und totalitärer Staatsform. Der Unterschied zwischen beiden Typen ist nach seiner Ansicht kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller. Aber nach Arendt übersieht der Liberalismus „die in der Wirklichkeit ausschlaggebenden Unterschiede zwischen einer autoritär beschränkten 221 222 223 224 225 226 Horkheimer, 1992, S. 149. Rabe, 1972, S. 21. Krüger, 1953, S. 45f. ZVZ, S. 162; „Freiheit ist nur gehaltvoll durch Autorität, der sie folgt. Autorität ist nur wahr durch Erwecken der Freiheit.“ (Jaspers, 1958, S. 45). Vgl. Jaspers, 1958, S. 46. ZVZ, S. 162. 271 Freiheit, der tyrannischen Abschaffung der politischen Freiheit und der totalen Elimination jeder Spontaneität, wie wir sie nur in totalitär beherrschten Ländern finden.“227 Daher sind die eigentlich politischen Phänomene verdunkelt. Dafür macht Arendt ein Beispiel: „Ein autoritär geleitetes Gemeinwesen wie die Katholische Kirche ist nicht totalitär, und totale Herrschaft, wie wir sie von den Hitler und Stalin-Regimen kennen, hat mit Autorität nicht das geringste zu tun.“228 Der politische Zusammenhang zwischen Autorität und Freiheit besteht darin, dass sie nur bei der Anerkennung der Pluralität zusammenfallen können. Die Anerkennung einer politischen Autorität stellt keinen Ausschluss der Freiheit dar, sondern sie ermöglicht den Menschen, politisch zu handeln. In dem Verständnis des Autoritätsbegriffs als Gründung der politischen Gemeinschaft rührt die Freiheit nicht von der Abwesenheit der Autorität, sondern sie entsteht aus dem politischen Handeln zur Schaffung der neuen Autorität. Die Möglichkeit zur Freiheit wird „von einer kollektiven Autorität gestützt, nämlich der Autorisierung durch eine politische Gemeinschaft. Diese beruft sich explizit nicht auf von vornherein abgesprochene Solidarität und dauernde Identität, wie es zum Beispiel der politische Zionismus tut, sondern auf offene Prozesse gegenseitiger Verständigung und die sich in dieser Verständigung etablierende Gleichheit.“229 Diese Beziehung von Autorität und Freiheit wird in Arendts Überlegung der Revolutionen eindeutig gemacht. Die Revolution bringt Arendts Ansicht zufolge Freiheit und zugleich die neue Autorität. Für sie ist die Revolution selbst die Antwort auf den entscheidenden Autoritätsverlust. Die Revolution ergibt sich, wenn die „Autorität des bestehenden Regimes hoffnungslos diskreditiert ist.“230 Die Revolution ist die Folge des Autoritätsverlusts, sie ist niemals dessen Ursache. In diesem Zusammenhang bezieht sich die Gründung der Freiheit, die in der erfolgreichen Revolution gesehen wird, auf die Schaffung einer neuen Autorität.231 Nach Arendt war es die Aufgabe der Revolutionen, „eine neue Autorität zu etablieren, die sich weder auf Sitten und Gebräuche, noch auf Präzedenzien, noch auf die Heiligung durch unvordenkliche Zeiten berufen konnte“.232 Interessant ist, dass Engels die Revolution mit dem Autoritätsprinzip verbindet. Engels lehnt die Forderung danach, dass die Revolution zunächst die Autorität abschaffen muss, ab. Für ihn ist eine Revolution vielmehr „das autoritärste Dinge, das es gibt.“233 Aber Engels sieht die Autorität 227 228 229 230 231 232 233 ZVZ, S. 162; dazu siehe auch Eschenburg, 1965, S. 159ff. ZVZ, S. 162. Barnouw, 2003, S. 51. ÜR, S. 148. Vgl. ÜR, S. 231. ÜR, S. 208. Engels, MEW, Bd. 18, S. 308. 272 der Revolution als Durchsetzung brutaler Gewalt an.234 Engels Reduzierung der revolutionären Autorität auf Gewalt war nichts anderes als eine Vollendung der Ideologisierung des Autoritätsbegriffs unter geschichtsphilosophischer Einstellung. Die ideologisierte Autorität ist im Vorfeld der Revolution machbar. Engels ist daher davon überzeugt, „daß Revolutionen nicht absichtlich und willkürlich gemacht werden, sondern daß sie überall und zu jeder Zeit die notwendige Folge von Umständen waren, welche von dem Willen und der Leitung einzelner Parteien und ganzer Klassen durchaus unabhängig sind.“235 Ganz im Gegensatz dazu verbindet Arendt die Etablierung der Autorität durch Revolution mit dem Handeln. Der Faktor der Freiheit, der beim Autoritätsbegriff bleibt, beruht darauf, dass sich Autorität auf das Handeln als Anfang bezieht. Autorität hat es mit dem Gründungsakt im Sinne des Einen – Anfang - Setzens zu tun. Der Neuanfang ist „nur möglich, wenn es die Autorität selbst wieder – gründet“.236 Der Neuanfang und die Wiedergründung der Autorität beruhen nicht auf dem Motiv der zweckmäßigen und vollständigen Machbarkeit, sondern auf dem unvorhersehbaren und ungewissen Zusammenhandeln der Menschen. In diesem Sinne spricht Jaspers von der „Nichtherstellbarkeit“ der Autorität.237 Wenn Autorität herstellbar wäre, wäre sie das Werk der Gewalt und des Zwangs. Wenn Machiavelli und Robespierre das „Gründen“ mit einem „Herstellen“ verwechselt haben, haben sie Autorität für machbar gehalten. „Erst für die Spätern war das Gründen ein Ziel der Politik, und sogar das höchste, dem darum alle anderen politischen Handlungen als Mittel unterstellt und für alle Mittel, auch die Mittel des Terrors und der Gewalt, gerechtfertigt werden. Das aber bedeutet, daß hier der Gründungsakt nicht mehr im Sinne des Handelns oder im Sinne der das weitere Handeln ermöglichenden ersten Tat, sondern im Sinne eines Herstellens verstanden wurde. Für Machiavelli handelte es sich im wörtlichen Verstand des Wortes darum, ein geeintes Italien zu machen, und Robespierre wollte eine Republik herstellen.“238 Der autoritäre Charakter der Gründung unterscheidet sich von der „Verfügung über die Gewalt, die für alles Herstellen und Ausführen notwendig ist, ob sie sich nun auf Personen oder auf Sachen erstreckt“.239 234 235 236 237 238 239 In einem Brief erläutert er: „Ich kenne nichts Autoritäreres als eine Revolution, und wenn man seinen Willen den anderen mit Bomben und Gewehrkugeln aufzwingt, wie in jeder Revolution, dann scheint mir, daß man Autorität ausübt.“ (Engels, MEW, Bd. 33, S. 374). MG, S. 152. Kristeva, 2007, S. 9. Jaspers, 1958, S. 55. ZVZ, S. 193. ZVZ, S. 189; dieses Merkmal der Autorität betont auch Baruzzi: „Autorität stiftet hier das politische Leben, wobei die Stiftung in der Praxis beruht. Darin liegt der entscheidende Unterschied zur Poiesis oder Technik (…). Die Römer wußten um dieses Problem, insofern sie Autorität als jenes verstanden, was außerhalb der technischen Machtregelung im System der potestates bleiben musste.“ (Baruzzi, 1973, S. 176). 273 Autorität und Freiheit haben mit der Verantwortung für die gemeinsame Welt zu tun. Wir haben schon erwähnt, dass politische Autorität aus einer gegenseitigen Anerkennung der Pluralität entsteht. Im politischen Bereich stellt sich diese Anerkennung als Verantwortung für die Gemeinschaft dar. Diese Verantwortlichkeit beruht nicht auf der moralischen oder transzendenten Autorität, sondern auf der Tatsache, dass wir in der gemeinsamen Welt leben. Der Verlust der Autorität hat eng mit dem Verschwinden der Verantwortung für die gemeinsame Welt zu tun.240 Darauf bezogen ist bemerkenswert, dass Arendt den Autoritätsverfall im präpolitischen wie politischen Bereich mit der Weigerung der Übernahme von Verantwortung für die gemeinsame Welt verknüpft: Es komme „in diesem Extrem der Autoritätsfeindlichkeit eine Art Abdankung der Zeitgenossen zum Ausdruck, die sich als Eltern und Erzieher gewissermaßen weigern, eine der allerelementarsten Funktionen in jedem Gemeinwesen, das Hineinleben derer, die durch die Geburt neu in die Welt gekommen und daher in ihr notwendigerweise Fremdlinge sind, zu übernehmen und so die Kontinuität dieser gemeinsamen Welt zu sichern. Es ist, als wollten die Eltern ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für die Welt, in die sie sie hineingezeugt und hineingeboren haben, nicht mehr übernehmen.“241 In diesem Zusammenhang verbindet Arendt den modernen Autoritätsverfall aufs Engste mit dem Phänomen der spezifisch modernen Weltentfremdung.242 2.2.3 Autorität, Herrschaft und Macht Für das Verständnis der Autorität besteht die Schwierigkeit darin, dass politische Schlüsselbegriffe wie Autorität, Macht und Herrschaft in der Fachsprache der Politikwissenschaft unterschiedslos verwendet werden. Darum bleibt oftmals unklar, welcher Begriff welchen Sachverhalt bezeichnen soll und wer über welches Phänomen spricht.243 Meistens werden sie nur als „verschiedene Worte für ein Verhältnis zwischen Befehlenden und Gehorchenden“244 verstanden. Bei dieser begrifflichen Verwirrung geht es nicht nur um einen leichtsinnigen Sprachgebrauch. Hinter der scheinbaren Verwirrung steht vielmehr die Überzeugung, dass Herrschen und 240 241 242 243 244 Vgl. Wessel, 2006, S. 57ff. ZVZ, S. 165. Vgl. ZVZ, S. 165 und 275. d‟Entreves weist darauf hin: Die Autorität, die Macht und die Herrschaft - „auf die exakte Verwendung all dieser Worte legt die Umgangssprache keinen besonderen Wert; sogar die größten Denker gebrauchen sie manchmal aufs Geratewohl. Aber es wäre angebracht, darauf zu bestehen, daß sie sich auf ganz bestimmte Eigenschaften beziehen und daß ihr Aussagegehalt deshalb jeweils sorgfältig abgewogen und geprüft werden sollte“ (d‟Entreves, 1967; zit. nach MG, S. 174). ÜR, S. 232. 274 Beherrschtwerden alle politischen Verhältnisse bestimmen: „Daß in unserem Dasein Autorität mit Herrschaft verknüpft sein muß, ist ihr Verhängnis.“245 In Bezug auf die Gleichsetzung von Autorität und Herrschaft haben wir oben Platos Bemühung, die Herrschaft durch etwas wie präpolitische Autorität zu ersetzen, gesehen. Auch bei Aristoteles ist für ausgemacht gehalten, dass ein Aspekt einer politischen Assoziation das Vorhandensein von Herrschaft ist, indem er die Perspektive eines politischen Verhältnisses vom Unterschied etwa zwischen Herrn und Sklaven, Ehemann und Ehefrau und Eltern und Kinder ableitet.246 Zur politischen Ordnung führt er das Verhältnis von natürlicher angeborener Überlegenheit und natürlicher Unterlegenheit in die Angelegenheiten der Polis ein.247 Durch die Verwendung dieser zweifelhaften anthropologischen Aussage entpolitisiert er Arendts Auffassung zufolge die Politik. Wenn die präpolitische Autorität zum Modell von der politischen Autorität gemacht wird, führt das „zu der grundsätzlichen Perversion des Politischen“.248 Aber die präpolitische Autorität ist nach Arendts Auffassung für den politischen Bereich nicht geeignet, weil sie „von der Natur selbst diktiert und von allen geschichtlichen Veränderungen und politischen Verfassungen unabhängig“ ist und weil es im Politischen immer um das Verhältnis zwischen gleichen Erwachsenen geht.249 Die Gleichsetzung von Autorität und Herrschaft zeigt sich stets in den neuzeitlichen Staatstheorien. Vor allem in dem Begriff der Souveränität als Schlüsselbegriff der neuzeitlichen politischen Ordnungsvorstellung ist die Unterscheidung zwischen Autorität und Herrschaft fast verschwunden.250 Mit einem Rechtsakt per Vertrag wollten die neuzeitlichen politischen Philosophen die Frage der legitimen Begründung der Herrschaft beantworten. Bei Hobbes handelt es sich auch um die Verbindung von Autorität und Souveränität.251 Das auf dem Vertrag gegründete Gesetz ist für Hobbes die Erzeugung des Autorisierungsprozesses252, das durch eine Art von Delegierung den „sterblichen Gott“253 als den absoluten Souverän erzeugt. Aus diesem Autorisierungsprozess ergibt sich die Legitimation der Herrschaft. Daraus folgt die Identifizierung von Autorität und Souveränität, wie Hobbes sagt, dass „die Autorität des Gesetzes (…) nur im Be245 246 247 248 249 250 251 252 253 Jaspers, 1958, S. 47. Aristoteles, Politik 1253 b und 1332 b; vgl. ZVZ, S. 185 und S. 407. „Bei Aristoteles findet die Betonung des herrschaftlichen Moments ihren stärksten Ausdruck in der Begründung der Sklaverei auf die angeborene Ungleichheit der Menschen.“ (Brunner, 1950, S. 124; zit. nach Koslowski, 1979, S. 64). WP, S. 10. ZVZ, S. 272. Zum Verhältnis von Autorität und Souveränität siehe Eschenburg, 1965, S. 109ff. Vgl. Hobbes, LV, Kap. 16. „Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst.“ (Hobbes, LV, S. 134). Hobbes, LV, Kap. 17. 275 fehl des Souveräns besteht“.254 Autorität wird zur Befehlsgewalt des Souveräns unter Geltung kraft Autorität. Sie stellt daher immer „Autorität des Souveräns“255 dar. Diese souveräne Autorität ist durch ihre Absolutheit gekennzeichnet, weil der Autorisierungsprozess zur Machtzentralisierung führt. Obwohl Hobbes Autorität zunächst als „ein Recht auf irgendeine Handlung“256 definiert, setzt die Autorisierungskonstruktion jedoch den Verzicht auf das Recht auf bestimmte eigene Handlungen des Autors voraus, um die Handlungen des Souveräns als die eigenen anzuerkennen: „Ich autorisiere alle ihre Handlungen oder nehme sie auf mich.“ 257 Nun wird es selbstverständlich, dass das Ziel der Autorisierung für Hobbes in der Unterwerfung der vielen Einzelnen unter eine Person besteht, also in einer wirklichen „Einheit aller in ein und derselben Person“.258 Die aus dem Vertrag entstehende Autorisierung führt zur „Entmachtung Aller zugunsten Eines“259. Die Autorität, als Herrschaft verstanden, und damit die politische Vereinigung geschehen bei Hobbes also nicht aus dem gemeinsamen Handeln zum Zusammenschluss, sondern nur aus einer „Entmündigung der Autoren durch den Akt der Autorisierung“260. Die begriffliche Vermischung von Herrschaft und Autorität findet sich aufs ausführlichste bei Max Weber.261 Für ihn ist Herrschaft ein Zentralbegriff der Politik. Herrschaft ist bei Weber die Chance, „für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden. Nicht also jede Art von Chance, Macht und Einfluß auf andere Menschen auszuüben. Herrschaft (Autorität) in diesem Sinn kann im Einzelfall auf den verschiedensten Motiven der Fügsamkeit: von dumpfer Gewöhnung angefangen bis zu rein zweckrationalen Erwägungen, beruhen. Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenswollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.“ 262 Nach dieser Definition verlangt Herrschaft zumindest Interesse am Gehorchen des Herrschaftsunterworfenen. Aber die „Herrschaft kraft Interessenkonstellation“ 263 ist für Weber nicht hinreichend. Deswegen beschränkt er die Herrschaft auf die „Herrschaft kraft Autorität“ oder „autoritäre Be- 254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 Hobbes, LV, S. 210; vgl. EU, S. 320. Hobbes, LV, S. 212. Hobbes, LV, S. 124. Hobbes, LV, S. 168. Hobbes, LV, S. 134; „Eine Menge von Menschen wird zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Menschen oder einer Person vertreten wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung jedes einzelnen dieser Menge geschieht. Denn es ist die Einheit des Vertreters, nicht die Einheit der Vertretenen, die bewirkt, daß eine Person entsteht. Und es ist der Vertreter, der die Person, und zwar nur eine Person verkörpert – anders kann Einheit bei einer Menge nicht verstanden werden.“ (Hobbes, LV, S. 125f. Hervorhebung im Original). DTB, S. 81. Münkler, 1993, S. 133. „Jedwede Autorität war für ihn eine Art von Herrschaft“ (Sternberger, 1980c, S. 152; vgl. Weber, WG, S. 38, 157 und 691). Weber, WG, S. 157. Hervorhebung im Original. Weber, WG, S. 691. 276 fehlsgewalt“.264 Wenn das Zusammengehen von Befehl und Gehorsam unabhängig von allem Interesse zu einer Angewohnheit geworden ist, dann ist Herrschaft Autorität zu nennen. So definiert Weber Autorität als „ein unabhängig von allem Interesse bestehendes Recht auf Gehorsam gegenüber den tatsächlich Beherrschten“. 265 Herrschaft ist für Weber wie für Hobbes auf der Geltung kraft Autorität gegründet. Arendt verweist auf das spezifische Phänomen der Autorität folgendermaßen: „Da Autorität immer mit dem Anspruch des Gehorsams auftritt, wird sie gemeinhin für eine Form von Macht, für einen Zwang besonderer Art gehalten. Autorität jedoch schließt gerade den Gebrauch jeglichen Zwanges aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt. Andererseits ist Autorität unvereinbar mit Überzeugungen, welches Gleichheit voraussetzt und mit Argumenten arbeitet.“ 266 Diese Feststellung beruft sich allerdings auf den römischen Autoritätsbegriff. Für Römer ist die Autorität dadurch gekennzeichnet, dass sie „mehr als ein Ratschlag, und weniger als ein Befehl, eben ein Ratschlag, dessen Befolgung man sich nicht füglich entziehen kann“267 ist. Für ein solches Verständnis von Autorität liegt die Schwierigkeit darin, dass die Autorität nicht nur von dem Zwang abgegrenzt ist, sondern auch von der argumentativen Überzeugung. Daraus folgt, dass die Autorität als ein politischer Begriff in deutlichem Unterschied nicht nur zur Herrschaft, sondern auch zur Macht steht. Im Gegensatz zur vorherrschende Definition der Autorität als „formale Macht oder als rechtmäßige Macht“268 sind Macht und Autorität für Arendt nicht dasselbe, und beide Phänomene haben ihre eigene Bedeutung für den politischen Bereich.269 Die Unterscheidung zwischen Autorität und Macht findet sich schon bei Ciceros Bestimmung von potestas und auctoritas: „wie der Sitz der Macht im Volk, so liegt der Sitz der Autorität im Senat.“270 Das Kennzeichen der Autorität, das sich von Macht unterscheidet, liegt darin, dass sie ihren Ort in der politischen Ordnung hat. Die Gestaltungen dieser Ordnung haben Arendts Ansicht zufolge „weder oben noch unten ihre Quelle“271. Die politische Autorität bezieht sich auf „die fraglose Anerkennung seitens derer, denen Gehorsam abverlangt wird“. 272 Der die politische Autorität 264 265 266 267 268 269 270 271 272 Weber, WG, S. 692. Weber, WG, S. 693. ZVZ, S. 159; „So kann ein Vater seine Autorität entweder dadurch verlieren, dass er das Kind durch Schläge zwingt oder dadurch daß er versucht, es durch Argumente zu überzeugen. In beiden Fällen handelt er nicht mehr autoritär, in dem einen Fall tyrannisch, in dem anderen demokratisch“. (MG, S. 176). Mommsen, 1888, Bd. III/2, S.1034; zit. nach ZVZ, S. 189. Lasswell/Kaplan, 1950, S. 133; zit. nach Friedrich, 1974, S. 50. Vgl. ÜR, S. 231. ZVZ, S. 189. ÜR, S. 358. MG, S. 175. 277 herausbildende Gehorsam ist jedoch vom blinden Gehorsam zu unterscheiden. Die politische Autorität des römischen Senats war von der Zustimmung des Volkes abhängig, weil der Senat „weder Macht hatte, dem Volk zu befehlen, noch die Gewaltmittel besaß, um seine Ratschläge durchzusetzen.“ 273 Die politische Autorität hat auch keine platonische transzendente Quelle, „die als Gebote den ‚blinden„ Gehorsam fordern, der unabhängig ist von Zustimmung oder wechselseitigen Abmachungen“.274 Politisch gesehen bedeutet der Gehorsam die Unterstützung der Stifter der Macht.275 So wird Autorität in dem Moment zerstört, wenn man den Gehorsam, verstanden als Unterstützung und Zustimmung, verweigert.276 In diesem Zusammenhang bestehen Autorität und Macht in einer Wechselbeziehung. Für Arendt liegt die Aufgabe der Autorität darin, den Raum des Politischen, in dem alle Macht entsteht, zu begrenzen und zu schützen, weil Macht schwerlich genügt, „Dauerhaftigkeit zu gewährleisten und also die Angelegenheiten der Menschen so weit zu stabilisieren, daß sie für ihre Nachkommen Sorge tragen und in der Welt etwas errichten können, was sie überdauert.“ 277 Weil Macht im Sinne Arendts nicht etwas „Unveränderliches, Messbares, Verlässliches“ 278 ist, muss sie durch eine politische Institution begrenzt werden, die der Vermehrung fähig ist. Anders gesagt liegt der Grund für die Begrenztheit der Macht in ihrem Wesen, nicht aber in einem Gegensatz zwischen Macht und Autorität. Damit verbunden kommt es Arendt auf die Differenzierung zwischen Macht und Gesetz.279 Die Autorität, welche die Gesetze gegenüber den Bürgern eines Landes beanspruchen kann, besitzt den Zweck, die öffentliche Macht abzusichern und auch zu vermehren, indem sie dem Neuanfang eine weltliche Stabilität verleiht. 280 Mit anderen Worte: Die politische Autorität hängt davon ab, wie die öffentliche Macht organisiert ist und wie die menschliche Pluralität konstituiert ist. Diese Korrelation von Macht und Autorität haben die Männer der amerikanischen Revolution erkannt, wie Arendt davon überzeugt ist. Sie hält fest: „Wobei ihnen aber wieder zu Hilfe kam, daß sie bei den Römern gelernt hatten, daß dies Machtprinzip zur Formulierung eines Staates nur imstande ist, wenn man es durch die weitere römische Formel auctoritas in senatu ergänzt; sie gingen also von vornherein davon aus, daß Macht und Autorität nicht dasselbe sind, daß man aber beider bedarf für den Staat (…). Diese 273 274 275 276 277 278 279 280 ZVZ, S. 189. ÜR, S. 244f. Vgl. ÜR, S. 293. Aus dem Eichmannprozess in Jerusalem berichtet Arendt: „Denn wenn Sie sich auf Gehorsam berufen, so möchten wir Ihnen vorhalten, daß die Politik ja nicht in der Kinderstube vor sich geht und daß im politischen Bereich der Erwachsenen das Wort Gehorsam nur ein anderes Wort ist für Zustimmung und Unterstützung.“ (EJ, S. 329). ÜR, S. 236. VA, S. 252; „Auf Macht ist kein Verlaß; sie entsteht, wenn Menschen sich für ein bestimmtes Ziel zusammentun und organisieren, und verschwindet, wenn dies Ziel erreicht oder verloren ist“ (ZVZ, S. 363). Vgl. ÜR, S. 204 und 237; dazu siehe Abschnitt über Rousseau. Zu einem solchen Verständnis von Gesetz siehe IG, S. 445f. 278 Autorität war dem Volk abhanden gekommen durch die Unabhängigkeitserklärung, und das Hauptproblem der Amerikanischen Revolution war daher nicht nur, ein neues Machtsystem zu etablieren, sondern zugleich damit auch eine neue Quelle der Autorität zu finden, auf die sich diese Macht zusätzlich stützen konnte.“281 2.3 Die politische Macht Aus der komplexen Begriffswelt der politischen Ideengeschichte ragt Macht als grundlegender und zugleich umstrittener Begriff hervor. Obwohl die Macht zweifellos als „Grundkategorie des Politischen“282 bezeichnet wird, bleibt ihre eigentlich politische Qualität im Dunkeln. Der ganz eigenständige Beitrag von Arendts Macht-Begriff zur politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts besteht darin, dass sie Macht als „das Urphänomen der Pluralität“283 charakterisiert. Macht könne „nur in einer der vielen Formen der menschlichen Pluralität ihren Wohnsitz haben, wogegen jede Art der menschlichen Singularität per definitionem ohnmächtig ist.“284 Die menschliche Pluralität ist die entscheidende Bedingung für die Entstehung der Macht und ihre Begrenztheit.285 Arendts Machtbegriff geht eigentlich von der phänomenologischen Abgrenzung von Herrschaft und Gewalt aus. Aus der Tatsache, dass Macht dem Grundfaktum der Pluralität von handelnden und meinenden Menschen entspricht, unterscheidet sie sich von anderen Phänomenen. Um die politische Qualität der Macht zu erkennen, ist es zunächst notwendig, den Begriff der Macht von den verwandten und benachbarten Begriffen abzugrenzen und näher zu bestimmen. 2.3.1 Herrschaft als Entmachtung der Macht In der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise teilt man weithin die Überzeugung: Politik sei eine beständige Beziehung der Herrschaft, deren Grundstruktur der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten oder von Befehlen und Gehorchen ist. Als „ein Urphänomen der Politik“ 286 wird Herrschaft so zum wesentlichen Merkmal der Politik und ihrem Grundprinzip, dass alle anderen politischen Phänomene wie Macht und Autorität ihr unter- 281 282 283 284 285 286 ÜR, S. 231. Sontheimer, 1966, S. 197ff. DTB, S. 160. ÜDB, S. 93. Vollrath stellt zu Recht fest: „Hannah Arendt versteht jetzt das Phänomen der Macht weltlich, d.h. aus der Pluralität der die Welt bevölkernden Menschen.“ (Vollrath, 1979a, S. 48). Lenk, 1993, S. 241. 279 geordnet sind. 287 Darüber hinaus wird Herrschaft als „das historisch wichtigste-allgemeinste Strukturelement der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ 288 verstanden. Die Notwendigkeit der Herrschaft im sozialen und politischen Bereich drückt Weber in kurzer Formulierung aus: „Jeder Gedanke (...), durch noch so ausgetüftelte Formen der Demokratie die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu beseitigen, ist eine Utopie“.289 Der Gedanke der Notwendigkeit der Herrschaft im politischen Bereich beruht vor allem auf einem Verständnis des Politischen als Funktion der Gestaltung des einheitlichen Willens oder der gesellschaftlichen Verwaltung. Wenn die Lebensversorgung oder die Beherrschung der Lebensnotwendigkeit im Mittelpunkt der politischen Aufgabe steht, sind Herrschaft und Politik voneinander untrennbar.290 Das stellt Max Weber ganz deutlich fest: „Jede Herrschaft äußert sich und funktioniert als Verwaltung. Jede Verwaltung bedarf irgendwie der Herrschaft, denn immer müssen zu ihrer Führung irgendwelche Befehlsgewalten in irgend jemander Hand gelegt sein.“291 Es ist kein Zufall, dass auch die sogenannten Kritischen Theoretiker das herrschaftskategoriale Politikverständnis, dass Politik vollständig in undifferenzierter Herrschaft des Menschen über den Menschen aufgeht, übernehmen.292 Im Denken der Kritischen Theorie kommt es zu einer Identifikation von Politik und Herrschaft, wie diese von Horkheimer in „Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie“ erörtert wird: „Aber nicht nur auf der Beherrschung der Natur im engeren Sinne, nicht nur auf der Erfindung neuer Produktionsmethoden, auf dem Bau von Maschinen, auf der Erhaltung eines gewissen Gesundheitszustandes beruht die Gesellschaft, sondern ebenso sehr auf der Herrschaft von Menschen über Menschen. Der Inbegriff der Wege, die dazu führen und der Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung dieser Herrschaft dienen, heißt Politik.“293 Vor dem Hintergrund dieser Tradition der Kritischen Theorie wirft Habermas Arendt vor, dass sie alle administrative Ausübung von Macht aus dem Machtbegriff ausschließt.294 Nach Greven bezieht sich seine Kritik an dem Arendtschen Machtbegriff darauf, dass er Politik eng verbindet „mit machtgestütztem Verwaltungshandeln des ausdifferenzierten politisch-administrativen Sys287 288 289 290 291 292 293 294 Vgl. Dahl, 1973, S. 16f. Freyer, 1987, S. 31. Weber, Brief an Michels vom 4. 8. 1908; zit. nach Mommsen, 1974, S. 420; „Herrschaft sei unausweichlich, Herrschaftsfreiheit ein widersinniges, ein widernatürliches Ziel, ein Wahn“ (Sternberger, 1980a, S. 17). Vgl. WP, S. 56 und 74ff. Weber, WG, S. 697. Vgl. Vollrath, 1990, S. 283. Horkheimer, 1971, S. 12; zit. nach Vollrath, 1989a, S. 203. Habermas erhebt Einwände gegen Arendts Machtbegriff in drei Dimensionen, „daß sie erstens alle strategischen Elemente als Gewalt aus der Politik ausblendet; daß sie zweitens die Politik aus den Bezügen zu ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Umwelt, in die sie über das administrative System eingebettet ist, herausnimmt; und daß sie drittens Erscheinungen struktureller Gewalt nicht fassen kann.“ (Habermas, 1981b, S. 240f.). 280 tems“295. In der Tat formuliert Habermas in seinem Buch Faktizität und Geltung sein eigenes Konzept der Politik in der Auseinandersetzung mit Hannah Arendt: „Politik kann nicht als ganze mit der Praxis derer zusammenfallen, die miteinander reden, um politisch autonom zu handeln. Die Ausübung politischer Autonomie bedeutet die diskursive Bildung eines gemeinsamen Willens, noch nicht die Implementierung der aus ihm hervorgehenden Gesetze. Der Begriff des Politischen erstreckt sich zu Recht auch auf die Verwendung administrativer Macht im und auf Konkurrenz um den Zugang zum politischen System.“296 Beim Verständnis der Politik auf dieser Übernahme der funktionalistischen Systemtheorie lassen sich das Eigenwesen und die Eigenständigkeit des Politischen selbst nicht deutlich sehen.297 Da sich für das Habermassche Verständnis der Politik der Graben zwischen dem administrativen und funktionalen System einerseits und dem kommunikativen Handeln andererseits auftut, bleiben die Spezifika des Politischen im Dunkeln.298 In diesem Zusammenhang scheint Habermas die Politik mit der Herrschaft gleichzusetzen. Aber an einer Stelle vertritt Greven die These: Habermas, auch wenn er die Politik mit administrativer Macht und mit dem Verwaltungssystem verbindet, stelle eine Verbindung der Politik zur Herrschaft nicht mehr her.299 Man kann gerade bemerken, dass sich seine These gegen Vollraths Behauptung wendet, das Habermassche Verständnis des Politischen trage den „beibehaltenen entqualifizierten und undifferenzierten – unpolitischen – Herrschaftsbegriff“,300 der der Tradition der Kritischen Theorie innewohnt. In Anlehnung an das Arendtsche Verständnis der Politik meint Vollrath, dass Habermas die Politik als den Bereich der Herrschaft versteht, soweit er das politische Handeln als Verwaltungshandeln bezeichnet. Der politische Bereich, der die Opposition der herrschaftsfreien Lebenswelt ist, ist nichts anderes als der Ort „von Herrschaft, der Ausübung politischer Macht“.301 Wenn von der Notwendigkeit der Herrschaft die Rede ist, geht es immer um die Frage, wer die Herrschaft ausüben und wer sie erdulden soll. Diese Frage beantwortet man stets mit, „daß die Macht allein es ist, welche herrschen kann.“302 Daraus ergibt sich die Verknüpfung zwischen Macht und Herrschaft. Macht bezeichnet sich als Mittel der Herrschaft oder als ihre Möglichkeit: „Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt. Anders gesagt, ist der Inhaber der Macht der Herrschende. Dieser unmittelbare Zusammenhang von 295 296 297 298 299 300 301 302 Greven, 1991, S. 216. Habermas, 1998c, S. 186f. In Bezug auf die Tradition der Kritischen Theorie weist Martin Jay auf das Ausbleiben „einer autonomen Theorie der Politik“ und damit auf „ihre im Innersten apolitische Haltung“ hin (Jay, 1976, S. 148 und 341). Vgl. Greven, 1993, S. 77. Greven, 1991, S. 216. Vollrath, 1989a, S. 221. Vgl. Habermas, 1981b, S. 242. Rochau, 1972, S. 25. 281 Macht und Herrschaft bildet die Grundwahrheit aller Politik und den Schlüssel der ganzen Geschichte.“303 Arendt hält fest, dass sich hinter der Verwirrung der Worte Macht, Herrschaft und Gewalt in der Terminologie der modernen Politikwissenschaft kein mangelndes Unterscheidungsvermögen, sondern eine theoretische Überzeugung verbirgt, „die Überzeugung nämlich, daß es in der Politik immer nur eine entscheidende Frage gäbe, die Frage: Wer herrscht über wen? Macht, Stärke, Kräfte, Autorität, Gewalt – alle diese Worte bezeichnen nur die Mittel, deren Menschen sich jeweils bedienen, um über andere zu herrschen; man kann sie so synonym gebrauchen, weil sie alle die gleiche Funktion haben.“304 In der herrschaftskategorialen Bestimmung des Politischen reduziert sich die Macht auf „Instrument der Herrschaft“305. Diese Instrumentalisierung der Macht ist schon bei Hobbes charakteristisch. Herrschaft werde „durch Macht“306 erworben. Macht ist für Hobbes alles, was einem Menschen zu Vorteil verhelfen könnte.307 Alle die gegenwärtigen Mittel zur Erlangung eines zukünftigen Gutes bedeuteten Macht, sei es „das Herausragen der körperlichen oder geistigen Fähigkeit, wie außerordentliche Stärke, Schönheit, Klugheit, Geschicklichkeit, Beredsamkeit, Freigebigkeit und Vornehmheit“, sei es „die Macht, die durch natürliche Macht oder durch Zufall erlangt wird und als Mittel oder Instrument zum Erwerb von mehr Macht dient, wie Reichtum, Ansehen, Freunde und das verborgene Wirken Gottes, das man gewöhnlich Glück nennt“.308 Hinsichtlich der Instrumentalisierung der Macht können alle sozialen Beziehungen als Grundlage für das Streben nach Macht dienen. Obwohl Hobbes erkennt, dass die Macht nicht die Sache des isolierten Menschen ist, sondern dass sie vielmehr in der sozialen Beziehung der Menschen besteht, bedeutet das aber nicht, dass er die Pluralität der Menschen oder die menschlichen Beziehungen selbst als eine Quelle der Macht auffasst.309 Wenn Hobbes die Freundschaftsbeziehung mit der Beziehung zwischen Herrn und Diener gleichsetzt, instrumentalisiert er die menschlichen Beziehungen selbst unterschiedslos. 310 Dieser Machtbegriff ist Arendt zufolge vor 303 304 305 306 307 308 309 310 Rochau, 1972, S. 25. MG, S. 174; vgl. ÜR, S. 232. MG, S. 168. Hobbes, LV, S. 70. „Die Macht eines Menschen besteht, allgemein genommen, in seinen gegenwärtigen Mitteln zur Erlangung eines zukünftigen anscheinenden Guts und ist entweder ursprünglich oder zweckdienlich.“ (Hobbes, LV, S. 66. Hervorhebung im Original). Hobbes, LV, S. 66; vgl. EU, S. 319ff. „In diesem negativen Sinne ist er (Hobbes: H. P.) der einzige, der die Pluralität als das zentrale Problem erkennt.“ (DTB, S. 81). „Deshalb ist es Macht, Diener zu haben, Freunde zu haben ebenfalls, denn sie sind vereinte Kräfte.“ (Hobbes, LV, S. 66). 282 allem in der politischen Weltanschauung der modernen Bourgeoisie charakteristisch. 311 Diese Auffassung über Macht findet ihren Ausdruck auch in der berühmten Definition von Max Weber. In seiner klassischen Formulierung definiert Weber Macht wie folgt: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“312 Obwohl sich sein Machtbegriff, indem Weber Macht als das Modell der monologischen Durchsetzung eines individuellen Willens bestimmt, von der Staatlichkeit abweicht313, erweist sich er als nicht politisch. Der Mensch mit der Macht richtet sich zur Durchsetzung des eigenen Willens stets feindlich gegen den anderen Willen. Dabei ist der Unterschied von Macht und Gewalt verwischt.314 Als Grundlage der Macht kann die Bedrohung durch physische Gewalt dienen: „Was für Weber Macht, ist für Hannah Arendt Gewalt.“315 Macht hat für Arendt nichts mit dem Wollen der Einzelnen zu tun. „Macht ist kein Willensphänomen, weder wird sie durch Willen erzeugt, noch ist sie primär das Objekt eines Willens.“316 Es ist bemerkenswert, dass sich Herrschaft und Macht im hierarchischen Zusammenhang verstehen. Macht gilt für ein faktisches und natürliches Verhältnis, während Herrschaft ein Ausdruck der legitimierten Beziehung ist. Von der Ausübung elementarer Macht kann keine stabile politische Ordnung ausgehen, da diese bloß ein Mittel ist. So muss die Macht zur Herrschaft übergehen. Der anthropologischen Bestimmung von Hobbes zufolge strebt jeder nach Macht. Das endlose Streben nach Macht findet aber nur in dem Naturzustand statt, weil Macht selbst für gleichbedeutend mit Konflikt und chaotischem Kampf gehalten und nicht mit Frieden vereinbar ist. Die Lösung dieses Problems liegt für Hobbes in der Monopolisierung der Macht durch Leviathan.317 Diese Machtmonopolisierung versteht Hobbes als die Herrschaft. Im Blick auf die Machtmonopolisierung ist Herrschaft um so größer, je weniger die Bürger selbst noch Macht haben. Diese Zentralisierung der Macht, also Herrschaft, verlangt Entmachtung der Macht der 311 312 313 314 315 316 317 „Der Machtbegriff der neuen Klasse war aus gesellschaftlichen und nicht aus politischen Erfahrungen bezogen, er hatte sich in der anarchistischen Konkurrenz aller mit allen im Zusammenleben vereinzelter Individuen gebildet, nicht in der Sphäre politischen Handelns. Ein auf diese Art Macht begründetes Gemeinwesen konnte in der Ruhe der Stabilität nur zerfallen“ (EU, S. 323). Weber, WG, S. 38. Die Bestimmung der Macht als des Willens des Individuums bezeichnet Plessner als die „Emanzipation der Macht von Staat“ (Plessner, 1980, S. 276). Vgl. dagegen Kondylis, 1992, S. 32. Göhler/Speth, 1998, S. 20; Göhler und Speth stellen den Kern dieser Unterscheidung fest: „Transitiv ist die Macht, wenn sie auf andere bezogen ist (eben als Willensdurchsetzung). Intransitiv ist die Macht, wenn sie auf sich selbst bezogen ist. Das Grundmuster der transitiven Macht ist die Unterordnung des Willens unter den Willen eines anderen. Das ist auch unser Alltagsverständnis von Macht. Das Grundmuster der intransitiven Macht ist Selbstbezüglichkeit im Sinne von Mächtigkeit der Selbstmächtigkeit einer sozialen Einheit. Intransitive Macht umfaßt das Ensemble der Beziehungen, welches eine Gruppe von Menschen als eine Gemeinschaft konstituiert. Intransitive Macht entsteht im Zusammenhandeln der Akteure.“ DTB, S. 184. Vgl. ÜR, S. 222. 283 Bürger und läuft schließlich auf ihre Ohnmacht hinaus. Darauf weist Henning Ottmann in der kurzen Formulierung hin: „Die extreme Ohnmacht des Menschen führt zur äußersten Macht des Staates“318 Eine völlig ähnliche Sichtweise von Herrschaft geht auf Max Weber zurück. Die monopolistische Anwendung der Macht gehört für ihn zum wesentlichen Merkmal der Herrschaft. Er unterscheidet klar zwischen Herrschaft und Machtbeziehung.319 Macht ist sowohl instabil als auch „amorph“ 320 , während Herrschaft die gültig anerkannte Staatsordnung darstellt. 321 Herrschaft versteht sich als „autoritäre Befehlsgewalt“322, während Macht „eine autoritäts-lose Gewalt“323 ist. Herrschaft beruht auf dem „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“324, während sich Macht mit der individualisierten und natürlichen Gewalt gleichsetzt. Aber die Macht gehe durch das Bestehen einer zentralisierten Macht zur Herrschaft über, die „spezifische Verdichtung von Macht“325 ist. Die staatliche Ordnung entsteht durch die Zentralisierung der Macht. „Der Staat ist (…) ein auf das Mittel der legitimen (das heißt, als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen.“326 In diesem Sinne drückt sich Herrschaft als „durchgesetzte Macht oder institutionalisierte – gesetzmäßige Macht“327 oder „ein Sonderfall von Macht“328 aus. Diese Korrelation zwischen Macht und Herrschaft lehnt Hannah Arendt ab. Die Originalität und die Radikalität des politischen Denkens von Arendt zeigen sich in der Bemühung, sich gegen das vorteilhafte Verständnis des Politischen als ein reines Herrschaftsverhältnis zu wenden. Arendt zweifelt grundsätzlich an der Notwendigkeit von Herrschaft. Arendt stellt fest: „Ich bin der Meinung, daß die Rückführung aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten oder Herstellen und die Reduzierung aller politischen Verhältnisse auf das Herrschaftsverhältnis nicht nur historisch nicht zu rechtfertigen sind, sondern in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffentlichen und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt und pervertiert haben.“329 Macht im politischen Raum ist ursprünglich ein anderes Phänomen als Herrschaft. Das zentrale Problem des Politischen ist für Arendt nicht die Herrschaft, sondern das Problem der Macht. 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 Ottmann, 1992, S. 83f. Vgl. Neuenhaus, 1998, S. 77f. Weber, WG, S. 38. Vgl. Neuenhaus, 1998, S. 77. Weber, WG, S. 692. DTB, S. 185. Weber, 1971b, S. 506; auch Weber, WG, S. 1043. Hättich, 1987, S. 979. Weber, 1971b, S. 507. Popitz, 1986, S. 38. Weber, WG, S. 692. ZVZ, S. 380. 284 Das politische Wesen der Macht besteht darin, dass sie zugleich Produkt und Quelle der öffentlichen Freiheit ist, 330 während das Resultat der Herrschaft „die Vernichtung der Freiheit für Herrschaft wie Beherrschte“331 ist. Der Kern des Entpolitisierungseffekts der Herrschaft besteht darin, dass sie das politische Handeln zur bloßen Befehlsausführung degradiert. Wie wir schon gesehen haben, wurde der Begriff der Herrschaft als Ersatz für die Machtsphäre der Pluralität in den politischen Bereich eingeführt. Die ontologische Verankerung der Herrschaft im politischen Bereich ist aber nicht mit dem Pluralitätspostulat vereinbar, weil „sich Pluralität und Herrschaft (…) gegenseitig ausschließen“.332 2.3.2 Macht und Gewalt Die Frage, wie das Verhältnis von Macht und Gewalt zu bestimmen ist, ist in der Tat „ein klassischer Topos machttheoretischer Erörterungen“ 333 . In westlichen Machttheorien sowohl von rechten als auch linken Denkern findet sich die auffällige gemeinsame Behauptung, dass Macht ohne Gewalt nicht denkbar sei. Im Blick auf die Instrumentalisierung der Macht, sie als das Mittel zur Verwirklichung des Zwecks anzusehen, ist die Gewalt zweifellos zu einem der wirksamsten Mittel der Macht oder zur Macht an sich zu zählen. Trotz der endlosen Variationen durch die ganze Geschichte der Machttheorie ist eine gemeinsame Maxime festzustellen, „daß Macht und Gewalt dasselbe sind beziehungsweise daß Gewalt nichts weiter ist als die eklatanteste Manifestation von Macht. Alle Politik ist Kampf um die Macht; aufs höchste gesteigerte Macht ist Gewalt“.334 In einer solchen Identifikation wird die Rolle der Gewalt in der Politik für selbstverständlich gehalten.335 Der Arendtsche Machtbegriff wird in der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt begründet. Macht und Gewalt werden in der Arendtschen Terminologie anhand des Phänomens unterscheiden. Diese Unterscheidung konzipiert die Grundlage ihrer gesamten Theorie des Politischen, weil Arendt also Macht und Gewalt nach dem für ihr politisches Denken fundamentalen Aspekt von Pluralität und Singularität differenziert.336 Durch die grundsätz- 330 331 332 333 334 335 336 Vgl. ÜR, S. 194f.; „Machtursprung ist letztlich die Freiheitsqualität des Menschen.“ (Vollrath, 1979b, S. 47). ÜR, S. 37. Ludz, 1993, S. 170; „Wem es wirklich um Macht zu tun ist, der muß den unter Menschen unabdingbaren Preis zahlen, auf das Herrschen aus einer Distanz zu verzichten, und sich in den Raum begeben, wo Macht entsteht, nämlich in den Zwischenraum, der zwischen Menschen sich bildet, die etwas Gemeinsames unternehmen“ (EU, S. 974). Röttgers, 1990, S. 250. MG, S. 167; Arendt zitiert nach C. Wright Mills, 1956. WP, S. 73. Vollrath meint zu Recht: „Man kann das gesamte Werk von Hannah Arendt als einen Versuch bestimmen, Macht und Gewalt zu unterscheiden.“ (Vollrath, 1979a, S. 47). 285 liche Unterscheidung von Macht und Gewalt richtet sich Arendt gegen die „schockierende Theorie von der positiven Rolle der Gewalt im Bereich des Politischen“. 337 Sie hält fest: „Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen, Gewalt jedoch nicht.“338 Gewalt ist für Arendt die Entartung des Politischen. Die Verwechslung der Macht mit Gewalt beruht Arendts Sicht zufolge auf der Verwirrung von Handeln und Herstellen. Aus handlungstheoretischer Perspektive ordnet Arendt Gewalt dem Bereich des Herstellens zu. Wenn man die Macht als Machbarkeit versteht, unterscheidet sich die Macht von Gewalt nicht. Die Auffassung der Macht als Machbarkeit ist vor allem in der neuzeitlichen Philosophie des Thomas Hobbes augenscheinlicher: „Der Mensch hat seine Aktivität und ihre Gegenstände in seiner Gewalt, das ist der erste Begriff der Macht, der im Gegensatz zum Begriff der Natur des Tieres gewonnen ist. Macht ist Machen-können.“339 Aber in ihrer Terminologie verweist Arendt auf das falsche Verständnis der Macht als „Machen“. 340 Macht entspricht nach Arendts Ansicht der Fähigkeit und dem Vermögen von mithandelnden Menschen. Macht und Gewalt seien nach ihren Ursprüngen und eigentlichem Sinne nicht nur nicht dasselbe, die beiden seien distinkt.341 Arendt stellt fest: „Wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden.“342 Macht und Gewalt haben keine gemeinsame Wurzel, sondern werden vielmehr für völlig unabhängig voneinander gehalten. Daher ist der Übergang von der einen zur anderen unmöglich. Für Arendt ist Gewalt weder der außergewöhnlichste Ausdruck von Macht noch umgekehrt Macht „eine Art gemilderter Gewalt“ 343 . Dieses absolute Gegenüber stellt Arendt folgendermaßen fest: „Zwischen Macht und Gewalt gibt es keine quantitativen oder qualitativen Übergänge; man kann weder die Macht aus der Gewalt noch die Gewalt aus der Macht ableiten, weder die Macht als den sanften Modus der Gewalt noch die Gewalt als die eklatanteste Manifestation der Macht verstehen.“344 Arendts These, zwischen Macht und Gewalt sei ein Abgrund, der keinen unmittelbaren Übergang zulässt, lässt sich interessanterweise vergleichen mit Canettis Behauptung, die in seinem Buch Masse und Macht aufgestellt ist. Den prinzipiellen Gegensatz zwischen Macht und Gewalt 337 338 339 340 341 342 343 344 ÜR, S. 44. MG, S. 180; ganz im Gegensatz dazu ist Gewalt für Weber eine Elementarkategorie politischer Ordnung. Daher stimmt Weber Trotzki zu, der gemeint hat: „Jeder Staat wird auf Gewalt gegründet.“ (Weber, 1971b, S. 506; vgl. MG, S. 168). Schelsky, 1981, S. 84. Hervorhebung im Original. Das deutsche Wort Macht leitet sich „von mögen und möglich, und nicht von machen“ her (vgl. VA, S. 252). Zur Kritik an Arendts grundsätzlicher Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt, Kaiser, 1979, 307ff.; Palaver, 1995, S. 191ff. MG, S. 184; vgl. WP, S. 73. MG, S. 169. MG, S. 185. 286 überführt Canetti in „eine relative Differenz“345. Er vertritt die Ansicht: „Wenn die Gewalt sich mehr Zeit läßt, wird sie zu Macht.“346 Es gebe keine feste Grenze zwischen Macht und Gewalt, so dass das eine in das andere übergehen kann. Canetti vergleicht das Verhältnis zwischen Macht und Gewalt mit der Beziehung zwischen Katze und Maus. Dadurch wird klar, dass für Canetti die Macht der Begriff ist, der den Begriff der Gewalt impliziert: „Der Unterschied zwischen Gewalt und Macht lässt sich auf sehr einfache Weise darstellen, nämlich am Verhältnis zwischen Katze und Maus. Die Maus, einmal gefangen, ist in der Gewalt der Katze. Sie hat sie ergriffen, sie hält sie gepackt, sie wird sie töten. Aber sobald sie mit ihr zu spielen beginnt, kommt etwas Neues dazu. Sie lässt sie los und erlaubt ihr, ein Stück weiterzulaufen. Kaum hat die Maus ihr den Rücken gekehrt und läuft, ist sie nicht mehr in ihrer Gewalt. Wohl aber steht es in der Macht der Katze, sie sich zurückzuholen.“347 An diesem Beispiel will Canetti aufzeigen, dass Gewalt die Macht begleiten kann. Im Gegensatz zu anderen Theorien, die nur die praktisch notwendige Verknüpfung von Macht und Gewalt aufweisen, werden Gewalt und Macht in Arendts Machttheorie im Hinblick auf das Phänomen unterschieden. Die grundsätzliche Differenz der Macht von Gewalt sieht Arendt in drei Punkten.348 Zu einem der entscheidenden Unterschiede zwischen Macht und Gewalt gehört, „daß die Gewalt bis zu einem gewissen Grad von Zahlen unabhängig ist, weil sie sich auf Werkzeuge verlässt.“349 Im Gegensatz dazu hängt Macht immer ab von „der Anzahl derer, die eine bestimmte Meinung teilen.“350 Macht ist bei Hannah Arendt immer nur zwischen Vielen möglich, während Gewalt eigentlich „ein Phänomen des Einzelnen oder der Wenigen“ ist. 351 Entscheidend ist, dass die bloße Anwesenheit einer Menge von Menschen noch keine Macht im ausdrücklichen Sinne herausbildet. Macht entsteht erst im Sich-Zusammenschließen einer menschlichen Menge durch das Miteinanderhandeln und -sprechen. „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“352 Diesen Charakter der Macht zeigt Arendt an der Analyse der Masse. In diesem Sinne entspricht die Trennung von Macht und Gewalt der Differenzierung 345 346 347 348 349 350 351 352 Gebhardt/Münkler, 1993, S. 17; zum Vergleichen zwischen Arendts Machtbegriff und Canettis siehe Marti, 1991, S. 86ff. Canetti, 1960, S. 323. Canetti, 1960, S. 323. Zur Arendtschen Unterscheidung von Macht und Gewalt, Röttgers, 1974, S. 205ff.; Penta, 1985, S. 61ff. MG, S. 172f. MG, S. 182. WP, S. 73; „Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen Alle. Und das letztere ist ohne Werkzeuge, d.h. ohne Gewaltmittel niemals möglich.“ (MG, S. 173). MG, S. 174. 287 „von intersubjektiver Verständigung und possessivem Individualismus“353. Während Gewalt auf die eigene Stärke oder Kräfte oder Instrumente angewiesen ist, ist die Quelle aller Macht das gemeinschaftliche Handeln zwischen Menschen. Diese Position von Arendt geht über zweierlei Aspekte des Machtbegriffs hinaus, also Macht über etwas und Macht zu etwas.354 Sofern unter Macht das Miteinander-Reden und –Handeln der Menschen verstanden ist, existiert sie immer nur als „ein Machtpotential“355, während Gewalt als eine Art von Eigentum in Form der Gewaltmittel anhäufbar ist. Aufgrund der Akkumulation durch Mittelvermehrung ist Gewalt monopolisierbar. Daher kann sie die menschliche Pluralität und Macht vernichten, aber „sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen“356, weil das konstruktive Zusammenwirken der menschlichen Pluralität entscheidend für die Entstehung der Macht ist. „Die einzige rein materielle, unerlässliche Vorbedingung der Machterzeugung ist“, wie Arendt feststellt, „das menschliche Zusammen selbst. Nur in einem Miteinander, das nahe genug ist, um die Möglichkeit des Handelns ständig offen zu halten, kann Macht entstehen“.357 Nicht nur bei der Entstehung, sondern auch bei der Ausführungsweise unterscheidet sich Gewalt von Macht.358 Bei der Durchführung ist Gewalt im Wesentlichen sprachlos und stumm. „Gewalt ist eigentlich die einzige Art menschlichen Handelns, die definitionsgemäß stumm ist; sie wird weder durch Worte vermittelt, noch arbeitet sie mit Worten.“359 Sobald das politische Handeln sprachlos wird, pervertiert es zur Gewalt. Die Gewalt herrscht dort, wo noch nicht oder wo nicht mehr miteinander gesprochen wird. „Hier handelt es sich nicht einfach darum, daß die Sprache hilflos ist, wenn ihr Gewalt gegenübertritt (…), sondern vielmehr darum, daß die Gewalt stumm ist, unfähig nämlich, sich in Wort wirklich zu äußern.“360 Diese stumme Eigenschaft der Gewalt ergibt sich aus der oben erwähnten Tatsache, dass man bei der Gewalttätigkeit der Gewaltmittel bedarf. „Alle Mittel der Gewalt sind Mittel, die Sprache zu ersetzen oder überflüssig zu machen“.361 Durch diese Sprachlosigkeit ist der antipolitische Charakter der Gewalt gekennzeichnet. In ihrer Stummheit zerstört sich die in der Pluralität offenbarte weltbildende Fähigkeit des 353 354 355 356 357 358 359 360 361 Brunkhorst, 1994a, S. 352. Zur Unterscheidung zwischen power over, power to und power with siehe Göhler, 2004, S. 244ff., insbesondere S. 255; ganz ähnlich wie Göhler betont Penta in Arendts Machtbegriff den Charakter von „Macht mit“: „Es können weder ‚Macht über‟ noch ‚Macht zu‟ mehr zugelassen werden, sondern es müsse folgerichtigerweise ‚Macht mit‟ heißen.“ (Penta, 1985, S. 54). VA, S. 252. MG, S. 184. VA, S. 253. Im Unterschied zu Arendt unterscheidet Habermas den Entstehungsprozess der Macht von ihrer Ausführung und bezeichnet damit Gewalt als die Mittel zur Ausführung der Macht (Habermas, 1981b, S. 242f.). ZVZ, S. 315; vgl. VA, S. 36. ÜR, S. 19f.; in diesem Zusammenhang könnte Arendt der Behauptung von Benjamin zustimmen, „die eigentliche Sphäre der Verständigung, die Sprache“ sei der Gewalt „vollständig unzugänglich“ (Benjamin, 1966, S. 55). DTB, S. 340. 288 Menschen.362 Im Hinblick auf die Sprache ist Macht das zentrale Phänomen des Politischen, während Gewalt hingegen ein „Grenzphänomen“363 des Politischen ist, denn die „politischen Phänomene bedürfen der Sprache und der sprachlichen Artikulation, um überhaupt in Erscheinung zu treten; sie sind als politische überhaupt erst existent, wenn sie den Bereich des nur sinnfällig Sichtbaren und Hörbaren überschritten haben.“364 In diesem Zusammenhang sieht Arendt die marxsche „Verherrlichung der Gewalt“ als eine sehr ausdrückliche Verneinung des Politischen an.365 Freilich wäre Gewalt durch Sprache auszuüben.366 Aber wenn Sprechen als ein bestimmtes Gewaltmittel für die Erreichung eines Zweckes zur Anwendung gebracht wird, verlieren diese instrumentalisierten Worte ihren eigentlichen Charakter als Sprache. „Worte, die zum Zwecke des Kämpfens benutzt werden, verlieren ihre Redequalität; sie werden Klischees.“ 367 So ist die elementare sprachliche Form der Gewalt „Befehl“ 368 , der das Zwingen und Gezwungenwerden voraussetzt: „Das Sprechen aber in der Form von Befehlen und das Hören in der Form des Gehorchens wurden nicht als eigentliches Reden und Hören gewertet; es war keine freie Rede“. 369 Darüber hinaus sind die zweckorientierten Worte „bloßes Gerede, weil es überhaupt über nichts mehr Aufschluß gibt, also dem eigentlichen Sinn des Sprechens geradezu zuwiderläuft“.370 Ganz im Gegensatz zu Gewalt beruht die kommunikativ erzeugte Macht auf dem sprachlichen Handeln, das „das Subjekt des Handelns und Sprechens“371 enthüllt. Hier ist entscheidend, dass der plurale Charakter von „Macht mit“ die Bildung der gemeinsamen Welt und gleichzeitig den Aufschluss über den Wer von Handeln einschließt: „Mit realisierter Macht haben wir es immer dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar miteinander verflochten erscheinen, wo also 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 In kurzer Formulierung weist Taylor auf die weltbildende Fähigkeit der Sprache hin: „Sprache erzeugt etwas, das man als öffentlichen Raum bezeichnen könnte oder als gemeinsamen Ausgangspunkt, von dem aus wir zusammen die Welt betrachten“ (Taylor, 1988, S. 68). ÜR, S. 19. ÜR, S. 20. ZVZ, S. 30; vgl. Marx, MEW, Bd. 23, S. 779. Kurt kritisiert das wechselseitige Ausschließen von Gewalt und Sprache und behauptet, „daß die Gewalt sich unter anderem auch verbaler Mittel bedient, daß Sprache ein vorzügliches Mittel ist, manifeste in latente Gewalt zu überführen“ (Röttgers, 1974, S. 215). ZVZ, S. 111. Vgl. DTB, S. 399; Hobbes zufolge ist „Befehl“ das elementare Strukturprinzip des Handelns. Nach ihm verdanken wir der Sprache, „daß wir befehlen und Befehle verstehen können. Denn ohne diese gäbe es keine Gemeinschaft zwischen den Menschen, keinen Frieden und folglich auch keine Zucht“ In diesem Kontext sagt er, dass der Mensch durch die Sprache nur mächtiger wird (Hobbes, 1959, X, 3, S. 17f.). Hennis stellt fest: „Hobbes sah den nicht geringsten Wert der Sprache darin, daß sie Befehle ermöglicht. Aber gerade Befehle sind durch optische oder akustische Zeichen weithin ersetzbar (…): unser überkommener Begriff des politischen Gemeinwesens wäre in der Wurzel getroffen, wenn das, was dieses Gemeinwesens im Kern zusammenhält, der durch Zeichen ersetzbare Befehl und nicht mehr die (...) gemeinsame Beratschlagung wäre.“ (Hennis, 1977, S. 114). WP, S. 40. VA, S. 221. VA, S. 220. 289 Worte nicht leer und Taten nicht gewalttätig stumm sind, wo Worte nicht missbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, sondern gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen, und wo Taten nicht missbraucht werden, um zu vergewaltigen und zu zerstören, sondern um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Realitäten zu schaffen.“372 Das Misstrauen der antiken Polis gegen Gewalt beruht Arendt zufolge auf ihrer Sprachlosigkeit. Nach Arendts Auffassung führten die Bürger der Polis die politischen Angelegenheiten nicht „durch den stummen Zwang der Gewalt“, sondern „durch das Mittel des Redens und Überredens“. 373 Arendt stellt fest, dass die „Entdeckung des Politischen darauf beruhte, daß die Polis den ersten Versuch machte, die Gewalt aus dem Zusammenleben des Menschen auszuschalten“, und dass dort nur „die Macht der Peitho, die Kunst des Überredens und des Miteinandersprechens, als legitim im Verkehr miteinander galt.“374 Drittens ist Gewalt durch ihre Instrumentalität gekennzeichnet, die mit der Zweck-MittelKategorie zu tun hat. Zu den hervorragenden Kennzeichen der Gewalttätigkeit gehört, dass sie materieller Mittel bedarf: „Gewalt ist ihrer Natur nach instrumental; wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt. Und das, was eines anderen bedarf, um gerechtfertigt zu werden, ist funktioneller, aber nicht essentieller Art.“375 So ist Gewalt ein „Werkzeug“376, mit dessen Hilfe ein bestimmter Zweck erreicht werden kann.377 Wenn es nur um das Erreichen eines Zwecks geht, kann dies mit stummen Gewaltmitteln viel schneller und leichter erreicht werden: „Solange wir uns einbilden, daß wir im Politischen uns im Sinne der Zweck-Mittel-Kategorie bewegen, werden wir schwerlich imstande sein, irgend jemand davon abzuhalten, jedes Mittel zu benutzen, um anerkannte Zwecke zu verfolgen.“378 Wenn Gewalt näher zum Ziel führt, ist sie gerechtfertigt. „Werden die Ziele nicht schnell erreicht, so ist das schließliche Resultat nicht nur die Niederlage, sondern das Überhandnehmen von Gewalttätigkeit in allen Bereichen des politischen Lebens.“379 Arendt konstatiert, Gewalt verändere die Welt, doch das wahrscheinlichste Ergebnis der Veränderung sei eine noch gewalttätigere Welt. Macht hingegen entsteht aus dem ohne die Vermittlung von Material und Dingen direkt zwischen Menschen stattfindenden Zusammenhandeln. Die Instrumentalisierung eines Anderen für eigene Zwecke gehört nicht zum Grundphänomen der Macht. Die Macht ist 372 373 374 375 376 377 378 379 VA, S. 252. ZVZ, S. 30. ZVZ, S. 293. MG, S. 180. Nach Engels ist die Gewalt „das Werkzeug (…), womit sich die gesellschaftliche Bewegung durchsetzt und erstarrte, abgestorbene politische Formen zerbricht.“(MEW, Bd. 20, S. 171). Im Hinblick auf die Zweckrationalität ist entscheidend, dass die Gewalt in der Politik nichts mit einer Einschätzung der menschlichen Natur zu tun hat (vgl. ÜR, S. 47). VA, S. 291. MG, S. 202. 290 kein Mittel zur Herrschaft, sondern sie selbst ist „ein Selbstzweck“. 380 Macht ist nicht von Zweck motiviert, sondern sie ist inhärent der politischen Fähigkeit selbst, in der Pluralität zu handeln.381 2.3.3 Machtverteilung als Pluralität der Machtzentren Das moderne Politikverständnis des Westens wächst aus der Herausbildung der Nationalstaaten. Ab hier entwickelt sich die Frage nach der staatlichen Souveränität. Das Konzept der Souveränität, die ein beherrschender Wille zur Einheit ist, begleitet die Forderung nach dem Absolutismus.382 Auf Grund der souveränen Herrschaft fasst man die Machtteilung als die Verminderung der Macht und zwar ihre Abschaffung auf; denn „geteilte Gewalten zerstören sich gegenseitig.“383 Macht könne nur bestehen, wo sie zentralisiert ist. Aus diesem Grund gaben sich die Menschen nicht viel Mühe, wie Locke sagt, „um Mittel zu finden, wie sie etwaige Übergriffe von seiten derer, denen sie Autorität über sich eingeräumt hatten, in Schranken halten und wie sie die Regierungsgewalt ausbalancieren könnten, indem sie durch Gewaltenteilung die verschiedenen Teile in verschiedne Hände legten.“384 Die politische Konsequenz der neuzeitlichen Idee des Machtmonopols ist Arendts Ansicht zufolge die „Ohnmacht von Macht“385 und zugleich „eine ungeheuere Steigerung des Gewaltpotenzials“386. In der Geschichte politischer Philosophie gibt es eine Idee der Machtkontrolle, die zumindest bei Polybius zu finden ist, nämlich „das System von Hemmungen und Gegengewichten“.387 Die Begrenzungsfrage der Macht greift man im 18. und 19. Jahrhundert ausgehend von dem großen Misstrauen gegen Macht auf, weil Macht an sich repressiv und böse sei und daher Macht als begrenztes Mittel zu guten Zwecken rechtfertigt sei.388 Im Hinblick auf diese Repressionstheorie 380 381 382 383 384 385 386 387 388 MG, S. 180; „Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Ein Machtanspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit, während die Rechtfertigung eines Mittels durch einen Zweck erfolgt, der in der Zukunft liegt.“ (MG, S. 181). „Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daß Regierungen jeweils eine bestimmte Politik verfolgen und ihre Macht dafür einsetzen, vorgegebene Ziele zu erreichen. Aber die Machtstruktur selbst liegt allen Zielen voraus und überdauert sie, so daß Macht, weit davon entfernt, Mittel zu Zwecken zu sein, tatsächlich überhaupt erst die Bedingung ist, in Begriffen der Zweck-Mittel-Kategorie zu denken und zu handeln.“ (MG, S. 180). „Die beiden Begriffe Souveränität und Absolutismus sind gemeinsam auf demselben Amboß geschmiedet worden“ (Maritain, 1970, S. 267); Bodin definiert die Souveränität wie folgt: „Unter der Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen“ (Bodin, 1981, S. 205). Hobbes, LV, S. 248. Locke, 1992, S. 267. MG, S. 207. WP, S. 73. ÜR, S. 195. Vgl. Röttgers, 1993, S. 8. 291 der Macht waren die frühen liberalen Denker der Überzeugung, „daß jeder Staat in seiner Macht begrenzt sein müsse“389; Macht sollte nur minimale Macht sein; Um Macht zu minimalisieren und zu paralysieren, sollte sich Macht verteilen und begrenzen. Die Gewaltenteilung sei zur Sicherung der Freiheit des Individuums unerlässlich. Im Gegensatz dazu beruht das Konzept der Machtverteilung für Arendt nicht auf die repressive Eigenschaft der Macht. Da die Macht immer als Machtpotential existiert, gibt es die Möglichkeit der Allmächtigkeit der Macht, wenn sie nicht von dem menschlichen Miteinander abhängig wäre. Die Allmacht ist nur möglich, wenn Pluralität zerstört ist und die verschiedenen Menschen wie zu Einem gemacht sind. „Ungeteilte und unkontrollierte Macht kann eine Meinungsuniformität erzeugen, die kaum weniger zwingend ist als gewalttätige Unterdrückung“. 390 Um den Anspruch der Macht auf Souveränität als einen „beherrschenden Willen eines Einzelnen, der aus Vielen Einen macht“391, konsequent zu eliminieren, bedarf es der Machtverteilung.392 Das Konzept der Machtverteilung bezieht sich auf die Frage, in welcher Weise sich die Macht kontrollieren lässt. Damit verbunden vertritt Arendt die starke These, dass Macht nur durch Macht zu beschränken ist. Wie sich das Handeln nur durch Handeln einschränken lässt, muss eine Macht durch eine andere Macht kontrolliert werden. In dieser Betrachtungsweise schließt sich Arendt dem lapidaren Satz von John Adams an: „Macht muß Macht gegenüberstehen, Kraft der Kraft, Stärke der Stärke, Interesse dem Interesse, genauso wie Vernunft der Vernunft, Beredsamkeit der Beredsamkeit, und Leidenschaft der Leidenschaft“.393 Was das Prinzip der Teilung von Macht betrifft, ist Arendt wie die Gründungsväter von Montesquieu inspiriert. Im Gegensatz zum rousseauschen souveränitätsorientierten Machtkonzept, Macht sei unteilbar, argumentiert Montesquieu in seinem großen Buch Geist des Gesetzes folgendermaßen: „Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht bremst.“394 Um die Gefahr des Machtmissbrauchs zu verhindern, ist es nach Montesquieu notwendig, dass sich die unterschiedlichen Mächte einander beschränken. Machtbeschränkung, also „die Entsouveränisierung der Macht“ 395 , ist für ihn Bedingung politischer Freiheit. 396 Während für Hobbes Sicherheit und Freiheit aus der Monopolisierung der Macht resultieren, beruht die politische Freiheit für Mon389 390 391 392 393 394 395 396 ÜR, S. 190. MG, S. 173. VA, S. 313. ÜR, S. 200. ÜR, S. 199; für amerikanische Gründungsväter wurde diese Ansicht zum Prinzip der Gewaltenteilung: Sie stellen fest, dass „der Ehrgeiz in die Lage versetzt werden soll, dem Ehrgeiz entgegenzuwirken“ (Federalist, Nr. 51; zit. nach Hirschman, 1980, S. 38). Montesquieu, 2006, S. 215. Hereth, 1995, S. 45; vgl. ÜR, S. 200. Vgl. ÜR, S. 198. 292 tesquieu auf der Beschränkung von Macht durch die Teilung. In der Zentralisierung werde Macht „nicht, wie man geneigt wäre anzunehmen, gesteigert und vergrößert, sondern zerstört.“397 Es bedarf also der Pluralität der Mächte, um die Macht zu vermehren und dem Volk die Freiheit zu erhalten. In Anlehnung an Montesquieu hält Arendt fest: „Nur eine andere Macht ist imstande, Macht zu begrenzen und in ihrer Mächtigkeit zu erhalten, und dies besagt, daß das Prinzip der Gewaltenteilung, das eigentlich Machtteilung heißen sollte, nicht nur verhindert, daß ein Teil des Staatsapparats, etwa die Legislative oder die Exekutive, alle Macht an sich reißt und monopolisiert, sondern daß ein Gleichgewicht hergestellt ist, das es ermöglicht, überall neue Macht zu erzeugen, aber eben nicht auf Kosten anderer Machtquellen und Machtzentren.“398 Dieses Prinzip der Machtverteilung zielt, im Gegensatz zur liberalen Ansicht, nicht auf die minimale Macht ab. Arendt ist nicht der Meinung, „daß Trennung der Gewalten Ohnmacht erzeugt, sondern im Gegenteil glaubt, daß Macht durch Teilung ständig erneuert und stabilisiert wird.“399 In dem Zusammenspiel der Mächte ist mehr Macht zu erzeugen. Während die Gewaltenteilung eines der vorrangigen Mittel in den Händen der Liberalen ist, sich politische Macht selbst zu verkleinern, ist sie für Arendt der einzige Weg, den Verlust der Macht zu behindern. Macht, die ungeteilt und unkontrolliert ist, läuft auf den Machtverlust hinaus, und jeder Machtverlust öffne der Gewalt Tor und Tür: „Monopolisierung der Macht führt zur Austrocknung oder zum Versickern aller lokalen Machtquellen des Landes und damit letzten Endes zu einem offenbaren Machtverlust.“400 Für die Machtverteilung spielt das Prinzip der Pluralität die ausschlaggebende Rolle. „Es ist primär die Pluralität, welche die Macht der Menschen und des Menschen eingrenzt.“401 In der pluralen Öffentlichkeit wird die souveräne Macht eingeschränkt. Arendt stellt fest: „Die Grenze der Macht liegt nicht in ihr selbst, sondern in der gleichzeitigen Existenz anderer Machtgruppen, also in dem Vorhandensein von Anderen, die außerhalb des eigenen Machtbereichs stehen und selber Macht entwickeln. Diese Begrenztheit der Macht durch Pluralität ist nicht zufällig, weil ihre Grundvoraussetzung ja von vornherein eben diese Pluralität ist.“402 Anders gesagt bedeutet die Begrenzung der Macht durch Pluralität die Sicherstellung der Pluralität als der Quelle der Macht. In diesem Sinne geht es Arendt nicht um die Begrenzung der Macht selbst, sondern um die neue Etablierung und Vermehrung der Macht. Machtverteilung, die Arendt „Pluralität der 397 398 399 400 401 402 Hereth, 1995, S. 47f. ÜR, S. 197. ÜR, S. 345; vgl. VA, S. 254. MG, S. 207. DTB, S. 54. VA, S. 254. 293 Machtzentren“403 nennt, sichert die Möglichkeit der Macht selbst und verhindert Ohnmacht von Macht. 2.3.4 Der Begriff der öffentlichen Macht Mit dem Begriff „Öffentliche Macht“ ist gemeint, die Öffentlichkeit sei die grundsätzliche Bedingung für Macht und zugleich ein Produkt und Folge der Macht. Macht entsteht zwischen Menschen und bildet auch das menschliche Zwischen, in dem sich alles Handeln weiter abspielen könnte. Der öffentliche Raum wird zusammengehalten von einem „Machtpotential“404, das das Entscheidende für das Fortbestehen eines politischen Körpers ist. So besitzt Macht für Arendt einen konstruktiven Charakter: „Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potentiellen Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden, überhaupt ins Dasein ruft und am Dasein erhält.“405 Zuerst setzt sich Arendts Begriff öffentlicher Macht der Subjektivierung der Macht entgegen. In der abendländischen politischen Philosophie tritt der Zugang zur Politik auf zwei verschiedene Arten zutage. Während Aristoteles Politik als eine Substanz in der Menschennatur annimmt, geht Hobbes von dem Machtstreben in der menschlichen Beziehung aus.406 Wenn die Politik im Denken von Hobbes als Frage der Macht durchgeführt wird und wenn das Machtverhältnis bei ihm auf dem Vertrag begründet wird, spricht man von Hobbes‟ „Politisierung von Macht“407. Aber diese Politisierung wird auf der engen Basis des Interesses der Subjekte an der Selbsterhaltung konstruiert. Das politische Handeln wird bei Hobbes auf den rationalen Eigennutz des Subjekts zurückgeführt. Indem Hobbes das menschliche Streben nach Macht aus einem in der Natur des Menschen verborgenen Trieb erklärt,408 entpolitisiert und subjektiviert er Macht.409 So nennt Wolfgang Kersting die Machttheorie von Hobbes „Subjektivitätstheorie der Macht“ und stellt ihren Charakter folgendermaßen fest: „Subjektivitätstheorien der Macht neutralisieren die Differenz zwischen Macht und Gewalt, enttabuisieren Gewalt und lassen bei der Beurteilung von 403 404 405 406 407 408 409 MG, S. 207. VA, S. 281. VA, S. 252. Vgl. WP, S. 11. Euchner, 1982, S. 180; Arendt stellt auch fest: „Die Größe der Hobbesschen Konzeption (…) liegt darin, daß er erkannte, daß Macht wesentlich politisch ist“ (DTB, S. 81). „So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet. Und der Grund hierfür liegt nicht immer darin, daß sich ein Mensch einen größeren Genuß erhofft als den bereits erlangten, oder daß er mit einer bescheidenen Macht nicht zufrieden sein kann, sondern darin, daß er die gegenwärtige Macht und die Mittel zu einem angenehmen Leben ohne den Erwerb von zusätzlicher Macht nicht sicherstellen kann.“ (Hobbes, LV, S. 75). Vgl. DTB, S. 21 und 26; vgl. Kauffmann, 2008, S. 254f. 294 Handlungen, Menschen und Situationen nur noch den Instrumentalitätsgesichtspunkt gelten (…). Subjektivitätstheorien der Macht sind Theorien der Machtakkumulation.“ 410 In diesem Licht gesehen hat die Aristotelische Substantialisierung der Politik ihre Parallele in der Hobbesschen Subjektivierung des Machtbegriffs.411 Eine solche Subjektivitätstheorie der Macht kann keine spezifisch politische Qualität der Macht erschließen, die nur da entsteht, „wo viele sich zusammentun, um zu handeln; sie ist nie ein fester Besitz, sondern verschwindet, sobald die Vielen, aus gleich welchen Gründen, wieder auseinandergehen oder einander im Stich lassen.“412 Arendts öffentlicher Machtbegriff ist durch Entsubjektivierung der Macht und ihre Entsubstantialisierung gekennzeichnet. Damit pointiert Arendt die Entstehung der Macht durch den kommunikativen Meinungsaustausch und das darauf ausgerichtete Zusammenhandeln. Arendt vertritt die starke These, der Einzelne könne keine Macht besitzen. Macht sei keineswegs „jedem Einzelnen in Besitz gegeben“.413 Macht ist bezogen nicht auf ein isoliertes Individuum, sondern auf eine Gruppe und somit auf eine Gemeinschaft von Individuen. Damit erweist sich Macht im Kern als ein politisches Phänomen, weil sie sich allein in der Pluralität der Menschen ergeben und bewahren kann.414 Sofern Macht nur in der Öffentlichkeit potentiell existiert, bleibe die Position der Macht „symbolisch leer“.415 Mit der Entsubjektivierung der Macht meint Arendt jedoch nicht, dass die Macht die anonyme und entpersönlichte Macht ist. In der Verwirklichung der Macht, also im gemeinsamen Handeln enthüllt sich das Wer des Handelns.416 In diesem Sinne ist die Realisierung der Macht der Vollzug der Pluralität; die Bildung des politischen Zwischenraums und zugleich die Enthüllung der Handelnden. Der Begriff der öffentlichen Macht, also die Entsubjektivierung der Macht, schließt daher die Bedeutung des Individuums nicht aus, weil die Person immer durch Mithandeln in der Öffentlichkeit individuiert ist.417 Auf die „Entsubstantialisierung der Macht“ bezogen scheint sich Arendt auf den ersten Blick in Einklang mit dem postmodernen Denker wie Michel Foucault zu befinden, dem zufolge Macht 410 411 412 413 414 415 416 417 Kersting, 1991, S. 137. Vgl. DTB, S. 26. ÜR, S. 227. ÜR, S. 227. „Und so wie es zur Grammatik des Handelns gehört, daß sie die einzige Fähigkeit ist, die menschliche Pluralität voraussetzt, so gehört es zu der Syntax der Macht, daß sie das einzige menschliche Attribut ist, das nicht dem Menschen selbst anhaftet, sondern dem weltlichen Zwischenraum eignet, durch den Menschen miteinander verbunden sind“ (ÜR, S. 227). Rödel/Dubiel/Frankenberg, 1989, S. 43. Vgl. Brunkhorst, 2005, S. 253. Vgl. Schnabl, 1999, S. 223. 295 weder fassbares Objekt noch Eigentum von Individuen ist.418 „Die Macht wird deshalb nicht besessen“, wie Foucault sagt, „weil sie spielt, weil sie sich riskiert.“419 Darüber hinaus ist die Macht für Foucault als Strategie verstanden, ohne Rückgriff auf eine konstitutionelle Dimension von Macht. Macht verfestigt sich für Foucault nirgends als Gestalt. „Die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“ 420 Sofern Foucault Macht als eine bewegliche „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen“ 421 auffasst, stimmt sein Machtbegriff mit dem Weberschen Begriff der amorphen Macht überein. In diesem Machtbegriff muss die politische Handlung, durch die die Macht entsteht, als eine bestimmte Strategie einer immerwährenden Schlacht begriffen werden. In Umformulierung der berühmten Definition des Kriegs von Clausewitz bestimmt Foucault die Macht wie folgt: „Die Macht ist der Krieg, der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg; man würde somit die Formel von Clausewitz umkehren und sagen, daß die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist.“422 Hier entspricht Foucaults Erläuterung der Hobbesschen Behauptung eines Zustandes des Kampfes aller gegen aller. Darüber hinaus kann man bei Foucault die Webersche Einstellung zum Verhältnis von Macht und Herrschaft wieder finden. Darauf bezogen ist die Machtbeziehung für Foucault in die Herrschaftsbeziehung zu überführen.423 Die Herrschaftszustände sind für ihn institutionalisierte Ausübung von Macht. So stellt sich der Staat als „Überbau“ der Machtbeziehung die Herrschaftsbeziehung dar.424 Was Foucault unter Herrschaft versteht, stellt Georg Kneer fest: „Während Macht als etwas Bewegliches, Dynamisches und Veränderbares gedacht wird, gilt Herrschaft ihm (Foucault: H. P.) nun als etwas Stabiles, Irreversibles, Starres (…). Herrschaft ist somit geronnene, erstarrte Macht.“425 In Foucaults Verständnis existiert Macht überall und allgegenwärtig, während sie für Arendt nur im öffentlichen Erscheinungsraum entsteht. Für Foucault ist die Macht mikrophysisch, während sie für Arendt öffentlich ist. Macht ist bei Arendt eigentlich das Phänomen des Politischen. Nach ihrer Ansicht existiert Macht als Machtpotential und konstituiert sich in der Wirklichkeit zwischen den handelnden Menschen. Für Arendt bedeutet die Institutionalisierung der Macht 418 419 420 421 422 423 424 425 Vgl. Beyme, 2007, S. 187ff. Foucault, 1976, S. 114. Foucault, 1995, S. 114. Foucault, 1995, S. 114. Foucault, 1978, S. 71. In einem Interview wirft Foucault Arendt vor, dass sie zwischen Macht und Herrschaft unterscheidet und dass sie die Herrschaftsbeziehung aus dem politischen Bereich ausgrenzt. Nach ihm „können wir erkennen, dass bestimmte Machtbeziehungen in einer Weise funktionieren, dass sie umfassende Herrschaftseffekte hervorrufen.“ (Foucault, 1994, S.707 und 1987, S. 241-261). „Der Staat ist Überbau in bezug auf eine ganze Serie von Machtnetzen, die die Körper, die Sexualität, die Familie, die Verhaltensweisen, das Wissen, die Techniken usw. durchdringen.“ (Foucault, 1978, S. 39). Kneer, 1998, S. 252. 296 keinen Übergang zur Herrschaft.426 Die Bildung der politischen Macht ist ein sehr realer Vorgang, der in institutionellen Formen stattfindet bzw. verkörpert ist. In folgender Formulierung zeigt sich der spezifische Charakter der Institutionalisierung der Macht ausführlich: „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.“427 Entscheidend für den Begriff der öffentlichen Macht ist die Beziehung zwischen Macht und Meinung. Das spezifische Kennzeichen öffentlicher Macht besteht darin, dass sie von Meinungen lebt. Nicht Gewalt, sondern Meinung ist die konstitutive Grundlage von Machtbeziehungen. Gerade im Hinblick auf dieses Verhältnis von Macht und Meinung lässt sich von der „kommunikativen Macht“428 sprechen, die sich in der öffentlichen Meinungsbildung manifestiert. „Die Macht existiert nur durch Kommunikation, sie ist der politisch relevante Ausdruck der Kommunikation.“429 Für die Klärung des Verhältnisses der Macht zur Meinung führt Arendt häufig Madison an, demzufolge Macht auf Meinung beruht, „da ohne die Unterstützung Gleichgesinnter nicht einmal die Tyrannenherrschaft an die Macht kommen oder sich an ihr halten könnte.“430 Dass Macht auf Meinung beruht, bedeutet, dass die Macht nicht nur aus der großen Menschenanzahl entsteht, sondern dass sie sich aus der Möglichkeit der Handlungs- und Meinungspluralität ergibt.431 Man muss in der Öffentlichkeit sein, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Die „vernünftige Meinungsbildung“ bedarf daher der Bedingungen fundamentaler Pluralität, und „wer nicht dabei ist, hat entweder – im günstigsten Falle – gar keine Meinung, oder er macht sich in den Massengesellschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts aus allen möglichen, konkret nicht mehr gebundenen Ideologien einen Meinungsersatz zurecht“. 432 Ungeachtet des Charakters ihrer Selbstbezüglichkeit entstehen die Meinungen für Arendt nur da, „wo Menschen frei miteinander Verkehr pflegen und das Recht haben, ihre Ansichten öffentlich kundzutun“.433 In diesem Sinne ist der Prozess der Meinungsbildung der der Machtbildung. Der 426 427 428 429 430 431 432 433 Vgl. Vollrath, 1979a, S. 43. MG, S. 172. Habermas, 1998c, S. 182ff. Kepplinger, 1970, S. 27f.; Becker, 1998, S. 170ff. ZVZ, S. 333; vgl. MG, S. 172; ÜR, S. 293; die öffentliche kommunikative Macht wendet sich gegen die absolute Wahrheit. Macht und Wahrheit sind für Arendt wesentlich verschiedene Phänomene. „Wahrheit aber, weil sie immer nur vom Einzelnen gefunden und gesagt werden kann, hat keine Macht; sie selbst ist unfähig zu organisieren. Erst wenn Viele sich auf eine Wahrheit einigen, wird sie zur Macht. Aber was dann Macht verleiht, ist das Sich-darauf-Einigen, nicht die Wahrheit als solche.“ (DTB, S. 627). Im kritischen Blick sagt Kersting, dass die Reduzierung politischer Machtbasis auf Meinungsäußerung zu einem beunruhigenden „Intuitionismus des Meinens“ führt. Er stellt fest: „Wird die Tyrannei der Wahrheit durch die Politie des wahrheitsfreien Meinens abgelöst, dann liefert sich diese Politie der kontingenten Konkordanz intuitiver Urteile aus, dann gerät die Macht unter die Kontrolle einer unbegriffenen Gewalt des Traditionalen.“ (Kersting, 1991, S. 152). Schließlich konstatiert er, dass Intuitionismus des Meinens durch wahrheitsgerichtete Rede diszipliniert werden muss. Vgl. Geißner, 1995, S. 175. ÜR, S. 303. ÜR, S. 292. 297 „Tod aller Meinungen und Meinungsbildung“ 434 bedeutet für Arendt die Unmöglichkeit der Machtentstehung. Wo eine Einheitsmeinung herrscht, gibt es keine politisch-öffentliche Macht; denn „die Diskussion, der Austausch und Streit der Meinungen macht das eigentliche Wesen allen politischen Lebens aus.“435 Die öffentliche Macht entsteht in der agonalen Mitwelt. 434 435 ÜR, S. 294. ZVZ, S. 342. 298 3. Pluralität und Rationalität des Politischen: Die politische Urteilskraft In ihren späteren Werken erstreckt Arendt das Konzept der politischen Pluralität auf das denkende Leben. Dabei geht es um die Urteilskraft als „eine geistige Grundtugend“1. Die Urteilskraft wird für Arendt als das politische Vermögen zu einer pluralen, menschlichen Gemeinschaft verstanden.2 So ist die Urteilsfähigkeit der Bürger die wichtige Grundlage des politischen Gemeinwesens. Und die Pluralität ist die entscheidende Bedingung der Urteilskraft.3 Durch das Herangehen an die Urteilslehre versucht Arendt nach den Grundlagen der Beziehung zwischen Individuum und Pluralität zu suchen und einen neuen Begriff von politischer Rationalität zu konzipieren, der im Gegensatz zum okzidentalen Rationalismus weder zweckrational noch autoreflexiv ist. In der Kritik der Urteilskraft Kants findet Arendt „ein versteckte Kritik der politischen Vernunft“4, weil sie die Pluralität als die Elementarbedingungen eines jeden Urteilens behandelt. 3.1 Die Umkehr zur Philosophie? In der Untersuchung der politischen Urteilskraft wollte Arendt die philosophischen sowie die politischen Grundlagen der Pluralität fundieren. Leider ist sie nicht mehr dazu gekommen, ihr Buch, das das Verhältnis des Politischen zum geistigen Vermögen reichend beantworten sollte, zu schreiben.5 Aus diesem Grund gibt es Anlass zu verschiedenen Interpretationen über ihre Gedanken der Urteilskraft. Trotzdem ist die Betrachtung ihrer Urteilslehre nicht unmöglich, weil die Frage nach dem Verhältnis von der geistigen Fähigkeit und Pluralität bereits in ihren frühen Gedanken ein der grundlegenden Themen war. Ihr Zurückkehren zum Problem des Urteilens lässt sich als die Verlängerung ihrer Überlegung des Verhältnisses von Politischen und Pluralität verstehen.6 Durch die Urteilslehre will Arendt auf die Frage antworten, wie sich die verschiedene Meinungen und Handlungen miteinander in Beziehung setzen können, ohne den subjektiven Faktor des politischen Handelns aufzugeben. Sie versucht, das Problem der Pluralität, also den alten Gegensatz von Selbst und Welt, durch die Urteilslehre zu überspringen. Anders gesagt verstärkt die Urteilslehre die intersubjektive 1 2 3 4 5 6 Gadamer, 1965, S. 36. Vgl. ZVZ, S. 299. „Die Bedingung der Möglichkeit der Urteilskraft ist die Präsenz der Andern, die Öffentlichkeit.“ (DTB, S. 570). DTB, S. 577. Als Hannah Arendt am 4. Dezember 1975 in ihrer Wohnung starb, fand man in ihrer Schreibmaschine ein einzelnes Blatt, auf dem nichts außer der Überschrift Judging und zwei Zitaten stand (vgl. DW, S. 228). Vgl. Heller, 1987, S. 286; Jay, 1994, S. 190. 299 Dimension des politischen Handelns und sein Prinzip der Assoziation.7 Arendt meint: „Das Urteil entspringt hier der Subjektivität eines Standortes in der Welt, aber es beruft sich gleichzeitig darauf, daß diese Welt, in der jeder einen nur ihm eigenen Standort hat, eine objektive Gegebenheit ist, etwas, das uns allen gemeinsam ist.“8 Trotzdem versteht man häufig die Arendtsche Beschäftigung mit der Fähigkeit des menschlichen Geistes als die „Kehre“9 von der Politik zur Philosophie als ihrem intellektuellen Ursprung. Ferner ist für Kritiker wie Stuart Hampshire beunruhigend, dass Arendt als politische Theoretikerin angesehen wird, weil für ihn ihre späteren Werke wie Vom Leben des Geistes als eine Senke „metaphysischer Nebel“10 gesehen wird. Was die Kontinuität der politischen Theorie von Arendt betrifft, greift Ronald Beiner, der Herausgeber von Das Urteilen, die Kernfrage auf. Er wirft Arendt vor, sie habe ihre frühre Position aufgegeben und an die Stelle der Beschäftigung mit dem politisch aktiven Leben die Beschäftigung mit dem kontemplativen Leben gesetzt.11 In Arendts späteren Schriften bezieht sich die Urteilskraft Beiners These zufolge nicht auf das politische Vermögen des Handelnden: „Das Urteil verfängt sich also in der Spannung zwischen der vita activa und der vita contemplativa.“12 Den Grund für die Differenz zwischen der frühen Arendt und der späten begründet man häufig in Arendts Schwankung zwischen der Aristotelischen und der Kantischen Version. Das bezeichnet man als eine Spannung zwischen der Urteilskraft als formalem Vermögen und der Urteilskraft als praktischer Klugheit, die Arendt nicht mehr gelöst hat. Zu dieser Schwankung merkt Benhabib an: „Hinzu kommt noch eine tiefer sitzende philosophische Verunsicherung im Hinblick auf den Status des Urteilens. Dies betrifft ihren Versuch, in ihrem Werk die Aristotelische Auffassung vom Urteilen als einem Aspekt der phronesis mit dem Kantischen Verständnis vom Urteilen als der Fähigkeit zur erweiterten Denkungsart oder zum repräsentativen Denken zusammenzuführen.“13 Trotzdem wäre es unzutreffend, wenn man schätze, dass Arendts Urteilslehre „politisch weniger ergiebig“14 sei. Was die Urteilskraft angeht, vertritt Arendt die starke These, „daß zumindest eine unserer geistigen Fähigkeiten, die Fähigkeit des Urteilens, die Anwesenheit anderer Men- 7 8 9 10 11 12 13 14 Vgl. Paetzold, 2000, S. 191f. und 207. ZVZ, S. 300. Söllner bezeichnet die Bruch in Arendts Denken als „Kehre“, die von der realgeschichtlichen Analyse in eine hochabstrakte Spekulation führt (Söllner, 1990, S. 219f.). Young-Bruehl, 1986, S. 640. Beiner, 1985, S. 119; zur ähnlichen Position siehe Bernstein, 1986, S. 237; May, 1990, S. 169ff.; Wolf, 1991, S. 110f.; Jonas, 1979, S. 355. Beiner, 1985, S. 177. Benhabib, 1998, S. 275f. Sontheimer, 2005, S. 135. 300 schen voraussetzt.“15 Sie fasst die Urteilskraft daher als die politischste geistige Fähigkeit des Menschen auf. So darf das Arendtsche Interesse an der Fähigkeit des Urteiles als keine „Abkehr“ von Politik verstanden werden.16 Hinsichtlich der späteren Schriften Vom Leben des Geistes verankert Arendt das Politische in dem weiteren Kontext des geistigen Lebens der Menschen. Dabei thematisiert sie die Beziehung zwischen geistigem Vermögen und politischem Handeln.17 In ihrem Aufsatz, Über Zusammenhang von Denken und Moral, in dem sich Arendt mit den geistigen Tätigkeiten erstmals beschäftigt hat, geht es um politische Implikationen des Denkens und der Urteilskraft: „Wenn jeder nicht–denkend hinweggefegt wird von dem, was alle anderen tun und glauben, werden diejenigen, die denken, aus dem Versteck herausgezogen, weil ihre Weigerung, sich allen anzuschließen, auffällt und deshalb zu einer Art Tat wird. Das reinigende Element im Denken – Sokrates` Hebammenkunst, die die verborgenen Bestandteile unerforschter Meinungen, also Werte, Lehren, Theorien und selbst Überzeugungen, an die Oberfläche befördert und sie dadurch zerstört – ist durch Implikation politisch. Denn diese Zerstörung hat eine befreiende Wirkung für ein anderes menschliches Vermögen, das Vermögen der Urteilskraft, das man mit einer gewissen Berechtigung als das politischste unter dem geistigen Vermögen des Menschen bezeichnen darf.“18 Nun geht es Arendt darum, in welchem Verhältnis das geistige Vermögen zur menschlichen Pluralität steht, wenn das geistige Vermögen mit dem politischen Handeln verbunden ist. Bei ihrer Erörterung der politischen Urteilskraft verliert Arendt nicht das Hauptthema ihrer politischen Theorie aus dem Augen: Pluralität. Darüber hinaus ist Arendts Urteilslehre nicht als Zusammenbruch ihres früheren Denkens zu verstehen, sondern im Vorgang der Entwicklung ihres politischen Denkens. Arendt entwickelt eine Theorie des politischen Urteilens als Fundament einer Theorie der politischen Pluralität. Das wird klar, wenn man die Spur der Urteilslehre in ihrem früheren Werk über den Totalitarismus verfolgt. 15 16 17 18 DU, S. 98. Im Gegensatz zu Söllners Ansicht betont Vollrath die Kontinuität von Arendts politischem Denken: „Ich glaube schon gar nicht, daß Hannah Arendt in ihren letzten, teilweise noch veröffentlichten Werken eine Kehre vollzogen hat, eine Abkehr von dem, was das Thema ihres Denkens gewesen ist: dem Bereich des Politischen.“ (Vollrath, 1979b, S. 60); vgl. Barley, 1990, S. 165; Schäfer, 1993, S. 98; Nordmann, 1994, S. 123. Hinter Arendts Unterscheidung zwischen den tätigen und nicht-tätigen Tätigkeiten steht keine Über- oder Unterordnung von vita activa und vita contemplativa. Vielmehr besteht Arendts Absicht darin, die klassischphilosophische Überordnung des kontemplativen Lebens über das aktive Leben zu korrigieren: „wenn ich von der Vita activa rede, so setze ich voraus, dass die in ihr beschlossenen Tätigkeiten sich nicht auf ein immer gleichbleibendes Grundanliegen, des Menschen überhaupt zurückführen lassen, und daß sie ferner den Grundanliegen einer Vita contemplativa weder überlegen noch unterlegen sind.“ (VA, S. 27). ZVZ, S. 154f. 301 3.2 Das Phänomen der Urteilsunfähigkeit im Totalitarismus Den Kristallisationspunkt im ganzen politischen Denken von Arendt bildet die Erfahrung der totalitären Herrschaft. Wenn sich das „Nachdenken über den Totalitarismus“ als „das Herz“ ihrer politischen Theorie verstehen lässt,19 ist das Problem der Urteilskraft als das politische Problem schon in ihrer Analyse des Totalitarismus ansatzweise thematisiert. Das bedeutet, dass die Überlegung der Urteilskraft sehr früh für Arendt im Zentrum ihres politischen Denkens „als eine theoretische Reaktion auf die Entstehung totalitärer Bewegungen und Herrschaften“ steht.20 Wie sie selbst sagt, befasst sich Arendt im Hinblick auf das unmittelbare Ergebnis der totalitären Herrschaft mit dem Verlust der Urteilskraft.21 Ihr geht es darum, in welchem Zusammenhang die Zerstörbarkeit der Pluralität unter den Bedingungen der totalen Herrschaft mit der Unfähigkeit zu Denken und zu Urteilen steht. Daher sieht sie, wie wir schon erwähnt haben, die totalitäre Herrschaft nicht lediglich in der Form der Herrschaftsstruktur. Vielmehr ist der Totalitarismus durch die Zerstörung der Fähigkeit zu handeln und zu urteilen charakterisiert. Im Totalitarismusbuch vertritt Arendt die These, der Verlust der Urteilskraft sei in der totalitären Herrschaft mit der Vernichtung der menschlichen Pluralität zusammengefallen. Im Hinblick auf die absolute Zerstörung der Pluralität bezeichnet Arendt den Totalitarismus als eine „neue, in der Geschichte noch unbekannte Staatsform“.22 Sie findet im Totalitarismus zwei Umstände der Menschen. Einerseits wurden die Menschen vereinzelt und andererseits als die Summe vereinzelter differenzloser Menschen dargestellt. Das bedeutet das Verschwinden des Individuums und damit das Zersetzen der gemeinsamen Welt. Darin wird die Urteilskraft drastisch bedroht: „Der Mangel an wirklicher Urteilskraft geht hier Hand in Hand mit der eigentümlichen, modernen Selbstlosigkeit, und beides findet nur zu sehr seine Entsprechung in dem Drang der Massen in eine fiktive Welt und ihre Ungebundenheit durch kollektive Interessen. Es gehörte zu den großen Chancen der totalitären Bewegung.“ 23 Damit haben die Menschen keine „Sphäre gemeinschaftlicher Beziehungen, in deren Rahmen der gesunde Menschenverstand alleinsinngemäß funktionieren kann“.24 In der Verkümmerung der gemeinsamen Welt leiden die Menschen 19 20 21 22 23 24 Canovan, 1997, S. 59. Vollrath, 1979c, S. 88; vgl. Gess, 1999, S. 33ff.; Falkenhagen, 2004. Arendt erläutert in der Einleitung zum ersten Band vom Leben des Geistes verschiedene Begründung für die Beschäftigung mit den geistigen Tätigkeiten. Der unmittelbare Anlass war ihre Teilnahme am Eichmannprozess in Jerusalem (DD, S. 13). EU, S. 944. EU, S. 717. EU, S. 747. 302 „an einem radikalen Schwund des gesunden Menschenverstandes und seiner Urteilskraft.“ 25 In dieser Situation wird „auf den urteillosen Vollzug des Urteils“26 regrediert. An die Stelle der menschlichen Urteilskraft treten die Ideologie als der „innere Zwang“ und der Terror als der „äußere Zwang“27. Diese „Verbindung von absoluter Gewalt und absoluter Rechtfertigung“28 ist Kernstück der totalen Herrschaft, um Urteilsvermögen und Meinung des Menschen zu eliminieren: „Der äußere Zwang des Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums der Freiheit alle Beziehungen zwischen Menschen; zusammengepreßt mit allen anderen ist ein jeder ganz und gar von allen anderen isoliert. Der innere Zwang des konsequent ideologischen Denkens sichert diesem Zwang seine Wirksamkeit, indem er die also isolierten Individuen in einen permanenten, jederzeit übersehbaren, weil konsequent logischen Prozeß hineinreißt, in welchem ihnen jene Ruhe niemals gegönnt ist, in der sie allein der Wirklichkeit einer erfahrbaren Welt begegnen können.“29 Indem der Terror aus vielen Menschen einen Menschen macht, und indem Ideologie die logisch–deduzierende Schlussfolgerung erzwingt, wird die menschliche Urteilskraft nicht nur nicht möglich, sondern überflüssig. Die Gültigkeit der Ideologie ist absolut und zwingend, weil die Ideologie für sich Anspruch auf eine Gültigkeit nimmt, welche von der Anwesenheit anderer Menschen völlig unabhängig ist.30 Der radikale Schwund der Urteilskraft findet da statt, wo die Ideologie und der Terror die Menschen so organisiert, „als gäbe es sie gar nicht im Plural sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur- oder Geschichtsprozesses mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen.“31 Das ideologische Denken ist durch die völlige Unabhängigkeit von der Wirklichkeit gekennzeichnet. Die Ideologie ist so pluralitätsfeindlich, dass sie weder konflikt- noch kompromißfähig ist. Arendt stellt fest: „Der Emanzipation des Denkens von erfahrener und erfahrbarer Wirklichkeit dient auch die Propaganda der totalitären Bewegung, die immer darauf hinausläuft, jedem offenbar Geschehenden einen geheimen Sinn und jedem offenbaren politischen Handeln eine verschwörerische Absicht unterzulegen.“32 Die Wirklichkeit generiert sich durch die Vielzahl von Perspektiven, die wir in der Kommunikation erfahren. Der Verlust dieser Wirklichkeit, der 25 26 27 28 29 30 31 32 EU, S. 737. Adorno/Horkheimer, 1988, S. 211. EU, S. 970. Maier, 1997, S. 17. EU, S. 970. „Die logische Stimmigkeit tritt auf, wenn es weder die Übereinstimmung mit sich selbst noch die Einstimmigkeit mit den Anderen gibt.“ (DTB, S. 572). EU, S. 958. EU, S. 965. 303 zur Unfähigkeit zum Urteilen führt, entspricht daher dem gleichzeitigen Verlust des „Selbst und der Welt, und das heißt echte(r) Denkfähigkeit und echte(r) Erfahrungsfähigkeit.“33 Im Zusammenhang mit der totalitären Herrschaft ist die Anwesenheit Arendts beim EichmannProzess für sie der Anstoß gewesen, um unmittelbar über die politische Bedeutung des Urteilens nachzudenken und sich mit den geistigen Tätigkeiten des Menschen zu beschäftigen. Von der Zeit des Eichmann–Prozesses hat sich Arendt immer wieder mit der Frage befasst, was das Wesen und die Funktion der menschlichen Urteilskraft ist. 34 So gesehen sei das Eichmannbuch „nicht primär ein Beitrag zur historischen Analyse der Endlösung, sondern eine Übung im Denken und Urteilen.“35 In Bezug auf den Eichmann-Prozess geht es bei Arendt um die Frage: „Hängt vielleicht das Problem von Gut und Böse, unsere Fähigkeit, Recht vom Unrechten zu unterscheiden, mit unserem Denkvermögen zusammen?“ 36 Eichmanns Unfähigkeit zu denken führt Arendts Ansicht zufolge dazu, dass er sich nicht mehr vorstellen kann, was er angestellt hat. Was den Menschen wie Eichmann zu einem der größten Verbrecher jener Zeit macht, wie Arendt spricht, seien weder der ursprünglich böse Wille noch die sündigen Motiven, sondern gewissermaßen „schiere Gedankenlosigkeit“37, also die Weigerung, etwas zu urteilen. Diesen Charakter des Bösen, den Eichmann zeigte, drückt Arendt mit ihrem bereits berühmt gewordenen Schlagwort der „Banalität des Bösen“38 aus. An diesem Punkt lehnt Arendt Kausalerklärungen im Bereich der Moral viel zu eindeutig ab, und sie will zeigen, dass die böse Absicht der Person nicht zwangsläufig Voraussetzung für böse Taten ist: „Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in 33 34 35 36 37 38 EU, S. 977. Young-Bruehl stellt fest, dass „die Unfähigkeit und die Weigerung zu urteilen“ Arendts Themen in Eichmann in Jerusalem seien (Young-Bruehl, 1986, S. 465). In der Einleitung ihres Eichmannbuches schreibt Arendt: „Damit kommen wir zu einer anderen der grundsätzlichen Fragen, die in allen diesen Nachkriegsprozessen und natürlich auch im Eichmann-Prozeß berührt wurde und um die sich zu streiten in der Tat lohnen würde. Sie betrifft das Wesen und das Funktionieren der menschlichen Urteilskraft. Was wir in diesen Prozessen fordern, ist, daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen. Und diese Frage ist um so ernster, als wir wissen, daß die wenigen, die unbescheiden genug nur ihrem eigenen Urteil trauten, keineswegs identisch mit denjenigen waren, für die die alten Wertmaßstäbe maßgebend geblieben oder die sich von einem kirchlichen Glauben leiten ließen.“ (EJ, S. 22f.). Bernstein, 2000, S. 307; vgl. Beiner, 1985, S. 125; Seyer, 1998, S. 132. DD, S. 15. EJ, S. 16; in der kontroversen Darstellung spricht Arendt von Eichmann: „Das beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“ (EJ, S. 326); „Die Taten waren ungeheuerlich, doch der Täter – zumindest jede einst höchst aktive Person, die jetzt vor Gericht stand, war ganz gewöhnlich und durchschnittlich, weder dämonisch noch ungeheuerlich.“ (DD, S. 14). EJ, S. 300; Arendt sagt: „Es ist in der Tat meine Meinung, daß das Böse niemals radikal ist, daß es nur extrem ist und daß es weder Tiefe noch irgendeine dämonische Dimension besitzt. Es kann die ganze Welt überwuchern und verwüsten, eben weil es sich wie ein Pilz auf der Oberfläche ausbreitet. Es ist resistent gegen den Gedanken, wie ich gesagt habe, weil der Gedanke danach strebt, Tiefe zu erreichen, an die Wurzeln zu gehen, und in dem Augenblick, da er sich mit dem Bösen befaßt, wird er vereitelt, weil da nichts ist. Das ist Banalität.“ (NA, S. 78). 304 einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte.“39 Der Charakter der Gedankenlosigkeit Eichmanns bezieht sich für Arendt auf dem Mangel an der Anerkennung der Pluralität. Eichmann ist für sie ein besonderer Typ des modernen Menschen, der jeglichen Weltbezug verloren hat. Entscheidend ist für Eichmanns Gedankenlosigkeit seine nahezu totale Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des Anderen her zu sehen. Als Folge kann er nicht in der Lage sein, die Wirklichkeit der Welt zu erfahren. Daraus entsteht die umfassende Krise des Urteilens. Eichmanns Realitätsferne führt schließlich zum Verlust des weltlichen Gemeinsinnes. Arendt berichtet: „Je länger man ihm (Eichmann: H. P.) zuhörte, desto klarer wurde einem, daß diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit seiner Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Das heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.“40 Bei Eichmann zeigt sich dieser Fehler deutlich in seiner von Redensarten und Klischees überfrachteten Sprache gegenüber der Wirklichkeit.41 In Jerusalem pochte Eichmann stets darauf, Befehle ausgeführt zu haben. Bei diesem Eichmann sieht Arendt die Mangel der Reflexion auf das eigene freie Urteilen. Sie schreibt: „Diejenigen, die urteilten, urteilten frei; sie hielten sich an keine Regel, um unter sie Einzelfälle zu subsumieren, sie entschieden vielmehr jeden einzelnen Fall, wie er sich ihnen darbot, als ob es allgemeine Regeln für ihn nicht gäbe.“42 Im Gegensatz zum Gehorsam Eichmanns waren „diejenigen, die nicht teilnahmen“, wie Arendt bemerkt, „die einzigen, die es wagten, selber zu urteilen.“ 43 Arendt hält fest: „Ich erwähnte den totalen Zusammenbruch moralischer und religiöser Normen unter Leuten, die allem Anschein nach immer an sie geglaubt hatten, und ich habe auch die unleugbare Tatsache angeführt, daß die Wenigen, denen es gelang, nicht in den Wirbel hineingezogen zu werden, keineswegs die Moralisten waren, also Leute, die schon immer Regeln des richtigen Verhaltens hochgehalten hatten.“44 39 40 41 42 43 44 EJ, S. 16. EJ, S. 78. Vgl. DD, S. 14; DTB, S. 317. EJ, S. 23. PV, S. 93. ÜDB, S. 139. 305 Aus dem Eichmann-Prozess stellt sie noch die Konzeption der Urteilskraft auf, dass die Urteilsfähigkeit vom Erkennen oder von der intellektuellen Fähigkeit unabhängig ist.45 Die Urteilskraft untersteht nicht den selbst gebildeten Vermögen des Subjekts. Der Mangel an Urteilskraft kann mit sehr hoher und starker Intelligenz Hand in Hand gehen, während umgekehrt gar nicht sehr intelligente Menschen gerade große Urteilskraft besitzen können. So stellt Arendt fest: „Die Voraussetzung für diese Art der Urteilsbildung ist keine hoch entwickelte Intelligenz oder ein äußerst differenziertes Moralverständnis, sondern schlicht die Gewohnheit, ausdrücklich mit sich selber zusammenzuleben, das heißt, sich in jenem stillen Zwiegespräch zwischen mir und meinem Selbst zu stehen, das wir seit Sokrates und Plato gewöhnlich als Denken bezeichnen. Obwohl sie allem Philosophieren zugrundeliegt, ist diese Art des Denkens nicht fachorientiert und handelt nicht von theoretischen Fragen. Die Trennungslinie zwischen denen, die urteilen, und denen, die sich kein Urteil bilden, verläuft quer zu allen sozialen Unterschieden, quer zu allen Unterschieden in Kultur und Bildung.“46 Ausgehend vom Phänomen der Urteilsunfähigkeit in der totalitären Herrschaft verschafft sich Arendt die theoretische Perspektive mithilfe von Kants Urteilslehre, der es um das Verhältnis von Urteilskraft und Pluralität geht. 3.3 Die politische Interpretation der ästhetischen Urteilskraft von Kant 3.3.1 Von Aristoteles zu Kant Wie wir oben gesehen haben, gibt es eine Einschätzung, dass Arendt in der Urteilslehre von Aristoteles zu Kant übergehe. In der Tat beendet Arendt ihre eigene unvollendete Urteilslehre bei Kant.47 Entscheidend ist, dass man den Arendtschen Übergang von der aristotelischen Phronesis zur Kants Urteilskraft als die Abkehr von der Beschäftigung mit der Politik interpretiert. Im Hinblick auf die Arendtsche Abwendung vom aristotelischen Phronesiskonzept werfen Kritiker Arendt vor, dass sie ihr eigenes Handlungskonzept, das sich aus der aristotelischen Tradition der handlungsorientierten Klugheit48 ableitete, in der Urteilslehre ignoriert, indem sie sich 45 46 47 48 Vgl. DD, S. 23. PV, S. 93f. Vgl. Shklar, 1979, S. 185. Klugheit ist die deutsche Übersetzung des griechischen Worts phronesis. In seinem Buch NE definiert Aristoteles die Klugheit als ein mit einer richtigen Regel verbundener, „untrüglicher Habitus vernünftigen Handelns in Dingen, die für den Menschen Güter und Übel sind.“ (Aristoteles, NE, 1140 b 5f.). 306 der ästhetischen Urteilskraft Kants zuwendet.49 Es fragt sich daher, warum Kants Geschmacksurteil eine so große Bedeutung für Arendts Auffassung zum politischen Urteilen hat. Tatsächlich betont Arendt in ihrem frühen Werk, dass Aristoteles die politischen Implikationen der Urteilskraft erkannt hat, die aber „in der Tradition philosophischen wie politischen Denkens kaum beachtet worden waren“.50 An anderer Stelle verbindet Arendt die Urteilskraft Kants mit der Phronesis von Aristoteles, weil beide die Fähigkeit, die Dinge aus der Perspektive aller Anderen zu sehen und alle Standorte zu berücksichtigen, gemeinsam teilen.51 Diese Vermischung hält man jedoch für unhaltbar, weil es die Kluft gibt, die zwischen der Moralphilosophie von Kant und der von Aristoteles unüberbrückt trennt. Dazu merkt Christopher Lasch an: „Auf der einen Seite scheint Arendts Verteidigung des Urteilens als der politischen Tugend zu einer aristotelischen Auffassung der Politik als Teil der praktischen Vernunft zu führen. Auf der anderen Seite verweist ihre Berufung auf Kant als Quelle ihrer Gedanken über das Urteilen auf ein ganz anderes Politikverständnis, in dem politisches Handeln nicht in den praktischen Künsten verankert ist, sondern in universalen moralischen Grundsätzen (...). Arendt scheint in ihrer Auseinandersetzung mit dem Problem des Urteilens die alten und die modernen Konzeptionen von Moralität und Politik zu vermischen, anstatt zu klären, worin sie sich unterscheiden.“52 Arendt macht zumindest zwei politische Bedeutungen von der Aristotelischen Phronesis geltend. Zuerst verweist Arendt auf seine Unterscheidung zwischen Klugheit und Weisheit, also zwischen dem politischen und dem philosophischen Leben.53 Nach Arendt versteht Aristoteles die Phronesis in betontem Gegensatz zur Weisheit der Philosophen. Die Klugheit ist nicht Weisheit schlechthin, die zur Betrachtung der Wahrheit gehört. Für Aristoteles können nur die irdischen und menschlichen Dinge und Kontingente die Gegenstände der Klugheit sein.54 Ausgehend von der Unterscheidung zwischen der Klugheit und der Weisheit weist Aristoteles den platonischen Versuch zurück, das Besondere vom Allgemeinen abzuleiten. Er charakterisiert die Klugheit als das Vermögen, das Besondere zu erkennen.55 Dieser Begriff der Klugheit ist für das Paradigma der pluralen politischen Welt konstitutiv. Trotzdem ist es nicht zu übersehen, dass 49 50 51 52 53 54 55 So betont Wellmer, dass sich Arendt durch ihre Konzept der Urteilskraft von „Aristotelian“ zu „anti – Aristotelian“ wendet (Wellmer, 1996, S. 33-52, hier S. 34). ÜR, S. 295. WP, S. 97; ZVZ, S. 299 und S. 342; zum Vergleich des Begriffes Phronesis bei Arendt und Aristoteles siehe Mahrdt, 2007, S. 587-603. Lasch, 1983; zit. aus Benhabib, 1995, S. 133f. Vgl. ZVZ, 299; WP, S. 97; PP, S. 396. Vgl. Aristoteles, NE 1141 b 8f. „Auch geht die Klugheit nicht bloß auf das Allgemeine, sondern auch auf die Erkenntnis des Einzelnen. Denn sie hat es mit dem Handeln zu tun, das Handeln aber bezieht sich auf das Einzelne und Konkrete. Daher sind auch manche, die keine Wissenschaft haben, praktischer oder zum Handeln geschickter als andere mit ihrem Wissen.“(Aristoteles, NE 1141 b 15f.); „Die Klugheit ist aber praktisch, und darum muß man beides, Kenntnis des Allgemeinen und des Besonderen, haben oder, wenn nur eines, lieber das letztere.“ (NE 1141 b 21f.). 307 Aristoteles die philosophische Weisheit und die politische Klugheit hierarchisiert und dass er die Unterordnung der Klugheit unter die Weisheit wieder herstellt. Im Verständnis der Klugheit greift Aristoteles auf eine Unterteilung der Seele zurück. Für ihn gehört die Klugheit zum auf „das Schließen oder Meinen“ bezogenen Seelenteil.56 Dabei findet sich die platonische Spannung zwischen dem tätigen und dem kontemplativen Leben wieder. Arendt stellt fest: „So wie Plato die doxa der Wahrheit entgegensetzte, so stellt Aristoteles die phronesis (die politische Einsicht) dem nous (dem philosophischen Geist) gegenüber.“57 Arendt hat noch lange den Begriff des Urteilens im aristotelischen Klugheitskonzept mit der erweiterten Denkungsart von Kant gleichgesetzt. Aber es gibt im aristotelischen Verständnis der Klugheit die ursprünglichen Komponenten, die dem Arendtschen Begriff des Urteilens und des Politischen nicht entsprechen. In der Konzeption der aristotelischen Klugheit als „einer moralisch-praktischen Urteilskraft“58 liegt das Dilemma zwischen der Willkür des gesetzlosen Willens und der Normativität des Verstands, also der „Widerspruch zwischen dem spontanen Wollen und dem Sollen“.59 Die Klugheit versteht sich zuerst im Verhältnis von Ziel und Mittel. Sie hat etwas Instrumentales; sie befasst sich nicht mit der Überlegung von Ziel, sondern mit der Wahl der Handlungen, die zur Erreichung der bereits gegebenen Ziele beitragen.60 Deshalb beschränkt sich die Rolle der Klugheit nur auf das Problem, welche Handlungen zur Verwirklichung des Ziels angemessen und tauglich sind.61 Die Entscheidung zwischen alternativen Mitteln62 kann ohne Verständigung grundsätzlich monologisch getroffen werden. Der Hauptvorzug eines klugen Menschen liegt nur darin, „daß er sich seine Sache gut zu überlegen weiß“.63 Diese kluge Fähigkeit könnte ohne mögliche Kommunikation mit anderen urteilenden Subjekten funktionieren, weil sie auf das Wissen angewiesen ist. So hält Aristoteles an einem gewissen platonischen Intellektualismus fest. 56 57 58 59 60 61 62 63 NE, 1140 b 25ff. PP, S. 396; Aristoteles betont: „Somit ist offenbar, daß die Weisheit die vollkommenste Wissenschaft ist. Mithin muß der Weise nicht bloß die Folgerung aus den Prinzipen wissen, sondern auch bezüglich der Prinzipien die Wahrheit erkennen. Demnach wäre also die Weisheit Verstand und Wissenschaft, eine Wissenschaft, die gleichsam als Haupt über die anderen gestellt, die allerwürdigsten Objekte umfaßt“ (Aristoteles, NE 1141 a 16f.). Höffe, 1999, S. 211. Gigon, 1977, S. 75; vgl. Großmann, 1997, S. 214. Höffe hingegen meint, dass die Klugheit keine instrumentelle Vernunft ist (Höffe, 1999, S. 211). Vgl. Aristoteles, NE 1112 b 11f.; vgl. Vollrath, 1977, S. 87. Arendt stellt fest, dass für Aristoteles auch die Mittel schon gegeben sind: „Auch die Mittel und nicht bloß die Ziele sind also gegeben, und unsere freie Wahl besteht nur in einer vernünftigen Auswahl zwischen ihnen.“ (DW, S. 61; vgl. Aristoteles, NE 1112 b 11-18). Aristoteles, NE 1141 b 10. 308 In engem Zusammenhang damit bezieht sich die Klugheit immer auf die Zukunft.64 Der kluge Mensch achtet auch auf das, was geschehen kann.65 Diesen zukunftsorientierten Charakter der Phronesis hält Vollrath für „reflexionsfrei“.66 Die reflexionsfreie Klugheit wird fragwürdig, wo „wir die Maßstäbe zum Menschen und die Regeln, unter die das Besondere zu subsumieren ist, verloren haben“.67 Arendt sagt: „Urteilen kann aber auch etwas ganz anderes meinen, und zwar immer dann, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, was wir noch nie gesehen haben und wofür uns keinerlei Maßstäbe zur Verfügung stehen. Dies Urteilen, das maßstablos ist, kann sich auf nichts berufen als die Evidenz des Geurteilten selbst, und es hat keine anderen Voraussetzungen als die menschliche Fähigkeit der Urteilskraft, die mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren.“68 Es geht Arendt darum, wie wir handeln und urteilen können, ohne uns auf den Faden der Tradition, auf die religiös, metaphysisch legitimierte Wertordnung zu verlassen und ohne uns von Erfahrungen loszulösen, „die nur im Verein mit anderen gültig sein und erhärtet werden“ 69 können. Für die Überwindung des Dilemmas, das im aristotelischen Klugheitskonzept gefunden ist, zieht Arendt Kant zu Rate, weil „kein Philosoph vor oder nach Kant sie (Urteilskraft: H. P.) zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung gemacht hat; und der Grund für dieses Erstaunliche liegt in der tiefen Politikfeindlichkeit unserer philosophischen Tradition“.70 Die politische Bedeutung und der politische Rang der ästhetischen Urteilskraft Kants sieht Arendt einerseits in seiner Konzeption der erweiterten Denkungsart und andererseits in seinem Verständnis der reflektierenden Urteilskraft. Die beiden Konzepte antizipieren Arendts Ansicht zufolge das Prinzip der Pluralität als das Kennzeichen der politischen Welt. 3.3.2 Die erweiterte Denkungsart Kant unterstellt in seinen angeblich politischen Werken die Politik dem Bereich der Moral. Er versucht „seine politischen Einsichten mit seiner Moralphilosophie in Einklang zu bringen“.71 Bekanntlich beruht seine Moralphilosophie auf einem zwingenden Prinzip der Übereinstimmung mit sich selbst im vernünftigen Sittengesetz. Der kategorische Imperativ und die gesetzgebende 64 65 66 67 68 69 70 71 Prudentia, der lateinische Ausdruck von Phronesis, kommt von providere, und das heißt vorausschauen und sich vorsehen (vgl. Comte-Sponville, 2003, S. 482). Vgl. Aristoteles, NE, 1141 a 27f. Vollrath, 1993, S. 44. ZVZ, S. 125. WP, S. 20. DW, S. 217. ZVZ, S. 299. DU, S. 32; Kant sagt: „Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben“ (Kant, 1984, S. 49). 309 Vernunft setzen nicht die Anderen voraus, sondern nur ein sich nicht widersprechendes Selbst. Die praktische Vernunft ist im Kern eine Tugendlehre des Einzelmenschen,72 wobei es um den Willen geht, weder um das Urteil noch um das Handeln.73 Der Wille als Maxime der praktischen Vernunft ist unpolitisch, weil er im Gegensatz zum politischen Handeln grundsätzlich monologisch ist.74 Arendt verweist auf den Charakter der kantischen Moralphilosophie: „Daß es ein Absolutes gibt, die Pflicht des kategorischen Imperativs, die über den Menschen steht, in allen menschlichen Angelegenheiten entscheidet und auch um der Menschlichkeit in jeglichem Verstande nicht gebrochen werden darf – dies ist ja den Kritikern der Kantischen Ethik als etwas durchaus Unmenschliches und Unbarmherziges aufgefallen. Aber diese Unmenschlichkeit ist nicht dem geschuldet, daß die Forderung des kategorischen Imperativs etwa die Möglichkeiten einer zu schwachen Menschennatur überfordert, sondern einzig und allein dem, daß er absolut gesetzt ist und in seiner Absolutheit den zwischenmenschlichen Bereich, der seinem Wesen nach aus Bezügen und Relationen besteht, auf etwas festlegt, das seiner grundsätzlichen Relativität widerspricht.“75 Während sich Kants praktische Philosophie ganz und gar auf die selbstbezogenen moralischen Subjekte konzentriert und die „Bedingung der Pluralität auf ein Minimum“76 begrenzt, hat seine Kritik der Urteilskraft mit den Menschen, die in Gemeinschaft mit Anderen leben, zu tun. In diesem Punkt sieht Arendt den politischen Kernpunkt seiner ästhetischen Urteilslehre. Im Hinblick auf Kants Urteilskraft besteht Arendts größte Zufriedenheit darin, dass Kant die Urteilslehre auf einer Grundlage der Pluralität entwickelte, weil ihm „die Pluralität der Menschheit mehr als jedem anderen Philosophen bewußt war“.77 Arendt stellt fest: „Die Kritik der Urteilskraft ist die einzige (von Kants) großen Schriften, wo sein Ausgangspunkt die Welt ist und die Sinne und die Fähigkeiten, die die Menschen (im Plural) so ausstatten, daß sie deren Bewohner sind. Das ist vielleicht noch nicht Politische Philosophie, aber es ist sicherlich deren conditio sine qua non.“78 In der Tat war Kant der Erste, der von Pluralismus gesprochen hat.79 Für ihn unterscheidet sich der „Pluralism“ vom „Egoism“, in dem man sein Urteil nicht an dem Anderer prüft.80 Nach seiner Ansicht ist die Urteilskraft „die Denkungsart“, die des „Pluralism“ bedarf. Im Hinblick auf 72 73 74 75 76 77 78 79 80 „Praktisch heißt bei Kant moralisch und betrifft das Individuum qua Individuum.“ (DU, S. 83). Vgl. DU, S. 32; vgl. ZVZ, S. 298; WP, S. 98; MfZ, S. 37f. Vgl. DU, S. 26 und 82f.; „Der Wille ist bei Kant in der Tat praktische Vernunft (...); er bezieht seine Verbindlichkeit aus dem Zwang, den evidente Wahrheit oder logisches Denken auf den Geist ausüben.“ (DW, S. 61f.). MfZ, S. 37f. DU, S. 33. DD, S. 101. DU, S. 179; vgl. Paetzold, 2000, S. 195. Vgl. Kerber, 1985, S. 988; Hinske, 1986, S. 31-49; Beiner, 1985, S. 154. Kant sagt, der Egoist halte „es für unnötig, sein Urteil auch am Verstand anderer zu prüfen“ (Kant, 2000, § 2). 310 die kantische Differenzierung der „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“81 hält Arendt die zweite Maxime, die Kant die „erweiterte Denkungsart“ nennt, für die Form der Pluralität, die eine elementare Bedingung für die politische Existenz des Menschen darstellt. 82 Die Fähigkeit, „an der Stelle jedes anderen zu denken“83, ist für Arendt das Zeichen politischen Denkens: „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten“.84 Das Prinzip der erweiterten Denkungsart überwältigt das moralische Prinzip der „Einstimmigkeit mit sich selbst“, das seit Sokrates die Maxime der abendländischen Ethik ist, durch „eine mögliche Einstimmigkeit mit anderen“.85 Diese Überwältigung des Solipsismus, der sich in der Dominanz des moralischen Prinzips der Übereinstimmung mit sich selbst äußert, ist für Arendt „in der politischen Philosophie der größte Schritt seit Sokrates“.86 Die politische Qualität eines Urteilens hänge daher „von dem Grad der erweiterten Denkungsart“ ab. 87 Anders gesagt: Das politische Handeln ist allein durch das Urteilsvermögen des Individuums gekennzeichnet, sich an die Stelle anderer Individuen zu versetzen. Kants Begriff der „erweiterten Denkungsart“ zielt auf die „grundlegende Gerichtetheit von Urteil und Geschmack auf andere“88 ab. Er liefert daher das Modell für die Pluralität, die sich im öffentlichen Raum verwirklichen lässt. Die erweiterte Denkungsart, die als Urteil ihre individuellen Beschränkungen zu überwinden weiß, kann in strenger Isolation oder in der Einsamkeit nicht funktionieren; sie braucht die Gegenwart der Anderen.89 In diesem Kontext reserviert Arendt die erweiterte Denkungsart für das politische Urteilen. Damit verbunden bezeichnet sie Kants Kritik der Urteilskraft als seine wirkliche politische Philosophie, die er niemals geschrieben hat, während die politischen Schriften Kants für das politische Denken völlig belanglos sind.90 Arendt hat bereits am 29. August 1957 an Karl Jas81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 Zu den Maximen des gemeinen Menschenverstandes zählt Kant: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart.“ (Kant, KdU, § 40, B 158). DU, S. 94ff. Kant, KdU, § 40, B 158. Kant, 2000, § 2, S. 13; vgl. ÜDB, S. 145. ZVZ, S. 298; Sokrates war der Meinung, „daß eher die meisten Menschen nicht mit mir übereinstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte“ (Plato, Gorgias 482 c; vgl. ZVZ, S. 298). DTB, S. 570. ZVZ, S. 343. DU, S. 91. Vgl. ZVZ, S. 216. DU, S. 17ff. und 83; in ähnlicher Sicht betont Jean-Francois-Lyotard, dass „die Rechtslehre (…) kein Text zu sein scheint, der für eine Studie über das Politische bei Kant relevant wäre“ (Lyotard, 1988, S. 30). Lyotard sucht somit das Politische in der Kritik der Urteilskraft, weil „die reflektierende Bedingung (…) ein Analogen zur Bedingung für das Politische nach Kant ist (Ebd., S. 25); im Gegensatz dazu vertritt Gerhardt die Ansicht, dass die den Kern des Politischen treffenden Thesen Kants aus dem Zentrum seiner Kritischen Philosophie stammen (Gerhardt, 1996, S. 464ff. und 1991, S. 316ff.; Höffe, 1993). 311 pers geschrieben, warum die Urteilslehre von Kant in ihren Augen politisch so bedeutsam ist: „Augenblicklich lese ich mit steigender Begeisterung die Kritik der Urteilskraft. Da ist Kants wirkliche politische Philosophie vergraben, nicht in der Kritik der praktischen Vernunft. Der Lobgesang auf den so geschmähten Gemeinsinn, das Phänomen des Geschmacks als Grundphänomen der Urteilskraft – was er vermutlich in allen Aristokratien wirklich ist – philosophisch ernst genommen, die erweiterte Denkungsart, die zum Urteilen gehört, daß man an Stelle aller anderen denken kann. Die Forderung der Mitteilbarkeit. Da sind die Erfahrungen des jungen Kant in der Gesellschaft; und dann von dem alten Mann wieder ganz lebendig gemacht.“91 3.3.3 Die reflektierende Urteilskraft Es ist aber sicher, dass Kant seine Kritik der Urteilskraft nicht im politischen Zusammenhang geschrieben hat, sondern im ästhetischen Bezug. Er hat Arendt zufolge die Elemente des Politischen, die in der ästhetischen Urteilskraft impliziert sind, nicht gesehen. 92 Trotzdem sieht Arendt in Kants ästhetischem Geschmacksurteilen die Parallelität zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen. Schönheit sei wie Politisches das Phänomen der öffentlichen Welt, die des Erscheinungsraums bedarf.93 Aus dieser Affinität von Kunst und Politik, also ihrer „Öffentlichkeit und Weltlichkeit“94, rechtfertigt sich für sie eine politische Lesart von Kants ästhetischer Urteilskraft. An einer Stelle, wo sie von der Analogie zwischen dem politischen Handeln und den ausübenden Künsten spricht, führt sie aus, das Handeln bedürfe der Präsenz anderer in einem eben politisch organisierten Raum, wie die ausübenden Künste „für die Entfaltung ihrer Virtuosität auf ein Publikum angewiesen sind“.95 Aber diese Verklammerung zwischen Kunst und Politik impliziert dies keineswegs, Politik mit Kunst gleichzusetzen. Der Bezug zu der kantischen Geschmacksurteilskraft bringt die Tatsache zur Geltung, dass es beim Urteilen um Pluralität geht. In diesem Zusammenhang kann man sagen, dass Arendts Interesse an der Urteilskraft 91 92 93 94 95 BAJ, S.355. Den Grund dafür erläutert Vollrath: „Die Antwort kann – versuchsweise – darauf hinweisen, daß Kant, wie das gesamte politische Denken im deutschen Kulturkreis, das Politische mit dem Staat identifizierte, der Staat wiederum als personales Subjekt auftritt, dessen Subjektivität in einer Vernunftwillensstruktur erblickt wird.“ (Vollrath, 1993, S. 42). In der Tat leitet Kant den Staat aus der Notwendigkeit des Zwangs ab, weil „der Mensch ein Tier, das, wenn er unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat“ (Kant, 1964, § 6). Der Herr, der Staat, wird „die Willkür des individuellen Willens brechen und den Menschen dazu bringen, einem allgemeinen Willen zu gehorchen, unter dem alle werden frei sein können.“ (Weil, 1973, S. 355). Vgl. ZVZ, S. 296f.; in der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant: „Das Schöne (interessierte) nur in der Gesellschaft (…) Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen“ (Kant, KdU, § 41, B 163; vgl. DU, S. 90). ZVZ, S. 298. ZVZ, S. 207. 312 die Verlängerung von Arendts Begriff des politischen Handelns darstellt.96 Das Handeln und das Urteilen haben ihren gemeinsamen Anstoß in der Pluralität von Menschen. Kants Unterscheidung zwischen einer bestimmenden und einer reflektierenden Urteilskraft bietet Arendt den Ansatz der Theorie des politischen Urteilens an, das von der Erfahrung der Welt in ihrer Besonderheit ausgeht. Das moralische Urteilen, wobei Moralgesetz als universale Richtlinie des moralischen Handelns vorgegeben ist, ist für Kant eher bestimmend als reflektierend: „Die bestimmende Urteilskraft hat für sich keine Prinzipien, welche Begriffe von Objekten gründen. Sie ist keine Autonomie; denn sie subsumiert nur unter gegebenen Gesetzen, oder Begriffen, als Prinzipien.“97 Die bestimmende Urteilskraft ist nicht anderes als die Fähigkeit, „die Einzelne richtig und angemessen dem ihm zugehörenden Allgemeinen, über das man einig ist, zuzuordnen.“98 Für das bestimmende Urteil ist es eine Selbstverständlichkeit, dass das Allgemeine höherer Rang ist als das Besondere. Ihm geht es um „die Präsenz des Allgemeinen, das Apriori in der Vernunft“99. Arendt stellt fest: „Es meint einmal das ordnende Subsumieren des Einzelnen und Partikularen unter etwas Allgemeines und Universales, das regelnde Messen mit Maßstäben, an denen sich das Konkrete auszuweisen hat und an denen über es entschieden wird. In allen solchen Urteilen steckt ein Vor–Urteil.“100 In der bestimmenden Urteilskraft ist nach Arendt „eine eigentliche Erfahrung des Gegenwärtigen unmöglich“.101 Das politische Urteilen hingegen ist immer das Urteilen über das Besondere, „ohne den Kodex von Sittenregeln, das heißt Moral, zu urteilen.“102 Es hat „keine anderen Voraussetzungen als die menschliche Fähigkeit der Urteilskraft, die mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren.“103 Aus diesem Grund verknüpft Arendt das politische Urteilen mit Kants Analyse der reflektierenden Urteilskraft, deren spezielle Fähigkeit darin liegt, sich mit dem Besonderen zu befassen. Kant bezeichnet die reflektierende Urteilskraft als „das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“104. Er schreibt: „Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, (...) bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektie- 96 97 98 99 100 101 102 103 104 Vgl. Negt, 1993, S. 67. Kant, KdU, § 69, B 311. WP, S. 22. DTB, S. 570. WP, S. 20. WP, S. 19. ZVZ, S. 125. WP, S. 20. Kant, KdU, B XXVI. 313 rend.“105 Reflektierendes Urteilen kommt weder „durch Deduktion noch durch Induktion zustande“106, weil sie mit Einzelnem oder mit Besonderem zu tun hat. Dies Konzept reflektierender Urteilskraft gibt Arendt die Antwort auf die Frage, wie wir urteilen und handeln können, ohne auf die festen Geländer der Tradition von der konkreten Gemeinschaft angewiesen zu sein. Im politischen Bereich lassen sich Urteile nur im öffentlichen Gespräch zwischen verschiedenen Meinungen gewinnen. Die Pluralität, also die Präsenz der Andern, stellt die Bedingung des Funktionierens der politischen Urteilskraft dar. Die reflektierende Urteilskraft entspricht Arendts Ansicht zufolge dem spezifischen Charakter des politischen Phänomens selbst, das unvorhersehbar und kontingent ist.107 3.4 Die Konzeptionen der politischen Urteilstheorie bei Hannah Arendt 3.4.1 Der Begriff des Gemeinsinns In Arendts Urteilstheorie spielt der Gemeinsinn eine wichtige Rolle. Als Maßstab und Bedingung des Urteilens, nämlich als „die Mutter der Urteilskraft“108, pointiert Arendt den Gemeinsinn stärker als Kant.109 Indem sie den Begriff Gemeinsinn spezifiziert, übernimmt sie den Versuch, einen weltlichen Gemeinsinn zu rekonstruieren, und sie unterstreicht seine spezifisch politische Bedeutung. Bereits in ihren frühen Werken wie RV und EU spricht Arendt vom Leistungsverlust des Gemeinsinns in Neuzeit und Moderne. Sofern sich der Gemeinsinn in Arendts Verständnis auf die Wirklichkeit der Menschen, die Geltung der Urteile und die Möglichkeit der Kommunikation bezieht, führt der Verlust des Gemeinsinns schließlich zur völligen Zerstörung der Urteilskraft selbst. Unter solchen Umständen wird der Gemeinsinn „zu einem inneren Vermögen ohne allen Weltbezug“,110 und damit tritt der Suprasinn der Ideologien an die Stelle des Gemeinsinns. 105 106 107 108 109 110 Kant, KdU, B XXVI; „Allein die reflektierende Urteilskraft soll unter einem Gesetze subsumieren, welches noch nicht gegeben und also in der Tat nur ein Prinzip der Reflexion über Gegenstände ist, für die es uns objektiv gänzlich an einem Gesetze mangelt, oder an einem Begriff vom Objekt, der zum Prinzip für vorkommende Fälle hinreichend wäre.“ (Kant, KdU, § 69, B 312). DD, S. 211. Vgl. Vollrath, 2003, S. 216f. ÜDB, S. 143. Vgl. Kurbacher, 2005, S. 63-78, VA, S. 359. 314 3.4.1.1 Gemeinsinn versus Privatsinn Die politische Implikation des Gemeinsinnes besteht zunächst darin, dass er das menschliche Zusammenleben ermöglicht. Den sensus communis versteht Arendt als „den gemeinschaftlichen Sinn“ in Anlehnung an Kant111 und grenzt vom sensus privatus ab. Also lässt sich der gemeinschaftliche Sinn weder durch ein Vermögen, welches wir alle besitzen, das uns gemeinsam ist, noch durch die Gleichartigkeit des Sinnesapparats begründen. Arendt hält fest: „Gemeinsinn war für Kant nicht ein Sinn, der uns allen gemeinsam ist, sondern genaugenommen jener Sinn, der uns in eine Gemeinschaft mit Anderen einpaßt, uns zu ihren Mitgliedern macht und uns in die Lage versetzt, Dinge, welche unseren fünf privaten Sinnen gegeben sind, zu kommunizieren.“112 In Bezug auf das Prinzip der Pluralität besteht die Bedeutung des Gemeinsinns daher darin, dass man durch den Gemeinsinn die privaten und subjektiven Bedingungen überwinden kann. Der Gemeinsinn setzt sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils hinweg, weil durch ihn alle anderen Sinne, die von sich aus rein subjektiv und privat sind, in eine gemeinsame Welt gefügt und auf eine Mitwelt zugeschnitten werden.113 Aber das bedeutet keineswegs, dass der Gemeinsinn den Privatsinn völlig ausschließt.114 Der Privatsinn ist notwendig perspektivisch. Trotzdem gibt es etwas Nicht-Subjektives in dem, was scheinbar der privateste und subjektivste Sinn ist. Jedes Urteilen habe einen Bestimmungsgrund, „der nicht anders als subjektiv sein kann und doch unabhängig bleiben muß von allen direkten subjektiven Interessen. Das Urteil entspringt hier der Subjektivität eines Standortes in der Welt, aber es beruft sich gleichzeitig darauf, daß diese Welt, in der jeder einen nur ihm eigenen Standort hat, eine objektive Gegebenheit ist, etwas, das uns allen gemeinsam ist.“115 Bei jedem gemeinsinnigen Urteilen lassen sich so- 111 112 113 114 115 „Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes anderen versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert“ (Kant, KdU, § 40, B 159; vgl. DU, S. 94). ÜDB, S. 140; „Indem Kant aber nun den lateinischen Begriff gebraucht, deutet er an, daß er hier etwas anderes meint: einen Sondersinn, der uns in eine Gemeinschaft einfügt“ (DU, S. 94). „Denn nur ihm (dem Gemeinsinn: H. P.) verdanken wir es, daß unsere privaten und subjektiven fünf Sinne und ihre Sinnesdaten in eine nicht subjektive, objektiv–gemeinsame Welt eingepaßt sind, die wir mit anderen teilen und beurteilen können.“ (ZVZ, S. 299). „Auch wenn ich Andere beim Urteilen berücksichtige, heißt das nicht, daß ich in meinem Urteil mit dem ihren übereinstimme. Ich spreche immer noch mit meiner eigenen Stimme und zähle nicht Stimmen ab, um zu dem zu kommen, was ich für richtig halte. Aber mein Urteil ist auch nicht mehr in dem Sinne subjektiv, daß ich zu meinen Schlußfolgerungen nur komme, indem ich mich selbst berücksichtige.“ (ÜDB, S. 142). ZVZ, S. 300. 315 wohl das Subjektive als auch das Objektive verschränken.116 Anders gesagt bewegt sich das gemeinsinnige Urteil im Medium von Pluralität und Individualität. Im sensus communis sieht Arendt die Grundlage der Wirklichkeit und der Weltlichkeit. Über die Überwindung des subjektiven Privatsinns hinaus besteht die politische Qualität des Gemeinsinns in seiner weltbildenden Fähigkeit, also in seiner „Weltorientierung“.117 Der Gemeinsinn selbst ist also Orientierungsorgan in der Welt. Das Urteilen entzündet sich nur an der Wirklichkeit, die in der Faktizität des Bezugsgewebes der menschlichen Angelegenheiten gegründet wird. Indem der Gemeinsinn „unsere anderen fünf Sinne und die radikale Subjektivität des sinnlich Gegebenen in ein objektiv Gemeinsames und darum eben Wirkliches fügt“,118 ermöglicht er den Zugang zur wirklichen Welt. Der Gemeinsinn ermöglicht, dass wir die gemeinsame Welt mit anderen teilen. Ohne die gemeinsame Welt gibt es keinen Gemeinsinn.119 Dass man im Gemeinsinn urteilt, bedeutet, wie Arendt selbst dazu sagt, dass der Urteilende als Mitglied einer Gemeinschaft ist. 120 In diesem Zusammenhang bezeichnet Arendt den Gemeinsinn als den „Weltsinn“121 oder „den gemeinschaftlichen Sinn“.122 Der Verlust der gemeinsamen Welt hängt daher mit dem Verlust des Gemeinsinns zusammen und schließlich führt zur Zerstörung der Urteilskraft.123 Arendts Akzentuierung auf den Gemeinsinn als den gemeinschaftlichen Sinn darf nicht als ein Absehen der persönlichen Existenz verstanden werden. 124 Durch den Gemeinsinn wird der Mensch erst menschlich, weil die sprachliche Verständigung in der Bedingung des Gemeinsinns stattfinden kann. „Der sensus communis ist der spezifisch menschliche Sinn, weil die Kommunikation, d.h. die Sprache, von ihm abhängt.“125 Mit der Bedingung des Gemeinsinns können wir zugleich das uns eigne Persönliche herausbilden. Arendt sagt: „Was sich hier gemäß dem Urteilen über eine gemeinsame Welt mitentscheidet, (...) ist ein So – und – nicht anders – Sein des Persönlichen, das in dem Maß an Gültigkeit gewinnt, als es sich von dem nur individuellen 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 Vgl. ZVZ, S. 299f.; DU, S. 90; „Das nichtsubjektive Elemente bei den nichtobjektiven Sinnen“ definiert Arendt als „Intersubjektivität“ (DU, S. 91). Vgl. ZVZ, S. 299; vgl. Kleger, 1990, S. 207ff. VA, S. 264f. Vgl. BAM, S. 75. „Wenn man urteilt, urteilt man als ein Mitglied einer Gemeinschaft. Das liegt an der Natur der Urteilskraft.“ (DU, S. 97). ZVZ, S. 299. DU, S. 94. Aus diesem Grund verbindet Arendt den Gemeinsinn mit der Humanität des Menschen; vgl. ZVZ, S. 301: „wenn wir den Sinn verloren haben, durch den unsere fünf animalischen Sinne sich einer Menschenwelt fügen, die uns allen gemeinsam ist, so bleibt vom menschlichen Wesen in der Tat nicht mehr viel mehr übrig als die Zugehörigkeit zu einer Tiergattung, die sich von anderen Tiergattungen nur dadurch auszeichnet, daß sie es vermag, Schlussfolgerungen zu ziehen.“ (VA, S. 360). Vgl. DW, S. 224, auch DU, S. 94; Kant, KdU, § 40, B 157. DU, S. 94 und auch DW, S. 221. 316 Indiosynkratischen entfernt.“126 Ohne Gemeinsinn und ohne Kommunikation „als Weisen des Miteinander wäre für Menschen weder die Realität der Außenwelt noch die ihrer eigenen Identität je wirklich vorhanden.“127 3.4.1.2 Der Gemeinsinn und die Gültigkeit des Urteilens Zu der Idee eines sensus communis kommt Kant im Hinblick auf die Frage nach der Gültigkeit von Geschmacksurteilen. Der sensus communis, an den unsere Urteilskraft appelliert, ist auch bei Hannah Arendt nicht nur die Bedingung des Urteilens, sondern derjenige, der „den Urteilen ihre spezifische Gültigkeit gibt“.128 Das Urteilen kann seine Gültigkeit nur auf der Basis des Gemeinsinnes erlangen. Die Kommunikation zwischen allen Beteiligten entsteht aus dem „Anspruch auf subjektive Allgemeinheit“129 der Urteile. Im politischen Bereich kann man nicht mit Hilfe von universellen oder traditionellen geschlossenen Maßstäben urteilen und handeln.130 Im Bereich des politischen Urteils kann man um die Übereinstimmung mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft nur werben, aber sie nicht erzwingen. Anders gesagt kann die Gültigkeit des Urteilens weder aus den konventionellen Normen noch aus der Autonomie des Individuums abgeleitet werden. Arendt beharrt darauf: „Auf dieser erweiterten Denkungsart beruht die Urteilskraft, aus ihr schöpft das Urteilen seine eigentliche Kraft der Gültigkeit (...). Was die Präsenz des Selbst für die formale Widerspruchslosigkeit der Logik und die nicht weniger formale Widerspruchslosigkeit der Gewissensethik ist, ist die Präsenz der anderen für das Urteilen. Ihm kommt daher eine gewisse konkrete Allgemeingültigkeit zu, aber niemals eine universale Gültigkeit überhaupt. Der Anspruch auf Geltung kann nie weiter reichen als die anderen, an deren Stelle mitgedacht wird.“131 Der Gemeinsinn ist die Bedingung für die allgemeine Mitteilbarkeit eines Urteilens, durch die sich die subjektiven Bezüge jedes Urteilens überwinden lassen. „Mitteilbarkeit hängt offensichtlich von der erweiterten Denkungsart ab; man kann nur dann kommunizieren, wenn man fähig ist, vom Standpunkt einer anderen Person aus zu denken; anderenfalls wird man sie niemals 126 127 128 129 130 131 ZVZ, S. 301. VA, S. 264. DU, S. 96; daher wirbt man, wie Kant bemerkt, „um jedes andern Beistimmung, weil man dazu einen Grund hat, der allen gemein ist.“ (Kant, KdU, § 19, B 64). Kant, KdU, § 6, B 19. „Die Geltung dieser Urteile ist niemals die gleiche wie die von Erkenntnis- oder wissenschaftlichen Aussagen, die genaugenommen keine Urteile sind.“ (DU, S. 96). ZVZ, S. 298f.; vgl. DW, S. 219. 317 erreichen, niemals so sprechen, daß sie einen versteht.“132 In Kants Sinne enthält das Urteilen immer eine Verpflichtung in sich, mein Urteil mitzuteilen; d.h. das Urteil will sich im Austauschprozess seiner selbst vergewissern bzw. andere überzeugen. Im Hinblick auf diese Mitteilbarkeit unterscheiden sich die politischen Urteile von den moralischen Urteilen, die von der praktischen Vernunft diktiert wird. Die Mitteilung des Urteilens hat mit der Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft zu tun.133 Arendt stellt fest: „Sie (moralische Urteile: H. P.) mögen mitgeteilt werden, aber diese Mitteilung ist sekundär; selbst wenn sie nicht mitgeteilt werden könnten, blieben sie gültig.“134 Im Unterschied zum moralischen Urteilen liegt der Grund des Geltungsanspruchs eines Urteils nur darin, dass es veröffentlicht werden könnte. Die Gültigkeit des Urteilens wird durch ein Gefühl der Billigung beurteilt, dessen Kriterium wiederum die Mitteilbarkeit ist, die sie dem Gemeinsinn verdankt. Daraus entsteht eine wichtige Konsequenz für das Politische. Der Begriff der Mitteilbarkeit hat eine konstitutive Funktion für die Eröffnung einer gemeinsam geteilten Welt, weil das Kriterium der Mitteilbarkeit einen Bereich voraussetzt, in dem die wirklichen Meinungen und Urteile sprachlich kommunizierbar und mitteilbar sein können. Mitteilbarkeit lässt sich durch die Freiheit des Miteinanderredens begründen. Die Möglichkeit der Mitteilung setzt einen intakten öffentlichen Raum voraus, in dem die Menschen miteinander reden. 3.4.1.3 Der moderne Verlust des Gemeinsinnes Der arendtsche Gemeinsinn ist ganz im Gegensatz zum traditionellen Gemeinsinn unabhängig von der geschlossenen Sittlichkeit der konkreten Gemeinschaft. So hängt der Gemeinsinn für Arendt wie für Kant von der reflexiven Fähigkeit des Menschen ab. Der Gemeinsinn ist Kants Ansicht zufolge die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Einbildungskraft und unseres Verstandes, und kein Ausdruck einer bestimmten Erkenntnis.135 In Kants Theorie des Gemeinsinnes genügt es sogar, sich an „mögliche Urteile“136 anderer zu halten, so dass die Urteilskraft auch dann noch funktioniert, wenn keine anderen mehr anwesend sind, auf deren Vorstellungsart der Urteilende Rücksicht nehmen kann.137 Also bildet sich Gemeinsinn durch eine „Operation der 132 133 134 135 136 137 DU, S. 98. Spinoza, der an die Unfehlbarkeit der menschlichen Vernunft glaubte, sagt ausdrücklich, „daß es ein allgemein menschlicher Fehler sei, seine Gedanken auch anderen mitteilen zu wollen.“ (ZVZ, S. 334). DU, S. 94. Vgl. Kant, KdU, § 9, B 32; Einbildungskraft ist „ein Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ (Kant, 1974a, B 151; vgl. DU, S. 104). Kant, KdU, § 40, B 157; dieses reflexive Urteilen widersteht dem alten Vorurteil, „daß man nicht urteilen kann, wenn man nicht dabeigewesen ist“ (EJ, S. 23). Vgl. Kant, KdU, § 40, B 157. 318 Reflexion“.138 Die Operation der Reflexion macht „unser Gefühl (gleich Empfindung) an einer gegebenen Vorstellung (nicht Wahrnehmung) ohne Vermittlung eines Begriff allgemein mitteilbar“.139 Im kritischen Blick auf das Verhältnis zwischen Reflexion und Gemeinsinn bezeichnet Gadamer Kant als den Täter, der in entscheidender Weise den Bedeutungsbereich des Gemeinsinnsbegriffs nur auf die Subjektivität des Subjekts einschränkt und damit seine eigentlich politischen Aspekte vernichtet. 140 Für ihn gehört die Urteilskraft eigentlich in die „politisch-gesellschaftliche Überlieferung des Humanismus“.141 Aber durch die problematische ästhetische Wende des Gemeinsinnbegriffs subjektiviere Kant die Urteilskraft, indem er den Gemeinsinn auf ästhetische Leistungen beschränkte.142 Auf ähnlicher Weise wird Arendt von manchen Kritikern vorgeworfen. Brunkhorst beispielsweise vertritt die kritische Ansicht, dass Arendt mit Kant den Begriff des Gemeinsinns entpolitisiere.143 Die erweiterte Denkungsart sei eine Art der Erweiterung monologischer Vernunft. Wie Kant führe Arendt zur „Privatisierung der Urteilskraft“ oder zur „Subjektivierung der Urteilskraft“. 144 Beiner weist auch in seiner kritischen Anmerkung darauf hin, dass die transzendentale Deduktion des Gemeinsinns auf eine unvermeidliche „Ästhetisierung der Politik“145 hinausläuft. Der entpolitisierte Gemeinsinn sei nichts anderes als die transzendentale Form ohne Inhalt. Der Kernpunkt dieses Einwandes besteht darin, wie Habermas meint, dass Arendt den Charakter des Gemeinsinnes nicht beim realen Dialog findet, indem sie wie Kant den Gemeinsinn als die Denkungsart in der subjektiven Reflexion bezeichnet und damit jeden argumentativen, kognitiven Status des Gemeinsinnes ablehnt.146 Der Arendtsche Gemeinsinn richte sich nicht „auf die 138 139 140 141 142 143 144 145 146 Kant, KdU, § 40, B 157. Kant, KdU, § 40, B 160; vgl. DU, S. 96. Vgl. Kurbacher, 2005, S. 78-90; Hammermeister, 1999, S. 35-39. Gadamer, 1965, S. 38. Gadamer, 1965, S. 27ff.; Ottmann vertritt die ähnliche Auffassung: „Bei Kant verbirgt sich darin kein Appell an irgendeine konkrete Gemeinschaft. Bei Kant wird damit appelliert an die Menschheitsvernunft überhaupt. Die transzendentale Vernunft, die immer schon bei sich ist, erweitert sich durch Ausdehnung ihrer selbst. Ein stummer Denker denkt sich hier etwas für alle. Ein monologisches Denken phantasiert sich ins Allgemeine. Kants Lehre von der Urteilskraft ist – politisch gewendet – eine Pseudo-Erweiterung monologischer Vernunft.“ (Ottmann, 1991, S. 336). Brunkhorst, 1991, S. 109. Brunkhorst, 1991, S. 109f.; vgl. Ptassek/Sandkaulen-Bock/Wagner/Zenkert, 1992, S. 137. Beiner, 1985, S. 175; „Kant bietet (…) eine höchst formale Darstellung des Urteilens. Sie kann insofern akzeptiert werden, als das, was gesucht wird, eine transzendentale Deduktion des Geschmacksvermögens ist“ (174f.). Vgl. Habermas, 1981b, S. 248; im Gegensatz zur subjektiven Reflexion betont Habermas den Begriff der kommunikativen Reflexion: „Die kommunikative Alltagspraxis ist in sich gleichsam reflektiert. Freilich ist Reflexion nicht mehr eine Sache des Erkenntnissubjekts, das sich objektivierend auf sich bezieht. An die Stelle dieser vorsprachlich-einsamen Reflexion tritt die ins kommunikative Handeln eingebaute Schichtung von Diskurs und Handeln.“ (Habermas, 1998c, S. 375). In Anlehnung an Habermas kritisiert Wellmer an Arendt, dass sie das Politische ästhetisiert, indem sie Politik in einen Gegensatz zu kommunikativen Diskursen bringt (Wellmer, 1996, S. 33-52). 319 empirisch vorfindbaren Meinungen, sondern wird nur in Gedanken – a priori – vollzogen“.147 So konkludiert Beiner, das Ziel der Arendtschen Umwandlung der ästhetischen Urteilstheorie von Kant sei nicht mehr eine Theorie des politischen Urteils.148 Aber dieser Einwand ist zu bezweifeln, weil die erweiterte Denkungsart keine logische innere Reflexion ist, sondern das, „was andere denken und meinen, mit zu berücksichtigen“.149 Der Gemeinsinn ist das Resultat dieser Berücksichtigung. Das Prinzip der erweiterten Denkungsart fordert eine Kommunikation mit allen Beteiligten. 150 Die erweiterte Denkungsfähigkeit lässt sich ohne die öffentliche Kommunikation und ohne Meinungsaustausch nicht entfalten. 151 Arendt hält fest, „daß mein Urteil in einem bestimmten Fall nicht nur von meiner Wahrnehmung abhängt, sondern davon, daß ich mir etwas repräsentiere (…), was ich nicht wahrnehme.“152 Der reflektierende und repräsentiere Charakter der politischen Urteilskraft ist also, wie Vollrath meint, „nicht auto-reflexiv tätig, sondern im bildenden Projekt eines pluralen und mundanen Horizontes der Gemeinsamkeit einer Menge von Menschen.“153 Der nicht-autoreflexive weltliche Gemeinsinn steht „nicht nur im Gegensatz zum advokatorischen, sondern auch zum rein logischen Denken“154. Das Vorgehen des reflektierenden Urteilens ist keine theoretische weltlose Reflexion, sondern muss vielmehr als ein Prozess verstanden werden, der „in einer beständigen Überprüfung und Veränderung der vorliegenden gemeinschaftlich geteilten Verständnisse besteht“.155 Dieser Charakter des Gemeinsinns ist durch Arendts Kritik an dem neuzeitlichen Ersatz der inneren Reflexion für den weltlichen Gemeinsinn gekennzeichnet. Der Gemeinsinn wird in der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie zu einem inneren Vermögen ohne jeglichen Weltbezug. Dabei geht es um die Verselbständigung des Ichs, das als unabhängig von der Außenwelt verstanden wird. Der Gemeinsinn, der sich in ihm kundgab, „war nun nicht mehr die dem Gemeinsinn zugängliche Gemeinsamkeit einer Außenwelt, sondern lediglich die Tatsache, daß er als Räsonnement in allen Menschen gleich funktionierte; was die Menschen des gesunden Menschenverstands miteinander gemein haben, ist keine Welt, sondern lediglich eine Verstandesstruktur, die sie zudem genaugenommen gar nicht gemein haben können, es kann sich 147 148 149 150 151 152 153 154 155 Opstaele, 1999, S. 150. Beiner, 1985, S. 175; dort weist er darauf hin, dass Arendt für eine Konzeption des politischen Urteilens besser mit der aristotelischen phronesis beraten gewesen wäre. ZVZ, S. 342. Vgl. Kant, KdU, § 6, B 19; vgl. Magiera, 2004, S. 457f. Vgl. Kristeva, 2001, S. 357. ÜDB, S. 141f. Vollrath, 1996a, S. 244. BAJ, S. 196. Zum Verhältnis von Gemeinsinn und Reflexion siehe Menke, 2002, S. 81f., hier S. 82. 320 höchstens herausstellen, daß sie in jedem Exemplar der Gattung des Menschengeschlechts gleich funktioniert.“156 Die Selbstreflexion bedeutet die Rückwendung des Menschen auf sich selbst. Wie Arendt betont, wurzelt die Anfälligkeit für Totalitarismus im auf sich selbst zurückgeworfenen Individuum, das den Gemeinsinn als einen gemeinschaftlichen Sinn verloren hat. 157 Mit anderen Worte: Die Selbstreflexion entspricht dem „logischen Eigensinn“ 158 . Schon im frühen Werk RV weist Arendt gerade auf das Problem dieser neuzeitlichen Subjektivierung des Gemeinsinns hin. Das Zurückziehen in die Reflexion der Innerlichkeit bezeichnet Arendt als das spezifische Kennzeichen der Moderne. Im neu einsetzenden Paradigma der Selbstreflexion wird der Gemeinsinn zu einem inneren Vermögen ohne allen Weltbezug degradiert: „Schlägt das Denken in sich selbst zurück und findet an der eigenen Seele seinen einzigen Gegenstand, wird es zur Reflexion, so erzwingt es allerdings, sofern es vernünftig bleibt, einen Schein unbegrenzter Macht, indem es sich eben von der Welt isoliert, an ihr sich desinteressiert, sich schützend vor den eigenen interessanten Gegenstand stellt: das eigene Innere. In der durch Reflexion geleisteten Isoliertheit wird es unbegrenzt, weil kein Außen es mehr behelligt; weil kein Handeln mehr verlangt wird, dessen Konsequenzen auch den Freiesten anschränken (…). Die Wirklichkeit kann nichts Neues bringen, die Reflexion hat immer schon alles vorweggenommen.“159 Bei Selbstreflexion in dem bewusstphilosophischen Sinne stellt die Vernunft vor allem die Fähigkeit der logischen Schlussfolgerung dar. Vor allem in ihrer Ideologiekritik stellt Arendt fest, dass wir schnell geneigt sind, „das logische Schlussfolgern als Ersatz zu akzeptieren“160, wo immer uns der Gemeinsinn bei unserem Urteilen im Stich lässt. „Der katastrophale Schwund an Urteilskraft, der sich in der modernen Welt überall zeigt, begann deutlich mit einem Misstrauen gegen Urteile und der Hoffnung, durch logisches Folgern Urteilen überflüssig zu machen.“161 Im Briefwechsel mit Mary McCarthy spricht Arendt von der neuzeitlichen Verwandlung von Common Sens in logische Schlussfolgerung.162 Der gesunde Menschenverstand wird in der mo- 156 157 158 159 160 161 162 VA, S. 359. „Nichts erwies sich leichter zerstörbar als die Privatmoral von Leuten, die einzig an die ununterbrochene Normalität ihres privaten Lebens dachten, nichts konnte leichter gleichgeschaltet, öffentlich uniformiert werden als dieses Privatleben“ (EU, S. 723). DU, S. 86. RV, S. 21. ZVZ, S. 121. ZVZ, S. 68. BAM, S. 74. 321 dernen Philosophie zum „reckoning with consequences“ 163 umgedeutet. „Die Umdeutung des Common sense begann, als angenommen wurde, daß er nicht ein Sinn ist, der die gemeinsame Welt konstituiert, sondern ein Vermögen, welches wir alle besitzen, das uns gemeinsam ist. Dies Vermögen ist das logische Vermögen, die Tatsache, daß wir alle einstimmig sagen werden (…). Aber dieses Vermögen (…) ist vollkommen unfähig, uns durch die Welt zu geleiten oder überhaupt irgendetwas zu erfassen.“164 Damit beginnt das Phänomen der neuzeitlichen Weltentfremdung als „Flucht aus der Welt in das Selbstbewusstsein“.165 Arendt hält fest: „Die Weltlosigkeit, die mit der Neuzeit einsetzt, ist in der Tat ohnegleichen. Was in ihr an die Stelle der Welt getreten ist, ist das nur der Selbstreflexion zugängliche Bewußtsein, in dessen Felde die höchste Tätigkeit das Formelspiel des Verstandes ist“.166 3.4.2 Die politische Form der Kommunikation: Überreden Wenn das Kriterium des Urteils seine Mitteilbarkeit ist, muss man nach der spezifisch sprachlichen Form dieser Mitteilung fragen. Aufgrund dieser Frage führt Arendt Überreden oder Überzeugen als den politischen Modus der sprachlichen Kommunikation des Urteilens vor. Die Urteilskraft bedarf der kommunikativen Vergewisserung „durch das Miteinanderreden und das gegenseitige Sich-Überzeugen.“167 In der Form der Überredung erkennt Arendt den Zusammenhang von Urteilen und Rhetorik.168 Der politische Diskurs gilt im wesentlich „als ein Mittel des Überredens und des Überzeugens“.169 Die Überredung ist „die spezifisch politische Form der Rede“170, weil sie die Existenz der anderen und die Erweiterung und Pluralität ihrer Perspektiven voraussetzt. Das Überreden beruht daher darauf, „daß der Überzeugte vorher eine andere Meinung gehabt hat.“171 Die Form der Überzeugung ist möglich nur da, wo sich die Bildung der individuellen Meinungen und Urteile garantiert. Anders gesagt gründet sich die Überzeugung auf Anerkennung des anderen Urteilens und Meinens. Dass wir die anderen überzeugen wollen, „unserem reflexiven Urteil zuzustimmen“, wie Richard Howard sagt, „bedeutet gleichzeitig, daß wir sie als unabhängige, von 163 164 165 166 167 168 169 170 171 BAM, S. 74; diese modere Argumentation findet man bei Hobbes: „(...) können wir definieren, das heißt bestimmen, was mit dem Wort Vernunft gemeint ist, wenn wir sie zu den Fähigkeiten des Geistes rechnen. Denn Vernunft in diesem Sinne ist nichts anderes als Rechnen.“ (Hobbes, LV, S. 32). BAM, S. 75. VA, S. 15. VA, S. 408. WP, S. 39. Vgl. ZVZ, S. 300. VA, S. 36. PP, S. 381. EU, S. 669. 322 uns verschiedene Individuen anerkennen“172. Niemand kann andere öffentlich von der eigenen Sichtweise überzeugen, ohne sich in den Standpunkt anderer Beteiligten hineinzuversetzen, um deren Zustimmung man wirbt. 3.4.2.1 Die Form des Gültigkeitsanspruchs des politischen Urteilens Der Gültigkeitsanspruch des politischen Urteilens findet in der Form des Überredens statt. Der politische Charakter der Überredung, also die Garantie der Pluralität, beruht darauf, dass sie niemanden zwingen kann. Beim Geschmacksurteil geht es um Werben der Beistimmung. 173 Politisch gesagt ist dieses Werben nichts anders als Überreden, „welches der Polis als die hervorragende Art und Weise des politischen Miteinandersprechens galt“. 174 Darin findet Arendt eine Affinität zwischen dem Geschmacksurteil und dem politischen Urteil.175 Das Geurteilte hat nach Arendts Ansicht niemals Zwangscharakter, so niemals den Anderen im Sinne eines logisch unausweichlichen Schlusses zur Beistimmung zwingen, sondern nur überzeugen kann.176 Der Nicht-Zwangscharakter der Überredung widerspricht der Verwendung der Gewalt einerseits und dem absoluten Geltungsanspruch der Wahrheit anderseits. Zuerst ist die Überzeugung im praktischen Sinne gewaltlos. Da Überreden „Gleichheit voraussetzt und mit Argumenten arbeitet“177, lässt sich die Ordnung der Überzeugung nur in der Gemeinschaft der Gleichen und Freien bilden. Überreden bedeutet also Verzicht auf Gewalt. Damit wendet sich Arendt der griechischen Auffassung zu. Die griechische Polis beruht nicht auf der physischen Gewalt, sondern auf dem gegenseitigen Sich – Überzeugen, das die eigentliche Art des Miteinandersprechens über etwas ist: „Politisch zu sein, in einer Polis zu leben, das heißt, daß alle Angelegenheiten vermittels der Worte, die überzeugen können, geregelt werden und nicht durch Zwang oder Gewalt. Andere durch Gewalt zu zwingen, zu befehlen statt zu überzeugen, galt den Griechen als eine gleichsam präpolitische Art des Menschenumgangs.“178 Wenn uns Thukydides als Augenzeuge zur Verfügung steht, habe man in Polis die zum Tode Verurteilten nicht einfach hingerichtet, sondern überredet, den Schierlingsbecher selbst an die Lippen zu setzen.179 172 173 174 175 176 177 178 179 Howard, 1995, S. 77. Vgl. Kant, KdU, § 19, B 63. ZVZ, S. 300. Vgl. ZVZ, S. 300. Vgl. WP, S. 22. ZVZ, S. 159. VA, S. 36f.; vgl. auch WP, S. 93; Christian Meier weist auf dieses griechische Verständnis hin: „Das Überzeugen stellte die friedliche Lösung dar, die politische, und war deshalb allemal dem gewaltsamen Austrag vorzuziehen. Voraussetzung war, daß man die Bürger in ihrer Gegenwärtigkeit für voll nahm. Eben das gehört zum Politischen der Griechen“ (Meier, 1983, S. 196). Vgl. ÜR, S. 11. 323 Arendt grenzt Überreden nicht nur gegen Gewalt ab, sondern auch gegen Wahrheitsfindung. In Bezug auf den zwingenden Geltungsanspruch hat eine absolute Wahrheit die Affinität mit dem Zwangscharakter der Gewalt. Die Wahrheit sei das, „was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt“. 180 Der Zwang der universalen Wahrheit ist unpolitisch, weil „jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik“ legt.181 So wird die Gültigkeit der Wahrheit durch Übereinkunft, Diskussion oder Zustimmung weder gestärkt noch erschüttert. Arendt stellt fest: „Jede Wahrheit erhebt den Anspruch zwingender Gültigkeit, und die so offensichtlich tyrannischen Neigungen professioneller Wahrheitssager mögen weniger angeborener Rechthaberei als der Gewohnheit geschuldet sein, ständig unter einem Zwang, dem Zwang der erkannten oder vermeintlich erkannten Wahrheit zu leben.“182 Anders gesagt wird für den Gültigkeitsanspruch der Wahrheit die menschliche Pluralität überflüssig. Die Überredung ist kein Mittel zur Mitteilung der Wahrheit. Das ist der Grund dafür, dass Plato im Gorgias die sophistische Überredungskunst für methodisch unzugänglich hält. 183 Wie wir schon bei der Thematisierung der Tradition politischer Philosophie gesehen haben, lehnt Plato anhand des Todes Sokrates‟ die Überzeugung im politischen Bereich ab. Während Plato an der Tauglichkeit der Überredung aufgrund philosophischer Wahrheit zweifelt, findet Arendt im Überreden eine große politische Bedeutung. In politischen Angelegenheiten geht es ihr nicht um einen zwingenden Wahrheitsbeweis, sondern um die in öffentlicher Debatte durch Argumente gebildete Meinung. Allerdings müsse beim diskursiven Argumentieren zum Überreden Rechenschaft abgelegt werden, „wie und aus welchen Gründen man zu einer Meinung kam.“ 184 Der Geltungsanspruch des Urteilens beruht „ebenfalls auf einer Überzeugung durch Argumente, nur eben nicht auf universell, unbestreitbar und unwiderruflich wahren Argumenten nach dem Muster der von ihr kritisierten Wahrheitsbegriffe.“185 Aber aus dieser Trennung von Überzeugung und Wahrheit ist die Frage gestellt, woher die Überzeugungskraft einer Argumentation kommt, die mit der Rationalität des politischen Urteilens zu tun hat. 180 181 182 183 184 185 ZVZ, S. 370. ZVZ, S. 333. ZVZ, S. 340. Vgl. Plato, Gorgias 463 b. DU, S. 58; vgl. ZVZ, S. 159f. und 349f. Schäfer, S. 96. 324 3.4.2.2 Die Überzeugungskraft und die Rationalität des politischen Urteilens Hier stellt sich die Frage, worauf die Überzeugungskraft eines Urteils beruht, wenn es „kein Erkenntnisurteil (ist), mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.“ 186 Arendt spricht von der „Überzeugungskraft“187, die Meinungen innewohnt. Die Meinung sei von Natur aus überzeugend und argumentativ. Und der Vorgang der Überzeugung durch die Meinung ist der Prozess des diskursiven Meinungsstreits. Im Lauf des diskursiven Meinungsaustausches gewinnt ein Urteil die Überzeugungskraft, die sich auf das politische Vermögen bezieht, „eine Sache von den verschiedensten Seiten und von den verschiedensten Interessen rundherum verstehen zu können.“188 So wird die Überzeugungskraft der Meinung durch die Anzahl derer, die mit ihr einstimmig sind, gestärkt. Je mehr Leute sich an der Meinungsbildung beteiligen, desto besser und überzeugender ist die Meinung.189 In Anlehnung an Madison hält Arendt fest, die Überzeugungskraft der Meinung sei „von der Zahl derer bestimmt, von denen man annimmt, daß sie die gleichen Meinungen hegen.“190 Aber die Zustimmung der Vielen ist nicht unbedingt identisch mit dem Konsens Aller. Sie vollzieht sich in der menschlichen unendlichen Pluralität. Darauf weist Klaus Held zutreffend hin: „Der Meinungsstreit bei einer Beratung solcher Art ist dadurch bedingt, daß sich die Unbekanntheit der künftigen Handlungsfolgen nicht beseitigen läßt. Deshalb darf kein Beteiligter für seine Meinung die endgültige Wahrheit in Anspruch nehmen. Trotzdem ist es denkbar, daß treffendere und weniger treffende Urteile über die Situation gefällt werden. Um ein Urteil zu fällen, das von den anderen Beteiligten als treffend anerkannt werden kann, muß man bei der eigenen Meinungsbildung eben darauf Rücksicht nehmen, daß die Beurteilung der Situation unvermeidlich umstritten ist. Der Umstrittenheit Rechnung tragen heißt: der eigenen Meinung eine Gestalt geben, durch die sie eine Chance hat, allen anderen, die möglicherweise eine andere Meinung haben, akzeptabel zu erscheinen. Treffend über Handlungsmöglichkeiten urteilen kann nur, wer die Bereitschaft aufbringt, nicht nur auf die Stimme seiner eigenen Ansicht zu hören, sondern seine Stimme beim Meinungsstreit auf die möglichen Gegenstimmen abzustimmen.“191 186 187 188 189 190 191 Über das Geschmacksurteil spricht Kant: „Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch“ (Kant, KdU, § 1, B 4). ZVZ, S. 346. Arendt, 1986, S. 236. „Je größer schließlich der Bereich derjenigen ist, mit denen man kommunizieren kann, um so größer ist der Wert des Gegenstandes.“ (DU, S. 99). ZVZ, S. 335; vgl. DU, S. 55. Held, 1993, S. 404; Arendt stellt fest: „Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, in dem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mit repräsentiere. Dieser Vergegenwärtigungsprozeß akzeptiert nicht blind bestimmte, mir bekannte, 325 Die Überzeugungskraft des Urteilens entspricht eigentlich seiner Rationalität. Arendts Urteilslehre verschafft sich Zugang zur Rationalitätsproblematik für das politische Handeln und Urteilen. Im Hinblick auf die Urteilskraft rekonstruiert Arendt die Geltungsbasis der Rede und Urteile, indem sie nach dem vernünftigen Ursprung von Urteilen und Handeln sucht.192 Die Urteilskraft war Arendts Sicht zufolge als eine der „politisch ausschlaggebenden rationalen Vermögen des Menschen in der Tradition philosophischen wie politischen Denkens kaum beachtet worden“, obwohl sie zweifellos zu einem der „Obliegenheiten der Vernunft“ gehört.193 Bei Arendt hat die Rationalität des politischen Urteilens zu tun nichts mit der Fähigkeit der Vernunft, die Wahrheit zu erkennen, noch mit Folgen zu rechnen. Arendt lehnt die traditionelle Auffassung der Vernunft als „Organ für das Vernehmen der Wahrheit“194 ab. Die Rationalität des Politischen beruht für Arendt nicht auf dem metaphysischen Gedanken, „daß es eine objektive und universal gültige Wahrheit in politischen Dingen gibt, daß der menschliche Verstand (…) diese Wahrheit erfassen kann und daß diese in den wechselnden Gestalten aufeinanderfolgender historischer Perioden verkörpert wird.“195 Darüber hinaus lehnt Arendt die neuzeitliche Auffassung der politischen Rationalität ab, dass die Rationalität des politischen Handelns in der logischen Schlussfolgerung oder in der Selbstbestimmung der Vernunft oder in der Zwecksetzung begründet wird. Nach Arendt führt die in sich stimmige logische Vernünftigkeit zur radikalen Trennung der „geistig-intellektuellen Fähigkeiten des Menschen von aller direkten Welt- und Wirklichkeitserfassung“.196 Für Arendt ist die politische Rationalität nicht an die selbst-gebundene Vernunft, sondern an das Vermögen, an der Stelle jedes andern zu denken. Dieses Vermögen bildet das Band zwischen Menschen. Vollrath hält fest: „Die Verschiedenheit und Andersheit pluraler Meinungen ist ein wesentliches Moment in der Rationalitätsstruktur des Politischen.“197 Für Arendt ist das Problem der politischen Rationalität die Frage: „Wie erlange ich Legitimität für meinen Anspruch, ohne die Bedingungen der Möglichkeiten des Handelns überhaupt zu ver- 192 193 194 195 196 197 von anderen vertretene Ansichten (…). Je mehr solcher Standorte ich in meinen Überlegungen in Rechnung stellen kann, und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto ausgebildeter ist dieses Vermögen der Einsicht, und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein.“ (DU, S. 137). Vollrath zufolge versucht Arendt auf die Urteilskraft die Rationalität des Politischen zu gründen (Vollrath, 2003, S. 216). ÜR, S. 295. ZVZ, S. 341. Morgenthau, 1963, S. 9; zit. nach Narr, 1971, S. 86. ZVZ, S. 67; bekanntlich übernimmt Habermas einen Rationalitätsbegriff aus Arendts Konzept des Handelns, also die kommunikativen Rationalität. „Der Begriff kommunikativer Rationalität führt Konnotationen mit sich, die letztlich zurückgehen auf die zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunächst nur subjektiven Auffassungen überwinden und sich dank der Gemeinsamkeit vernünftig motivierter Überzeugungen gleichzeitig der Einheit der objektiven Welt und der Intersubjektivität ihres Lebenszusammenhangs vergewissern.“ (Habermas, 1984, S. 605). Vollrath, 1993, S. 49. 326 letzten: Pluralität?“198 Das Spezifikum des politischen Handelns ergibt sich daraus, dass Politik mit einer Wirklichkeit zu tun hat, die vieldeutig, vielschichtig, von Unbestimmtheiten durchgesetzt ist. Deshalb kann die Ratio politisches Handelns nicht in präzisen Regeln und allgemeingültigen Anweisungen und Aussagen formuliert werden, sondern vielmehr in der auf Pluralität beruhenden Urteilskraft. Die Rationalität der politischen Vernunft entspricht der menschlichen Pluralität, „weil der Mensch in der Mehrzahl existiert, deshalb bedarf auch seine Vernunft der Kommunikation und geht leicht in die Irre, wenn sie davon abgeschnitten ist.“199 Da die Pluralität sowohl die unabdingbare Bedingung des Politischen als auch sein Zweck ist, besteht die politische Rationalität in der Anerkennung der Pluralität. Daher sei sie „weder objektiv und universal, noch subjektiv, von persönlichen Einfällen abhängig, sondern intersubjektiv oder repräsentativ.“200 Den Kern der politischen Vernünftigkeit entdeckt Arendt wieder in der Erfahrung amerikanischer Revolution.201 Eine „vernünftige Meinungsbildung“202 entsteht aus dem Überreden miteinander im öffentlichen Raum. In diesem Kontext konzipiert Arendt das Konzept von staatsbürgerlicher Rationalität. Diese Rationalität hat mit dem menschlichen Vermögen zu tun, die gemeinsame Welt zu bilden und darüber mitzusprechen. Die Überredung setzt die Gemeinsamkeit des wie immer umstrittenen Gegenstands voraus. Der Sinn des politischen Diskurses ist, jemanden zu überzeugen, sich mit jemand in einem strittigen Punkt über die gemeinsame Welt zu verständigen. Im weitesten Sinne ist das Überreden immer über die gemeinsame Welt. Die Differenz im Interesse an den gemeinsamen Gegenständen könnte die politische Rationalität enthalten bleiben. Klaus Held stellt fest: „Die Vernünftigkeit der politischen Verständigung beruht also auf einem labilen Gleichgewicht zwischen reiner meinungshaftlebensweltlicher Partikularität und ihrer Transzendierung zugunsten eines Allgemeinen. Dieses Gleichgewicht der Vermittlung von Allgemeinheit und Partikularität kann von beiden Seiten zerstört werden, sowohl durch den Versuch, das politisch Gemeinsame durch Verwissenschaftlichung der Weise, wie es erkennt wird, auf die Höhen des theoretisch Allgemeinen zu heben, als auch durch die Korrumpierung der auf das politisch Gemeinsame gerichteten Urteilskraft zum Gehilfen bei einem allgemeinen Handel um die Befriedigung von Interessen.“203 198 199 200 201 202 203 Saavedra, 2002, S. 47. DD, S. 104. ÜDB, S. 143 ; vgl. DU, S. 91. In ÜR sagt Arendt im Anschluss an Väter amerikanischer Gründung: „Denn die Vernunft des Menschen wie der Mensch selbst ist zaghaft und ängstlich, solange sie sich selbst überlassen bleibt, und erwirbt Festigkeit und Selbstvertrauen, je größer die Zahl derer ist, mit denen sich verbinden kann.“ (ÜR, S. 292; vgl. auch ZVZ, S. 334). ÜR, S. 303. Held, 1980, S. 15. 327 3.4.2.3 Die Kritik an Arendts Konzept der politischen Rationalität Arendt akzeptiert allein das Prinzip der Pluralität als Rationalitätskriterium. Damit verbunden ist ihr Konzept der Rationalität des politischen Urteilens durch Ausschluss der Wahrheit gekennzeichnet. Bei der politischen Rationalität gehe es nicht um Wissen oder Wahrheit, sondern um Urteil und Meinung über eine gemeinsam geteilte Welt.204 Hinsichtlich des Ausschlusses der Wahrheit vom politischen Urteilen fragt man sich, woher die Überzeugungskraft eines Urteilens kommt, wenn die Überzeugung weder auf dem Wissen noch auf der Wahrheit als dem möglichen Maßstab des Urteilens beruht und wenn es für das Überreden keiner letzten Prinzipien bedarf: wie man die Gefahr der Manipulation, um die Meinung durchzusetzen, überwinden kann.205 Beim Gespräch in Toronto greift Hans Jonas diese Frage auf. Nach ihm müssen wir irgendwelches letzte Prinzip fordern, um Urteile, „die uns ins Verderben führen“, zu vermeiden. 206 Er fragt Arendt, was einem Urteil die Gültigkeit zu verleihen vermag, wenn wir uns nicht auf dieses letzte Prinzip berufen können. Aus ähnlicher Perspektive stellt Beiner die Frage, was das Motiv und die Begründung der meinenden Überzeugung ist, wenn es keine Wahrheit gibt. Nach ihm könne die Meinung ihre Überzeugungskraft nur „in Hinsicht auf ihre Wahrheit“ gewinnen.207 Für ihn besteht die Aufgabe der politischen Diskussion in einer gemeinsamen Such nach moralischer und politischer Wahrheit. Der rationale Diskurs gehe von den Wahrheitsansprüchen aus. Die meinende Überzeugung sei sinnvoll, nur wenn sie auf Wahrheit abzielt. „Unsere Meinungen trennen uns, aber wir hätten keinerlei Motivation, Meinungen zu formulieren und zu artikulieren, und sie auf diese Weise mit anderen zu teilen, wenn wir nicht auf einer tieferen Ebene an einer gemeinsamen Suche nach moralischer und politischer Wahrheit teilhätten, die uns wieder in eine Gemeinschaft von Wahrheitssuchern einbindet.“208 So bezeichnet Beiner den Ausschluss der Wahrheit und der kognitiven Erkenntnis aus dem politischen Urteilen als „eine mangelhafte Phänomenologie des politischen Urteils“209. In diesem Kontext hält er die Habermassche Kritik an der Arendtschen Ablehnung der kognitiven Dimension für politisches Urteilen für zutreffend.210 204 205 206 207 208 209 210 ZVZ, S. 300; vgl. Barber, 1994, S. 154ff. Zur Kritik siehe Beiner, 1985, S. 173f.; Habermas, 1981b, S. 247f. Jonas, in: IWV, S. 84. Beiner, 2004, S. 138. Beiner, 2004, S. 149; auch Nanz, 2006, S. 70. Berner, 2004, S. 145. Vgl. Beiner, 1985, S. 173f.; im Gegensatz dazu vertritt Penta die Ansicht, Arendts Form von Kommunikation bleibe für beiden Möglichkeiten der kognitiven argumentativen Modus und der rhetorischen überzeugenden offen, indem sie Kants Urteilskraft und der griechischen Rhetorik miteinander verbindet (vgl. Penta, 1985, S. 183). 328 Im Hinblick auf die Rolle der Wahrheit im Bereich des Politischen sind die Positionen von Hannah Arendt und Habermas einander diametral entgegengesetzt. In der Kritik an Arendts Machtbegriff erhebt Habermas einen Einwand, dass Arendt die Praxis in der klassischen Unterscheidung von Theorie verbindet mit Meinungen und Überzeugung, „die nicht im strikten Sinne wahrheitsfähig sind.“ 211 Die kommunikative Rationalität von Habermas hingegen setzt die Wahrheit von Aussagen und Normen voraus. Bei ihm dient der Diskurs, als Kommunikationsakt verstanden, der kooperativen Wahrheitssuche: „Ein Diskurs steht vielmehr unter dem Anspruch der kooperativen Wahrheitssuche, d.h. der prinzipiell uneingeschränkten und zwanglosen Kommunikation, die allein dem Zweck der Verständigung dient, wobei Verständigung ein normativer Begriff ist, der kontrafaktisch bestimmt werden muß.“212 So ist es für ihn beunruhigend, dass Arendt den Prozess der kooperativen Wahrheitssuche nicht als die rationale Willensbildung auffassen wollte. Habermas‟ ideale Bedingung des nicht manipulierbaren herrschaftsfreien Diskurses setzt die Anwesenheit der Wahrheit voraus. 213 Sein Versuch, durch die „subjektlosen Kommunikationen“ „die bewußtseinsphilosophischen Denkfigur“ zu verabschieden 214 , zielt normativ auf den rationalen Konsens, den Habermas als einen gemeinsam geteilten Anspruch auf die universale Gültigkeit von Aussagen und Normen bezeichnet. Die gesellschaftlichen Beziehungen finden ihre Versöhnung im auf herrschaftsfreier Kommunikation beruhenden Konsens.215 „Wenn die Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen zwingend bestritten werden könnte, wäre die von mir vertretene Position unhaltbar.“216 Der Abstandpunkt zwischen Habermas und Arendt wird in dem Gegensatz „zwischen dem philosophischer Wahrheit angemessenen Dialog und den Überredungskünsten ausgedrückt, mit denen der Redner die Meinungen der Menge beeinflußt und schließlich die Vielen überzeugt.“217 Der von Habermas bevorzugte kommunikative Konsens ist zwar dialogisch erzeugt, aber dieses Modell ist eine Art vom philosophischen Dialog, der „an der Idee der Wahrheit orientiert ist“. 218 Wie die Griechen das politische Miteinandersprechen vom philosophischen Dialog genau zu trennen wussten, betont Arendt die Form einer Debatte als der Struktur des politischen Lebens, wo das Element des Wettstreits und der Überzeugung verankert, weil 211 212 213 214 215 216 217 218 Habermas, 1981b, S. 247. Habermas, 1971, S. 401; zit. nach Williams, 1973, S. 172f. „Das Ziel der Kritischen Theorie – eine von überflüssiger Herrschaft aller Art befreite Lebensform –wohnt dem Begriff der Wahrheit inne und es wird in jedem kommunikativen Akt antizipiert (McCarthy, 1989, S. 310). Habermas, 1998c, S. 362. „Das Ziel ist (…) eine Organisation der gesellschaftlichen Beziehungen nach dem Prinzip, daß die Geltung jeder politisch folgenreichen Norm von einem in herrschaftsfreier Kommunikation erzielten Konsensus abhängig gemacht wird (Habermas, 1988, S. 344). Habermas, 1973, S. 139f. ZVZ, S. 333. Bernstein, 1979, S. 353, Anm. 48. 329 „Überzeugung die einzige Weise ist, mit den Vielen umzugehen.“ 219 Die konsensorientierte Diskurstheorie von Habermas enthält die politische Gefahr, wie Vittorio Hösle beispielsweise zutreffend argumentiert: Ein Konsens könne auch dann Unrecht sein, wenn alle Betroffenen mit einbezogen seien. Die Konzeption der deliberativen Demokratie könne sich nicht gegen den kollektiven Wahn schützen, also nicht gegen den pathologischen Zustand ideologischer Vereinheitlichung, den Arendt in ihrer Totalitarismusanalyse dargelegt hat.220 Nur unter Dissensbedingungen kann man politisch handeln und sprechen. „Wo der Konsens aufhört, beginnt die Politik.“221 Nichts anderes als das unaufhörliche Gespräch unter den Menschen rettet das Politische, weil Politik von dem Zusammen– und Miteinandersein der Verschiedenen handelt. „Politisch organisieren sich die Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem absoluten Chaos oder aus einem absoluten Chaos der Differenzen.“222 Es ist das Kennzeichen der freien politischen Gemeinwesen, dass nicht jeder Meinungsstreit, auch nicht die meisten politischen Fragen nach den Kriterien des vernünftigen Diskurses konsensfähig sind.223 In Abgrenzung zu Habermas weisen Heller darauf hin, dass der Konsens zwar wichtig, aber „nicht das Zentrum ist, um das sich unsere politische Untersuchung und Philosophie dreht. Der erste Grund hierfür ist, daß wir Arendts Warnung vor dem potentiell totalitären und unterdrückerischen Wesen der Konsenspolitik ernst nehmen.“224 Im Gegensatz zu dem dialogischen Konsens, der die kognitive Universalität voraussetzt, hat das Arendtsche Konzept der Überzeugung nicht mit der subjektlosen Kommunikation zu tun. Arendt stellt fest: „Solche objektiven Kriterien, die sich dem Meinungsaustausch und dem persönlichen Eindruck entziehen, gibt es in der Politik, wo immer die Person und ihre persönliche Überzeugungskraft entscheidend sind, nicht.“225 Für Arendt zielt der Diskurs nicht auf Konsens ab, sondern vielmehr auf Pluralität und Dissens als Diskursergebnisse. So erkennt man im Diskurs das „Recht auf Dissens“ 226 an. Allerdings spricht Arendt auch von Konsens. „Dissens schließt Konsens ein und ist das Kennzeichen des freien Staates.“227 Der Konsens bedeutet aber nicht notwendigerweise den Konsens der Meinungen. Der Konsens, die die Grundvoraussetzung einer jeden demokratischen Politik ist, hat also nicht mit einer Übereinstimmung in allen politi219 220 221 222 223 224 225 226 227 ZVZ, S. 321. Hösle, 1997; Vollrath, 1993, S. 435: in diesem Zusammenhang bezeichnet Walzer die delibarative Demokratie als die neue Variante des philosophischen Prinzips der Wahrheitssuche (Althaus/Harmann (Hrsg.), 1999, S. 139-161). Barber, 1994, S. 117. WP, S. 9f. Vgl. Greven, 1991, S. 217. Heller, 1987, S. 12; zit. nach Jay, 1994, S. 188. ÜR, S. 359. IG, S. 314. IG, S. 309; „Diese Konsens erkennt an, daß niemand allein handeln kann, daß die Menschen, wenn sie etwas in der Welt erreichen wollen, koordiniert handeln müssen.“ (DW, S. 191). 330 schen Entscheidungen zu tun, sondern vielmehr mit einem Konsens „über die politischen Prinzipien der Entscheidungsfindung“.228 Der Konsens dieser Art beruht auf der Verantwortung für die gemeinsame Welt. „Alle einzelnen Übereinstimmungen und Nichtübereinstimmungen setzen voraus, daß wir über das gleiche Ding sprechen – daß wir, die wir viele sind, übereinstimmen, zusammenkommen im Hinblick auf etwas, was ein und dasselbe für uns alle ist.“229 Die Möglichkeit dieses Konsenses beruht nicht auf der Anwesenheit der Wahrheit, sondern auf dem Interesse an der gemeinsamen Welt, also auf „aktiver Unterstützung und dauerhafter Anteilnahme an allen Angelegenheiten“.230 3.4.3 Die Interesselosigkeit beim politischen Urteilen Mit dem Kantischen Konzept der reflektierenden Urteilskraft findet Arendt ein Kriterium, das sicherstellt, dass es eine Zustimmung unter verschiedenen Meinungen geben kann. Kants Ansicht zufolge entspringt die Geschmacksurteilskraft dem Ausschluss von allen subjektiven Interessen gegenüber dem zu beurteilenden Objekt. 231 Der Geschmacksurteil setzt kein Bedürfnis nach dem Zustand des Wohlgefallens voraus: „Alles Interesse setzt Bedürfnis voraus, oder bringt eines hervor; und (…) läßt es das Urteil über den Gegenstand nicht mehr frei sein.“232 Darüber hinaus: „Alles Interesse verdirbt das Geschmacksurteil“.233 So hat der Geschmacksurteil immer mit dem „Wohlgefallen ohne alles Interesse“234 zu tun, das sich als ein Zustand des „einzigen freien Wohlgefallens“235 versteht. Die These der Interesselosigkeit ist mit der These „der subjektiven Allgemeingültigkeit“ 236 des Urteilens verbunden: Bei Kant sei „das Geschmacksurteil subjektiv allgemeingültig, weil es von Privatbedingungen frei ist“.237 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 Heller, 1987; zit. nach Jay, 1994, S. 188. DU, S. 109. IG, S. 307. Vgl. Kant, KdU, § 2, B 5; Kant definiert Interesse als „Wohlgefallen, was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden.“ Kant, KdU, § 5, B 16. Kant, KdU, §12, B 38. Kant, KdU, § 6, B 17. Kant, KdU, § 5, B 16. Kant, KdU, § 6, B 19. Strube, 1979, S. 173; „Denn das, wovon jemand sich bewußt ist, daß das Wohlgefallen an demselben bei ihm selbst ohne alles Interesse sei, das kann derselbe nicht anders als so beurteilen, daß es einen Grund des Wohlgefallens für jedermann enthalten müsse. Denn da es sich nicht auf irgend eine Neigung des Subjekts (noch auf irgend ein anderes überlegtes Interesse) gründet, sondern da der Urteilende sich in Ansehung des Wohlgefallens, welches er dem Gegenstande widmet, völlig frei fühlt: so kann er keine Privatbedingungen als Gründe des Wohlgefallens auffinden, an die sich sein Subjekt allein hinge, und muß es daher als in demjenigen begründet ansehen, was er auch bei jedem andern voraussetzen kann; folglich muß er glauben Grund zu haben, jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten.“ (Kant, KdU, § 6, B. 17). 331 Beim Geschmacksurteil erfährt man „die Befreiung aus der Verstrickung in Privat- und Gruppeninteressen“.238 In Anlehnung an Kant ist Arendt der Meinung, dass die eigentliche Qualität eines Urteils „von dem Grad (…) der Unabhängigkeit von Interessen“239 abhängt. Für sie ist die Bedingung der Unparteiligkeit, des uninteressierten Wohlgefallens, „die wichtigste Bedingung für alle Urteile“.240 Durch die Konzeption der Interesselosigkeit versucht Arendt „die problematische Seite der Subjektivität des Urteils zu überwinden“.241 Das Selbstinteresse, das mich immer wieder auf mich selbst zurückwirft, ist für Arendt die Vernebelung des politischsten und weltlichsten Vermögens des vernünftigen Urteils. Nur im interesselosen Urteilen kann man die eigene Denkart erweitern und die Parteiligkeit seiner Urteilung überschreiten. Aufgrund der politischen Urteilskraft stellt das Prinzip der Interesselosigkeit eine Art einer Modifikation, um die Möglichkeit der Manipulation des politischen Urteilens zu verhindern. Arendts Konzept der Interesselosigkeit für die politische Urteilskraft wäre jedoch überraschend, wenn man denkt, dass die Grundbasis der demokratischen und pluralistischen Politik die Vielfalt der Interessen ist, dass sich der demokratische Prozess des Politischen ausschließlich in der Form der Ausgleichung der verschiedenen Interessen vollzieht und dass die grundlegende Aufgabe der Politik in der Konfliktlösung oder Interessenausgleich besteht. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob und wie das kontemplative Element der Interesselosigkeit im ästhetischen Urteilen mit dem politischen Handeln zu tun haben kann. 3.4.3.1 Der Begriff „Interesse“ Bevor das Verhältnis der Urteilskraft zum Begriff der Interesselosigkeit untersucht werden soll, scheint es notwendig, zunächst kurz auf die unterschiedlichen Bedeutungen der Termini „Interesse“ im Verlauf der Sprach- und Ideengeschichte einzugehen, um die politische Implikation dieses Begriffs zu erklären. Ganz ursprünglich bedeutet die lateinische Wendung des Begriffs „Interesse“ räumliches oder zeitliches „Dazwischenliegen“.242 Zugleich hat dieses Wort eine andere Grundbedeutung: „entfernt sein“ oder „verschieden sein“.243 So betont Albert Eßer, dass das Wort Interesse eine dynamische Beziehung intendiert: „Je nach dem von welcher Seite und in welche Richtung ich blicke, muß sich ein Zwischen, sofern es sich bewegt, als ein Sich-entfernen oder als ein Sich- 238 239 240 241 242 243 ZVZ, S. 343. ZVZ, S. 343. DU, S. 92; vgl. Kant, KdU, § 2, B 18. Schnabl, 1999, S. 307. Eßer, 1973, S. 746; vgl. Döhn, 1970, S. 15f. Orth, 1982, S. 307. 332 nähern zeigen.“244 Der Interessenbegriff als die Interaktion findet sich insbesondere bei Julius Jakob Schaaf deutlich. Nach ihm bringt dieser Begriff im weitesten Sinne ein anthropologisches Tatbestand des zwischenmenschlichen Seins zum Ausdruck: „Inter-esse besagt ja nichts anderes als Zwischensein, es kann somit zwanglos als ein Wechselwort für Relation angesehen werden (…). Interesse im weitesten Sinne stellt in der Tat ein Synonym für den Tatbestand des sozialen Seins dar, insoweit das soziale Sein das zwischenmenschliche Sein überhaupt besagt, wie es sich in der unübersehbaren Fülle der möglichen Mensch-Menschbeziehungen manifestiert.“ 245 In dieser etymologischen Auffassung des Begriffs hat das Interesse „mit dem Individuum und dessen materiellem Wohl wenig zu tun“.246 Wenn Arendt vom Weltinteresse spricht, geht es ihr um das Interesse am menschlichen Zwischen. Es bezeichnet das inter homines esse, wie es die Römer verstanden als Interesse an einer mit anderen gemeinsamen Welt. Ihrer Auffassung zufolge ist das Interesse das, „was inter – est, also was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden. Fast alles Handeln und Reden betrifft diesen Zwischenraum, der ein jeweils anderer für jede Menschengruppe ist, so daß wir zumeist miteinander über etwas sprechen und einander etwas weltlich-nachweisbar Gegebenes mitteilen, für das die Tatsache, daß wir unwillkürlich in solchem Sprechenüber auch noch Aufschluß darüber geben, wer wir, die Sprechenden, sind, von sekundärer Bedeutung scheint.“247 In dieser begrifflichen Ansicht ist das Handeln selbst immer weltorientiert und damit interessebezogen. Das Weltinteresse ist Orientierungsmarke für das politisches Handeln und Urteilen: „In dem Augenblick, in dem ich politisch handele, bin ich nicht an mir interessiert, sondern an der Welt“. 248 Warum betont Arendt trotzdem die Interesselosigkeit beim politischen Urteilen und Handeln? Dahinter liegt ein tiefgreifender historischer Wandel. Im Lauf der Neuzeit wurde unter Interesse der „Eigennutzen“ verstanden.249 Damit wurde der Begriff „Interesse“ zur grundlegenden sozialtheoretischen und politischen Kategorie, weil er als Schlüssel zum Verständnis menschlichen Handlungsweisen bezeichnet war. Dabei wird Interesse als selbstbezogene Handlungsorientierung definiert. Generell lässt sich sagen, dass die meisten sozialwissenschaftlichen Interessenbegriffe eigennützige und partikularisierte Subjekte als Träger von Interessen bereits voraussetzen. 250 In diesem begrifflichen Gebrauch fungiert der Begriff Interesse geradezu als die neuzeitliche Grundposition der Subjektivität und der Indivi244 245 246 247 248 249 250 Eßer, 1973, S. 738. Schaaf, 1970, S. 226. Hirschman, 1980, S. 41. VA, S. 224. IWV, S. 82. Fisch, 1982, S. 310ff. Vgl. Neuendorff, 1984, S. 270-274; Döhn, 1970, S. 15. 333 dualität.251 Die selbstinteressenorientiert handelnde Person wird als nach Nutzen und Schaden kalkulierendes Subjekt vorgestellt. Dieses Verständnis des Interessenbegriffes hängt mit der neuzeitlichen Ökonomisierung des gesamten Bereiches des Handelns zusammen: „Die klassische Nationalökonomie unterstellt bereits, daß der Mensch, soweit er sich überhaupt aktiv betätigt, ausschließlich im eigenen Interesse handelt und nur einem Trieb gehorcht, dem Erwerbstrieb.“252 Vor allem bildet das Selbstinteresse den Hintergrund der liberalen Vertragstheorien, die von einem atomistischen Menschenbild ausgehen. Das zentrale menschliche Handeln richte sich nach dem grundlegenden Interesse der Selbsterhaltung und der ruhelosen Maximierung von Wohlbefinden.253 Wie es bei Hobbes gezeigt ist, ist das gesamte Handeln der Menschen an der Verfolgung seiner Eigeninteressen orientiert: Die zahllosen „Möglichkeiten menschlicher Handelnsorientierung mit Hilfe der Kategorie des Interesses zu reduzieren, wobei Hobbes dann unterstellt, daß menschliches Handeln plausibel und angemessen als interessengeleitetes Handeln analysiert werden kann.“254 Hier stellt sich die Frage, ob politische Stabilität allein durch die zweckrationale Eigennutzkalkulation des Einzelnen zu erreichen ist.255 Das neuzeitliche Verständnis des Interessenbegriffs als Eigeninteresse hat zur Folge, dass sich im politischen Bereich das Interesse mit der Meinung gleichsetzt, obwohl beide die gegensätzlich andere Herkunft und Struktur haben. Nun verschwindet die unterschiedliche Rolle von Meinung und Interesse völlig, und damit wird die Politik nur zur Sache der Interessen. „Die Unterscheidung liegt ersten in der Vorstellung von Gruppeninteressen, die immer da sind, und Meinungen, wo ich mir mein Urteil bilden muß. Diese Unterscheidung ist ganz klar vorhanden. Sie finden sie in der Verfassung selbst: Die Legislative (das Repräsentantenhaus) sollte mehr oder weniger die Interessen der Bevölkerung vertreten; im Gegensatz dazu sollte der Senat diese Interessen filtern und zu so etwas wie unparteiischen Meinungen unter Bezug auf das Allgemeinwohl kommen.“256 Während Interesse seiner Natur nach „von gesellschaftlicher Partikularität“ ist, 257 ist die Meinung zuerst subjektiv. In der ausschlussreichen Formulierung erwähnt Arendt diesen Unterschied von Meinung und Interesse eindeutig: „Seit Marx ist es üblich, Interesse und Meinung, über deren Relevanz für den politischen Bereich natürlich kein Zweifel be- 251 252 253 254 255 256 257 Hegel hält fest: „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigene Interesse zu ihrem Zwecke haben.“ (Hegel, 1995, § 187, S. 167). VA, S. 426, Anm. 36. Vgl. Hobbes, LV, S. 75ff; zur für Hobbes‟ Theorie grundlegenden Kategorie des Interesses siehe Neuendorff, 1973, S. 32-72. Münkler, 1993, S. 94. Wenn Hobbes das Selbstinteresse zum dominierenden Beweggrund menschlicher Aktivitäten erklärt, ist es unmöglich, dass man durch Selbstinteresse „soziale Perspektive“ einnimmt (Kersting, 1996, S. 211-233, hier S. 220). IWV, S. 104. Schaaf, 1970, S. 227. 334 steht, so eng aneinander zu koppeln, daß die Meinung als eine Funktion des Interesses erscheint. In Wahrheit handelt es sich hier um zwei grundsätzlich voneinander geschiedene politische Phänomene. Interessen sind politisch nur als Gruppeninteressen von Bedeutung, und für ihre Bereinigung genügt es, wenn ihr partieller Charakter, Teile eines Ganzen zu sein, gewahrt wird, so daß keines dieser Gruppeninteressen je herrschend werden kann, auch nicht als das Interesse der Mehrheit. Meinungen dagegen können sinngemäß niemals die Meinungen von Gruppen, sondern immer nur von Einzelnen sein, sofern sie sich ihrer Vernunft in Freiheit und ohne die Hitze der Leidenschaft, welche das Interesse oder auch das bloße Gefühl entfacht, bedienen. Keine Menge, ob sie nun als Teilgruppe auftritt oder vorgibt, die Gesellschaft im ganzen zu vertreten, ist je fähig, sich eine Meinung zu bilden. Meinung entstehen nur, wo Menschen frei miteinander Verkehr pflegen und das Recht haben, ihre Ansichten öffentlich kundzutun.“258 Arendts Konzept von Interesselosigkeit liegt im Kontrast zur neuzeitlichen Tradition politischer Philosophie, der zufolge das Motiv des Handelns nur im Selbstinteresse besteht und sich Politik als Ausgleichsverfahren der Interessenkonflikte gestaltet. Wenn Arendt das Weltinteresse ausdrückt, führt sie das Wort „Interesse“ auf den antiken Sprachgebrauch zurück. Sie spricht vom Interesse für die Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten. Wenn die Rede von Interesselosigkeit ist, gebraucht Arendt das Wort Interesse in seiner neuzeitlichen Transformation. Im Gegensatz zu den Selbstinteressen handelt sich es bei Arendt um „eine Mißachtung des Selbstinteresses“259 oder um ein Interesse an der Welt, nämlich „uninteressiertes Weltinteresse“260. Überhaupt nur durch das Weltinteresse können der moderne Subjektivismus und der Relativismus bewältigt werden, und nur dadurch kann „weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig im Erscheinung treten.“261 In diesem Sinne stellt das Weltinteresse das Interesse an Pluralität oder das öffentliche Interesse dar. So besteht die Leugnung der Selbstinteressen nicht im Zusammenhang einer Moralphilosophie, sondern im Zusammenhang des politischen Lebens der Menschen im Plural. „Egoismus kann damit nicht durch das Predigen von Moral überwunden werden“262, sondern durch die Anerkennung der Pluralität. Das interesselose Urteilen bildet den Zugang zur pluralen und gemeinsamen Welt. 258 259 260 261 262 ÜR, S. 292. DU, S. 61. ZVZ, S. 300; dazu zitiert Arendt oft Machiavellis Satz: „Ich liebe mein Land, die Stadt Florenz, mehr als das Heil meiner Seele.“ ( IWV, S. 82; ÜR, S. 366 Anm. 21). VA, S. 72. ÜDB, S. 145. 335 3.4.3.2 Kritik an dem Konzept der Interesselosigkeit In der Neuzeit war Interessenbegriff „zum Vehikel der Demokratisierungsforderungen geworden“.263 Im Hinblick auf die Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft sei die freie Bewegung der „bürgerlichen Interessen“ ihre Grundlage.264 In diesem Zusammenhang stößt Arendts Trennung der politischen Urteilskraft von Interesse auf den starken Einwand, dass Arendts Urteilskraft der ererbten metaphysischen Philosophie zum Opfer fällt. Auch wenn die interesselose Urteilskraft für die Überwindung der Interessepolitik oder der Politik der Lebensnotwendigkeit sinnvoll ist, laufe sie auf die Einführung der elitären und kontemplativen Haltung in die Politik hinaus. Den Grund dafür findet man darin, dass Arendt die ästhetische Urteilskraft Kants auf die politische anwenden wollte, obwohl Kant seine Theorie der Geschmacksurteilskraft nicht an dem politischen, sondern am ästhetischen Phänomen entwickelt.265 Schon in Bezug auf die Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen lässt sich die Interesselosigkeit als Überwindung oder Überschreitung der ökonomischen Einsicht verstehen. Denn die ästhetische Urteilskraft bildet sich „einzig und allein in einer von Dringlichkeit befreiten Welt–Erfahrung und in Tätigkeiten aus, die ihren Zweck in sich selbst tragen (...). Sie setzt, mit anderen Worten, jene Distanz zur Welt voraus (...), die das Fundament der bürgerlichen Welt–Erfahrung ausmacht.“266 Nach diesem Vorwurf beruhe die Interesselosigkeit ästhetischer Urteile nur auf einem bevorrechtigten Status der Besitz – und Bildungsbürger, weil ein interessloses Urteilen die gesellschaftliche wie wirtschaftliche Vorbedingungen voraussetzt.267 Diese Kritik weist den Elitismus der politischen Theorie Arendts auf. Andererseits verweist man auf das philosophisch-metaphysische Element ihres Denkens. Brunkhorst beispielsweise vertritt die Ansicht: Hinter Arendts Versuch, Urteilen und Interesse zu trennen, liege der kantische Platonismus, dem es um „reine, bloß kontemplative Lust, das interesselose Wohlgefallen“ 268 geht. Arendts politische Urteilskraft entziehe sich nicht der kontemplativen und uninteressierten Dimension ästhetischer Urteilskraft von Kant. Brunkhorst konstatiert: „Im 263 264 265 266 267 268 Fisch, 1982, S. 317. Locke bezeichnet die moderne Gesellschaft als das, was „die Befriedigung, Wahrung und Beförderung ihrer bürgerlichen Interessen“ bezweckt. Damit definiert er „Bürgerliche Interessen“ als „Leben, Freiheit, Gesundheit, Schmerzlosigkeit des Körpers und den Besitz äußerer Dinge wie Geld, Ländereien, Häuser, Einrichtungsgegenstände und dergleichen.“ (Locke, 1957, S. 13). Vgl. Becker, 1997, S. 241ff. Bourdieu, 1987, S. 101f. Jay, 1993, S. 135. Kulenkampff, 1978, S. 67; in der Tat behauptet Kant, dass das Urteilen aus einer „bloß kontemplativen Lust“ oder aus „untätigem Wohlgefallen“ entsteht (Kant, Die Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Metaphysik der Sitten, Abschnitt I; zit. nach DU, S. 26 und auch 82); „Daher ist das Geschmacksurteil bloß kontemplativ.“ (Kant, KdU, § 5, B 14). 336 interesselosen Wohlgefallen eines ästhetisierenden oder politisierenden Publikums taucht der alte, kontemplative Theoriebegriff im Rücken des Kritizismus wieder auf.“269 Die Interesselosigkeit entsteht bei Arendt aus der Sorge um die gemeinsame Welt als das menschliche Bezugsgeflecht von Sprechen und Handeln. Hingegen liegt das Ziel der philosophischen Kontemplation darin, aus der Welt in sich selbst zurückzutreten. Bei der Kontemplation bleibt man „in einem Zustand der Sprachlosigkeit, einer Anschauung, die sich in Worten nicht mitteilen läßt“270. Arendts Konzeption der Interesselosigkeit bedeutet nicht, aus der Welt zurückzutreten, sondern die Überwindung der individuellen Beschränkungen und der subjektiven und privaten Bedingtheiten für das Urteilen zu ermöglichen. Das interesselose Urteilen geht nicht in der Muße des theoretischen Lebens vor, sondern in den politischen Anstrengungen. Die Interesselosigkeit beim Urteilen ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, mich den Gesichtspunkten der Anderen auszusetzen. Andererseits vertritt man die Ansicht, dass die kontemplative Dimension interesseloser Urteile durch Vorzug des unbeteiligten Zuschauers vor dem Handelnden gekennzeichnet ist, weil das interesselose Urteilen des Zuschauers für etwas Kontemplatives anders als Handeln gehalten ist.271 In der Tat ist die Position des Betrachters das grundlegende Thema von Arendts KantReferat. „Kant ist überzeugt, daß die Welt ohne den Menschen eine Wüste wäre, und ohne den Menschen heißt für ihn: Ohne Zuschauer.“272 Wie Arendt erkennt, bietet Kants Geschmacksurteilskraft die Analyse der Schönheit in den Perspektiven der urteilenden Zuschauer im Hinblick auf ein interesseloses Urteilen an. Arendt folgert: „Also ist der Rückzug aus der direkten Beteiligung auf einen Standpunkt außerhalb des Spiels eine conditio sine qua non allen Urteils.“ 273 Es scheint, als ob hier in Arendts Denken eine alte Tradition der kontemplativen Lebensweise anklinge, die Arendt früher vehement kritisiert hat: Ist die Haltung der „aktiven Nichtteilnahme“274 des Zuschauers übertragbar auf das politische Handeln? Auf die politische Urteilskraft bezogen versteht Arendt den Zuschauer nicht im Sinne der traditionellen politischen Philosophie.275 In der Kant-Interpretation sagt Arendt: „Das Urteil des Zuschauers schafft den Raum, ohne den solche Gegenstände überhaupt nicht erscheinen könnten. 269 270 271 272 273 274 275 Brunkhorst, 1991, S. 119; vgl. Beiner, 1985, S. 177. VA, S. 384. Vgl. DU, S. 75f. DU, S. 84. DU, S. 75. DD, S. 98. Die philosophische Idee von der Überlegenheit der kontemplativen Lebensweise zeigt sich deutlich in der Parabel von Diogenes Laertius, die er dem Pythagoras zuschreibt: „Das Leben (…) ist wie ein Festspiel; zu einem solchen kommen manche als Wettkämpfer, andere, um ihrem Gewerbe nachzugehen, doch die Besten kommen als Zuschauer (theatai), und genau so ist es im Leben: die kleinen Naturen jagen dem Ruhm (doxa) oder dem Gewinn nach, die Philosophen aber der Wahrheit.“ (DU, S. 75 und auch DD, S. 98). 337 Der öffentliche Bereich wird durch die Kritiker und Zuschauer konstituiert, nicht durch die Akteure oder die schöpferisch Tätigen. Und dieser (...) Zuschauer befindet sich in jedem Akteur (…); ohne dieses kritische, urteilende Vermögen wäre der Handelnde oder Schaffende so losgelöst vom Zuschauer, daß er nicht einmal wahrgenommen würde.“ 276 Die Zuschauer sind für Arendt die Leute, die sich an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen.277 In dieser Teilnahme findet die Vereinigung von Akteur und Zuschauer statt; die urteilenden Zuschauer sind die kommunizierenden Zuschauer, weil es ihnen um die allgemeine Mitteilbarkeit geht. So ist jeder zugleich Zuschauer und Mithandelnder: „Der Zuschauer ist nicht mit dem Akt, aber immer mit den Mit-Zuschauern verbunden.“278 So gesehen bedeutet der Akzent auf die Zuschauer keine Betonung der kontemplativen Dimension des Urteilens, sondern die Betonung der Pluralität als Bedingung des politischen Urteilens und Handelns.279 Der urteilende Zuschauer ist Kants Zuschauer, der immer „in der Mehrzahl“ existiert, aber nicht Hegels Zuschauer, der „streng in der Einzahl“ existiert.280 Zuschauers „Distanz für das Urteil ist offenbar etwas ganz anderes als die Distanz des Philosophen“, die aus der Gesellschaft ihrer Mitmenschen heraustreten.281 Das Urteil des Zuschauers ist unparteiisch, aber es ist nicht autonom ist, weil er im Plural existiert. „Die Zuschauer sind zwar von der Partikularität des Akteurs distanziert, aber sie sind nicht allein. Sie sind auch nicht sich selbst genug“282. Der Rückzugsort des Zuschauers befindet sich eindeutig „in der gewöhnlichen Welt“ 283 und in den pluralen Menschen. Die Behauptung des urteilenden Zuschauers in der Öffentlichkeit entspricht der Arendtschen Konzeption des narrativen Handelns, dass der Handelnde von den Meinungen von vielen Zuschauern abhängig ist. Im Verhältnis von Handelnden und Zuschauer wird die nichtsubjektive Dimension des Handelns selbstverständlich.284 Mit der Interesselosigkeit meint Arendt keine Selbstlosigkeit. Bei der politischen Urteilskraft lässt sich die Interesselosigkeit nicht mit Neutralität oder mit wissenschaftlicher Objektivität verwechseln. Die wissenschaftliche Objektivität bemüht sich mittels allgemeiner Gesetze, die durch die Einnahme eines Standpunktes außerhalb des Geschehenen gewonnen wird, die Viel- 276 277 278 279 280 281 282 283 284 DU, S. 85. Vgl. ZVZ, S. 299. DU, S. 85. Schäfer, 1996, S. 85. DD, S. 101. DD, S. 99. DD, S. 99. DD, S. 102. „Der Akteur hat mit doxa zu tun; das Wort bedeutet sowohl Ruhm als auch Meinung, und Ruhm kommt ja durch die Meinung der Zuschauer (...) zustande. Für den Akteur, nicht aber für den Zuschauer, ist entscheidend, wie er anderen erscheint; er ist abhängig vom Es-scheint-mir beim Zuschauer (…); er ist nicht sein eigener Herr“ (DD, S. 99 und S. 79). 338 falt der gegensätzlichen Phänomene auf einen Nenner zu bringen.285 Im Gegensatz dazu beruht die politische Urteilskraft auf der Meinung, die der Subjektivität eines eigenen Standortes entspricht. Die Meinung verhelft der Tatsache, dass „ungeachtet aller Unterschiede der Position und der daraus resultierenden Vielfalt der Aspekte es doch offenkundig ist, daß alle mit dem selben Gegenstand befaßt sind.“286 Das interesselose Urteilen ist das Interesse an diesem gemeinsamen Gegenstand und an den gemeinsamen Angelegenheiten: „Das ästhetische Interesse ist (…) ein Welt-Interesse.“ 287 Das Weltinteresse ist die Vorbedingung der politischen Meinungsbildung und Urteilskraft der Individuen. Es beruht auf nichts anderem als der Tatsache, dass wir am öffentlichen Handeln ein Interesse nehmen. 285 286 287 Vgl. Barber, 1994, S. 165. VA, S. 72. DTB, S. 573. 339 V. Zusammenfassung und Schluss Seit ihrer Entstehung bei den Griechen erscheint die Politiktheorie als Produkt der Krise des Gemeinwesens. Politische Theorie ist ein Streben nach der neuen Grundlage eines politischen Zusammenlebens, wenn der traditionelle Konsens einer Gesellschaft zerbrochen ist. Als eine politische Theoretikerin versucht Hannah Arendt im Horizont des Traditionsbruchs des letzten Jahrhunderts die Grundfrage zu beantworten, wie ein politisches Gemeinwesen pluralistisch organisiert werden kann. Auch wenn diese Frage unbeantwortet bleibt, bezeichnet Arendt die Pluralität als das zentrale Kriterium, welches die Beantwortung dieser Frage leistet. So ist der Begriff der Pluralität als der normative Gehalt für die politische Theorie Arendts zu bezeichnen. Wir haben mit unserem Projekt zwei Ziele verfolgt: Zunächst ging es uns darum, Arendts politische Theorie anhand des Begriffes der Pluralität zu interpretieren und zu verstehen. Dabei versuchten wir, aufzuzeigen, dass sich der Begriff der Pluralität wie ein roter Faden durch die Entwicklung der politischen Theorie Arendts zieht. Damit sollte der Versuch gemacht werden, die von Arendts Pluralitätskonzept ausgehenden Lösungsperspektiven hinsichtlich des gegenwärtigen Zusammenbruchs des politischen Zusammenlebens herauszustellen. Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit haben wir uns ausführlich mit den anthropologischen, theoretischen und methodischen Grundlagen des Arendtschen Denkens über die Politik beschäftigt. Dabei wurde deutlich, dass der philosophisch-anthropologische Versuch, das politische Zusammenleben durch das Wesen des Menschen zu setzen und zu bestimmen, nicht umhin kann, eine metaphysische Vorstellung der Politik aufzubauen. Arendts politisches Denken geht vom Versuch aus, die metaphysische Konstellation des Politischen zu destruieren, die das Politische für etwas Substantialistisches hält. Für Arendt ist das Politische das weltliche Phänomen, das den menschlichen Bedingtheiten und Tätigkeiten entspricht. Eine politische Theorie geht vom Versuch aus, dieses Phänomen zu verstehen. So geht es politischer Theorie um das Problem des Handelns. Aber Arendts Handlungstheorie führt sich nicht bloß auf die systematische Erneuerung der Aristotelischen Begriffe zurück, weil das Phänomen der Pluralität der fundamentale Maßstab für Arendts Unterscheidung der menschlichen Tätigkeitsformen darstellt. Mit dem handlungstheoretischen Zugang zum Phänomen des Politischen wendet sich die Aufmerksamkeit der Frage nach der Beziehung von Politischem und Pluralität zu. Arendts Entdeckung der politischen Pluralität ist der originelle Ansatz für ein neues Verständnis des Politischen. Die Eigenart des Politischen gegenüber anderen Lebensbereichen erblickten wir in einem engen Konnex zur Pluralität. In der Verknüpfung des Politischen mit der Pluralität wird die Möglichkeit der politischen Konzeptionen wie Kommunikation, Meinungsbildung, 340 Urteilskraft, Partizipation, Verantwortung und Solidarität formuliert. In diesem Zusammenhang bietet Arendts politische Theorie der Pluralität den demokratietheoretischen Ansatz und das kritische Potential hinsichtlich der gegenwärtigen politischen Realitäten an. Das kulminiert in einer massiven Kritik an Phänomenen des Zerbrechlichen der politischen Pluralität in der modernen Massengesellschaft, die im zweiten Teil thematisiert wurde. Arendt findet wesentliche Stücke der Krise der modernen Gesellschaft in fehlender Pluralität, also in arbeitsteiligen, versachlichten, intimisierten und anonymisierten Beziehungen, die als Privatisierung, Ökonomisierung, Bürokratisierung und Intimisierung erscheinen. In dieser Beziehung werden Menschen selbstlos, weltlos und überflüssig. In der Massengesellschaft wird Pluralität wesentlich als eine Summierung der Vereinzelten oder als ein Monster-Individuum gesehen. Und die Politik unterordnet unter Gesellschaft, die durch den Konformismus und die Homogenität gekennzeichnet ist. Die Ökonomie wird zum Paradigma des politischen Zusammenlebens. Der wirtschaftliche Determinismus ist für die Pluralität partikularer politischer Perspektiven zerstörerisch. Damit verbunden wird die Aktualität der Arendtschen These von der der Moderne inhärenten totalitären Gefahr deutlich. Die Gefahr eines Totalitarismus in der Massengesellschaft liegt nicht eigentlich in der Massenhaftigkeit selbst, sondern im Verlust der pluralitätskonstitutiven Kraft der politischen Öffentlichkeit. Im Ergebnis der vorliegenden Untersuchung konnte gezeigt werden, dass sich Arendts Konzept politischer Pluralität unmittelbar auf die Erfahrung und Analyse der totalen Herrschaft bezieht. Arendts Analyse des Totalitarismus markiert also den zentralen Wendepunkt in ihrer Reflexion über das Verhältnis von Politik und Pluralität. Das Wesen der totalen Politik ist für Arendt von der radikalen Negation der Pluralität geprägt. Die totale Herrschaft zielt auf die Vernichtung der individuellen Spontaneität und der Solidarität in der gemeinsamen Welt ab, welche die Wurzeln der menschlichen Pluralität konstituieren. Mit der Vernichtung der Pluralität werden Menschen als handelnde und urteilende Wesen überflüssig. In diesem Zustand werden Menschen der Zwangsläufigkeit einer Ideologie geopfert. Deshalb bezeichnet Arendt die totalitäre Politik als die Entpolitisierung und die Perversion des Politischen. Mit der Betonung der unaufhebbaren Pluralität eng verbunden ist die Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Philosophie. Dem Phänomen der Negation der Pluralität in moderner Gesellschaft auf den Grund zu gehen, ist das philosophische Grundmotiv im politischen Denken Hannah Arendts. Im dritten Teil konnten wir die These erhärten, dass die in der abendländischen politischen Philosophie liegende Tradition durch Abwendung von der Pluralität gekennzeichnet ist. Was Philosophen seit Plato nicht ertragen konnten, ist die Pluralität der Menschengesellschaft. Im negativen Sinne ist die Pluralität immer das zentrale Problem politischer Philosophie. 341 Die Lösung dieses Problems war die Triebkraft politischer Philosophie. Das Hauptthema dieser Tradition ist die Idee der absoluten Wahrheit, die die menschlichen Angelegenheiten einheitlich ordnen kann. Aus dieser metaphysischen Konstellation des Politischen wird zur Überwindung des Problems der Pluralität in menschlichen Angelegenheiten die antipluralistischen und antipolitischen Konzeptionen wie Herrschaft, Zweckrationalität und Souveränität in den politischen Bereich eingeführt. Dafür ist die philosophische Transformation des Handelns in das Herstellen charakteristisch, die auf die perfekte Lösung aller menschlichen Pluralität als Schwäche menschlicher Natur abzielt. Die verhängnisvolle Identifizierung von Handeln und Herstellen führt zu einem politischen Perfektionismus, dem es um die politische Realisierung irgendeines Vollkommenheitsideals geht. Im Hinblick auf die Vorstellung von der Machbarkeit der politischen Angelegenheiten ist die Politik kein Ergebnis offener freier Kommunikation, sondern bezieht ihre Begründung aus einem den pluralen menschlichen Angelegenheiten entzogenen absoluten Idealbild. Zu dieser perfekten Lösung werden Bürger nur als Material bezeichnet und damit geht die Pluralität der Handlungen verloren, weil sie sich als Agentur irgendeines Absoluten oder als Produkt fremder Idealvorstellungen erfahren. Kurz gesagt: Zur Lösung des Pluralitätsproblems treten in der Geschichte der politischen Philosophie zwei Elemente auf: Der unkonkurrierende absolute Wahrheitsanspruch und die Monopolisierung aller Gewaltmittel in einer Hand. Die Ausschaltung der Pluralität durch unangefochtenes Herrschaftsprinzip ersetzt sich in der modernen Gesellschaft durch den scheinbar frei gewählten Konformismus.288 Das Ergebnis ist eine homogene Gesellschaft, in der kein Einzelner als Handelnder bekannt ist. In dieser Gesellschaft ist die totalitären Elemente, Abwendung von der Solidarität und der Verantwortung für die gemeinsame Welt und Hinwendung zur Ideologie, verstärkt. Daher verweist Arendt auf die starke Interdependenz zwischen homogener Gesellschaft und totalitärer Herrschaft. Die vorliegende Arbeit begnügt sich nicht mit einer Kritik antipolitischer Konzepte, vielmehr ist sie von dem Verständnis des Politischen getragen, das eine plurale Weltgestaltung ermöglicht. Im vierten letzten Teil wurde die konstitutive Beziehung zwischen Pluralität und Politischem thematisiert. Ausgangspunkt des Politischen ist die Bedingung der Pluralität, ihre Möglichkeiten und Verwirklichung. Der Begriff der Pluralität als politisches Phänomen besagt eigentlich, dass das Politische Menschen zu einer gemeinsamen Welt zusammenbringen kann, ohne dass sie dabei ihre Einzigartigkeit aufzugeben hätten. Daher ist der Pluralitätsbegriff Arendts zunächst durch die grundlegende Interdependenz von Individualität und gemeinsamer Welt geprägt. Für die Pluralität stehen Selbst und Welt im Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung. Im Gegensatz zur christlich-philosophischen Position, demzufolge sich die Wendung zum eigentlichen Selbst 288 Vgl. VA, S. 72. 342 für den Menschen als einzigen Weg darstellt, um untrügliches, von Täuschung unangefochtenes Sein zu erlangen, steht die Liebe zur Welt für Arendt der Konstituierung des Selbst nicht entgegen. Die gemeinsame Welt existiert nicht durch eine allen Menschen gemeinsame Natur, sondern nur in der Vielfalt der Perspektiven der Einzelnen. Aus dem Verhältnis von Selbst und Welt, die sich wechselseitig begrenzen und ermöglichen, entsteht die politische Pluralität, also das Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen. Sie bedeutet keine quantitative Vielfalt der Menschen, die die gleiche Natur haben, sondern stellt die handlungstheoretische Dimension dar, die Hannah Arendt die „zweite“ oder die „politische“ Geburt nennt: Die politische Pluralität verwirklicht sich im Sprechen miteinander und in der Spontaneität, also im Weltbezug der einzigartigen Individuen. In diesem Punkt unterscheidet sich Arendts Konzept der Pluralität sowohl von der postmodernistischen Perspektive, die die Differenz und die Vielfalt der Individuen einseitig betont, als auch von der liberalen Pluralismustheorie, der zufolge der Pluralismus primär als das System der Vielfalt und Konkurrenz von den egoistischen und partikularen Interessen verstanden wird. Die Pluralität existiert für Arendt immer im durch das freiheitliche Handeln geprägten Bezugsgewebe zwischen Menschen. Das Interdependenzgefüge von Politischem und Pluralität bildet eine neue Bestimmung elementarer politischer Kategorien. Für die Analyse politischer Phänomene wie Freiheit, Macht und Autorität geht Arendt von Pluralität aus. Die politischen Phänomene entstehen nur in einem Miteinander, das den öffentlichen Raum stiftet und erhält. Neben der Tatsache, dass die politischen Phänomene nur in der Bedingung menschlicher Pluralität erscheinen, konnten wir mit unseren Überlegungen zeigen, dass sie alle mit dem Schaffen der Pluralität, ihrer Konstitution und ihrem Bewahren zu tun haben. In kritischem Blick auf die prinzipielle Unfähigkeit der gegenwärtigen Demokratie, den freiheitlichen Raum der Pluralität institutionalisieren zu können, wirft Arendt die Frage nach der politischen Konstitution der Pluralität auf, die für diejenigen, die aus dem politischen Zusammenhandeln ausgegrenzt werden, die Bedingung der Möglichkeit zur Partizipation garantieren kann. Einen besonderen Schwerpunkt hat die Analyse des Verhältnisses von Pluralität und politischer Rationalität gebildet. Was die Rationalität betrifft, gibt es zwei herkömmliche Formen: Eine Form der Rationalität beruht auf der philosophisch-dogmatischen Einsicht in reinen Vernunftwahrheiten. Eine andere Form setzt auf die Transformation der pluralen Meinungen in rational kontrolliertem Interesse. Diese Formen der Rationalität sind die mögliche Reaktion auf die menschliche Pluralität, die die Ursache der gesellschaftlichen Konflikte ist und die sich als irrational erweist. Um wirklich rational zu sein, muss das Urteilen zur Wahrheit führen. Aber die Vorstellung dieser Rationalität lässt sich im politischen Bereich nicht durchsetzen, weil das politische 343 Urteilen im Umfeld pluraler Perspektiven geschieht. Im Zentrum der Arendtschen Untersuchung über die Urteilskraft steht die Frage nach dem Wesen der politischen Rationalität. Bei der Suche nach Antworten wendet sich Arendt der Kantischen Entdeckung der Pluralität und der Öffentlichkeit in der Geschmacksurteilskraft zu. Die Anknüpfung an Kant dient der Freilegung einer erneuerten Perspektive in die Rationalität politisches Urteilens und Handelns. Die politische Rationalität im Urteilen bezieht sich auf eine erweiterte Denkungsart, die auf dem Interesse für die Pluralität beruht. Das politische Urteilen ist der öffentliche Vernunftgebrauch, der aus der Begegnung mit anderen entsteht. Die Anwesenheit pluraler verscheidener Meinungen und die Kommunikation dieser Meinungen ist ein Wesen in der Rationalitätsstruktur des Politischen. So setzt die politische Rationalität die Freiheit und Partizipation voraus und ermöglicht sich in der Politik der Anerkennung der anderen. Das Neue und Besondere an Arendts Pluralitätsauffassung besteht darin, dass sie die menschliche Pluralität nicht nur als eine anthropologische Bedingtheit der Menschen, sondern als das primäre Phänomen des Politischen überhaupt sieht. Politik organisiert und realisiert die absolut Verschiedenen im Hinblick auf die gemeinsame Welt. Das bedeutet nicht, dass die Politik als Werkzeug zu verstehen ist, die Vielfalt unter der Einheit zu unterwerfen. Die Politik ist vielmehr das pluralitätskonstituierende Zusammen- und Miteinander-Handeln. Eine Politik der Pluralität kümmert sich nicht nur um die Fähigkeit zur Differenzierung, sondern auch um die Fähigkeit, die Gemeinsamkeit zu herstellen. Dabei geht es um die Partizipation, die das Recht meint, in einem Beziehungssystem zu leben, wo man durch seine Handlungen und Meinungen Aufschluss darüber gibt, wer er ist. Diese Partizipation ermöglicht sowohl die Anerkennung der Unterschiede als auch das Zusammenhalt der Unterschiede. In der Angewiesenheit auf die Anerkennung Anderer und die gemeinsame Welt, die zwischen ihnen entsteht, wird die Tragweite des Pluralitätsbegriffs deutlich. In der Möglichkeit der öffentlichen Partizipation, also der eines Zusammenhandelns der Vielen, liegen die Freiheit des Menschen und zugleich die einzelne Verantwortlichkeit für die gemeinsame Welt begründet. Einen Einblick in diese partizipatorische plurale Politik zu geben, war das Ziel der vorliegenden Ausführung. 344 VI. Literaturverzeichnis 1. Werke und Aufsätze Hannah Arendts Arendt, Hannah: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 1929. Arendt, Hannah: Philosophie und Soziologie. 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