Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Samstag, 25.08.2001 Nr.196 67 Auf der Verliererseite Robert Spaemann über Ethik und ihre Grenzen Philosophische Ethik erfüllt sich nicht in der Betrachtung und nicht im Erkennen. Sie hat, wenn man Aristoteles, der sie begründet hat, folgt, ihren Sinn darin, dass wir gut werden – durch Reflexion und begriffliche Erörterung besser imstande sind, ein gutes Leben zu führen. Insofern ist alle Ethik «angewandt», wie allgemein ihre Klärungen auch sein mögen. Wo ein bestimmtes, möglicherweise aktuelles Problem die ethische Reflexion herausfordert, kommt deren «Angewandtheit» nur deutlich zum Vorschein: Eine Frage aus dem Zusammenhang des alltäglichen Lebens hat jene spezifische Intensität bekommen, die zur philosophischen Erörterung drängt. Wo dieser Ursprung bestimmter ethischer Fragen gegenwärtig bleibt, kann auch über die Lebensverbundenheit der allgemeinen Begriffe, die in der Erörterung der bestimmten Frage leitend sind, kein Zweifel aufkommen. In seinem jüngsten Buch trägt Robert Spaemann die für das ethische Denken wesentliche Spannung zwischen Allgemeinheit und Besonderheit ohne Verkürzungen aus: Die hier von ihm versammelten Texte sind einerseits den «Grundfragen» der Ethik gewidmet – die denkbar umfassendste, nämlich die, was philosophische Ethik überhaupt sei, eröffnet den Band; auf sie folgen Klärungen von Begriffen wie Natur und Handeln, Glück, Menschenwürde, Gewalt, Verantwortung und Tugend. Andererseits widmet sich Spaemann dem, was er «Themen der Zeit» nennt. Das reicht von der Verteidigung des Sonntags gegen die Zumutungen der Arbeitsgesellschaft über den Zweifel an der Tragfähigkeit von «Werten» zur Rechtfertigung militärischer Aktionen bis zu jenen Fragen, die als Themen der Zeit in aller Munde sind: Wie sind die Grenzen biologischer und medizinischer Eingriffe ins menschliche Leben zu ziehen? Gibt es ein Recht auf den «guten», medizinisch bewusst herbeigeführten Tod, gibt es ein Recht auf die Tötung ungeborenen Lebens? Weltethos? Je gewissenhafter solche Fragen verfolgt werden, desto entschiedener führen sie zu grundsätzlichen Erwägungen zurück: Welche Möglichkeiten hat die ethische Reflexion, in der modernen Welt zu orientieren? Kann es in einer durch Globalisierung geprägten Welt auch so etwas wie eine allgemeine Ethik, ein «Weltethos» geben? Spaemanns radikale und durchaus scharf formulierte Absage an dieses «Projekt» ist aufschlussreich für sein Verständnis der philosophischen Ethik überhaupt: In dem Versuch, aus allen grossen Religionen eine universale Quintessenz zu gewinnen, kann er nur eine höchst problematische Instrumentalisierung der Religion durch die Philosophie sehen; es geht nicht darum, die jeweilige Bindung durch eine Religion oder auch durch andere Lebensformen ins Allgemeine aufzuheben, sondern darum, von den Voraussetzungen der eigenen Lebensform aus die Möglichkeit allgemeiner Erörterung wahrzunehmen – zu sehen und zu realisieren. Das Sittliche kommt nicht durch die Ethik in die Welt, sondern die Ethik hat nur die Möglich- © 2001 Neue Zürcher Zeitung AG keit zu einer angemessenen Deutung des Sittlichen. Diese wiederum ist nicht als unbeteiligte Beschreibung und Analyse im Sinne einer «MetaEthik» zu verstehen, sondern zielt darauf, die gegebenen und geteilten sittlichen Überzeugungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Konsistenz und Einheit so zu erörtern, dass auch ihre argumentativ ausweisbare Gemeinsamkeit mit den sittlichen Überzeugungen anderer Kulturen in den Blick kommen kann. Spaemann überschätzt also die philosophische Ethik nicht, er warnt geradezu vor deren Überschätzung. Das aber geschieht um der Ethik willen: Spaemann macht unmissverständlich klar, dass die Möglichkeiten der philosophischen Ethik mit der Einsicht in ihre Grenzen verbunden sind – der Titel seines Buches betrifft also in erster Linie die Ethik selbst. Nur wenn die Ethik nicht mit dem Anspruch eines neutralen und deshalb sachgerechten Expertenwissens vertreten wird, sondern ihre Gebundenheit an bestimmte Lebensformen zugestanden ist und transparent gehalten wird, entspricht sie ihrem Wesen. Freilich macht Spaemann sich keine Illusionen darüber, dass die Ethik wegen ihrer Angewiesenheit auf sittliche Lebensformen in einer prekären Situation ist. Wie er lakonisch festhält, nehmen die «moralischen Selbstverständlichkeiten» ab, und eben das bringt die grossen, die übersteigerten Erwartungen an die philosophische Ethik hervor. Wenn der Versuch, sie zu erfüllen, jedoch gleichbedeutend mit einer Verkennung des Wesens der Ethik ist, findet sich einer, der vor der Überschätzung der Ethik warnt, auf der «Verliererseite»; er hält an einer Möglichkeit der Philosophie fest, deren Bedingungen zusehends schwächer werden. Aber das hat man, wie Spaemann meint, zu akzeptieren. Die Ethik müsse bereit sein, auf der Verliererseite zu stehen. Dann könne sie vielleicht nichts verhindern, aber sie könne aufhalten, und aufhalten heisse: Zeit gewinnen, Zeit für vernünftigere, also bessere Entscheidungen. Spaemann ist ein skeptischer Ethiker, der nicht an den Möglichkeiten der Ethik selbst, wohl aber an denen ihrer Realisierung zweifelt und dennoch die Hoffnung nicht aufgibt. Damit ist die eigentümliche Freiheit des ethischen Philosophierens bezeichnet: ausserhalb der alltäglichen Selbstverständlichkeit und ihr dennoch im Versuch der vernünftigen Klärung von Handlungsmöglichkeiten verbunden. Der ethische Diskurs schreibt nicht vor, sondern zeichnet nur Bahnen auf, in denen sich eine vernünftige – und das heisst: freie Lebensorientierung bewegen kann. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Strategie der Selbstlegitimierung, der problematischen Beruhigung bei den guten, den allzu guten Gründen, die das eigene Tun plausibel erscheinen lassen sollen, durchbrochen, zum Innehalten gebracht wird. Man lese unter diesem Gesichtspunkt einmal – und noch einmal die luziden Ausführungen Spaemanns zum Krieg in Kosovo, und man kann erfahren, wie die Philosophie das alltäglich-strategische Reden schwer machen und so zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der in Frage stehenden Situation beitragen kann. Man lese die Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung klaren Überlegungen zur Todesstrafe, in denen Spaemann gewissenhaft die möglichen Argumente für und wider prüft und zu einem ebenso klaren wie eindeutigen Ergebnis kommt. Hier und in den anderen Essays zeigt sich, dass die Philosophie in ihrer Überzeugungskraft nur im Abstand von privaten und politischen Absichten, fern von der Macht ihre eigentümlich Stärke findet. Oder, wie Spaemann es ausdrückt: «Philosophie kann nur im Medium der Anarchie gedeihen.» Das Natürliche Eine philosophische Ethik im Sinne Spaemanns kann sich von den Setzungen und Schematisierungen des alltäglichen Lebens jedoch nur freimachen, ohne in Willkür zu geraten, wenn sie einem Mass verpflichtet ist; sie braucht ein Kriterium dafür, was sie im Zuge ihrer Erörterungen als das Konsistente und in diesem Sinne Vernünftige verstehen kann. Das Mass der Ethik ist für Spaemann das Natürliche – nicht «die Natur», erst recht nicht die Natur in romantischer Verklärung, sondern die vor allem am Lebendigen ablesbare innere Stimmigkeit der Gestalt und des Geschehens. Lebensweisen, Handlungen leuchten dann ein, wenn ihnen bei aller Absichtlichkeit das «Willentliche», das absichtsvoll Gewaltsame fehlt: «Erst wo das Nichtnatürliche natürlich erscheint, ist das Ziel erreicht.» Was sich – ganz im Sinne des platonischen und aristotelischen Denkens – als positive Beschreibung des Lebens anbietet, kann andererseits auch Kriterium für die Beurteilung von Handlungsalternativen sein. In seiner Auseinandersetzung © 2001 Neue Zürcher Zeitung AG FEUILLETON Samstag, 25.08.2001 Nr.196 67 mit der sogenannten Sterbehilfe unterscheidet Spaemann zwischen Töten und Sterbenlassen; nur Letzteres ist natürlich, naturgemäss, während das Erstere immer gewaltsam ist – der scheinbar menschenfreundlichen Begründungen bedarf es nur, um diese Gewaltsamkeit zu verschleiern. Was sich hier zeigt, gilt allgemein: Das Handeln kann seine eigenen Bedingungen nicht schaffen, sondern diese werden ihm von der Sache, auf die es einwirkt, vorgegeben. Das gilt auch angesichts einer ihre Perfektion anstrebenden Technik, die in dem Versuch, ihre eigenen Bedingungen zu schaffen, nichts anderes als die radikalste Ausprägung der Gewaltsamkeit ist. Spaemanns Überlegungen, seine oft sehr pointierten Stellungnahmen werden kaum allgemeine Zustimmung finden. Das ist normal, es gehört zum ethischen Diskurs, zur Auseinandersetzung um Orientierungsmöglichkeiten im Leben, die mit vielen Stimmen geführt sein muss, damit die Fragen und die möglichen Antworten sich überhaupt artikulieren. Doch müsste jeder, der sich mit Spaemanns Beiträgen zur Ethik beschäftigt, zugestehen können, dass diese Beiträge die Auseinandersetzung bereichern – mehr als vieles sonst von dem vielen, das zu Fragen der Ethik im Zeitalter ihrer höchsten Prominenz auf den Markt kommt. Niemand kann Spaemann ernsthaft lesen, ohne anschliessend klarer zu sehen. Was sonst ist von einem Philosophen zu erwarten? Denken, entscheiden muss dann jeder selbst. Günter Figal Robert Spaemann: Grenzen. Zur ethischen Handelns. Klett-Cotta, Stuttgart 2001. 559 S., Fr. 62.–. Dimension des Blatt 2