53 K. O. Götz und die Musik Liest man sich durch die zweibändige

Werbung
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 53
K. O. Götz und die Musik
Liest man sich durch die zweibändige autobiographische
Retrospektive des 1983 erschienenen Werkkatalogs1, so fallen die zahlreichen Konnotationen zur damaligen zeitgenössischen Musik auf und
die Begegnungen mit den Protagonisten der punktuellen und seriellen
Musik2 nach dem zweiten Weltkrieg liest sich wie ein Who is Who der
Darmstädter Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, die K. O. Götz
seit 1953 regelmässig besuchte. Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen lernte er persönlich kennen und Herbert Eimert, Werner MeyerEppler, Heinz-Klaus Metzger, Theodor W. Adorno, Gottfried Michael
König, Iannis Xenakis, Luigi Nono, Luciano Berio, Mauricio Kagel,
György Ligeti, John Cage, all diese theoretischen Impulsgeber und
kompositorischen Markensetzer zeitgenössischer Musik in Europa und
Amerika, reflektierte er mit vitalem Interesse und frappierender
Expertise. So kommen in seinen Kommentaren zahlreiche zentrale
Themen des damaligen ästhetischen Diskurses zur Sprache, wie
strikter Determinismus, „Zufalls“- Konzepte, Parameter- und
Materialdenken, Formprobleme, Gruppenorganisation, graphische
Partitur, Deckungsgleichheit zwischen Konzept, technischer
Produktion und beabsichtigter Wirkung, und dergleichen mehr. Alles
Aspekte also, die sich ohne Weiteres in Analogie bringen lassen zur
bildnerischen Kunst, ohne diesen Gedanken zu überstrapazieren.
Neben den Konzeptionen vor allem europäischer Kunstmusik ist Götz
schon während des Krieges per Radio beeindruckt durch den amerikanischen Jazz, der im Nachkriegsdeutschland dann ab 1953 durch
Konzertreihen, wie „Jazz in der Philharmonie“ in Frankfurt, vorstellig
wird. Diese geballten Eindrücke im historischen Fadenkreuz seit 1945
konzentrieren sich innerhalb des Kunstbereiches auf Paris und New
York, zentriert durch die Schlüsselfigur Wassily Kandinsky, dessen
„abstrakter Expressionismus“ die Malerei aus den Zwängen der gegenständlichen Figuration befreit. Ebenso wie „Tachismus“ und das
„Informel“ entwickeln die amerikanischen Künstler des „Action
Painting“, vorbereitet durch die europäischen Emigranten der frühen
53
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 54
Schwarze Rhythmen, 1951, 130 x 260 cm, Lack und Öl auf Leinwand
Avantgarde, kritisch Kandinskys Ansatz weiter, ganz ähnlich wie die
jungen Komponisten der seriellen und postseriellen Musik den
Entwurf der Zweiten Wiener Schule relativieren3.
So ist es legitim und auch ein Leichtes etwa vier Etappen im Werk von
K. O. Götz auszumachen, die sich mit Konzepten und Fragestellungen
oben genannter Komponisten in Analogie bringen lassen. In „Schwarze
Rhythmen“ (1951/ 130x260 cm/ Lack und Öl auf Lwd.) ist die Ähnlichkeit
zu Henri Matisses 1947 im Druck erschienenen Jazz-Scherenschnitte
unverkennbar. Ebenso die Akzentuierung beider Künstler zweier typischer Elemente des Jazz: verspielte Rhythmen und das Jonglieren mit
vorgefertigten kleinen melodisch-motivischen Patterns, die hier in
verwandten Bildelementen erscheinen. Schon ein Jahr später, 1952, so
Götz, würde er in der Lage sein, die flächigen klassisch-geometrischen
Formelemente aufzulösen und eine Bildfaktur zu erlangen, „die so
aufgelöst erschien, wie meine Monotypien der 40er Jahre.“
Diese „Rakelbilder“ mit ihren Schemata stellen die zweite und wichtigste Etappe in seinem Werk dar. Sie werden bis heute mit der Malerei
von K.O. Götz identifiziert, es ist das, was seine Malerei ausmacht und
er hat sie seither ständig weiter entwickelt. Aufschlussreich in diesem
Zusammenhang sind Götz’ Bemerkungen zu serieller Musik und Jazz,
54
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 55
gerade auch wenn er sie seiner Malerei gegenüberstellt:
(über den Pianisten Bud Powell) „Es war nicht allein die Virtuosität, die
mich faszinierte, sondern vor allem der Einfallsreichtum seiner
äusserst komplexen, ineinander verschachtelten Figuren.“
(über Charlie Parkers Komposition „Coco“) „Es erinnert mich an sehr
komplexe informelle Bilder, wie z.B. die Schwarz-Weiss-Zeichnungen
von Pollock um 1950, wenn man sie bei der Betrachtung zeilenweise
abtastet.“
(über Lee Konitz) „Das Neue an seinen Erfindungen war die Aneinanderreihung von kleinsten Figuren, die sich nie wiederholten und in einem
atemberaubenden Tempo heruntergespielt wurden.“
„In der Entwicklung des Bebop und Cool Jazz glaubte ich eine Parallele
zur informellen Malerei zu erkennen. Es ist aber nicht so, dass diese
Musik mich in meiner Malerei beeinflusst hätte. Die Verschiedenheit
O. T., 1953, Gouache auf Bütten, 23 x 30 cm, Saarland Museum Saarbrücken
55
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 56
der Medien und der Räume, in denen sie sich entfalteten, schliesst eine
direkte Beeinflussung aus. Ich glaube aber, dass damals etwas in der
Luft lag, was die verschiedensten künstlerischen Disziplinen prägte,
man mag es nun die Auflösung klassischer Formelemente im Rahmen
sehr komplexer Strukturen nennen oder sonst wie. Ich spürte es nicht
nur bei den besten Vertretern des Bebop und Cool Jazz, sondern noch
deutlicher in der seriellen Musik, wie ich sie in Darmstadt erlebte. Der
Unterschied lag darin, dass die neue Jazzmusik bei aller Intellektualität
dynamischer und mitreissender war als die viel komplexere, aber
trockenere, serielle Musik, bei der die Aufmerksamkeit oft schon nach
10 Minuten stark nachliess oder gar zusammenbrach. Ich empfand
schon damals, dass viele Stücke von Stockhausen für mich zu lang
waren, d.h. nicht nur für mich.“ Dieser Aspekt der emotionalen
Befreiung des Free Jazz-Solospiels wird ihm durch Gespräche mit Albert
Mangelsdorff und Peter Brötzmann bewusst. Neben diesen Tendenzen
im Jazz der 50er Jahre sieht sich K. O. Götz konzeptionell Iannis Xenakis
am stärksten verwandt, seine Kompositionen gehören bis heute zu
seinen Lieblingswerken.
„Metastaseis“ (1953/54) und „Pithoprakta“ (1955/56) hört er im Radio,
aufgeführt von Hermann Scherchen, dem so wichtigen Mentor der
Neuen Musik und Herausgeber der Schriftenreihe „Gravesaner Blätter“.
Beide Werke stehen im Zusammenhang mit Xenakis` architektonischer
Arbeit bei Le Corbusier und seiner Suche nach übergeordneten
Prinzipien, die aller Wissenschaft und allen Künsten zugrunde liegen:
„Bis heute gehören Kompositionen von Iannis Xenakis zu meinen
Lieblingsstücken zeitgenössischer Musik. Sie erinnern mich in ihrer
Härte und Struktur an meine Schwarz-Weiss-Gouachen ab 1953. Diese
Musik, auch die von Ligeti, hat etwas Informelles. Sie erinnert mich
nicht etwa an informelle Bilder, sondern sie ist für mich die
Bestätigung eines übergeordneten Prinzips der Formauflösung, das
unendlich viele Möglichkeiten in sich birgt, ganz abgesehen von der
Vielfalt des Klang- oder Malmaterials.“4
„Xenakis mit seinen Kompositionen entsprach meinem Temperament
am meisten. Das fing 1955 mit Metastaseis an und hält bis heute an.
Seine musikalischen Hiebe und Glissandi entsprechen (so empfinde ich
56
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 57
Foss II, 1991, Gouache auf Karton, 100 x 50 cm, Sammlung Ingrid und Willi Kemp
57
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 58
es manchmal) meinen Rakelzügen, Schleifen, Kratzern und Passagen.
Man darf diesen Vergleich nur nicht zu genau nehmen.“ Es besteht
übrigens eine interessante Ähnlichkeit in Aussehen und Funktion
zwischen dem Götz’schen Rakel und einem Percussionsinstrument,
den „Woodblocks“, die durch Edgard Varèse in die Orchestermusik
eingeführt und von Xenakis übernommen wurden. Wie die Rakeltechnik in einem zweiten Schritt nachbearbeitet und zu überraschenden Lösungen und Wendungen im Bildgeschehen führt, so können die
rhythmischen Signale der Woodblocks auf einer zweiten akustischen
Meta-Ebene das klangliche Geschehen der übrigen Instrumentengruppen in einen neuen semantischen Zusammenhang setzen.
Eine dritte stilistisch markante Werkgruppe von K. O. Götz stellen die
ab 1959 entstandenen Rasterbilder dar. Götz selbst sieht sie eher als
Nebenprodukte, die aber immerhin Ausdruck seiner wissenschaftlichpsychologischen Ambitionen sind. Er sah sie als Vorstufe zu elektrisch
programmierten, beweglichen Rasterbildern an und hatte die Idee
bereits mit Werner Meyer-Eppler5 diskutiert. In diesen Rasterbildern
wurde Farbe statistisch verteilt, Götz wollte so entstehende
Farbverschiebungen quantitativ, nicht nur qualitativ, untersuchen.
Diese Untersuchungen erinnern sehr an Xenakis‚ stochastische
Konzepte und G. M. Koenigs Versuche mit elektronisch gesteuerter
Komposition, von denen er sich nun wegen der sich für ihn einstellenden Reizabstumpfung distanziert, sie scheinen aber auch eine
Abwehrreaktion zu neodadaistischen Tendenzen in der bundesrepublikanischen Musik der frühen 60er Jahre gewesen zu sein. Nun ist Ligeti
sein Favorit, gerade auch weil dieser von aleatorischen und deterministischen Verfahren absieht:
„Für mich war Atmosphères von Ligeti ein so grosses Erlebnis, weil es
mich einerseits in seiner stehenden Klangtextur an meine beweglichen
Rasterbilder erinnerte, an meine geplante elektronische Malerei,
zumindest im Prinzip. Andererseits war ich überwältigt von den
Klangwolken, die scheinbar unbeweglich im Raum standen, in denen
es aber siedete und kribbelte. Einzelstimmen waren nicht mehr zu
hören, Rhythmik auch nicht. Es gab keine erfassbaren Tongestalten.
Das Ganze war ein farbiges Geräusch mit tausenden von Mini-
58
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 59
bewegungen. Es war ein informelles Geschehen, eine farbige Vibration,
wie sie in der Malerei bereits einige Jahre zuvor von Gerhard Hoeme
realisiert wurde. Wie schon erwähnt, hatte Ligeti die Entwicklung der
informellen Malerei mit starkem Interesse verfolgt.“6
Als vierte Gruppe von Werken, in denen man Affinitäten zu musikalischen Konzepten oder Wirkungen ausmachen kann, können Bilder
gelten, wie Foss II (1991/ Gouache auf Karton, 100x70 cm) oder Entwurf
zu Nirak ( 1980/ Gouache auf Karton, 40x100 cm). Beide verstehen sich
als aktuelle Variationen der Ursprungsidee des Rakelbildes der 50er
Jahre. Der diagonale Aufbau in erstem, als auch die Dreiteilung plus
einem meandierenden links-rechts Formanten im zweiten Bild finden
eine glatte Analogie in Xenakis‚ Metastaseis: Die Komposition ist von
der Anlage her als ein Ganzes konzipiert, als ein zeitlich organisierter
Klangraum, der die dreiteilige Form plus Coda in der dreifachen
Abfolge von Klangzuständen zyklisch durchläuft. Zusätzlich fliesst die
Idee einer permanenten Umwandlung von Klangzuständen mit ein.
Diese wird noch verstärkt durch den Einbau einer chromatischen
Achse, welche die Komposition stabilisiert und gleichzeitig das
Umwandlungsgeschehen subkutan in Fluss hält: Anfang g – Ende gis.
Xenakis verweist in diesem Zusammenhang auf seine Idee einer dialektischen Transformation. Wobei diese Vorstellung wiederum eine
Entsprechung findet in den Positiv-Negativ-Fakturen, ein typisches
Schema des Götz´schen Elementekanon. Schliesslich finden auch
Objekte, wie Mark, 2001 (Edelstahlrelief/ schwarz lackiert/ 109,5x 100x
9,5 cm) zumindest in ihrer Gestalt musikalische Entsprechungen, denkt
man nur an Xenakis graphisch angelegtes computerisiertes
Kompositionssystem Upic mit der Vorstellung der Linie als allgemeinstem gemeinsamen audiovisuellen Nenner, oder dem harmonolodischen Konzept Ornette Colemans, der übliche melodische Muster in
abstrakte Schwingkreise aufzulösen versucht.
Dass Musik für K. O. Götz mehr war als ein blosses Stimulans, um in
schwierigen Zeiten weiter zu machen und er schon bei seinen ersten
Beschäftigungen mit pianistischer Literatur von Hindemith, Bartok,
Poulenc und Prokofieff ein ausgeprägtes strukturelles Interesse zeitigte, verwundert nicht. Ebenso wenig überraschen die Parallelen des
59
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 60
Entwurf I zu Nirak, 1980, Gouache auf Karton, 40 x 100 cm, Privatbesitz Saarbrücken
Abbaus der Dur-Moll-Harmonik, die Emanzipation der Dissonanz und
die Neuordnung der Musik durch die Zweite Wiener Schule und die
weiterführenden Massnahmen der Seriellen in der Malerei: Ablehnung
der Figurativen Darstellung, Hinwendung zu abstrakten Bildelementen
und schliesslich die Abwendung von der geometrischen Abstraktion.
Ähnlich wie Jackson Pollock übernimmt und entwickelt K. O. Götz eine
Technik, die eben einer möglichen Musizierhaltung des Jazz entspricht
und kein Selbstzweck ist: ein Musiker-Komponist entwirft spontan
eine Idee, lässt sich auf einen korrespondierenden Prozess ein zwischen
diesem Entwurf und seiner eigenen Reaktion darauf, gestaltet nach
und hält erst inne, wenn ein gewisser Sättigungsprozess in seinem
Reflex und in der Materialbefindlichkeit erreicht ist: ein hochkonzentrierter, schnell ablaufender Prozess, der nun durch akustische Reize
nicht mehr gestört werden darf. Dabei ist die äussere Form, die
„Rahmenbedingung“ bestimmt durch die Energetik und den
Aktionsradius des Malers. Dennoch integriert Götz mit der Rakelphase
des Prozesses konzeptionelle gestalterische Massnahmen, setzt
konfektionierte interne Elemente (Schemata) ein, was wiederum dem
planerischen Vorgehen eines Komponisten entspricht. Die TexturStruktur-Form-Problematik bzw. die Entscheidung über das adäquate
Mass an unbewussten bzw. rationalen Strategien wird also integrativ
gelöst und die von ihm angemahnte Deckungsgleichheit zwischen
60
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 61
Mark, 2001,
Edelstahlrelief
(schwarz lackiert),
109,5 x 100 x 9,5 cm,
Privatbesitz Saarbrücken
Konzeption, technischer Realisierung und bildnerischer Intention
kommt so mühelos zur Wirkung und entfaltet sich als ein einziges
Moment. Wie sehr die Idee des Informel auch die musiktheoretische
Debatte beschäftigte, zeigt sich alleine schon an Adornos manifestartigem Vortrag von 1961 bei den Darmstädter Ferienkursen unter dem
Titel „Vers une musique informelle“. Xenakis veröffentlicht im Jahre
1962 eine Essay-Sammlung unter dem Titel „Musiques formelles“. Der
eifersüchtige Entwurf Adornos einer musikalischen Utopie verbat sich
Analogien zur bildenden Kunst und war auch mit den Versuchen von
Aleatorik und offener Form letztlich nicht einverstanden .
Noch 1965 erschien im Band 5 der Veröffentlichungen des Instituts für
Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt ein Aufsatz von Friedhelm
Döhl mit dem Titel „Sinn und Unsinn musikalischer Form“, der ähnlich
diffus die serielle Musik als Sackgasse sieht zwischen einer ersten und
zweiten Phase informeller Musik. Xenakis hatte sich der Form-Debatte
entzogen, indem er seinen Formalismus auf allgemeingültige
Prinzipien gründet, die axiomatisch in Modellen deduziert werden
(was in etwa der Bildung der Götz’schen Schemata entspricht) und in
61
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 62
den Kompositionen zum Ausdruck kommen, allerdings nicht, wie bei
Götz, als Neues generierende übergeordnete Form-Auflösung: „Kaum
ein bedeutender Komponist, der sich nicht intensiv mit der Frage
angemessener Formtypen befasst hätte. Boulez bemühte 1960 z. B. den
Strukturbegriff zur Erläuterung „mobiler“ Formen, während Stockhausen etwa zur gleichen Zeit schon ein ganzes Arsenal „punktueller“,
„kollektiver“, „variabler“, „vieldeutiger“ Formen, nebst „Gruppen“- und
„Momentform“ angesammelt hatte. Für Xenakis bestand hinsichtlich
der Formfrage offensichtlich zu keinem Zeitpunkt ein ernsthaftes
Problem. Dabei ist die Form auch in der formalisierten Musik durchaus
eine variable Grösse, die vom Komponisten zwangsläufig mitbestimmt
werden muss, und sich nicht allein aus der Technik ergibt.“7 Im
Nachhinein erscheint die Formfrage in der Musik als ein Problemfeld,
das sich aus dem Zusammenspiel von kompositorischer Technik, der
Entstehung neuartiger interner musikalischer Gestaltelemente und
der Forderung nach der Entwicklung einer neuartigen äusseren Gestalt
oder Form ergibt. Es ist eben keine quasi-philosophische Raum-ZeitProblematik, die sich in der Entscheidung über Determination/Zufall in
Richtung Formauflösung lösen lässt, ebenfalls keine Frage der Art und
Weise der (De)Konstruktion, sondern findet ihr Regulativ in den
kognitiven Bedingungen auditiver Wahrnehmung: Musik muss in
Bewegung gebracht werden und entsteht auf der Wahrnehmungsebene als Folge von Einzelmomenten, die per Gedächtnis das Ende
durch die Erinnerung des Anfangs zeitlich „in Form“ bringt. K. O. Götz
hatte dies begriffen, als er sich für einen Kompositionsprozess entschied, der ohne intellektuellen Filter direkt ein Materialgeschehen in
Bewegung setzt, dessen ästhetische Wirkung über jeden Zweifel
erhaben ist. Dieser Impuls verdankt sich seiner Erfahrung mit dem Jazz.
Gleichzeitig vollzieht er, ähnlich wie Ligeti (und Andere), den Schritt
von strukturalen Vorstellungen hin zu dem, was kurze Zeit später von
Hellmut Lachenmann als „Texturklang“ identifiziert wird.
Dennoch bleiben gerade die Rakelbilder von K. O. Götz im eigentlichen
Sinn das, was sie von Anfang an sein sollten: Malerei.
Thomas Schmidt
62
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 63
Anmerkungen:
1
2
Erinnerungen und Werk, Band I a, I b/ Concept Verlag/ Düsseldorf/ 1983
„Nach französisch la série = die Reihe bezeichnet Serialismus ein kompositorisches
Prinzip, das die musikalischen Bausteine (oder Parameter) in Reihen ordnet: Tonhöhen,
Dauern, Lautstärken, Klangfarben und verschiedene Arten der Klangerzeugung lassen
sich bestimmen, indem jedem Ton, jedem Lautstärkegrad usw. eine Zahl zugeordnet
wird. Die Auswahl dieser Zahlen geschieht nach mathematischen Prinzipien. In der
Regel erstellt der Komponist zunächst eine Grundreihe aus den Zahlen von 1 bis 12, die
dann Veränderungen, Permutationen etc. unterworfen wird. Das Ergebnis dieser
Zahlenoperationen, z. B. ein mathematisches Quadrat, bildet die Grundlage der
Komposition. … Bis in die 1960er Jahre hinein prägte der Serialismus das musikalische
Denken in weiten Teilen Europas und den USA.“( Aus: SWR Kompass Neue Musik/ Pfau/
Stefan Fricke, Lydia Jeschke/ Südwestfunk Baden-Baden/ 2007/ S.120 ff.).
„ Später wird dieses Prinzip sogar auf Tongruppen oder musikalische Einheiten wie
Gruppendauer, Tonumfang, Tönemenge und Dichte übertragen. Werden so die
Parameter des Einzeltones (Tonpunktes) behandelt, spricht man mit Stockhausen von
punktueller Musik, bei serieller Regelung von Tongruppenparametern von
Gruppenkomposition.“ (Aus: Abendländische Kompositionslehre/ Wolf Frobenius// in:
Musikwissenschaft, Ein Grundkurs/ rororo/ H. Bruhn, H. Rösing/ Hamburg/ 1998 / S.
278). Dabei fokussierten die theoretischen Debatten die Begriffe „Form“ und
„Determination/ Aleatorik“, die differenzierter geführt wurden als es die blosse
Unterscheidung zwischen Kompositionstechnik und historischer Gattungs-/
Formbegriffe zunächst nahe legt. „Aleatorik wurde vielfach als dialektischer Umschlag
von der totalen Determination ins entgegengesetzte Extrem (Indetermination) oder
als praktische Konsequenz aus dem Umstand betrachtet, dass schon die totale
Determination der historisch vorausgehenden seriellen Musik zu unvorhersehbaren
Ergebnissen führte (Ligeti 1960). … Aleatorik bezeichnet seit 1957 eine
Kompositionsweise, bei der die Teile einer Komposition in bestimmter Weise vertauscht werden können und/ oder in ihrer Ausführung variabel sind, häufig auch die
gänzlich mittels Zufallsoperationen hergestellte Musik von John Cage und die musikalische Graphik. Will Cage „die Töne zu sich kommen lassen, anstatt sie für den
Ausdruck von Gefühlen, Ideen oder Ordnungsvorstellungen auszubeuten“, so erstreben Stockhausen, Boulez und Koenig die offene (mehrdeutige) Form; Hermann Heiß
und Franco Evangelisti wiederum wollen die Aleatorik in die reine
Gruppenimprovisation überführen“.(ebda., S. 179 ff.). Dabei bleiben die musikalischen
Grundelemente und ihre Bearbeitung zu einem raum-zeitlichen Kontinuum seit dem
Mittelalter gleich: „ …so ist heute im Anschluss an die Unterscheidung von processus
und structura in der mittelalterlichen Musik grob schematisierend festzustellen, dass
der Komponist in zwei Richtungen arbeiten kann: Entweder er geht von einer gegebenen Kohärenz aus und bemüht sich um Divergenz; oder er muss in einem Material, das
von sich aus Divergenz bietet, Kohärenz schaffen … Bei geschlossenen Formen wie
liedartigen Stücken oder Sonatensätzen muss man sich um Divergenz bemühen – bei
den mittelalterlichen Cantus-firmus-Kompositionen (Notre-Dame-Choralbearbeitungen, Motette. Messsätze), in den Formen der Polyphonie (Kanon, Imitationen, Fuge
63
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
3
4
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 64
usw.), in der musikalischen Prosa und in der seriellen Musik um Köhärenz.“ (ebda., S.
274).Eine weitere, vielleicht letzte Etappe seriellen Denkens mündet bei Ligeti in der
Unterscheidung zwischen Struktur (seriell) und Textur (postseriell), die er hinsichtlich
der musikalischen Form im Jahre 1960 trifft: „ Während unter „Struktur“ ein mehr differenziertes Gefüge zu verstehen ist, dessen Bestandteile unterscheidbar sind, und das
Produkt der Wechselbeziehungen dieser seiner Details zu betrachten ist, ist mit
„Textur“ ein homogener, weniger artikulierter Komplex gemeint, in welchem die konstituierenden Elemente fast völlig aufgehen. Eine Struktur kann gemäss ihren
Komponenten analysiert werden; eine Textur ist besser durch globale, statistische
Merkmale zu beschreiben:“ (Aus: Gianmario Borio/ Musikalische Avantgarde um 1960.
Entwurf einer Theorie der informellen Musik/ Freiburger Beiträge zur
Musikwissenschaft/ H. Danuser, Hg. / Laaber/ 1993/Internetveröffentlichung unter:
www.ueliraz.ch/ rezensionen/ Borio.htm).
Helmut Lachenmann belegt diese Tendenz mit den Begriffen „Texturklang“ und
„Klangbewegung“. (s. Klangtypen der neuen Musik, in: Zeitschrift für Musiktheorie,
1970, Heft 1, S. 20-30, hier 28).
Über die möglichen Beziehungen zwischen Musik und Malerei bei Kandinsky: „ … und
nur das strukturelle Prinzip der Musik ein Vorbild für die „abstrakte Komposition“
einer Malerei der Zukunft aus den selbstständigen Elementen Farbe und Linie sei. Die
Analogie zur Musik beruht für ihn also wesentlich auf den abstrakten Kompositionsgesetzen … .“ ( zum Briefwechsel Kandinsky-Schönberg; aus: Arnold Schönberg und der
Blaue Reiter/ H. Friedel, A. Hoberg/ / in: Schönberg-Kandinsky, Blauer Reiter und russische Avantgarde/ Arnold Schönberg Center/Wien/ 2000/ S. 79). Eine glatte Analogie also
zur Inspiration von K. O. Götz durch György Ligeti. Und zur amerikanischen Szene:
„Falls du keinen Freund hast, der ein Maler ist, so bist du in Schwierigkeiten.“ Morton
Feldman, der dies 1984 in einem Vortrag bei den Darmstädter Ferienkursen sagte, zählte – wie die befreundeten Komponisten John Cage, Earle Brown und Christian Wolff –
einige Maler zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis: u. a. Jackson Pollock, Jasper
Jones, Willem de Kooning, Ad Reinhardt, Barnett Newman, Robert Rauschenberg, Franz
Kline, Philip Guston und Mark Rothko, die man (plus einige Dichter wie Frank O`Hara)
zur informellen Gruppe des US-amerikanischen „Abstract Expressionism“ oder der
„New York School“ der 1950er Jahre zählt. Verbindliche ästhetische Programme entwickelte die Formation allerdings nicht, genauso wenig wie die besagten vier
Komponisten, die das Feuilleton zur musikalischen „New York School“ stilisiert hat.“
(Aus: SWR Kompass Neue Musik/ Pfau/ S. Fricke, L. Jeschke/ Südwestfunk Baden-Baden/
2007/ S. 99).
Iannis Xenakis hatte in „Metastaseis“ als einem vierteiligen Orchesterwerk auf verschiedenen Schichten eine Fülle von mathematischen und geometrischen Verfahren
angewandt (Kombinatorik, Goldener Schnitt, Fibonacci-Reihe, Set-Theorie, etc.).
Aussermusikalische Phänomene, die in der Komposition zum Tragen kommen, waren
der damals neuartige Gasbeton (Massenklänge), sozialpsychologische
Massenphänomene (Ordnung/ Unordnung) und hyperbolische Paraboloiden
(Glissandi), die neben seriellen durch stochastische Verfahren in
Klangdichtigkeitsfelder und massenstatistische „Champs sonores“ transferiert
wurden. Insbesondere sind es die Glissandi, die zur Wirkung kommen und deren
64
Go?tz_Innenseiten¥11:Layout 1
5
6
7
28.04.2009
7:21 Uhr
Seite 65
Berechnung wenig später in der Konstruktion des „Philips-Pavillons“ Anwendung fanden.
Meyer-Eppler war seinerzeit Professor und Direktor des Instituts für Phonetik und
Kommunikationsforschung an der Universität Bonn. Er zeichnet u. a. verantwortlich
für den Begriff „Parameter“ in Linguistik und Musiktheorie und formulierte - unabhängig von dem amerikanischen Musiktheoretiker J. Schillinger - 1953 die Begriffe
„Elektronische Musik“ und „elektronische Klangerzeugung“. U. a. Stockhausen gehörte
zu seinen Studenten.
György Ligetis konzeptionelle Vorstellung von mikrotonalen, mikropolyphonen „inherent patterns“ und Klangzuständen in Stücken wie „Athmosphères“ oder „Continuum“
für Cembalo von 1968 mit seinen „gleichmässigen Rastern“ führen ihn später zu polyrhythmischen Konstruktionen und der Beschäftigung mit afrikanischer polyphoner
Musik: Ein Auszug aus dem Booklet einer CD-Produktion von „Teldec“ aus dem Jahre
2000 macht nachträglich die Inspiration zu Götz` Rakelbildern deutlich (Ligeti beschreibt es selbst !): „Eine Sukzession von gleichmässigen, schnellen Impulsen durchzieht zum Beispiel den dritten Satz des Klavierkonzertes (1985-1988; Anm. d. Autors),
und die einzelnen melodisch-rhythmischen Gestalten ergeben sich aus verschiedenen
Gruppierungen der Impulse, d.h. der „Körner“. Der Sachverhalt ist analog zu dem
Verhältnis „Pixel“ und „Bild“ am Fernsehschirm: die Pixel leuchten auf und verlöschen
in schneller Sukzession, sie bewegen sich nicht. Das alternierende Aufleuchten und
Verlöschen der unbeweglichen Bildelemente erzeugt aber die Illusion von sich bewegenden Bildern, die Bildfläche „lebt“.“
Aus: Fragmen 5/ Iannis Xenakis und die mathematische Grundlagenforschung/
Randoph Eichert/ Pfau/ Saarbrücken/ 1994/ S. 41.
65
Herunterladen