Referat Rickenbacher

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Politisches Handeln zwischen Gestaltung und Inszenierung
Dr. Iwan Rickenbacher, Schwyz
Einleitung
Visionäre hatten es in der Schweiz lange Zeit bedeutend schwerer als Divisionäre. Die
Erhaltung von Errungenem stand im Mittelpunkt des gesellschaftlichen und politischen
Werterasters, die Notwendigkeit einer gedanklichen Neugestaltung wurde nicht als dringlich empfunden. Diejenigen, welche eine Neuordnung anstrebten, waren entweder Querulanten, notorische Weltverbesserer oder allenfalls Künstler. Die Schweiz als weitgehend
kriegsverschonte Insel verstand es, innerhalb des europäischen Staatsgefüges eine starke
Position zu besetzen. Weshalb etwas neu gestalten, das schon gut ist? Insbesondere eine
politische Kraft aus dem bürgerlichen Lager, die SVP, machte diese Grundüberlegung
zum Programm – und die beispiellosen Erfolge dieser Partei seit Beginn der 70er Jahre
dokumentieren, dass sie nicht die einzige Kraft im Land war, die wenig Neigung verspürte,
neue Wege zu beschreiten.
Doch der Dornröschenschlaf, in dem sich wohl die Mehrheit der gesellschaftlichen und
politischen Akteure während einiger Zeit befand, wurde in der Vergangenheit empfindlich
gestört. Plötzlich mussten die Schweizerinnen und Schweizer zu einem neuen Selbstverständnis finden – die Diskussionen um die Rolle des Landes im zweiten Weltkrieg haben
das Wertegerüst erschüttert, zunehmend stand die Schweiz im Mittelpunkt der internationalen Kritik.
Eine neue Situation – und es blieb nicht dabei. Die jüngsten Ereignisse, namentlich der
Niedergang des „nationalen Symbols“ Swissair und der tragische Amoklauf in Zug, erschüttern und werfen Fragen auf. Viele Entscheidungsträger sind verunsichert und vorübergehend desorientiert.
Die Aufgaben der Politik in einer veränderten Umwelt
Politisches Handeln ist eng an die Funktionen des politischen Systems geknüpft. Die klassische politikwissenschaftliche Lehre geht von folgenden Funktionen aus (nach Almond /
Powell):
1. Politische Rekrutierung, d.h. Auswahl politischen Personals zur Ausübung politischer
Rollen.
2. Politische Sozialisation, d.h. Formung und Erhaltung von Einstellungen zum politischen System.
3. Vermittlung politisch relevanter Informationen.
4. Interessenartikulation, d.h. Formulierung von Forderungen an einzelne Politiker.
5. Interessenaggregation, d.h. Bündelung von Einzelinteressen zu entscheidungsfähigen
Programmen.
6. Politische Entscheidung, d.h. Umwandlung von Forderungen in Entscheidungen und
Politik; Regelsetzung, -anwendung und -kontrolle.
7. Politikimplementation, d.h. Umsetzung und Administration politischer Entscheidungen
Die zentralen Aufgaben der Politik sind beschrieben durch Herausforderungen, denen wir
uns ganz konkret gegenüber sehen: Es geht darum, unsere Gesellschaften auf drängende
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Veränderungen vorzubereiten. Unser Umfeld hat sich in den vergangenen Jahren in der
Tat stark gewandelt, explizit seien an dieser Stelle folgende Beispiele erwähnt:
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Die veränderte Umwelt manifestiert sich in der teilweisen Relativierung nationaler
Grenzen bei gleichzeitigem Fehlen von supranationalen Mitentscheidungsmöglichkeiten.
Diese teilweise Grenzenlosigkeit manifestiert sich auch in der weltweiten Wahrnehmung von Ereignissen (und deren Auswirkungen – unkalkulierbare, nicht-steuerbare
Ereignisse haben nicht mehr nur bloss lokale Auswirkungen).
Das Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Politik wird zusätzlich akzentuiert durch
die Tatsache, dass sich wirtschaftliche Prozesse immer schneller vollziehen, während
das Tempo, in welchem politische Entscheidungen ablaufen, gleich geblieben ist.
Die politischen Inhalte werden immer komplexer, dementsprechend steigen die
Anforderungen an politische Akteure kontinuierlich.
Die Antworten des politischen Systems
Besonders die Parteien mussten und müssen auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren. Bis in die 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts bestand noch eine direkte Verbindung zwischen den Parteien und den Medien, es herrschte die Ära der Parteipresse
und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In Kurt Imhofs Worten: „Es war die Zeit der formalisierten Beziehungen zwischen dem politischen System und den elektronischen
Medien.“ Politische Inhalte in den Medien wurden durch vorgegebene Kriterien beim
Rundfunk sowie politische Selektionslogiken bei der Parteipresse bestimmt. Diese Verhältnisse haben sich nachhaltig verändert. Die Quasi-Symbiose zwischen Politik und
Medien wurde durch die Symbiose Ökonomie und Medien abgelöst – die Medienunternehmen agierten nicht mehr länger interessenpolitisch, sondern renditeorientiert, an Stelle
des Kampfes um politische Meinungen trat ein harter Wettbewerb um Leser- und Inseratemarktanteile. Für die Parteien hatte diese Entwicklung einschneidende Veränderungen
zur Folge: Erstens verloren sie ihr Sprachrohr, das ihnen bis dahin kostenlos zur Verfügung stand, zweitens verloren sie ein wichtiges Instrument zur Einbindung von Sympathisantinnen und Sympathisanten. Ersatzmöglichkeiten für die nunmehr von den Medien
abgekoppelte Mehrheit der politischen Akteure gab es zwar, allerdings nur mit bescheidener Attraktivität: Entweder in Form des Zukaufs von Werberäumen, durch Ausrichtung der
Politik auf die Selektionskriterien der Medien oder aber durch die Schaffung kurzlebiger
Pseudoereignisse.
Die Parteien (am augenfälligsten und in erster Linie die SVP) reagierten auf diesen Wandel, indem sie sich den neuen Selektionskriterien der Medien anpassten. Dabei gingen sie
keinen neuen Weg, sondern kopierten das Verhaltensmuster von sozialen Bewegungen,
die dank unvorhersehbaren Aktionen, sog. „Überraschungsevents“, eine hohe Medienaufmerksamkeit und damit eine hohe mediale Präsenz erreichten. Entstanden war die
„Bewegungspartei“. Charakterisieren lässt sich diese etwa folgendermassen:
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Sie betreibt Öffentlichkeitsarbeit im klassischen Sinne
Sie führt daneben medienwirksame Aktionen in Form von zivilem Ungehorsam,
Manifestationen und Protestaktionen durch.
Sie ist funktional stark differenziert, wird hierarchisch (straff) kontrolliert und verfügt
über eine charismatische Führung.
Sie gibt sich gleichzeitig als offene, basisdemokratische soziale Bewegung.
Die SVP ist nicht nur das offenkundigste Beispiel einer Bewegungspartei (oder zumindest
einer stark verwandten Form davon), sie hat auch als erste Partei in der Schweiz auf den
Verlust des unmittelbaren Einflusses auf die öffentliche politische Kommunikation reagiert.
Sie übernimmt Verhaltensmuster von nicht-etablierten politischen Akteuren, inszeniert sich
also vergleichbar mit einer Bewegung, nimmt aber gleichzeitig an der Ausübung formalisierter Machtanwend ung teil. Dabei hat sie sich von den politischen Inhalten her nicht
gewandelt – die Kernpunkte ihres politischen Programms blieben dieselben. Auch andere
Parteien agieren mittlerweile bewegungspartei-ähnlich: Die Sozialdemokratie steht den
Bewegungen inhaltlich wohl am nächsten und auch die CVP und die FDP bedienen sich
dieser Muster.
Die erwähnten sich wandelnden Umweltbedingungen haben aber nicht nur bei den Parteien Spuren hinterlassen – auch von Seiten der Exekutiven wurden inzwischen neue
Wege beschritten. Nehmen wir das Beispiel „Stadtregierung Zug“: Im Oktober des vergangenen Jahres hatte der Grosse Gemeinderat der Stadt Zug über ein neues Friedhofsgebäude mit konfessionsneutraler Abdankungshalle zu befinden. Der Gemeinderat lehnte die
Vorlage der Stadtregierung ab, mit der Begründung, das 7,5 Mio. Franken teure Projekt
sei zu mondän respektive zu teuer und dürfe nur mit maximal 6 Mio. Franken zu Buche
schlagen. Nach der Ablehnung des Baukredits durch den Gemeinderat ging der Stadtrat in
die Offensive: Er lancierte kurzerhand eine Volksinitiative, verbunden mit einer griffigen
Kampagne – auch die 10seitige Broschüre mit den einschlägigen Argumenten pro
Stadtratsprojekt fehlte nicht. Am 26. September dankte das Initiativkomitee in einem
Leserbrief in der „Neuen Zuger Zeitung“ für die grosse Mehrheit, die dem Stadtratsprojekt
„neues Friedhofsgebäude mit Abdankungshalle auf dem Friedhof St. Michael“ zuteil
geworden war...
Wir finden ähnliche Verhaltensweisen inzwischen auch auf Stufe des Bundesrates: Die
Interventionen von Teilen des Siebnergremiums gegen die mit harten Bandagen geführte
Kampagne im Rahmen der Abstimmung vom vergangenen 10. Juni (Militärvorlagen). Oder
dann die Stellungnahmen der Bundesräte Kaspar Villiger und Moritz Leuenberger im
Rahmen der Swissair-Lösungsfindung.
Die politischen Kräfte haben sich den neuen Spielregeln angepasst. Mit welchen Konsequenzen? Medienexperten monieren über einen signifikanten Substanzverlust bei einigen
Medien – nicht mehr der Inhalt, bloss die Form spiele die entscheidende Rolle. Das Verhältnis einiger politischer Akteure – vor allem auf Stufe Bundeshaus – zu den Medien (und
umgekehrt) sei zu eng, zudem seien die Journalistinnen und Journalisten mit der Stofffülle
überfordert. Die Konsequenz davon sei Verlautbarungsjournalismus. Auf Seiten der Politik,
so eine weit verbreitete Sicht, spiele nicht die fachliche Qualität die zentrale Rolle, sondern
in erster Linie das Inszenierungspotential.
Sicher ist nur, dass sich die Wahrnehmung des politischen Systems und auch der Medien
verändert hat. Eine im vergangenen Jahr durchgeführte GfS-Untersuchung versuchte, für
verschiedene Institutionen und Akteure der Schweiz „Vertrauenswerte“ zu eruieren. Die
Frage, „welchen Akteuren trauen sie / welchen misstrauen sie“ wurde folgendermassen
beantwortet:
Im vergangenen Jahr trauten statistisch gesehen 66% der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dem Bundesgericht (Misstrauen bei 10%), 63% der Polizei (15%), 61% dem Bundesrat (14%), 44% dem Nationalrat (18%), 41% dem Stä nderat (18%), 35% der staatlichen Verwaltung (24%) und 44% der Armee (35%). Den Kirchen vertrauten 41% (33%
Misstrauen) und den Massenmedien 30% (40%). Das Vertrauen in die Massenmedien
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erholte sich im Jahr 2000 wieder auf 30%, nachdem es im Jahr 1999 auf einen Tiefstwert
von 18% gesunken war (gleicher Wert wie 1996). 28% der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gaben im Jahr 2000 an, sie würden den Massenmedien weder trauen noch ihnen
misstrauen.
Zukunftsperspektiven
Die registrierten Veränderungen des politischen Systems sind nicht die ersten und werden
auch nicht die letzten sein – es wird sich kontinuierlich weiterentwickeln. Verschiedene
Faktoren, welche politisches Handeln in Zukunft bestimmen werden, bestehen bereits
oder sind im Entstehen begriffen:
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Die zunehmende Interaktivität zwischen Behörden sowie Bürgerinnen und Bürgern
dank dem Internet wird das Verhältnis Staat-Bürger längerfristig verändern. E-Government wird laufend weiterentwickelt, gleichzeitig steigen die Internetnutzungszahlen kontinuierlich. Neue politische Partizipationsformen sind denkbar, Bürger und Staat
rücken näher.
Die Parteienlandschaft wird sich verändern – es wird zu neuen Polarisierungen kommen und die einzelnen Lager werden konsolidiert. Bei den Parteien ist ein Trend zur
Professionalisierung feststellbar.
Es wird längerfristig zu neuen Abgrenzungen zwischen Zivilgesellschaft und Staat
kommen (ohne dass es dabei gleich zwingend zu einem fundamentalen Systemwechsel kommen muss).
Eine veränderte Selbstwahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger wird mit neuen
Zugehörigkeiten einhergehen (Europäer, Mitarbeiter einer multinationalen Unternehmung und Gemeinderat von Steinhausen...). Neue Identitäten auf lokaler und vor
allem auch auf regionaler Ebene werden ausgebildet (Grossräume).
Die Medienlandschaft wird sich verändern, vor allem im überregionalen Bereich: Es
besteht die Gefahr der teilweisen Monopolisierung der Meinungsbildung.
Die zunehmende Mobilität und (damit verbunden) Multikulturalität der ständigen
Wohnbevölkerung der Schweiz wird die Frage einer politischer Partizipation ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger erneut stellen.
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