Referat Offene Sozialarbeit - Bistum Dresden

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Gemeinsame Erklärung
Diakonisches Werk der Ev.- Luth. Landeskirche Sachsens und
Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen e.V.
zum
Sozialbericht 2006 – Lebenslagen in Sachsen
und zur
Konzeption der Sächsischen Staatsregierung zur Vermeidung von
Armutsrisiken und zur Förderung von Teilhabechancen
Wir begrüßen den vorliegenden „Sozialbericht 2006 – Lebenslagen in Sachsen“ sowie die
angefügte „Konzeption der Staatsregierung zur Vermeidung von Armutsrisiken sowie zur
Förderung von Teilhabechancen“ ausdrücklich.
Die sächsische Staatsregierung lädt mit dem Sozialbericht und der Konzeption alle
gesellschaftlichen Kräfte ein, „ihre Wahrnehmungen auszutauschen und nach neuen Wegen
zu suchen.“ Als auf diesem Gebiet erfahrene Akteure nehmen Caritas und Diakonie das
Diskussionsangebot auf und bieten auch für die Zukunft ihre Mitarbeit an.
In einem ersten Schritt sollen einige grundlegende Aussagen zur Sozialpolitik des
Freistaates Sachsens und zum Armutsbegriff getroffen werden. Eine detaillierte
Auseinandersetzung mit dem Sozialbericht und der Konzeption ist nicht Gegenstand dieses
Papiers. Die in Bericht und Konzeption aufgegriffenen Probleme sind sehr vielschichtig und
erfordern eine differenzierte Betrachtung. Deshalb ist die Fortführung der Diskussion und
eine enge Zusammenarbeit auf den einzelnen Fachebenen unerlässlich und seitens der
Staatsregierung zu unterstützen.
1. Aspekt: Armut
Wir stellen fest:
Dem im Bericht verwendeten erweiterten Armutsbegriff ist ausdrücklich zuzustimmen, wenn
gesagt wird, Armut sei nicht nur als ein Mangel an Geld- und Sachmitteln, sondern auch als
ein Mangel an individuellen Bildungs- und Verwirklichungschancen zu verstehen.
Wir widersprechen aber der Aussage der Staatsregierung, dass das Leben mit Hartz IV eine
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. In den vielfältigen Einrichtungen und
Diensten erleben Caritas und Diakonie täglich die ausgrenzende Wirkung.
Besonders trifft dies Familien mit Kindern. Die Regelsätze sind zu niedrig, um sportliche oder
musische Begabungen zu fördern, außerschulische Bildungsangebote wahrzunehmen oder
die Beteiligung an Aktivitäten von Gleichaltrigen zu ermöglichen. Die Regelsätze reichen
ferner nicht für eine ausreichende Gesundheitsvorsorge und im Krankheitsfall z. B. für
therapeutische Hilfsmittel aus. In diesem Sinne sind die betroffenen Familien als arm zu
bezeichnen.
Armut beschränkt somit die Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und verhindert
Chancengleichheit, damit verfestigt sie sich und wird quasi vererbt. Die permanente Sorge
um die Finanzen ist für die betroffenen Familien extrem belastend und wirkt auf Dauer
destabilisierend. Armut kann Eltern und Kinder psychisch und physisch krank machen.
Familien brechen auseinander. In extremen Fällen beobachten wir bei Kindern gravierende
Folgen von Benachteiligung, u. a. Vernachlässigung, Depressionen und Aggressionen,
mangelndes Selbstbewusstsein und zunehmende Gewaltbereitschaft.
Wir stimmen mit der Staatsregierung überein, dass der Einfluss des sozialen Hintergrundes
auf Bildungsniveau und Bildungsbeteiligung sehr stark ist. Bildungsarmut wird häufig vererbt.
Je geringer die eigene Bildung, desto größer das Armutsrisiko.
Oberstes Ziel muss es sein, dass jeder Mensch ein selbstbestimmtes Leben ohne
Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungssystemen führen kann. Für all jene, die nicht in
der Lage sind, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, muss eine Existenz sichernde
Unterstützung durch die Gemeinschaft gewährleistet sein. Aus unserer Sicht sind die in der
Konzeption entfalteten Vorschläge dafür nicht ausreichend und zu wenig innovativ. Die
Problemlagen werden nicht in vollem Umfang gesehen. Wir fordern eine langfristige
Strategie zur Armutsbekämpfung, um der verfestigten Armut begegnen zu können. Der
Freistaat braucht keine neuen Projekte, sondern nachhaltige, regelfinanzierte Maßnahmen.
Um die Armut bei Kindern, Jugendlichen und Familien, insbesondere Alleinerziehenden zu
bekämpfen und die gleichberechtigte soziale Teilhabe dieser Menschen zu ermöglichen, sind
unseres Erachtens nach weitreichende, auch strukturelle Veränderungen notwendig.
Wir halten für notwendig:
•
Die Staatsregierung hat sich für eine bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze im
SGB II, insbesondere für Kinder, und gleichzeitig eine Anhebung des Kindergeldes
einzusetzen. Der Regelsatz für Kinder sollte anhand des wirklichen Bedarfs ermittelt und
dann auch gezahlt werden. Die Zahlung des Kinderzuschlages sollte deutlich vereinfacht
und der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet werden, sodass berufstätige Eltern
nicht auf Hartz IV angewiesen sind.
•
Gesetzlich verbriefte Leistungen müssen den Betroffenen rechtzeitig und ausreichend,
ohne Hürden und unter Wahrung ihrer Würde zugänglich sein. Hier sind erhebliche
Vollzugsdefizite im Bereich der Leistungen nach SGB II zu verzeichnen.
•
Bis zu einer bedarfsgerechten Anhebung der Regelleistung für Kinder und Jugendliche
ist diesen zumindest ein unentgeltliches (Schul-) Mittagessen zu gewähren, ohne dass
dieses auf die Regelleistung angerechnet wird. Es ist nicht sachgerecht, bei zu geringem
Einkommen als erstes auf die Angebote der Tafeln zu verweisen (Konzeption S. 28).
Tafeln sind eine Initiative bürgerschaftlichen Engagements, die Menschen in akuten
Notlagen Hilfe, die vorübergehend sein sollte, anbietet. Ziel staatlicher Daseinsfürsorge
sollte jedoch aktivierende Hilfe zur Selbsthilfe sein, die ein selbstbestimmtes Leben ohne
Almosen ermöglicht.
•
Einkommensarmen Familien ist eine kostenlose Beförderung im Öffentlichen
Personennahverkehr ihres jeweiligen Landkreises bzw. ihrer Stadt zu ermöglichen. So
würde gewährleistet, dass Kinder unabhängig von den Beförderungskosten eine
weiterführende Schule besuchen und Jugendliche sich in ihrer Region frei bewegen
können.
•
Elternteile, die ihren Unterhaltsverpflichtungen trotz Leistungsfähigkeit nicht
nachkommen, müssten entschiedener zur Verantwortung gezogen werden. Außerdem
halten wir die Zahlung von Unterhaltsvorschuss über das 12. Lebensjahr des Kindes
hinaus für unerlässlich.
•
Arbeitslosigkeit ist das Armutsrisiko Nr. 1. Damit Eltern und Alleinerziehende arbeiten
können, müssen die Betreuungszeiten in Krippen, Kindertagesstätten, Schulen und
Horten entsprechend ausgestaltet werden. Auch wenn das Betreuungsangebot in
Sachsen im Vergleich zu den alten Bundesländern als vorbildlich einzuschätzen ist, so ist
es speziell für berufstätige Alleinerziehende häufig nicht ausreichend und muss dem
Bedarf angepasst werden.
•
Familien mit Kindern, insbesondere Alleinziehende benötigen in schwierigen Situationen
familienbegleitende Unterstützung. Entsprechende Beratungsangebote, sowie Hilfen zur
Erziehung sollten rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Präventive
Angebote, wie beispielsweise Familienbildung und Elternbildungsangebote, müssen stark
ausgebaut werden. Der Zugang für bildungsfernere Elternhäuser muss dabei
gewährleistet sein. Eltern müssen in die Lage versetzt werden, ihrer
Erziehungsverantwortung nachzukommen.
•
Zwar wird in Sachsen die Lehrmittelfreiheit garantiert, dennoch ist Bildung nicht
kostenlos. Die Kosten für Übungshefte, Atlanten etc. sollten vom Freistaat übernommen
werden. Der Freistaat Sachsen sollte seine Bemühungen fortsetzen, die frühkindliche
Bildung weiter auszubauen und die Qualität der Betreuungsangebote zu erhöhen.
•
Die Staatsregierung fördert die Familienerholung einkommensschwacher Familien durch
Zahlung individueller Zuschüsse, die jedoch von den Familien vorfinanziert werden
müssen. Dies können einkommensarme Familien nicht leisten. Die Fördermittel müssen
deshalb vor Urlaubsbeginn ausgezahlt werden.
•
Der Rechtsanspruch der Hilfen nach SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) darf nicht durch
Finanz- und Trägerdeckelung ausgehebelt werden. Eltern und Jugendliche sollten stärker
zu den Leistungsrechten des SGB VIII informiert werden. Die Zugänge zu den
Leistungen und Angeboten sind transparenter für die Betroffenen zu gestalten.
(§ 17 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGB I)
•
Die gesetzlich geforderte Jugendarbeit gemäß § 11 SGB VIII, insbesondere die
außerschulische Jugendbildung, ist bedarfsgerecht zu finanzieren. Ganztagsangebote
können diese nicht ersetzen.
•
Sächliches Existenzminimum, Bildungs-, Erziehungs- Betreuungsbedarf des Kindes
müssen von der Einkommensteuer frei gestellt sein. Dafür ist unter Berücksichtigung der
Lohn- und Preisentwicklung der vergangenen Jahre ein deutlich höherer Kinderfreibetrag
als derzeit erforderlich. Er ist als Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage zu
gestalten und bis zum Ende der elterlichen Unterhaltspflicht zu gewähren.
•
Wir fordern die Sächsische Staatsregierung auf, ihren eigenen Vorschlag, die
beitragsfreie Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung an die Erziehung
von Kindern zu binden, auf bundespolitischer Ebene weiter zu verfolgen. Damit würden
Alleinerziehende gegenüber beitragsfrei mitversicherten Ehegatten gleichgestellt.
2. Aspekt: Sozialstaatliches Handeln
Wir stellen fest:
Hauptintention der Konzeption ist es, Strategien für Menschen zu entwickeln, „die einerseits
mit materieller Armut zu kämpfen haben und andererseits in Gefahr sind, damit schleichend
aus der gesellschaftlichen Teilhabe und von der Chance, sich zu verwirklichen, verdrängt zu
werden“ (S. 5 der Konzeption). Dieses Ziel begrüßen wir. Der Personenkreis ist nach
unserem Verständnis jedoch zu eng gefasst, da Menschen in prekären Lebenslagen nicht im
Blick sind.
Eine Vielzahl der in der Konzeption beschriebenen Maßnahmen erfordern ein hohes Maß an
Eigeninitiative und Selbstständigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Die Erfahrungen von
Caritas und Diakonie in ihrer täglichen Arbeit zeigen jedoch, dass es eine ganze Reihe von
Menschen gibt, die diesen Anforderungen nicht mehr gewachsen sind und deshalb an den
Maßnahmen nicht partizipieren können.
Die Erfahrungen mit den (sozial) politischen Maßnahmen der sächsischen Staatsregierung
der letzten Jahre lassen sich auf eine einfache Formel bringen: “Sozial ist, was Arbeit schafft
und
erhält.“
Diesem
Leitgedanken
folgen
Sozialbericht
und
Konzeption.
Arbeitsmarktpolitische Ansätze des Freistaates werden auf den Fokus eines hohen
Wirtschaftswachstums und steigender Existenzgründungen sowie auf TAURIS verkürzt.
Inzwischen ist jedoch eine nicht unerhebliche Anzahl von langzeitarbeitslosen Menschen
nicht mehr in der Lage, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, selbst wenn das
Wirtschaftswachstum weiter anhält.
In der Konzeption der Staatsregierung werden vielfach Maßnahmen genannt, die unter die
Bundeskompetenz fallen. Der Freistaat verlässt sich dabei auf die Regelungen des Bundes
gemäß Sozialgesetzbuch II, III und VIII. Eigene Initiativen vermissen wir. Gleichfalls kann die
Sächsische Staatsregierung nicht außerstaatliches Engagement (wie z. B. Tafeln) als eigene
Leistungen für sich reklamieren.
Wir halten für notwendig:
• Die christlichen Wohlfahrtsverbände halten es für zwingend erforderlich, die vielfältigen
sozialen Problemlagen als solche wahrzunehmen und vorbehaltlos zu analysieren. In
Bericht und Konzeption sind dazu gute Ansätze zu finden, sie befriedigen jedoch nicht.
• Eine dauerhafte soziale Integration langzeitarbeitsloser Menschen gelingt nur über einen
sinnvoll ausgestalteten, öffentlich geförderten Arbeitsmarkt. Wir fordern die
Staatsregierung auf, dieses Thema auf die Agenda zu heben. Kombi-Löhne und
Lohnzuschüsse halten wir für sinnvoll.
• Gute Rahmenbedingungen für das Entstehen neuer versicherungspflichtiger Arbeitsplätze
zu schaffen ist sicher wichtig. Caritas und Diakonie plädieren jedoch dafür, mit dem
selben Nachdruck die Einrichtungen und Dienste der Wohlfahrtsverbände zu fördern und
deren besonderen Status als Erbringer sozialer Dienstleistungen zu beachten. Diese
personenbezogenen Dienstleistungen weisen einen besonderen Charakter auf. Für sie
sind in besonderem Maße Nähe zum Betroffenen, Empathie, Empowerment und
Kontinuität kennzeichnend. Der den sozialen Dienstleistungen der Wohlfahrtsverbände zu
Grunde liegende Qualitätsbegriff erfordert neben der marktbezogenen wirtschaftlichen
Betrachtung auch den Blick auf die mit der Leistungserbringung verbundenen sozialen
Zielsetzungen. Sie sind daher nicht mit wirtschaftsnahen Dienstleistungen gleich zu
setzen. Die christlichen Wohlfahrtsverbände fordern daher die Staatsregierung auf, den
besonderen Gegebenheiten in den Einrichtungen und Diensten der Freien
Wohlfahrtspflege durch entsprechende Ausgestaltung der Förderbedingungen Rechnung
zu tragen. Dies würde ihrer Bedeutung als Arbeitgeber und gesellschaftliche Akteure
gerecht.
• Wir erwarten von der Sächsischen Staatsregierung die Erstellung langfristiger und Impuls
gebender Landes- und Regionalstrategien zur Bewältigung der sozialen Probleme in
Ergänzung zu den genannten Maßnahmen der Bundesebene.
• Wenn die Sächsische Staatsregierung auf der Grundlage des Sozialberichtes möglichst
viele gesellschaftliche Akteure in Sachsen in die sozialpolitische Diskussion einbeziehen
möchte, dann müssen solche Berichte in der Zukunft auch als Broschüre publiziert
werden.
Wir unterstützen:
Für die Diakonie und die Caritas zählt die kinder-, jugend- und familienfreundliche Gestaltung
unseres Landes zu den vordringlichsten Aufgaben. Daneben möchten wir den Blick auf die
Menschen lenken, die in besonders prekären Lebenssituationen sind. In unseren
Einrichtungen und Diensten sind wir nah am Menschen und wissen daher um deren
bedrückende Situation. Um die Lebenslage und die Chancen der betroffenen Kinder, Frauen
und Männer zu verbessern, bedarf es gemeinsamer Anstrengungen. Deshalb setzen wir uns
nicht nur für bedarfsgerechte sozialpolitische Rahmenbedingungen ein, sondern verpflichten
uns auch, in Kirchgemeinden, Einrichtungen und Diensten den Menschen mit Rat und Tat
zur Seite zu stehen.
Diakonie und Caritas hoffen, dass diese Vorschläge öffentlich intensiv diskutiert werden.
Dresden/Radebeul, 8. Mai 2008
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