1 SS 04 VO: Europäisches Bürgertum im 19. Jh. Ewald Frie 7. Sitzung, 7.6.2004 Thema: Frankreich 1 Politische Brüche und wirtschaftlich-soziale Kontinuitäten Kein europäisches Land hat während des 19. Jahrhunderts so viele und so tiefe politische Einschnitte erlebt wie Frankreich: Revolution von 1789 und der „dérapage“ der Revolution (Terreur 1793/94), Empire Napoleon 1804-1814/5, Restauration 1815-1830, Julirevolution und Bürgerkönigtum Louis Philippe 1830-1848, Revolution und II. Republik 1848-1851, Staatsstreich Louis Napoleon und II. Empire 1852-1870, Provisorische Regierung und Commune 1870/71, III. Republik 1871/75-1940. Frankreich war für die politische Geschichte Europas im 19. Jahrhundert das, was England für die Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts war und was die Azoren für das westeuropäische Wetter heute sind: der Ursprung allen Ereignisses, die Werkstatt, die Küche, der Motor. Die drei großen Revolutionswellen des 19. Jahrhunderts (1789, 1830, 1848) wurden in Frankreich ausgelöst. Die Commune von 1871 wurde zum europäischen Scheckbild einer sozialen Revolution und zum Ursprungsmythos sozialistischer Revolutionsutopien. Die Forschung hat aber in den letzten Jahren herausgearbeitet, dass die politischen Brüche die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen Frankreichs nicht grundstürzend verändert haben. Teilweise vollzog die Revolution von 1789 politisch nur, was untergründig während des 18. Jahrhunderts bereits vorbereitet worden war (Säkularisierungsprozesse, Delegitimierung adeliger Vorrechte), teilweise zementierten gerade die revolutionären Eingriffe vormoderne Sozialstrukturen (s.u.) Die französische Wirtschafts- und Sozialstruktur insgesamt wandelte sich im 19. Jahrhundert – verglichen mit dem frühen Umbruch in England und dem späteren, aber gründlicheren Umbruch in Deutschland – nur langsam. Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, Verstädterung, Urbanisierung – all das kam langsam und eher spät. Noch heute ist Frankreich ländlicher und insgesamt weniger industriell strukturiert als Deutschland, Belgien oder England. 2 2. Bevölkerungsgeschichte Im 18. Jahrhundert besaß Frankreich - nach Rußland - die größte Bevölkerung aller europäischen Staaten: am Vorabend der Revolution ca. 25 Millionen. Im 18. Jahrhundert war sie um ca. 40% gewachsen. Der erste offizielle Zensus von 1801 gibt eine Bevölkerung von 27 Mio. an. Am Vorabend des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 gab es 38 Mio. Einwohner; gegenüber 1801 ist das ein Zuwachs von etwas mehr als 40%. Danach stagnierte die Einwohnerzahl, während in den Ländern ringsherum die Bevölkerungszahl weiter wuchs. Hatte Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts noch einen Anteil von 16,5% der europäischen Bevölkerung, so waren es 1900 nur noch 10,5%. Insgesamt gehen die Demographen für Frankreich von einem starken Bevölkerungswachstum vor 1800 aus, das sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts etwas abschwächte. Danach folgte eine Phase relativer Stagnation bis 1914. Seit 1846 liefert der Zensus belastbare Zahlen über die Stadt-Land-Verteilung der Bevölkerung: 1846 lebten 75% der Bevölkerung in Orten mit weniger als 2.000 Einwohnern (und gelten den Demographen damit als Landbevölkerung, während alle Menschen in Orten mit mehr als 2.000 Einwohnern als Stadtbevölkerung gelten). 1872 waren 69% der Bevölkerung Landbewohner, 59% waren es 1901, 50% 1931. In absoluten Zahlen ging die Landbevölkerung bis 1850 nicht zurück. Sie sank danach nur langsam. Die Stadtbevölkerung wuchs durchschnittlich alle 5 Jahre um 3%. Das ist gemächlich. Verglichen mit Deutschland und England blieb Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg ländlich. 1851 hatten fünf Städte mehr als 100.000 Einwohner: Paris, Lyon, Marseilles, Bordeaux und Rouen. Das waren die Hauptstadt, drei Hafenstädte und nur eine Industriestadt. Hauptverantwortlich für das Bevölkerungswachstum überhaupt war die längere Lebenserwartung: 35 Jahren um 1800, 47 Jahre um 19001. Migrationseffekte über die Grenzen hinweg spielten eine ganz untergeordnete Rolle (Zugewinn ungefähr 300.000). Auch die Geburtenzahlen hatten keinen besonderen Effekt . Die durchschnittlichen Geburten gingen absolut von 960.000 auf 900.000 zurück, und das bei einer um die Hälfte gewachsenen Bevölkerung. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau verringerte sich von knapp 5 am Vorabend der Revolution über 4,1 (Konsulat) und 3,4 (1850er) auf 2,8 (Anfang 20. Jh.); der Reproduktionsindex (Verhältnis von Geburten zu Sterbefällen) lag um 1810 bei 108, während der Julimonarchie und bis 1885 bei 105, fiel danach bis Jahrhundertwende auf 98. Die Franzosen haben als erstes Volk Europas willentlich die Geburtenzahl auf breiter Front gedrosselt. 1 Zahlen hier nach Jaques Dupaquier: Pour une nouvelle histoire sociale, in: Ders. u. Denis Kessler (Hg.): La société francaise au XIXe siècle. Tradition, transition, transformations, 1992, 7-21. Die anderen Zahlen nach Claude Fohlen: France 1700-1914, in: Carlo M. Cipolla (Hg.): The Fontana Economic History of Europe, Bd. 4: The Emergence of Industrial Societies, Part one, 6. Aufl. Glasgow 1980, 7-75. 3 3. Industrielle Revolution? Die Industrielle Revolution hat im 18. Jahrhundert in England begonnen. Sie sprang von dort aus auf den Kontinent über. Die Industrie begann in regionaler Konzentration und blieb auch regional konzentriert. Mitte des 19. Jahrhunderts liefen „zwei Bänder relativ stark mit Gewerbe durchsetzter Regionen“2 durch Kontinentaleuropa: Belgien - Rheinland - Ruhrgebiet Sachsen - Oberschlesien; Nordfrankreich - Luxembourg - Saarrevier - Elsass – Schweiz. Die Effekte der regionalen Industrialisierungen veränderten jedoch die nationalen Wirtschaften insgesamt. Die industrielle Revolution war trotz ihrer regionalen Beschränkung ein weltgeschichtlicher Vorgang, weil auch die nichtindustrialisierten Länder von der Industrialisierung berührt wurden: „Es wurde geschätzt, daß die Dritte Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts pro Kopf der Bevölkerung nur etwa ein Drittel des gewerblichen Outputs erzeugte wie in der Mitte des 18. Jahrhunderts.“3 Es gibt erhebliche Zweifel, ob der Begriff „Industrielle Revolution“ auf Frankreich angewendet werden kann.4 Gegenüber den Pionierländern England und Belgien fallen deutliche Unterschiede auf. • Dampfmaschinen: In Frankreich blieb der Einsatz von Dampfmaschinen bis zur Französischen Revolution eine Ausnahme. 1810 gab es in ganz Frankreich 200 Dampfmaschinen; 1830 waren es 625 mit ca. 10.000 PS (16 PS pro Maschine), 1848 existierten 5.200 Maschinen mit 60.000 PS (11,5 PS pro M.), 1852 waren es 16.080 mit 75.500 PS (4,7 PS pro M.), 1875 32.000 Maschinen mit 401.000 PS (12,5 PS pro M.). Insgesamt war das Wachstum bis zur Jahrhundertmitte sehr langsam, dann schneller, aber immer noch nicht revolutionär. Die französischen Betriebe nutzten in erheblichem Maße natürliche Energien und perfektionierten sie. • Kohle und Stahl: Frankreich besaß wenige, schwer auszubeutende und ungünstig gelegene Kohlelager. Sie lagen vor allem in den Departements Nord und Pas de Calais im äußersten Norden, dann in den Departements Loire und Saone et Loire im Centre sowie Gard im äußersten Süden, westlich von Marseille. Frankreich hat immer 2545% seiner Kohlebedürfnisse durch Import befriedigen müssen. Da die Kohlelager verkehrstechnisch ungünstig lagen, entstanden erhebliche Transportkosten. 1830 kostete die Kohle an der Loire 15 Francs pro Tonne. In Mülhausen, wo sie industriell verwertet wurde, kostete sie 45-55 Francs, wegen des Transports. Die Elsässer hätten 2 3 Christoph Buchheim: Einführung in die Wirtschaftsgeschichte, München 1997, 18. Christoph Buchheim: Einführung in die Wirtschaftsgeschichte, München 1997, 18. 4 auch Kohle von der Saar importieren können. Die kostete 9 Francs am Förderort und in Mülhausen dann 50-60 Francs. Die französische Kohle eignete sich darüber hinaus kaum zur Koks- und Leuchtgasgewinnung. Paris importierte 1840 die Kohle, die es für Licht benötigte, aus Belgien. Zwei Drittel der 44 Francs pro Tonne waren Transportkosten. Die Transportpreise fielen ab der Mitte des Jahrhunderts erheblich, wegen des Ausbaus der Kanäle und Flüsse und wegen des Eisenbahntransports. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde daher Holzkohle zur Eisenerzeugung verwendet. Die Eisenerzeugung, im Norden und Nordosten des Landes ‘konzentriert’, blieb kleinbetrieblich strukturiert. Sie wuchs erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts stärker (zwischen 1844 und 1860 um 44%). Die Stahlerzeugung wurde ausgangs des second Empires mit Eifer aufgenommen und mittel- bis großbetrieblich strukturiert • Fabriksystem und freie Lohnarbeit: Um 1800 waren 2/3 der arbeitenden Franzosen in der Landwirtschaft beschäftigt; um 1900 waren es immer noch mehr als 2/5. Zwar wird in der französischen Literatur gern vom „exode rural“5 gesprochen. Doch verglichen mit England oder Deutschland blieb der Exodus bescheiden. 1830-1860 entstanden pro Jahr durchschnittlich 59.000 Arbeitsplätze (netto) in der Industrie, zwischen 1860 und 1890 lief dieser Prozess langsamer. Insgesamt war 1806 einer von fünf arbeitenden Franzosen in der Industrie beschäftigt, am Ende des Jahrhunderts war es einer von dreien. Die Dienstleistungen vergrößerten ihren Beschäftigtenanteil von 1/7 1806 auf ¼ 1900. • Take-off bzw. Änderung des Aggregatzustandes der Wirtschaft: Jean Marczewski hat einmal geschrieben: „There was no true take-off in France at all“6. Das Wirtschaft wuchs während des ganzen 19. Jahrhunderts stetig, aber langsam. Es fehlten die kräftigen Boomsektoren und Regionen - in Deutschland symbolisiert durch das Ruhrgebiet - aber es fand eine Effizienzsteigerung in den traditionellen Zweigen der Gesellschaft und eine Industrialisierung auf klein- und mittelbetrieblicher Basis statt. Insgesamt fand in Frankreich wohl eher eine Industrielle Evolution als eine Industrielle Revolution statt. Frankreich war im 19. Jahrhundert das Land der politischen Revolutionen, nicht der wirtschaftlichen. Die Gründe für die wirtschaftliche Behäbigkeit liegen paradoxerweise 4 Die folgenden Zahlen wieder nach Claude Fohlen: France 1700-1914, in: Carlo M. Cipolla (Hg.): The Fontana Economic History of Europe, Bd. 4: The Emergence of Industrial Societies, Part one, 6. Aufl. Glasgow 1980, 7-75. 5 Claude Thelot: Paysans, ruraux, cultivateurs, actifs agricoles, in: Dupaquier/Kessler, La société Francaise, 63. Die folgenden Zahlen ebd. 5 gerade in der politischen Unruhe. Insbesondere die Große Französische Revolution von 1789 hat entgegen älteren marxistischen Interpretationen die industrielle Revolution nicht unbedingt gefördert. Sie hat Frankreich über Jahrzehnte vom europäischen und überseeischen Markt abgeklemmt und dadurch den internationalen Austausch behindert. Sie hat durch Bauernbefreiung und Güterverkauf die Agrarstruktur mittelbetrieblich verfestigt. Sie hat wegen der dauernden Instabilität das Kapital dazu motiviert, sich eher in Landbesitz als in riskanten Industriespekulationen anzusiedeln. Einige Autoren sind so weit gegangen, von einer Parallelentwicklung Englands und Frankreichs bis 1789 zu sprechen, die dann wegen der Revolution auf der französischen Seite gekappt worden sei. Dagegen hat etwa Buchheim die Französische Revolution als entscheidende Voraussetzung für die Industrielle Revolution auf dem Kontinent genannt, weil sie die rechtlichen Fesseln der vormodernen Gesellschaft gelöst habe. Neben die politischen Begründungsfaktoren treten soziale. Wie oben gesehen, fehlte in Frankreich der Bevölkerungsdruck. Ein maßvolles Bevölkerungswachstum und die ländliche Revolution 1789ff haben die größten Schwierigkeiten beseitigt. Erst in der Endphase des zweiten Empires wuchs Frankreich langsam zu einem gemeinsamen Markt zusammen. Wasser- und Schienenwege verbesserten die Transportmöglichkeiten erst nach 1850 durchgreifend. 4. Bürgerliche Bildung und Kultur 4.1 Schule und Allgemeinbildung Der unentgeltliche Volksschulbesuch wurde in Frankreich – wie in England - in den frühen 1880er Jahren per Gesetz festgelegt. Dadurch sank allmählich die Analphabetenrate. Nach den Volkszählungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren 1872 43,4% der über 20jährigen Analphabeten. Bis 1901 war die Rate auf 19,4% gefallen, 1911 betrug sie 11,2% (bei den 45-60jährigen 20%, bei den 60-70jährigen 30%)7. Die Alphabetisierung kam ungleich schnell voran. Frauen blieben länger Analphabeten als Männer, Ältere länger als Jüngere. In Paris, der Ile de France, generell im Norden und dem Osten war der Analphabetismus ausgangs des 19. Jahrhunderts weitgehend verschwunden. Südlich der Loire, in der Bretagne und auf Korsika kamen die Fortschritte später und unter größeren Schwierigkeiten zustande. Insgesamt war die Alphabetisierung der Bevölkerung in den Nord- und westeuropäischen Ländern gegen Ende des 19. Jh. weitgehend abgeschlossen. In den Ländern des Südens und 6 Zitiert nach Claude Fohlen: France 1700-1914, in: Carlo M. Cipolla (Hg.): The Fontana Economic History of Europe, Bd. 4: The Emergence of Industrial Societies, Part one, 6. Aufl. Glasgow 1980, 7-75, hier 12. 7 Zahlen nach : Jean-Yves Mollier, Jocelyne George: La plus longue des républiques 1870-1940, Paris 1994, 277. 6 des Ostens lagen die Dinge, wie wir an den Beispielen Italien und Russland gesehen haben, schwieriger, aber es gab auch hier deutliche Fortschritte. Mit der Alphabetisierung hing in Frankreich wie in Italien (aber auch wie in Ungarn, vgl. Magyarisierung) die Nationalisierung zusammen. Zum Zeitpunkt der Französischen Revolution werden kaum 10% der „Franzosen“ Französisch gesprochen haben. Der Rest kommunizierte in Dialekten/Mundarten/Regionalsprachen. 1880-1900 herrschte nur noch - aber immerhin auch noch - in 25 der 87 Departements die Mundart vor, darunter nördlich der Loire nur noch im Pas-de-Calais, Manche (Normandie), Loire-Atlantique und Finistère. Südlich der Loire war der Anteil der mundartlichen Departements wesentlich höher8 - wobei die Schüler in der Regel nach dem Schulbesuch sowohl das Französische als auch ihre Regionalsprache beherrschten. Höhere Schulbildung blieb die Ausnahme. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges erreichten in Frankreich und Deutschland 1,1% eines Jahrgangs die Abschlussklasse des Gymnasiums9. In absoluten Zahlen haben sich freilich die Schülerzahlen des höheren Schulwesens schnell verdoppelt. Hierin kamen das Wachstum des Bürgertums und sein Bildungshunger zum Ausdruck. Mit der Schülerzunahme ging eine innere Differenzierung des Schulwesens einher. Die Hochschulreife wurde nicht mehr nur durch humanistische Bildung erreicht. Die Alphabetisierung und innere Differenzierung des lesekundigen Publikums ermöglichten eine schriftgestützte Massenkultur mit einer Pluralität von Angeboten. 4.2 Hochschulen und Akademisierung Studentenzahlen in Europa 1860-1910 (in Tausend)10 1860 1880 1900 1910 England 3 10 17 26 Deutschland 12 21 44,2 66,8 Frankreich 8 12 29 41 Von den 41.000 Studierenden in Frankreich 1910 studierten 11.000 Medizin, 17.000 Rechte, 6.000 Geisteswissenschaften.11 Der Prozess des Wachstums der Studentenzahlen begann in Deutschland in den 1870er Jahren, in Frankreich und England in den 1880er Jahren. Die Entwicklung verschärfte sich nach der Jahrhundertwende noch einmal. Gleichzeitig veränderte sich das Wissenschaftsspektrum: Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Politische Wissenschaften, Wirtschaftsmathematik kamen zu den etablierten Fächern hinzu. 8 Jean-Yves Mollier, Jocelyne George: La plus longue des républiques 1870-1940, Paris 1994, 279. Forschungen von Eugen Weber. 9 Christopher Charle: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997, 106. 10 Vgl. Christopher Charle: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997, 107. 7 4.3 Zeitungs- und Buchproduktion; insgesamt: kultureller Massenmarkt Zahlreiche Verbesserungen der Drucktechnik seit den 1830er Jahren (z.B. Rotationsdruck mit Endlospapier) hatten erheblich schnellere und billigere Drucke möglich gemacht. Anzahl der veröffentlichten Buchtitel pro Jahr 1850 1876 1901 1911 Deutschland 9.053 13.556 25.331 32.998 England 2.600 ? 6.000 12.379 Frankreich 9.891 19.068 28.143 32.834 Nicht nur die Anzahl der Titel, auch die Auflagen nahmen zu, Folge einer Industrialisierung und Ökonomisierung des Buchmarktes. Die Preise fielen auf breiter Front. Die Mitte des 19. Jahrhunderts erfundenen Taschenbücher kosteten ab Mitte der 50er Jahre nur noch 1 F - das entspräche heute etwa 5 EURO. Parallel dazu verbesserte sich das Vertriebssystem. Bücher konnte man um die Jahrhundertwende auch im letzten Provinzort bekommen. Das Monopol der Bahnhofsbuchhandlungen besaß Louis Hachette (1853: 43 Bahnhofsbuchhandlungen, 1861: 162; 1874: 442; 1896: 1.179). Die Zahl der Buchhandlungen außerhalb Paris nahm zu: 2.428 außerhalb von Paris sind es 1851, 3.724 im Jahre 1861, 4.062 1864, 5.086 1877. Je mehr das Buch sich verbreitete, um so mehr änderte es auch seinen Charakter. Bücher wurden in Aufmachung und Inhalt zur Massenware. Sie wurden für den Massen- und nicht mehr nur für den bürgerlichen Markt gemacht. Es kamen die Fantomas-Romane auf, die Kriminalromane überhaupt. Zukunftsromane à la Jules Verne waren en vogue. Die Bedeutung des Romans nahm während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Dramatik und Poesie hingegen verloren an Bedeutung - für das Publikum, nicht in ästhetischer Hinsicht. Schneller noch als im Buchwesen verlief die Zunahme der Zeitschriften. Sie richteten sich an spezifische Lesergruppen: Le Chasseur Francais (1912 160.000er Auflage) bediente die besseren Kreise des ländlichen Frankreich; le petit echo de la mode (1900 300.000 Exemplare) die bürgerlichen Frauen, Le Vélo und L’Auto erreichten je 120.000er Auflagen (im übrigen ein Hinweis auf die Verbreitung dieser neuen Individualverkehrsmittel, es gab in Frankreich 1898 375.000 Fahrräder, 1914 3,5 Mio, 1925 7 Mio.12, 1903 wurde erstmals die Tour de France gestartet). Sogar ein Kinderzeitschriftenmarkt etablierte sich nach 1900. Der Zeitungsmarkt weitete sich enorm aus. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges wurden in Frankreich täglich 12 Mio. Zeitungen gedruckt; die größte Zeitung Le Petit Parisien erschien mit 1 Mio. Auflage; es folgten drei weitere Großzeitungen: Le Matin, Le Journal und Le Petit Journal; insgesamt erschienen in Paris 1913 30 Zeitungen, in der Provinz 175. Ein weiteres Dru 11 Nach Francis Démier: La France du XIXe Siècle, Paris 2000, 443. 8 ckerzeugnis von Bedeutung war die Postkarte, die ab 1869 in Serie hergestellt werden konnte. 1905 wurden 600 Mio. Stück produziert, das waren pro Einwohner und Jahr 15. Die Postkarte verband in neuer Weise Schrift und Bild. Zeitungen und Zeitschriften haben für die Literarisierung Frankreichs wesentliches geleistet, mögen sie auch zunächst wenig anspruchsvoll erscheinen. Der nützliche Druck räumte die Vorurteile beiseite, die der Konsumption von ästhetisch gehaltvoller Literatur beim Massenpublikum im Wege standen. Die roman-feuilletons (Fortsetzungsromane) in Zeitungen führen die Leser an das Buch heran. Zeitungen und Zeitschriften haben auch wesentliches dazu beigetragen, Frankreich zu politisieren. Allerdings wurde die Freiheit der Presse erheblich beeinträchtigt durch die Abhängigkeit der Zeitungen von Anzeigen. Sie wurden über Anzeigenagenturen vertrieben und konnten erheblichen Druck auf den redaktionellen Teil ausüben. Mit Zeitungen und Zeitschriften verbreitete sich auch der Beruf des Journalisten. Es gab 1885 1.000 Journalisten in Paris, 1895-1900 sollen es in Paris 2.800 gewesen sein, im ganzen Land ca. 6.000. 1899 wurde die erste Journalistenschule gegründet, die freilich - ganz wie heute weit davon entfernt war, ein Monopol für die Berufsausbildung des Journalisten zu etablieren. 4.4 Paris Während Russland im 19. Jahrhundert zwei Zentren hatte, Italien mehrere und Deutschland viele, wurde in Frankreich die Zentralisierung auf die Hauptstadt ins Extrem vorangetrieben. Zahlen aus dem Bereich Kultur mögen das belegen. 51% der Literaten und Journalisten Frankreichs lebten 1876 in Paris, 1896 waren es 60,4%. Mehr als 80% aller Bücher wurden in Paris verlegt. Die großen Pariser Tageszeitungen erbrachten am Ende des 19. Jahrhunderts 2/3 der Gesamtauflage der französischen Presse.13 Doch Paris war mehr als die französische Hauptstadt. Sie war die „Hauptstadt Europas“14. Von den 1.313 internationalen wissenschaftlichen bzw. kulturellen Kongressen, die zwischen 1880 und 1913 abgehalten wurden, fanden 587 (45%) in Paris statt, 240 (18%) in Brüssel, 210 (16%) in London, 79 (6%) in Wien, 62 (4,7%) in Rom15. Beispielhaft für die Pariser Rolle und ihre Entwicklung stehen die drei Weltausstellungen. 1878 meldete sich Paris nach Niederlage und Commune von 1870/71 auf der internationalen Bühne zurück, 1889 feierte Paris den Triumph der Metallmoderne im Eif 12 Zahlen bei Jean-Yves Mollier, Jocelyne George: La plus longue des républiques 1870-1940, Paris 1994, 325. 13 Christopher Charle: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997, 118. 14 Johannes Willms: Paris. Hauptstadt Europas 1800-1914, München 2000. Zahlen nach Jean-Yves Mollier, Jocelyne George: La plus longue des républiques 1870-1940, Paris 1994, 335. 15 9 felturm. 1900 wurde das Fest der Elektrizität und des künstlichen Lichts gefeiert. „Das Paris der Belle Epoque, wie die Jahre zwischen 1880 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs bezeichnet werden, avancierte damit endgültig zu jener Kulturhauptstadt, die in der Mode, in Kunst und Literatur wie im Raffinement der Lebensgenüsse Exempel setzte, denen man in der ganzen Welt nacheiferte. Daß ausgerechnet Paris eine derartige Rolle einnahm, war keineswegs zufällig, sondern die Folge unterschiedlicher Entwicklungen, die sich hier wie nirgendwo sonst überkreuzten, gegenseitig verstärkten und befruchteten: Das Paris der Belle Epoque war ein riesiger Katalysator für die schrillen Aufgeregtheiten, die dumpfen Ängste wie die optimistischen Erwartungen, die so charakteristisch waren für den Fin de Siècle und die sich in einer nie zuvor geschauten Vielzahl von unterschiedlichen Anschauungen und miteinander konkurrierenden künstlerischen Schulen und Cliquen manifestierten.“16 5. Sozialstruktur des Bürgertums Die langsame, klein- und mittelbetriebliche, landwirtschaftsverbundene Industrialisierung Frankreichs hat die Sozialstrukturen des Landes ebenso geprägt wie die frühen und tiefgreifenden Politik- und Konflikterfahrungen seit 1789. Daraus resultierte eine Sozialstruktur, die sich von der deutschen, aber auch der italienischen oder englischen wesentlich unterschied. Das französische Bürgertum kannte nur wenige durch die Industrialisierung schnell steinreich gewordene Personen. Multimillionäre à la Krupp, Thyssen, Warburg, Ballin waren sehr selten. Das Wirtschaftsbürgertum war in sich geschlossener. Zwischen ihm und dem Bildungsbürgertum gab es keine tiefen Gräben. Das französische Bürgertum ruht auf einem sehr breiten und selbstbewußten kleinbürgerlichen Sockel. Selbständig wirtschaftende Kleinbürger und selbständige Bauern machten in Frankreich vor 1914 fast 50% der Bevölkerung aus, in Deutschland hingegen 20-25%. Während in Deutschland die schnelle und durchgreifende Industrialisierung das Kleinbürgertum dezimiert und zutiefst verunsichert hat, bleiben die französischen Kleinbürger ungefährdeter und ihrer selbst gewiss. Das französische Bürgertum konnte auf eine Tradition zurückblicken, die sich dem langen Abstand zwischen Revolution und Industrialisierung verdankte: den Notabeln. Sie hatten nach der Zerstörung der traditionellen Eliten durch 1789 den Ehrenplatz in der sozialen Schätzung einer Region eingenommen. Das konnten Landadelige sein, Unternehmer, Ärzte, Rechtsanwälte, bürgerliche Großgrundbesitzer. Sie waren reich, regional mächtig und angesehen. Ihre Werthaltungen waren - schöner Beweis für die lange Periode zwischen ancièn Régime und Industriegesellschaft - nicht die eines dynamischen Unternehmertums, sondern richteten sich 16 Johannes Willms: Paris. Hauptstadt Europas 1800-1914, München 2000, 433. 10 eher auf gesicherte Besitzeinkünfte. Diese Notabelngesellschaft hat bis in die 1880er Jahre das Land auch politisch beherrscht, bevor sie durch die von dem linken Politiker und Haudegen der 1871er Commune Gambetta beschworen „couches nouvelles“ allmählich verdrängt wurde. „Entscheidend ... ist aber, daß sich in dieser Notabelnschicht schon seit dem frühen 19. Jahrhundert Wirtschaftsbürgertum, Akademiker und Landbesitzer sozial verflochten und politisch gemeinsam handelten, in einer Zeit, in der in wichtigen Teilen Deutschlands Unternehmer, Beamte und Landadel scharf getrennte Sozialgruppen waren. Die engere Verflechtung des modernen französischen Bürgertums hatte daher ihre Vorgeschichte schon in der engeren inneren Verflechtung der notables.“17 Das französische Bürgertum kannte keine über ihm stehende Adelsgruppe. Die Französische Revolution hatte 1789 alle Adelsprivilegien auf einmal abgeschafft. Napoleon I. hatte zwar einen neuen Adel inszeniert, doch der blieb langfristig wenig wirkungsvoll. Adelsfamilien konnten auf dem Land durchaus bedeutend sein. Doch dann waren sie Teil der Notabelngesellschaft, und insofern besondere Bürger, nicht deren Widerpart. In der Dritten Republik nach 1871 hat es nur einen politisch wirklich prominenten Adeligen gegeben. Das war der Staatspräsident Mac Mahon, und der musste schon 1879 als Staatspräsident abdanken. Dagegen waren im größten deutschen Bundesstaat Preußen 1910 sieben von elf Ministern adelig, elf von 12 Oberpräsidenten, 23 von 36 Regierungspräsidenten. Die große Mehrheit der Generale war adelig, noch in den 1890er Jahren die Hälfte der Offiziere. In Frankreich hingegen gab es keinen königlichen Hof. Nur - aber auch immerhin - 20% der Generale waren 1900 adelig. Anders als in Preußen hatte der Adel keine ländlichen Bastionen - eine dem „Bund der Landwirte“ vergleichbare Bewegung hat in Frankreich nicht existiert. Werner Sombart hat Frankreich als das „Geburtsland der modernen Gesellschaftsklassen“18 bezeichnet. Das ist richtig, wenn wir auf den frühen Niedergang des Adels und die Durchsetzung des Bürgertums in der Politik schauen. Dass der Bürgerstand die Nation sei, war die Grundidee der Französischen Revolution von 1789 gewesen. Noch für die III. Republik nach 1871 war das Bürgertum eine vergleichsweise homogene Trägerschicht. Zwar gab es Gräben zwischen Zentrum und Provinz, zwischen Katholiken und Laizisten. Doch sie waren nicht vergleichbar tief wie Zerklüftungen zwischen den deutschen Bürgertumsgruppen. Und das französische Bürgertum sah sich nicht von oben (Adel) und unten (sozialistische Arbeiterbe 17 Zitat wie der ganze Abschnitt aus Hartmut Kaelble: Französisches und deutsches Bürgertum 1870-1914, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1, München 1988, 107-140. 18 Zitiert nach Kaelble, 107. 11 wegung) derart eingeengt und gefährdet wie das deutsche oder das italienische Bürgertum. Daher ist es insgesamt toleranter, liberaler und gelassener gewesen.