MEDIZIN ÜBERSICHT Eradikation und Tilgung von Seuchen Anton Mayr ZUSAMMENFASSUNG Einleitung: Seuchen sind gefährliche Infektionskrankheiten mit der Tendenz zur Massenausbreitung. Methoden: Diskussion ausgewählter Literatur. Ergebnisse: Für eine Eradikation müssen die folgenden Kriterien erfüllt werden: Der Erreger hat nur einen Wirt und ist genetisch stabil. Er darf nicht ubiquitär sein, wird ohne Zwischenwirt übertragen und führt stets zur Krankheit. Es darf weder eine persistierende, latente Infektion noch Subtypen geben. Die WHO hat sich zum Ziel gesetzt, Masern bis 2010 zu eradizieren. Durch Schutzimpfungen und globale staatliche Hygienemaßnahmen können derartige Erreger ausgerottet werden (zum Beispiel Pocken). Im Gegensatz dazu kann die Poliomyelitis aufgrund ihrer Epidemiologie nur durch strikt durchgeführte Impfstrategien als Krankheit unter Kontrolle gebacht werden (Tilgung), eine Eradikation ist dagegen nicht möglich. Windpocken, Mumps, Röteln, Herpes zoster, HIV, Pest, Tollwut und Influenza A können voraussichtlich nicht eradiziert werden. Dtsch Arztebl 2006; 103(46): A 3115–8. Schlüsselwörter: Masern, Pocken, Poliomyelitis, Schutzimpfung, Epidemiologie SUMMARY ERADICATION AND ELIMINATION OF EPIDEMICS Introduction: An epidemic is an accumulation of dangerous infectious diseases with a tendency to mass dissemination. One example of successful eradication is that of smallpox (variola). Methods: Selective literature review. Results: Successful eradiation requires the following prerequisits: The pathogen has only one host and is genetically stable, the pathogen is not ubiquitous, the infection occurs without an intermediate host and is always pathogenic, no persistent and latent infection nor subtypes exist, and the disease must be preventable by vaccination. The WHO has a target of eliminating measles by 2010. Polio is unlikely to be eradicated, even with a stringent vaccination strategy since vaccination eliminates the disease but not the infectious agent. It is unlikely that chicken pox, mumps, rubella, herpes zoster, HIV, plaque, rabies, or influenza can be eradicated. Dtsch Arztebl 2006; 103(46): A 3115–8. Key words: measles, smallpox, poliomyelitis, protective vaccination, epidemiology ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ D as Auftreten der so genannten Vogelgrippe in Südostasien und die Gefahr ihrer weltweiten Ausbreitung hat die Diskussion um die Möglichkeiten der Eradikation beziehungsweise Tilgung bestimmter Seuchen und Seuchenerreger erneut entfacht. Der Wunsch, gefährliche Seuchen auszurotten, ist ein alter Traum der Menschheit. Als Inbegriff einer Seuche galt in früheren Zeiten die Pest hervorgerufen durch Yersinia pestis. Eine der bekanntesten Seuchenzüge der Pest war der „Schwarze Tod“ im 14. Jahrhundert, der allein in Europa 25 Millionen Menschen das Leben kostete. Die Pest hat inzwischen durch hygienische Maßnahmen und die Behandlung mit Antibiotika ihren großen Schrecken verloren. Trotzdem konnte sie bis heute nicht völlig ausgerottet werden, sodass immer wieder kleinere Seuchenherde aufflackern. Aber auch andere Infektionskrankheiten mit Seuchencharakter bedrohen weiterhin Mensch und Tier (1, 2). Seuchenerreger In der Infektionsmedizin versteht man unter Seuchen die Anhäufung von gefährlichen Infektionskrankheiten mit der Tendenz zur zahlenmäßigen geographischen Massenausbreitung über einen bestimmten Zeitraum. Seuchen sind weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass für sie das Kausalitätsprinzip voll zutrifft (siehe Henle-Kochsche Postulate, 1840: Kriterien für die Anerkennung eines Mikroorganismus als Erreger einer Infektionskrankheit [8]). Seuchenerreger sind stets Erreger von Infektionskrankheiten; aber nicht alle Erreger von Infektionskrankheiten sind Seuchenerreger. Der Erreger einer Infektionskrankheit wird in der Regel erst dann zum Seuchenerreger, wenn er neben seiner Infektiosität folgende Eigenschaften besitzt: > erhöhte Virulenz prägt die Schwere des Krankheitsverlaufs > hohe Kontagiosität führt zu einer raschen Ausbreitung der Infektion > hohe Widerstandsfähigkeit (Tenazität) gegen äußere Einflüsse > an Stelle der erhöhten Kontagiosität kann auch die Übertragung durch lebende Vektoren, in denen eine Vermehrung der Erreger stattfindet (Arthropoden-Seuchen), eine Rolle spielen. Während Infektiosität (Mindestinfektionsdosis) und Virulenz eines Erregers die Gefährlichkeit einer Infektionskrankheit bedingen und für das Zustandekommen eine unentbehrliche Voraussetzung sind, führen Kontagiosität, Tenazität und biologische Übertragung zur Lehrstuhl für Mikrobiologie und Seuchenlehre, Tierärztliche Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität, München (Prof. Dr. med. vet. Dr. h. c. mult. Mayr) A 3115 MEDIZIN Anhäufung und Verbreitung von Krankheitsfällen und bestimmen damit den Seuchencharakter. Zu einer Seuche kann es kommen, wenn der Erreger lediglich eine der letztgenannten Eigenschaften besitzt. Eradikation und Tilgung Unter Eradikation versteht man die Vernichtung, das heißt Ausrottung, des Infektionserregers. Gelingt dies weltweit, treten auch die betreffenden Infektionskrankheiten nicht mehr auf, Erreger und Krankheit sind ausgerottet. Ein typisches Beispiel für eine gelungene Eradikation sind die Pocken des Menschen (2, 3). Die VariolaPocken haben die Menschen periodisch immer wieder heimgesucht. So kann ein Pockenausbruch eine ungeschützte Bevölkerung in der Regel um mehr als ein Drittel dezimieren. Die Überlebenden sind lebenslang immun und durch Pockennarben gekennzeichnet (4, 5). Die Menschenpocken wurden 1978 von der WHO als weltweit ausgerottet erklärt, was 1980 zur Einstellung der Pflichtimpfungen gegen die Menschenpocken führte. Die originären Pocken des Menschen sind seither nicht mehr aufgetreten. Dieser einmalige Erfolg der Eradikation einer so gefährlichen, die ganze Menschheit bedrohenden Seuche war nur durch das nahtlose Zusammenwirken von weltweit konsequent durchgeführten Schutzimpfungen möglich, kombiniert mit staatlichen Maßnahmen sowie durch die Besonderheiten der Epidemiologie, Pathogenese und Immunologie des Variolavirus. Eine Eradikation muss immer den Erreger wie auch die Krankheit betreffen. Der Erreger, das Variolavirus, hatte nur einen Wirt, den Menschen. Die Übertragung erfolgte direkt von Mensch zu Mensch ohne Zwischenwirte. Wirksame Impfstoffe sind weltweit verfügbar. Beim Mensch führt die Infektion mit Variolaviren ohne Therapie immer zur Krankheit; es treten keine klinisch inapparenten, persistierend latent verlaufenden Infektionen mit Erregerausscheidung auf. Die Eradikation der Menschenpocken bestätigte die Richtigkeit der theoretisch aufgestellten Kriterien für eine erfolgreiche Ausrottung von Seuchen. Die Schlüsselkriterien sind dabei: > der Erreger hat nur einen Wirt > der Erreger darf in der Umwelt nicht ubiquitär sein > der Erreger wird direkt ohne Zwischenwirte übertragen > im Wirt führt die Infektion stets zur Krankheit > persistierende latente Infektionen gibt es nicht > der Erreger darf nicht in verschiedenen serologischen Typen und Subtypen auftreten und muss genetisch stabil sein > die Krankheit kann durch weltweite Schutzimpfungen verhindert werden. An Stelle von Eradikation wird häufig auch der Begriff Tilgung verwendet. Tilgung betrifft aber nur die Krankheit, ist also enger gefasst als Eradikation, denn dieser Begriff bezieht sich auf Erreger und Krankheit (2, 6, 7, 8). Im internationalen Schrifttum wird diesbe- A 3116 züglich kein Unterschied gemacht, was zu Missverständnissen führen kann. Die Poliomyelitis ist ein typisches Beispiel für eine Infektionskrankheit des Menschen, dessen Tilgung zwar durch strikte globale und regelmäßig durchgeführte Pflichtimpfungen möglich sein könnte, dessen Eradikation aber unter den heutigen Gegebenheiten nicht möglich ist. Die Poliomyelitis des Menschen kommt in drei Serotypen vor, tritt weltweit auf, kann in bis zu 95 Prozent der Fälle klinisch inapparent verlaufen und wird meist durch fäkal-orale Schmier- seltener Tröpfcheninfektionen verbreitet. Zusätzlich können auch koprophage Fliegen und Schaben Poliomyelitis indirekt übertragen. Immunsuppressive Personen scheiden das Virus bis zu einem Jahr lang aus. Dies erschwert die Ausrottung der Polioviren des Menschen. Auch die aviäre Influenza (klassische Geflügelpest, Subtyp H7N7 und H7N1; Vogelgrippe H5N1) ist eine Infektionskrankheit, bei der nur unter bestimmten Bedingungen die Tilgung möglich ist. Die klassische Geflügelpest (aviäre Influenza, Subtyp H7N7 und H7N1) gilt seit mehreren Jahrzehnten offiziell als getilgt, weil die letzten Berichte über einen großen Seuchenzug aus den Jahren 1928/29 stammen. Zahlreiche Wissenschaftler sind mit dieser Interpretation nicht einverstanden und haben vor möglichen neuen Ausbrüchen gewarnt, weil Influenzaviren in verschiedenen Varianten bis in die jüngste Zeit bei Haus- und Wildgeflügel (Hühner, Enten, Puten, Papageien) und auch Mammaliern (Ägypten 1960, USA 1979) nachgewiesen wurden. Gewarnt wurde auch deshalb, weil Impfungen gegen die klassische Geflügelpest verboten sind (8). Influenza-Pandemien beim Menschen sind seit Jahrhunderten bekannt und haben Millionen von Menschenleben gefordert. So deuten auch die jüngsten Ausbrüche der Vogelgrippe, verursacht durch hochpathogene aviäre Influenzaviren, darauf hin, dass die bei Hühnern üblichen Subtypen H5 und H7 offenbar auch unmittelbar auf den Menschen übertragen werden können. 1997 wurden in Hongkong bei dem vom Subtyp H5N1 verursachten Ausbruch der Vogelgrippe 18 Menschen infiziert, von denen 6 starben. Im Februar 2003 wurden in China erneut drei Menschen mit dem H5N1Subtyp infiziert, zwei starben. Zu Beginn des Jahres 2004 trat wiederum ein H5N1-Subtyp auf, der sich rasch über große Gebiete Südostasiens ausbreitete und inzwischen bereits auch Südeuropa (Griechenland, Italien) und kurz darauf auch Deutschland (15. Februar 2006) sowie verschiedene westeuropäische Länder erreicht hat (BAnz: 16. Februar 2006, S. 989). Bedingt durch die sommerlichen Temperaturen sind in den letzten Monaten keine bedeutenden Fälle von H5N1-Infektionen aufgetreten. Von den gefährlichen Infektionskrankheiten bei Mensch und Tier erfüllen die Masern die für eine Eradikation notwendigen Kriterien, insbesondere weil sie nicht zu persistierenden inapparenten Infektionen führen. Entsprechend ist die Eradikation der Masern anlässlich eines WHO-Expertentreffens im Juli 1996 als nächstes Ziel einer Eradikation benannt worden. ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZIN Weltweit sind Masern-Impfstoffe mit hoher Immunogenität und guter Verträglichkeit verfügbar. Virusreservoire außerhalb des Menschen sind nicht bekannt. Seit über zwei Jahrzehnten gibt es Erfahrungen mit effektiven Impfprogrammen und Überwachungsstrategien. Masern ist eine hochansteckende fieberhafte, exanthematische Viruserkrankung, die nur beim Menschen vorkommt. Schwere Krankheitsverläufe mit Komplikationen in Form von Pneumonien, Mittelohrentzündungen, Bronchitiden sowie der lebensbedrohenden akuten, postinfektiösen Enzephalitis (bei 0,1 Prozent aller Erkrankungen) sind möglich. Darüber hinaus kommt es bei etwa 1 pro 100 000 Erkrankungen zum Auftreten der subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE), die immer zum Tod führt. Die Eliminierung der Masern bis zum Jahre 2010 ist deshalb Ziel der WHO. Um dies zu erreichen, sollten 95 Prozent der Bevölkerung durch Impfung bereits im Kindesalter geschützt werden. Alle anderen gefährlichen Viruskrankheiten, wie beim Menschen Windpocken, Mumps, HIV-Infektionen, Pest, bei Mensch und Tier Tollwut und Influenza A sowie bei Tieren Maul- und Klauenseuche, Rinderpest, Pferdepest, Geflügelpest und Schweinepest erfüllen nicht die für eine Eradikation notwendigen Kriterien (10, 11, 12). Dies gilt auch für die Röteln und Herpes zoster, deren Erreger zwar nur den Menschen befallen, dafür aber eine Wildviruszirkulation aufweisen und zudem zu persistierenden Infektionen führen können. Kongenital mit dem Rötelnvirus infizierte Kinder, die klinisch unauffällig erscheinen, können das Virus auf empfängliche Kontaktpersonen übertragen. Schutzimpfung Einer der Grundpfeiler einer Eradikation wie auch der Tilgung von Infektionskrankheiten ist die Schutzimpfung, bei der nach einer Grundimmunisierung durch regelmäßige, beispielsweise jährliche Auffrischungsimpfungen ein Schutz gewährleistet wird. Eine Grundimmunisierung besteht aus zwei Impfungen im Abstand von drei bis fünf Wochen. Für die Grundimmunisierung müssen so genannte Ganzimpfstoffe, die den gesamten inaktivierten Erreger oder ausreichend attenuierte, vermehrungsfähige Erreger enthalten, eingesetzt werden. Es ist dabei nicht notwendig, die jeweils aktuellen Variationen, wie gegenwärtig bei den jährlichen Influenzaimpfungen, zu berücksichtigen. Konsequent durchgeführte Schutzimpfungen, beginnend mit einer Grundimmunisierung, gefolgt von regelmäßigen Auffrischungsimpfungen, führen zu einer belastungsfähigen Immunität der Population und verhindern das „Sesshaftwerden“ eines Seuchenerregers, seine Vermehrung im Impfling und seine Ausscheidung. Mit derartigen prophylaktischen Schutzimpfungen kann und sollte schon vor einer akuten Infektionsbedrohung begonnen werden. Von der entstehenden Grundimmunität der Population profitieren auch Nichtgeimpfte. Für die Tilgung einer Infektionskrankheit sind ebenfalls wirksame allgemeine Schutzimpfungen notwendig. ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ In beiden Fällen – Eradikation oder Tilgung einer Seuche – bildet das nahtlose Zusammenwirken von konsequent durchgeführten allgemeinen Schutzimpfungen, kombiniert mit staatlichen seuchenhygienischen Maßnahmen, die Voraussetzung für einen Erfolg. Die je nach Impfstoff unterschiedlich hohe Rate der Impfkomplikationen (beispielsweise 1 : 10 000) lassen sich durch die gleichzeitige Verabreichung von Paramunitätsinducern aus attenuierten, inaktivierten Tierpockenviren vermeiden. Mit dieser Maßnahme wird in der Tiermedizin seit Anfang der 1980er-Jahre erfolgreich gearbeitet (8). Paramunitätsinducer sind in der Humanmedizin leider noch nicht verfügbar. Unter dem Eindruck von möglichen bioterroristischen Aktionen und der Gefahr, die von Geflügelinfluenza-Infektionen auf den Menschen ausgeht, wird zurzeit intensiv an der Zulassung entsprechender Präparate gearbeitet. In der Tiermedizin ist eine wirksame, professionell durchgeführte Schutzimpfung, die zu einer Grundimmunität der gefährdeten Population führt, allerdings keine Alternative zur Keulung, sondern ein notwendiger zentraler Bestandteil einer erfolgreichen Seuchenbekämpfung. Das heißt, kranke Tiere müssen gekeult, ansteckungsverdächtige dagegen geimpft werden. Auf diese Weise wird verhindert, dass nicht erkrankte, wertvolle Zuchttiere vernichtet werden. Dieses Vorgehen ist auch ein Beitrag zum Tierschutz, dem alle verpflichtet sind. Die Vogelgrippe ist ein aktuelles Beispiel, wie schwierig es sein kann, eine theoretisch mögliche Tilgung erfolgreich durchzuführen. Da die klassische Geflügelpest, der wichtigste Vertreter der aviären Influenzaviren, offiziell als getilgt gilt, sind seit Jahrzehnten Impfungen verboten. Impfstoffe sind deshalb nicht verfügbar. Die Entwicklung des aktuellen Seuchengeschehens mit der ständig steigenden Gefahr, dass durch die Übertragung auf den Menschen und mögliche Mutationen ein für den Menschen hochpathogener Subtyp entsteht, hat gezeigt, dass die bisher üblichen Methoden der Massentötung von Geflügel und Quarantäne nicht ausreichen. Das kontinuierliche Vordringen der Seuche bis nach Europa beweist, dass zusätzliche Maßnahmen dringend notwendig sind. An erster Stelle stehen hierbei die bereits beschriebenen, konsequent durchgeführten Schutzimpfungen. Durch die Keulung erkrankter Geflügelbestände sowie die Quarantäne und zusätzliche Impfung ansteckungsverdächtiger Bestände mit den üblichen veterinärpolizeilichen Maßnahmen kann die Bekämpfung einer Seuche unterstützt werden. Wie bereits erwähnt, erfüllen Masern alle Kriterien für eine mögliche Eradikation. Wie schwierig es ist, dieses Ziel zu erreichen, veranschaulicht die Lage in Deutschland. Trotz intensiver Bemühungen sind im ersten Halbjahr 2005 wieder gehäuft Masern aufgetreten. 96 Prozent der an Masern erkrankten Personen war nicht geimpft. Einer der Hauptgründe für die unzureichende Durchimpfung sind Impfgegner, die auch in der Ärzteschaft zu finden sind und die Bevölkerung verunsichern. A 3117 MEDIZIN Sehr bedenklich ist auch die Beobachtung, dass die Bereitschaft für die zweite Impfung bedeutend niedriger ist (Deutschland durchschnittlich 51 Prozent; Schwankungsbreite von 13 Prozent bis 77 Prozent). Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Eradikation der Masern gegenwärtig vor allem von einer intensiven Aufklärung der Bevölkerung abhängt. Dazu gehört beispielsweise, dass Ärzte und Patienten über die Bedeutung einer Grundimmunisierung aufgeklärt werden. Es genügt nicht, in den Impfempfehlungen lediglich zwei Dosen zu erwähnen, es muss gleichzeitig darauf hingewiesen werden, dass ein belastbarer Impfschutz erst drei bis vier Wochen nach der zweiten Impfung erwartet werden kann. Unter diesen Gesichtspunkten sollte die Einführung der globalen Pflichtimpfung gegen Masern diskutiert werden. Der dringlichen Forderung der Infektionsmediziner, Schutzimpfungen zur Bekämpfung und Tilgung von Infektionskrankheiten gezielt einzusetzen, steht die Angst eines großen Teiles der Bevölkerung vor Impfrisiken und Impfkomplikationen gegenüber. Sie wird manchmal durch die Warnungen von Ärzten verstärkt. Neben medizinischen Bedenken spielen hierbei sicher zwei wichtige Gründe eine nicht geringe Rolle. Bei Impfungen müssen zum einen umfangreiche Vorschriften (wie Information der Impflinge, Anamnese zur Impffähigkeit und Dokumentation) beachtet werden, die zeitlich einen Aufwand erfordern, der durch die aktuelle Gesundheitsreform kaum abgedeckt wird. Zum anderen ist die rechtliche Lage des Impfarztes beim Auftreten von Schäden schwierig. Die verfügbaren Impfstoffe in der Human- wie in der Tiermedizin sind sehr gut verträglich. Das Impfrisiko steht deshalb in keinem Verhältnis zu dem Nutzen für den Einzelnen, aber vor allem auch für die Allgemeinheit (Empfehlungen der STIKO, regelmäßige Aktualisierungen). Durch die Abschaffung der Impfpflicht in der Humanmedizin ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass Schutzimpfungen erst nicht in erster Linie dem individuellen Schutz dienen. Im Vordergrund stand und steht der Schutz der Allgemeinheit. Man spricht in diesem Zusammenhang vom „Aufopferungsanspruch“ der Gemeinschaft an den Einzelnen. Um die Impfmüdigkeit der Ärzte einzuschränken, sollte dabei aber auch an eine „Aufopferungspflicht der Gemeinschaft für den Einzelnen (Arzt)“, also eine Erleichterung der Arbeitsbedingungen und eine rechtliche Absicherung der Ärzte, gedacht werden. Eine weitere Verbesserung der Impfprophylaxe im Sinne einer Senkung oder Vermeidung von Nebenwirkungen und Erhöhung des Immunschutzes kann durch eine Paramunisierung (Stimulierung des paraspezifischen Immunsystem im Sinne einer Regulierung), wie sie in der Tiermedizin seit circa zwei Jahrzehnten bekannt ist, erzielt werden. Geeignete Paramunitätsinducer sind gegenwärtig in der Zulassung für die Humanmedizin. Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht. Manuskriptdaten eingereicht: 25. 10. 2005, revidierte Fassung angenommen: 6. 5. 2006 LITERATUR 1. von Bormann F: Neuzeitliche Verschiebung des Seuchenbestandes. Dtsch Med Wschr 1971; 96: 1197–9. 2. Mayr A: Umwelt und Seuchengeschehen. Zbl Hyg 1990;190: 1–12. 3. Mayr A: Durch Katzen auf den Menschen übertragbare Tierpocken. Dtsch Arztebl 1991; 88: 669–70. 4. Herrlich A: Die Pocken. 2. Auflage Stuttgart: Thieme Verlag 1967. 5. Mayr A: Geschichtlicher Überblick über die Menschenpocken (Variola), die Eradikation von Variola und den attenuierten Pockenstamm MVA. Berl Münch Tierärztl Wschr 1999; 112: 321–8. 6. Petrischtschewa P: Die Rolle der natürlichen Biozoenosen in der Übertragung menschlicher Krankheitserreger. Moderne Med 1971; 1: 101–5. 7. van Regenmortel, MHV et al.: Virus taxonomy: classification and nomenclature of viruses: seventh report of International Committee on Taxonomy of Viruses. San Diego: Acadamic Press 2000. 8. Rolle M, Mayr A (Hrsg): Medizinische Mikrobiologie, Infektionsund Seuchenmedizin. 7. Auflage Stuttgart: Enke Verlag 2002. Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. vet. Dr. h. c. mult. Anton Mayr Weilheimer Straße 1 82319 Starnberg E-Mail: [email protected] REFERIERT Homocystein-Senkung bessert nicht kognitive Leistungsfähigkeit Bei älteren Menschen gehen hohe Homocystein-Spiegel mit einer Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit einher. In einer zweijährigen doppelblinden placebokontrollierten randomisierten Studie mit 276 gesunden über 60-Jährigen mit einem Homocystein-Spiegel von über 13 mmol/L erfolgte eine Homocystein senkende Behandlung. Diese bestand aus der täglichen Gabe von 1 000 mg Folsäure, 500 mg Vitamin B12 und 10 mg Vitamin B6 beziehunsgsweise Placebo. Die Probanden absolvierten Kognitionstests zu Beginn der Studie sowie nach ein und zwei Jahren. Obwohl durch die Vitaminsupplementierung der HomocysteinSpiegel in der Verumgruppe signifikant abnahm, stellten die Autoren keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen beim Abschneiden w der Kognitionstests fest. McMahon JA, Green TJ, Skeaff CM et al.: A controlled trial of homocysteine lowering and cognitive performance. N Engl J Med 2006; 354: 2764–72. E-Mail: [email protected] A 3118 ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 46⏐ ⏐ 17. November 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐