2. Klausur im Fach Deutsch

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2. Klausur im Fach Deutsch
Q2 LK, Bod
Aufgabentyp IIB
Aufgabe 1
Analysieren Sie Muhammet Merteks Kolumne „Türkische Kinder im Labyrinth der
Gesellschaft“ im Hinblick auf den Problemkontext, den Inhalt, die vorgetragenen Thesen, ihre
argumentative Begründung, die angestrebte Wirkung des Textes und entsprechende
Elemente der Leserlenkung. Setzen Sie die Thesen Merteks in Beziehung zu Ihnen
bekannten Erkenntnissen zur Mehrsprachigkeit. (42 Punkte)
Aufgabe 2
Erläutern Sie kurz wesentliche Aspekte der Analyse von Heike Wieses Artikel „Die
sogenannte Doppelte Halbsprachigkeit: eine sprachwissenschaftliche Stellungnahme" und
gehen Sie anschließend auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Text von Mertek ein.
(30 Punkte)
Materialgrundlage
Muhammet Mertek: "Türkische Kinder im Labyrinth der Gesellschaft", in: Die Fontäne, Nr. 25, 2004.
http:/ /www.mmertek.de/index.php/kolumnen/gesellschaft/item/57-tuerkischekinder-im-labyrinth-dergesellschaft, letzter Aufruf am 15.11.2016.
Heike Wiese u.a.: "Die sogenannte Doppelte Halbsprachigkeit: eine sprachwissenschaftliche
Stellungnahme", in: Heike Wiese: Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München: C. H. Beck 2012.
Anhang 2, S. 276-279. Türkische Kinder im Labyrinth der Gesellschaft (2004)
Muhammet Mertek
1 Seit Jahren beobachte ich türkische Kinder in ihrem schulischen und
gesellschaftlichen Alltag. Hier stoßen sie auf große Probleme in puncto
Sprache, Kultur, Identitätsbildung, Integration und Sozialisation. Manchmal
habe ich Zweifel, ob sie in der Lage sein werden, diese großen Probleme
5 bewältigen zu können. [...]
Die erste Barriere für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung und
Sozialisation der Migrantenkinder ist das Sprachproblem. Die meisten von
ihnen verfügen über eine ,doppelte Halbsprachigkeit'. Das heißt, dass sie
weder ihre Muttersprache noch die deutsche Sprache wirklich beherrschen,
10 sondern vielmehr eine Misch-Masch-Sprache sprechen. Von einem
Bewusstsein für die Bedeutung der Sprache kann gegenwärtig weder beim
Kind noch im Elternhaus die Rede sein. Wenn aber viele Migrantenkinder
bis zum Kindergartenbesuch ausschließlich in türkischer Sprache erzogen
werden, müssen sie besonders im Kindergarten sprachlich stark gefördert
15 werden. Anderenfalls nimmt man in Kauf, dass sich, wie besonders in den
letzten Jahren festzustellen ist, immer mehr Migrantenkinder mit einem
großen Sprachdefizit an den Grundschulen anmelden.
In diesem Zusammenhang wäre es absurd, die deutsche und die türkische
Sprache auf eine Konkurrenzebene zu ziehen. Beide Sprachen sind
20 gleichermaßen wichtig, und Kinder sind durchaus in der Lage, auch beide
Sprachen richtig zu erlernen. Das Problem ist nur: Viele türkische Eltern
neigen dazu zu sagen, ihre Kinder sollten zunächst die türkische Sprache
erlernen, um den Kontakt zu ihren Wurzeln nicht zu verlieren. Andere
wiederum befürchten, ein Erlernen der Muttersprache könnte ihre Kinder
25 davon abhalten, Deutsch zu lernen. Die Eltern von Migrantenkindern sollten
sich in jedem Fall der Tatsache bewusst sein, dass die deutsche Sprache,
unabhängig von der Bedeutung der Muttersprache, die wesentliche
Sprache ihrer Kinder sein wird. Dies ist ein Faktum. Die deutsche Sprache
entscheidet über die Zukunft der Kinder, die hier in Deutschland leben.
30 Deutsche und türkische Kinder werden im schulischen Alltag mit den
gleichen Maßstäben gemessen. Um weiterkommen zu können, müssen die
Migrantenkinder also die deutsche Sprache beherrschen. Andererseits ist
die Muttersprache natürlich vor allem für ihre Persönlichkeitsentwicklung
von Bedeutung. Vor dem Besuch eines Kindergartens sollte die
35 Muttersprache so intensiv wie möglich gefördert werden, um den Kindern
eine Sprachbasis zu schaffen. Dabei sollte man unbedingt versuchen
darauf zu achten, dass sich keine Misch-Masch-Sprache entwickelt.
Eine Misch-Masch-Sprache stellt ein Sprachdefizit dar, das in gewissem
Maße sogar die geistige Entwicklung der Migrantenkinder behindern kann.
40 Die meisten dieser Kinder sind dann nicht in der Lage, ihre Gefühle und
Gedanken in einer Sprache zum Ausdruck zu bringen. Wenn es um eine
Darstellung eines Sachverhalts oder der eigenen Meinung zu einem
bestimmten Thema geht, können sie sich allenfalls ganz knapp in nur einer
Sprache äußern. Sie fallen schnell in eine gemischte Sprache, weil es
45 ihnen am entsprechenden Wortschatz mangelt. Eine Sprache zumindest
müssen sie richtig beherrschen, und das ist die deutsche Sprache unabhängig von der Unumstrittenheit der Bedeutung der Muttersprache.
Die Wege durch das Labyrinth der Gesellschaft sind verschlungen. Wenn
die türkischen Kinder eine Chance haben sollen, ihren eigenen Weg zu
50 finden, müssen sich zunächst einmal ihre Eltern bewegen. Leider ist derzeit
die Mehrheit von ihnen nicht in der Lage, mit dieser Herausforderung fertig
zu werden. Also müssen sie von der Schule, von Bildungsinstitutionen und
Vereinen Unterstützung erhalten. Auf der anderen Seite müssen sich aber
auch die Schulen bewegen und zu Orten eines aufrichtigen friedvollen
55 Miteinanders werden. [ ... ] Die sogenannte „Doppelte Halbsprachigkeit": eine
sprachwissenschaftliche Stellungnahme (2012)
Heike Wiese u. a.
1 In der öffentlichen Diskussion, gerade auch in bildungspolitischen
Kontexten, findet man in letzter Zeit häufig die Aussage, Kinder, die mit
zwei Sprachen aufwüchsen, entwickelten oft eine 'doppelte Halbsprachigkeit', d. h. sie könnten keine der beiden Sprachen 'richtig' sprechen. Für
5 eine solche Annahme gibt es keine sachliche Grundlage: Die sogenannte
'doppelte Halbsprachigkeit' ist ein populärer Mythos, der auf einer
Fehleinschätzung von Sprache und sprachlicher Vielfalt beruht. Er gibt eher
die soziale Bewertung - genauer: Abwertung - eines bestimmten
Sprachgebrauchs wider als sprachliche oder grammatische Fakten. Aus
10 der sprachwissenschaftlichen Forschung wissen wir: Das Aufwachsen mit
zwei oder auch mehr Sprachen stellt kein Problem für Kinder dar.
Mehrsprachigkeit von Kindesbeinen an ist der Normalfall in menschlichen
Gesellschaften: Die Mehrheit der Menschen ist heute mehrsprachig. Ein
Aufwachsen mit nur einer Sprache ist die Ausnahme, nicht die Norm.
15 Mehrsprachige Kinder verhalten sich nicht wie 'doppelt einsprachige'
Kinder. Sie haben ein besonderes Sprachprofil, bei dem die beiden
Sprachen unterschiedliche Spezialisierungen haben können - etwa eine
Sprache für den informellen und familiären Bereich, eine für den stärker
formellen öffentlichen Bereich. Sie zeigen oft einen innovativeren Umgang
20 mit Sprache, z.B. durch Sprachspiele, den Wechsel von einer Sprache in
die andere, neue Fremdwörter oder grammatische Neuerungen. Die
mehrsprachige Situation macht Kinder kommunikativ versierter und flexibler
und kann ihnen das Lernen von Fremdsprachen erleichtern.
Sprache tritt in vielen Varianten auf (z.B. informelle Umgangssprache,
25 Jugendsprachen, Dialekte, sprechen in formellen Kontexten, Schriftsprache). Wir alle beherrschen nicht nur eine Variante, sondern besitzen
ein sprachliches Repertoire, aus dem wir je nach Situation gezielt
auswählen (z.B. Umgangssprache oder SMS mit Freunden, formelleres
Sprechen in einer Behörde, Schriftsprache in einem förmlichen Brief). Der
30 Sprachgebrauch unterscheidet sich auch nach sozialen Schichten, d. h. in
unterschiedlichen sozialen Schichten können sich auch unterschiedliche
sprachliche Varianten entwickeln.
Grammatische Eigenheiten von Dialekten und anderen sprachlichen
Varianten werden in der öffentlichen Wahrnehmung oft als „Fehler"
35 missverstanden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn eine Variante
typisch für Sprecher niedrigerer sozialer Schichten ist. Das Standarddeutsche ( das sogenannte "Hochdeutsch") ist aber nur eine von vielen
Varianten des Deutschen. Es besitzt zwar ein besonderes soziales
Prestige, ist jedoch nicht grammatisch 'besser' als andere Varianten. Eine
40 Konstruktion wie "meiner Mutter ihr Hut", die in vielen deutschen Dialekten
möglich ist, ist grammatisch gesehen eher komplexer als die Standardform
"der Hut meiner Mutter". [...] Die Kompetenz in der Standardsprache soll
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nach wie vor ein schulisches Ziel bleiben. Dies zwingt aber keineswegs,
gegen neue urbane Dialekte und Jugendsprachen vorzugehen, die so reich
und bunt sind wie andere deutsche Dialekte auch. In vielen Gegenden
Deutschland, in denen der Dialektgebrauch noch stark ausgeprägt ist, kann
man mit dieser so Situation gut leben. Baden-Württemberg wirbt sogar
damit, dass man "alles außer Hochdeutsch kann". Dialektgebrauch muss
keineswegs in eine wirtschaftliche Benachteiligung münden.
Die Sprache der Schule, die auf dem Standarddeutschen aufbaut, ist
besonders nah am Sprachgebrauch der Mittelschicht. Kinder aus anderen
sozialen Schichten, und zwar einsprachige ebenso wie mehrsprachige
Kinder, schneiden daher z.B. im "Deutsch-" Test regelmäßig schlechter ab:
Sie sind mit dem Standarddeutschen der Mittelschicht weniger vertraut. Zu
ihren sprachlichen Kompetenzen gehören jedoch auch Kompetenzen in
anderen Varianten als dem Standarddeutschen (und ebenso z.B. im
Standardtürkischen). Dies bedeutet daher nicht, dass diese Kinder
"halbsprachig" sind oder "keine Sprache richtig" sprechen können. Es
bedeutet, dass ihre Kompetenzen in der Standardsprache der Schule noch
gefördert werden müssen. Eine solche Förderung kann aber nur dann
erfolgreich sein, wenn wir die sprachlichen Kompetenzen von Kindern
objektiv würdigen und uns nicht den Blick durch Fehleinschätzungen wie
der der "doppelten Halbsprachigkeit" verstellen lassen.
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