Universität zu Lübeck, SS 2012 Prof. Dr. phil. Christoph Rehmann-Sutter (verantwortlich), mit Prof. Dr. med. Cornelius Borck und Prof. Dr. rer. nat. Burghard Weiss, Vorlesung Forschungsethik der biomedizinischen Wissenschaften Im Masterprogramm MLS und MIW, 2. Semester Stoffkatalog 1. Experimente am Menschen (Rehmann-Sutter) Beispiel für eine ethische Problematik bei der Konzeption von Studiendesigns: aktive Placebos in der Kontrollgruppe – die Problematik der Tuskegee Syphilis-Studie – Menschenversuche in der Nazi-Medizin – der Zielkonflikt in der medizinischen Forschung – informed consent als ethisches Modell seit dem Nürnberger Codex und in der Deklaration von Helsinki – begrenzte Legitimierungskraft der informierten Zustimmung – vier SäulenModell einer integrativen Forschungsethik – TGN 1412 Studie – drei Prinzipien der Forschungsethik nach Belmont Report – 7 Voraussetzungen für ethische Forschung am Menschen nach Emauel/Wendler/Grady 2000. 2. Grundlagen der Ethik (Rehmann-Sutter) Anliegen der Ethik – Ethik als Auseinandersetzung mit Moral – Bedeutung des kulturellen und gesellschaftlichen Kontextes zum Verständnis der ethischen Fragen – Def. Bioethik – Begriffe: Ethos, Moral, Ethik – Ethik ist normativ, kritisch und richtungsweisend, sie beachtet Kontexte – Beispiel medizinische Genetik/Microarray Testchips – moralische Wahrnehmung und die ethische Perspektive – 4 Grundanliegen philosophischer Ethik (Freiheit/Autonomie, Wohl/Glück, Tugend/Exzellenz, Beziehung/Alterität) – Kantianismus, Utilitarismus, Tugendethik und Beziehungsethik. 3. Wahrheit, Wissen, Werte: Philosophie und Soziologie (Borck) Was ist Wahrheit, was ist Wissen, was beweist eine neue Theorie? Beispiel: Bakteriologie und die sogenannten Kochschen Postulate; Bakteriologie als Wissensraum – die soziale und politische Dynamik medizinischen Wissens – Biopolitik – Produktion von Wissen in Experimenten – Umweg über das Labor als Hebel (Latour) für neue Interventionen – Fortschrittsorientierung von Wissenschaft – Wissen als Dispositiv – Entstehung moderner Wissensformen mit der wissenschaftlichen Revolution am Beginn der Neuzeit (Bacon: Wissen ist Macht). Beispiel: Visualisierung der Körperstrukturen durch die Anatomie, anatomische Wissensformen vor Vesal und modernes visualisiertes Wissen in der Anatomie – Sichtbarmachung des Körperinneren (Röntgenstrahlen) – Konventionalität des Sehens – Sichtbarmachung des Unsichtbaren in der Physiologie: Funktionen, Signale außerhalb der menschlichen Sinnesorgane, psychische Phänomene (Kurvenschreiber, EKG, funktionelle Bildgebung) – Erforschung des Körpers vs. Bestimmung von Gesundheit, Gesundheit als Werturteil und als Ausdruck sozialer Normen (Canguilhem). 4. Forschen und Feilschen in der Geschichte: Good Scientific Practice (Borck) Grundproblem: Was ist Wissenschaft? Was ist eine Fälschung? Warum sind Fälschungen in der Wissenschaft besonders prekär? – Grenze Wissenschaft/Nicht-Wissenschaft – Grenze gute/schlechte Wissenschaft – Methodologie als Basis – Regeln Guter wissenschaftliche Praxis – Beispiele für schlechte wissenschaftliche Praxis bzw. wissenschaftliches Fehlverhalten aus der Wissenschaftsgeschichte (Haeckels Embryonenbilder, Kammerers Versuche zur „Vererbung erzwungener Anpassungen“) – Charles Babbages Typologie von Fälschungen (1830: hoaxing, forging, trimming, cooking) – wesentliche historische Problemfelder: Plagiat und Priorität – Positive Entwürfe für Wissenschaftsethik: Santiago Ramon y Cajal 1898, dt.1933 „Regeln und Ratschläge zur wissenschaftlichen Forschung“; – aktuelle Betrugsfälle seit den 1990er Jahren bis zur Stammzellforschung (Hermann/Brach, Hwang) – Spezielle Verfahren für klinische Experimente (Ethikkommission) – DFG-Regeln guter wissenschaftlicher Praxis und internationale Äquivalente – Besondere Prüf- und Konsensus-Konferenzen (Singapore Statement). 5. Die gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers (Rehmann-Sutter) Das Ethos der Wissenschaft nach Merton (CUDOS) – Wertfreiheit: Werturteilsfreiheit wissenschaftlicher Aussagen und moralische Relevanz der Wissenschaft – ethische Diskurse mit gesellschaftlichen Akteurgruppen – Beispiel: Ungeprüfte Stammzelltherapien als Wundermittel – Beispiel: Craig Venters synthetische Zellen von 2010 – Natürlichkeit v. Künstlichkeit in der synthetischen Biologie und die Problematik der Abgrenzung von natürlich und künstlich – gesellschaftliche und ökologische Implikationen der Biotechnologie am Beispiele der synthetischen Biologie. 6. Forschung & Entwicklung als sozialer Innovationsprozess (Rehmann-Sutter) Faktoren für Innovation: Wissenschafts- und technologieinterne Faktoren der Entwicklung/Innovation, sowie externe, gesellschaftliche Faktoren – Der Ansatz der Science and Technology Studies (STS) nach Deborah Johnson – Rolle der Ethik im Innovationsprozess – “Vertrag” zwischen Wissenschaft und ihrer Gesellschaft (Peter Weingart) – Der Unterschied zwischen Government und Governance – sozial reflexive Gestaltung von governance – Wichtige Narrative als Strukturmuster für die öffentliche und wissenschaftliche Wahrnehmung gesellschaftlicher Implikationen und ethischer Probleme neuer Technologien: Frankenstein und Ikarus – entsprechend zwei Modelle von Verantwortung für neue Technologien. 7. Tierversuche in Recht und Ethik (Rehmann-Sutter) Geschichte der Tierversuche in der medizinischen Forschung – Zahlen und Größenordnungen – wie Tiere geschädigt und belastet werden können – Reduce, Replace, Refine (3Rs) und die darin enthaltene moralische Anerkennung des Tiers als Wesen, das etwas zählt – Grundkonzept des Deutschen Tierschutzgesetzes: Tier als Mitgeschöpf – das Mensch-Tier-Verhältnis allgemein – Grundtypen ökologischer Ethik (Anthropozentrik, Pathozentrik, Biozentrik, Holismus) – Subjektivität des Tiers nach Hegel – Aristoteles’ Seelenlehre – Würde des Menschen und die Würde des Tiers – Tierethik nach Regan und Singer – 4 Anliegen in der Tierethik – Unlösbarkeit des ethischen Konflikts der Tierversuche. 8. Technisch-ökologische Risiken (Rehmann-Sutter) Naturkatastrophen und technische Risiken – Beispiel Fukushima und Atomkraftwerke – Vergleichbarkeit der Sicherheit verschiedener Energieformen – ökologischer Fußabdruck vs. Human Development Index; die Problematik des modernen Entwicklungs- und Wohlstandsmodells – Risiken bei klinischer Forschung – Risiko Klimaerwärmung – Quantifizierung von Risiken durch Wahrscheinlichkeit und Schadensausmaß – das ökonomische Risikoparadigma und das juridische Risikoparadigma – Unterschiede zwischen den beiden Risikomodellen aus ethischer Perspektive: Einbezug der Akteur- und Betroffenenperspektive in die Risikomodellierung – Verantwortung für voraussehbare Folgen in der Zukunft und Verantwortung retrospektiv (“Verantwortungsparadox”). 09./10. Technik-Kritik und -Bewertung (Nur für MIW; Weiss) Prometheus-Mythos – fundamentale Ambivalenz der Technik – technischer Fortschritt generiert nichtantizipierbare Risiken – Begriff der Risikogesellschaft (Ulrich Beck) – mögliche (Teil)Abhilfe: Technikfolgenabschätzung und Technikbewertung: Methoden und Institutionen – Treiber und Widerstände der Technikentwicklung (Matthias Horx) – Angst vor Kontrollverlust als Distraktor der Technikentwicklung – Felder der Technikbewertung, u.a. Gesundheit – spezielles TA: Health Technology Assessment (HTA): Kriterien, Kritik und Grenzen des HTA – Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs (nach VDI) 11./12. Ethik der Bildgebung (Nur für MIW; Weiss) Rolle moderner Bildgebungsverfahren am Beispiel der Strahlentherapie mit schweren Ionen (HIT) – Präzision, Reproduzierbarkeit, Reliabilität, Validität, Spezifität, Sensitivität - Ethische Problemfelder der Bildgebung: 1. Bilder als “objektive” Darstellungen: Reliabilität? Validität? Artefakte? - 2. Was abbildbar ist, wird abgebildet! Tabus? Privatsphäre? Neuroethik? - 3. Wer zahlt, bestimmt! Unnötige Bilder? Souvenirs? Screenings? - 4. Was erkannt wird, wird mitgeteilt! Zufallsdiagnosen? Recht auf Nichtwissen? - 5. Von der Bildgebung zur Neoeugenik! Pränatale Bilder als Selektionskriterien? Gesundheit als schlechte Diagnostik? 9. Was ist Leben? (Nur für MLS; Rehmann-Sutter) Epistomologische Voraussetzungen der Molekularbiologie: Sie betrachtet Leben als dynamischen Ordnungszustand der Materie (Manfred Eigen) – Zwei historische Positionen: Mechanizismus und Vitalismus; deren philosophische Problematik – Dritter Weg: Phänomenologie des Lebendigen – Primäre und sekundäre Eigenschaften von Dingen (nach John Locke) – extensionale und intensionale Lebensdefinitionen – Positionalität als Charakteristikum des Lebendigen (Helmuth Plessner) – die ethische Bedeutung des Begriffs “Leben” als Norm zur besonderen Wahrnehmung von “Lebewesen”. 10. Biopatentierung: Patente auf Lebewesen und Gene? (Nur für MLS; RehmannSutter) Was ist ein Patent? (Unterschied zum Urheberrecht, Markenschutz, Sortenschutz etc.) – die ethische Problematik von Biopatenten (Gensequenzen, Zellen und gentechnisch veränderte Organismen) – Flaggschiff-Fälle Harvard Oncomouse und BRCA1/2 – eigentumsrechtliche Voraussetzungen der Funktion und der gesellschaftlichen Legitimität des Patentsystems – Forschungsprivileg, Landwirteprivileg – Stoff- vs. Verfahrenspatente – Argumente pro und contra Genpatente. 11. Genetik und Genomik (Nur für MLS; Rehmann-Sutter) Genetische Daten, Interpretation und genetisches Wissen – die Deutung des Genoms als genetisches Programm, Widersprüche in dieser Idee und empirische Inkohärenzen – die systemische Konzeption des Genoms als alternative Deutung – ethische Implikationen beider Deutungsmodelle der Genomik: für die prädiktiven Gentests und für das Menschenbild (Leib und Körper) – die ethische und rechtliche Problematik der Sequenzierung des ganzen Genoms von Individuen – Paradox der Prädiktion. 12. Embryonenschutz und Stammzellforschung (Nur für MLS; Rehmann-Sutter) Das moralische Modell des Embryonenschutzes im Embryonenschutzgesetz von 1990 – Pluripotenz vs. Totipotenz – die SKIP-Argumente für den Embryonenschutz – Ausformulierung und Analyse des Potentialitätsarguments – Kritik am Potentialitätsargument (Kronprinzenargument, Gametenargument, Prämisse des genetischen Programms) – Stufen der Potentialität – ethische Modelle des Embryos (Person- Sach- und gradualistisches Modell) – die Bedeutung der Implantation (Nidation) für die Entstehung einer Verantwortungsbeziehung zum Embryo bei der IVF.