Muslimische Wohltätigkeit in der Schweiz

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Muslimische Wohltätigkeit in der Schweiz
2. Sitzung 19. Oktober 2012
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Ablauf
• Referat Wohltätigkeit in den isl. Quellen (ca. 13:15–13:45)
• Diskussion (ca. 13:45–14:15)
• Pause
• empirische Umsetzung, isl. Stiftungswesen (ca. 14:30–15:30)
• Pause
• Referat staatliche Armenfürsorge (ca. 16:00–16:30)
• Diskussion (ca. 16:30–17:15)
S. Martens
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Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
religiöse Pflichten im Islam:
• Glaubensbekenntnis (shahāda)
• rituelles Gebet (salāt)
˙
• Fasten im Ramadan (sawm)
˙
• Almosen (zakāt)
• Pilgerfahrt (haǧǧ)
˙
S. Martens
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Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
sharı̄ ãa unterscheidet Handlungen in:
• fard / wāǧib (verpflichtend)
˙
• mandūb / mustahabb (empfohlen)
˙
• mubāh (zulässig)
˙
• makrūh (missbilligt)
• harām (verboten)
˙
Für die Beurteilung von Handlungen ist nı̄ya (Absicht) entscheidend.
S. Martens
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Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
zakāt (von z-k-y)
• vermehren, reinigen, gerecht/gut sein u.a.
• Bedeutung der Reinigung auch in anderen semitischen Sprachen und in anderen
monotheistischen Religionen
sadaqa (von s-d-q)
˙
˙
• die Wahrheit sprechen“, aufrichtig sein“
”
”
• Glaube bzw. Fürwahrhalten (tasdı̄q) sowie Freundschaft (sadāqa) und Freund (sadı̄q)
˙
˙
˙
• Sprachverwandtschaft zum hebräischen sedaqah (Gerechtigkeit, Tugend)
S. Martens
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Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
Der Begriff zakāt/sadaqa kommt mehr als 30 Mal im Koran vor. Einerseits wird die
˙
Verpflichtung der Muslime
zur Abgabe der zakāt betont, andererseits aber auch eine Belohnung
dafür im Jenseits angekündigt:
Dienjenigen, die ihr Vermögen um Gottes willen spenden, sind einem Saatkorn zu vergleichen,
”
das sieben Ähren (aus sich) wachsen läßt, mit hundert Körnern in jeder Ähre. Gott vervielfacht
(den himmlischen Lohn), wem er will. Und Gott umfaßt (alles) und weiß Bescheid.“ (2:261)
[Nach der Koranübersetzung von Paret [2007, S. 39].]
S. Martens
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Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
In den meisten Fällen wird zakāt in Verbindung mit dem Gebet genannt, woraus viele Gelehrte
ableiten, dass die zakāt neben dem Gebet zu den wichtigsten religiösen Pflichten gehört.
Denen, die glauben und tun, was Recht ist, das Gebet verrichten und die Almosensteuer
”
geben, steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu, und sie brauchen (wegen des Gerichts) keine Angst
zu haben, und sie werden (nach der Abrechnung am jüngsten Tag) nicht traurig sein.“ (2:277)
[Nach der Koranübersetzung von Paret [2007, S. 40].]
S. Martens
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Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
Im Koran (9:60) benannte Gruppen von zakāt-Berechtigten
• al-fuqarā â (die Armen),
• al-masākı̄n (die Bedürftigen),
• al- ãāmilı̄n ãalayhā (Verwalter der zakāt),
• al-mu âallafa qulūbuhum (deren Herzen gewonnen werden sollen),
• fı̄ ar-riqāb ([die] in Sklaverei/Gefangenschaft),
• al-ġārimı̄n (die Verschuldeten),
• fı̄ sabı̄l Allāh ([die] auf dem Wege Gottes) und
• ibn as-sabı̄l (Reisender)
S. Martens
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Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
andere Begriffe in Koran und Sunna
• al-ihsān (das Erweisen einer Wohltat)
˙
• al-hairı̄ya (die Wohltätigkeit)
˘
• al- ãamal al-hairı̄ (das wohltätige Handeln)
˘
• al-birr (die Güte, die fromme Gabe)
• al-infāq (die Geldspende)
• al-kaffāra (die Ausgleichszahlung für eine Sünde)
S. Martens
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Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
Bedingungen für die zakāt
• zakāt-pflichtig sind Einkommens- und Vermögensarten über einem festgelegten
Mindestvermögen (nisāb) von 85 g Gold oder 595 g Silber bzw. in CH derzeit ca. SFr. 4400
˙
oder ca. SFr. 600
• Gold und Silber, Geldvermögen oder in Kauf- und Verkaufsgeschäften erworbene konkrete
Handelsgüter, Nutztiere und Ernteerträge, Schmuck (Abweichende Ansichten je nach
Rechtsschule)
• trad. unterschiedlicher nisāb und zakāt-Raten je nach Vermögensart (2.5% auf
˙
Geldvermögen, 10% auf landwirtschaftl.
Erträge . . . )
• Zahlung einmal im Mondjahr
• zakāt al-fitr bzw. sadaqa al-fitr im Ramadan (entspricht Mahlzeit für einen Bedürftigen)
˙
˙
˙
S. Martens
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Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
Bedeutung der zakāt
• zakāt ist eine religiöse Pflicht und gottesdienstliche Handlung ( ãibāda)
• Geber der zakāt erfüllt Pflicht, der legitime Empfänger klagt ein Recht (haqq)
˙
• durch die zakāt reinigt (zakkā) der Geber sein eigenes Eigentum, d.h. indem er einen Teil
seines Vermögens an Bedürftige gibt, wird der Rest rein und rechtmässig
• soziale Dimension: fördert Solidarität zwischen den Mitgliedern lokaler Gemeinschaften und
stärkt Zusammenhalt der islamischen Gemeinschaft (umma); soziale Umverteilung wirkt
gesellschaftsstabilisierend
S. Martens
muslimische Wohltätigkeit – 11
Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
Bedingungen der sadaqa
˙
• freiwillige Spende, die in Bezug auf Spendezeitpunkt, Zweck, Form und Umfang frei wählbar
ist
• nicht nur als materielle Spende verstanden
• in klassischen Rechtswerken bezeichnet sadaqa alle Hilfeleistungen
˙
• Vorzug der nahen Armen“ (Verwandte, Nachbarn, Bedürftige in eigenen Land)
”
Bedeutung der sadaqa
˙
• gottgefällige Tat (qurba), Hoffnung auf jenseitige Belohnung
• Abwenden von Gefahr, Krankheit, Unglück
• Ziele und soziale Bedeutung wie bei zakāt
S. Martens
muslimische Wohltätigkeit – 12
Wohltätigkeit in Koran und Prophetenüberlieferung
qurbān
• Opfertier anlässlich des Opferfestes ( ãı̄d al-adhā)
˙˙
• ist eine sunna (denen empfohlen, die es sich leisten können)
• Symbol für die Unterwerfung des Gläubigen unter den Willen Gottes (erinnert an das Opfer
des Propheten Ibrahim (Abraham))
• Schlachtopfer wird in 3 Teile geteilt – ein Drittel zum eigenen Verbrauch, die anderen beiden
Drittel des Opferfleisches (qurbān) werden an Verwandte, Nachbarn und Bedürftige verteilt
• ebenfalls Wortstamm q-r-b
S. Martens
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zakāt und sadaqa in musl. Gesellschaften
˙
zakāt
• 2. Kalif Abu Bakr (gest. 634) institutionalisierte zakāt
• ab dem 9. Jh.: zusätzliche Steuern (mukūs)
• im Laufe der Geschichte immer wieder Versuche, zum ursprünglichen islamischen
Steuerwesen zurückzukehren
• zakāt mehrheitlich nicht als Steuer eingetrieben
sadaqa
˙
• gegenseitigen Hilfe in der Verwandtschaft und der Nachbarschaft u.a.; aufgrund des
informellen Charakters der sadaqa kaum Quellen, die konkret über die historische Praxis
˙
Auskunft geben
• Ausnahme: Herrscher und gesellschaftliche Elite (insb. in Krisenzeiten); Stiftungsurkunden
S. Martens
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zakāt und sadaqa in musl. Gesellschaften
˙
Begünstigte
• nicht nur materiell Bedürftige
• genossen z.T. hohes gesellschaftl. Ansehen und waren wohlhabend
• Berechtigungskriterium: Würdigkeit (v. a. durch militärisches und religiöses Verdienst)
• unter Bedürftigen: insb. Waisen und Frauen (Verstossene und Witwen mit Kindern) sowie
Arme von Mekka, Medina und Jerusalem
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muslimische Wohltätigkeit – 15
religiöses Stiftungswesen
waqf / sadaqa ǧārı̄ya
˙
• waqf (Pl. awqāf) oder sog. fromme Stiftung
• w-q-f: anhalten oder festhalten
• nicht in Koran erwähnt, aber Ursprung zu Lebzeiten des Propheten
• erste urkundlich belegte awqāf aus 8. Jh.
• Unterscheidung zw. wohltätiger öffentlicher Stiftung (al-waqf al-hayrı̄) und privater
˘
Familien- bzw. Nachkommenschaftsstiftung (al-waqf al-ahlı̄)
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religiöses Stiftungswesen
Bedingungen von awqāf
• Stifter überträgt sein Eigentum auf Gott
• gestiftete Sache muss einem gottgefälligen Zweck“ dienen (gemeinnütziger Stiftungszweck)
”
• Stiftungssachen gelten als für alle Zeiten unveräusserlich; werden somit dem regulären
Wirtschaftskreislauf entzogen
• i.d.R. unbewegliche Güter wie Immobilien und Land, aber auch Bücher und
Bargeldstiftungen
• erzielte Gewinne kommen dem festgelegten Zweck zugute
S. Martens
muslimische Wohltätigkeit – 17
religiöses Stiftungswesen
Bedeutung
• ab 9. Jh.: Stiftungen zur Finanzierung grosser öffentlicher Einrichtungen
• bspw. Moscheen und Schulen, Brunnen und öffentliche Bäder, Suppenküchen und Ställe,
Waisenhäuser und Hospitäler
• für die grundlegende Infrastruktur der islamischen Stadt“ von grosser Bedeutung
”
• Schutz von Eigentum vor staatlicher Konfiszierung und Umgehung von
Erbfolgebestimmungen
S. Martens
muslimische Wohltätigkeit – 18
staatliche Armenfürsorge in der Vormoderne
• Herrscher intervenierten nur in Notfällen, d.h. bspw. um das Betteln einzuschränken und
das Verhalten von Bettlern in der Öffentlichkeit zu kontrollieren
• ab 19. Jh. restriktiveres Vorgehen gegen Bettler
• Herrscher präsentierten sich z.T. als grosszügige Spender
• systematische soziale Versorgung von Bedürftigen durch Staat erst ab Ende 19. Jh.
• dennoch ersetzten staatliche Bemühungen bis heute nie informelle Hilfe
S. Martens
muslimische Wohltätigkeit – 19
Reziprozität?
Beziehungsverhältnis zw. Gebern und Empfängern
• Geheimes Geben bevorzugt
• Geber stellt keine Erwartungen an eine Gegenleistung durch Empfänger
• Transzendenzbezug: Ziel ist eigene Reinigung und jenseitige Lohn; eigentlicher Adressat der
Handlung ist Gott
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S. Martens
muslimische Wohltätigkeit – 20
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