1. Rechensteine und Pythagoräischer Lehrsatz. Der Beginn der wissenschaftlichen Mathematik fällt mit dem Beginn der Philosophie zusammen. Er kann auf die Pythagoräer zurückdatiert werden. Die Pythagoräer waren eine Gruppe, manche sagen ein Geheimbund, die zwischen 500 - 400 v.u.Z. in Süd Italien gewirkt hat und die eine erste Philosophie der Natur entwickelt hat und dies war in dieser frühen Zeit dasselbe wie Naturwissenschaft (andere Philosophen in dieser Zeit waren Thales und Anaximander von denen wir aber nicht viel wissen). Grundlage dieser Philosophie war nun Mathematik, insbesondere die Zahlen. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 2 . Geometrie (L2) Für die Pythagoräer waren die Zahlen die Grundlage aller Wirklichkeit. Ihre Devise war ”Alles ist Zahl”. Das Wort Zahl aber hatte für sie nicht nur eine quantitative sondern auch eine qualitative Bedeutung. Weiter sahen sie die Welt, wie in der Musik von harmonischen Zahlenverhältnissen bestimmt. Wir können hier auf diese philosophische Seite nicht eingehen. Bemerkenswert ist vielleicht die Tatsache, dass sich die griechische Mathematik (und damit die wissenschaftliche Mathematik) nicht aus den Bedürfnissen der Anwendungen heraus entwickelt hat. Vielmehr stand am Anfang der antiken Mathematik und damit am Anfang der wissenschaftlichen (oder der philosophischen) Mathematik ein Spiel, das Spiel mit Rechensteinen. Rechensteine und Zahlenreihen. Rechensteine hatten verschiedene Farben (zumindest schwarz und weiss) und die Aufgabe bestand darin Rechensteine zu interessanten geometrischen Konfigurationen zu legen um mathematische Gesetzmässigkeiten zu entdecken. Eines der ältesten überlieferten Stücke der antiken Mathematik ist die Lehre vom Geraden und Ungeraden (die den Pythagoräern zugeschrieben wird). Sie Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 3 beginnt mit der Beobachtung, dass eine Kette von Steinen einen Mittelstein haben kann oder nicht, und damit kann man zwischen Gerade und Ungerade unterscheiden. Um dies anzudeuten kann man für den Mittelstein eine besondere Farbe wählen, etwa: weiß: gerade ungerade Pythagoräische Lehre vom Geraden und Ungeraden. Die überlieferten Lehrsätze sind: gerade + gerade = gerade gerade + ungerade = ungerade ungerade + ungerade = gerade gerade × gerade = gerade gerade × ungerade = gerade ungerade × ungerade = ungerade. Aufgabe. Man zeige, mit Rechensteinen, dass ungerade × ungerade = ungerade. Lösung. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 4 . Geometrie (L2) Für die Lösung der Aufgabe beobachte man z.B., dass jeder Stein im Quadrat sein Gegenstück hat. Ausgenommen der Stein in der Mitte. Für ihn gibt es kein Gegenstück. Also ist die Anzahl der Steine im Quadrat (= das Produkt) ungerade. ♦ Mit den Spielsteinen konnte man Dreiecke, Quadrate, Rechtecke und andere Figuren legen. Solche Figuren nennt man figurierte Zahlen. Einen besonders wichtigen symbolischen Wert für die pythagoräische Mathematik, hatte die Zehnzahl. Sie galt als vollkommen galt. Weiter wichtig war der Drusenstern, der den Pythagoräern als Erkennungszeichen diente. Diesen Drusenstern erhält man aus den Diagonalen des Pentagons. Deshalb hat das Pentagon Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 5 (und später auch andere regularr̈e Polygone) in der griechischen Mathematik eine wichtige Rolle gespielt. Der Drusenstern Die Zehnzahl Die Pythagoräer kannten neben der Dreieckszahl 10 auch andere Dreieckszahlen. Tatsächlich bildeten sie aus Rechensteinen eine ganze Folge von Dreieckszahlen: x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x Aufgabe. Man zeige, mit Rechensteinen, dass das n-te Dreieck 12 n(n + 1) Steine hat. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 6 . Geometrie (L2) Lösung. Zur Lösung der Aufgabe braucht man Steine in zwei Farben (also etwa weisse und schwarze Steine). Dann bilde folgende Rechteckszahlen: o x o x x o o x o o x o x x x x o o o x o o x o x x x x x x o o o o o o x o x x Zwei Dreieckszahlen bilden zusammen eine Rechteckszahl, eine sog. ”Heteromeke”. Das n-te Rechteck hat n · (n + 1) Steine. Dreieckszahlen sind die Hälfte davon. Also folgen die Dreickszahlen dem Bildungsgesetz 1 n(n + 1) 2 Dies löst die Aufgabe. ♦ Aufgabe. Man zeige, dass 1+3+. . .+2(n−1) = n2 . Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 7 Lösung. Die Pythagoräer betrachteten die Folge der Quadratzahlen und machten folgende Beobachtung bei Verwendung zwei-farbiger Spielsteinen: x o o x o o o o x x o x x o o o o o x x x o x x x o x x x o Die Folge der Quadratzahlen entsteht also durch Ansetzen von sog. ”Gnomonen” (die auch bei Euklid eine große Rolle spielen): o o o o o o o Die Gnomone bestehen aus 2n + 1 Steinen. Die Differenzen der Quadrate bildet also die Folge aller ungeraden Zahlen. Die Summierung der ungeraden Zahlen ist aber natürlich das Gleiche wie das letzte Quadrat. Also 52 = 1 + 3 + 5 + 7 + 9 oder allgemeiner n2 = 1 + 3 + . . . + (2n − 1) = n X (2m − 1) m=1 Klaus Johannson, Geometrie (L2) 8 . Geometrie (L2) Mit Hilfe der Gnomone konnten die Pythagoräer auch Formeln für die Summe von Quadraten aufstellen. Der nächste Satz zeigt eine etwas anspruchsvollere Anwendung der pythagoräischen Spielstein Arithmetik. Aufgabe. Man zeige, dass 12 + 22 + . . . + n2 = 1 3 (2n + 1)(1 + 2 + . . . + n).i Lösung. Unterer, mittlerer und oberer Teil sind gleich Im unteren Drittel sieht man die vier Quadrate 42 + 32 + 22 + 12 . Streckt man die Gnomone zu Strecken aus, dann sieht man leicht, dass das untere Drittel der Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 9 schwarzen Steine gleich der Anzahl der weißen Steine ist. Zusammen mit dem oberen Drittel erhält man: 3 · (12 + 22 + 32 + 42 ) = (2n + 1) · (1 + 2 + 3 + 4) Daraus folgt der Satz. ♦ Verdoppeln von Seiten. Das Problem des Verdoppelns konnte man auch mit Rechensteien angehen. Das nächste Bild zeigt das Ergebnis einer Seitenverdopplung beim Quadrat: Wir sehen: bei einer Verdopplung der Seiten verdoppelt sich nicht der Inhalt sondern er vervierfacht sich. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 10 . Geometrie (L2) Behauptung. Beim Quadrat gilt immer: Seite ×2 ⇒ Fläche ×22 = Fläche ×4. Bemerkung. Wie sieht das bei anderen Figuren aus. Hier ist das Ergebnis beim Hexagon. Die Seite ist wieder verdoppelt? Wieviel Steine hat das rechte Hexagon? Um die Frage zu beantworten, würden wir heute die Steine des Hexagons auszählen. Wir erhalten 37. Das Vierfache des linken Hexagons ist aber 28. ALso ist der Flächeninhalt nicht verdoppelt. Die Pythagoräer würden aber so nicht vorgehen. Zählen is verpönt. Sie könnten stattdessen z.B. die Steine des linken Hexagons in eine Reihe legen und dann verdoppeln. Danach könnten Sie die Steine des rechten Hexagons in Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 11 eine Reihe legen und danach mit der verdoppelten Reihe vergleichen. Oder alternativ könnten sie ihre Lehre vom Geraden und Ungeraden verwenden. Das rechte Hexagon hat eine gerade Zahl von geraden Zeilen und eine ungerade Zahl von ungeraden Zeilen. Gerade mal gerade ist gerade. Ungerade mal ungerade ist ungerade. Gerade plus ungerade isit ungerade. Also muß die Anzahl der Steine im grossen Hexagon ungerade sein. Also kann es nicht das Inhalts-doppelte irgendeiner anderen Figur sein. Dies gilt für alle Hexagone. Also ist der Inhalt eines Seiten-verdoppelten Hexagons niemals das Vierfache des ursprünglichen Hexagons. Rechensteine und pythagoräische Tripel. Beim Legen der Quadratzahlen macht man eine andere interessante Entdeckung: Klaus Johannson, Geometrie (L2) 12 . Geometrie (L2) Beobachte, dass man das letzte Quadrat wie folgt zerlegen kann: = + = + Wir sehen, dass das grosse Quadrat die Summe des kleinen Quadrats und eines Gnomons ist. Das Gnomon wiederum ist Summe von zwei Rechtecken und einem Quadrat. Diese Teile kann man auseinander nehmen und neu zu einem Quadrat zusammenlegen. Damit ist das grosse Quadrat eine Summe von zwei Quadraten! Alle drei Quadrate sind aus Rechensteinen gebildet und wir haben 32 + 42 = 52 Definition. Ein Tripel (a, b, c) von Zahlen heißt pythagoräisches Tripel, wenn a2 + b2 = c2 . Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 13 Aufgabe. Man zeige, dass es beliebig viele Quadrate gibt, die Summe von zwei Quadrate sind. Lösung. Zur Lösung beobachten wir, dass das 5Quadrat noch eine andere Zerlegung hat: Diesmal haben wir ein Gnomon der Breite 1 (statt eines Gnomons der Breite 2). Man sieht leicht, dass auch das neue Gnomon wieder eine Quadratzahl ist. Und wir lesen ab: 42 + 32 = 52 Diesmal kann man aber aus der Zerlegung des Quadrats eine allgemeine Gesetzmäßigkeit für pythagoräische Tripel herleiten. Sei dazu n irgendeine ungerade Zahl, z.B. n = 5. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 14 . Geometrie (L2) Wir sehen, dass das Gnomon aus 5 Stücken mit jeweils 5 Steinen besteht. Also ist das Gnomon ein Quadrat. Die Summe von diesem Quadrat mit dem grauen Quadrat ist auch ein Quadrat. Also ist 122 + 52 = 132 und wir haben ein neues pythagoräisches Tripel gefunden. Die obige Konstruktion funktioniert aber nicht nur für n = 5, sondern für alle ungeraden Zahlen n. Somit Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 15 haben wir den allgemeinen Satz bewiesen, dass es beliebig viele pythagoräische Tripel gibt. Die Aufgabe ist gelöst. ♦ Entdeckung des pythagoräischen Lehrsatzes. Das Operieren mit Gnomonen führt noch zu einer weiteren allgemeinen Beobachtung. Um diese zu beschreiben, betrachte man eine beliebige Gnomon Zerlegung eines Quadrats: Bemerkung. Diesmal sind wir zum ersten Mal von Rechensteinen abgegangen und benutzen vielmehr eine geometrische Zeichnung (vielleicht eine Zeichnung im Sand oder auf Papyros). Klaus Johannson, Geometrie (L2) 16 . Geometrie (L2) Wir haben die Rechtecke (schraffiert) in Paare von rechtwinkligen Dreiecken zerlegt und innerhalb des großen Quadrats neu verschoben. Es entsteht das Bild auf der rechten Seite. Diesmal besteht die Zerlegung des großen Quadrats aus 4 (schraffierten) Dreiecken und 1 (weißen) Viereck. Die Seiten des weißen Vierecks sind alle gleich lang. Ebenso sind seine beiden Diagonalen gleich lang. Also ist es ein Quadrat. Die beiden weißen Dreiecke des linken Quadrats sind außen an das rechte Quadrat angesetzt. Ihre Summe ist flächengleich dem weißen Quadrat der rechten Figur. Damit gilt: Satz von Pythagoras. Im rechtwinkligen Dreieck is das Quadrat über der Hypothenuse gleich der Summe der Quadrate über den Katheten. ♦ Umkehrung (vom Satz des Pythagoras). ∆ABC ein Dreieck. Dann gilt: Sei AB 2 + AC 2 = BC 2 ⇒ 6 BAC = R := rechter Winkel Beweis. Angenommen 6 BAC < R. Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 17 Dann betrachte das folgende Bild. H E A D B F C G Beobachte ∆DBC = ∆ABF (wegen Kongruenzssatz SWS). Zum Beweis des Satzes beobachte weiter, dass die gerade Linie AE die gerade Linie CA nicht geradlinig fortsetzt, da 6 BAC 6= R und 6 EAB = R. Deshalb ist ♦BG = ∆ABF = ∆DBC < ♦DA Im nächsten Bild ist der hierfür relevante Teil des obigen Bildes herausgestellt: Klaus Johannson, Geometrie (L2) 18 . Geometrie (L2) A E K L D C B Wir sehen, dass ∆DBC = ♦DBLK < ♦DBAE, wenn der Winkel 6 BAC < R und 6 EAB = R. Ebenso zeigt man ♦GC < ♦CH Also ist BC 2 = ♦F C = ♦BG + ♦GC < ♦DA + ♦CH = AB 2 + AC 2 und somit BC 2 < AB 2 + AC 2 . Widerspruch. Ebenso erhält man einen Widerspruch zur Annahme 6 BAC > R. ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 19 Bemerkung. Aus heutiger Sicht ist die Gnomon Zerlegung des Quadrats a b ab b2 b a2 ab a Der binomische Lehrsatz nichts weiter als der binomische Lehrsatz: (a + b)2 = a2 + 2ab + b2 Was den pythagoräischen Lehrsatz betriftt, würden wir heute in moderner Sprechweise (die aber die Pythagoräer nicht kannten) wie folgt argumentieren. Satz von Pythagoras. In einem rechtwinkligen Dreieck mit Hypothenuse c und Katheten a, b gilt a2 + b2 = c2 . Klaus Johannson, Geometrie (L2) 20 . Geometrie (L2) Beweis. Betrachte b a a b c c b a c c a b Einfacher Beweis des Satzes von Pythagoras Aus dem obigen Diagramm entnimmt man c2 + 2ab = (a + b)2 = a2 + 2ab + b2 ⇒ c2 = a2 + b2 ♦ Problem. Der Satz von Pythagoras wurde mit Rechensteien entdeckt, die obigen Beweise wurden aber geometrisch geführt. Gibt es auch einen Beweis mit Rechensteinen? Die Antwort zu dieser Frage ist: Nein. Dieses Problem behandeln wir in der nächsten Vorlesung. Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 21 Anhang. Die arithmetische Theorie der pythagoräischen Tripel. Der Vollständigkeit halber geben wir hier die komplette Auflistung aller pythagoräische Tripel. Der Beweis gehört nicht zur Geometrie, sondern zur elementaren Zahlentheorie, deshalb behandeln wir ihn nur in einem Anhang. Existenz. Wenn x := r2 − s2 , y := 2rs, z := r2 + s2 dann x2 + y 2 = (r2 − s2 )2 + (2rs)2 = r4 − 2r2 s2 + s4 + 4r2 s2 = r4 + 2r2 s2 + s4 = (r2 + s2 )2 = z2 Damit haben wir eine unendliche Menge von pythagoräischen Tripeln (x, y, z) gefunden. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 22 . Geometrie (L2) Wir behaupten, dass dies auch alle pythagoräischen Tripel sind. Vollständigkeit. Sei (x, y, z) ein pythagoräisches Tripel. O.B.d.A. x = ungerade und y =gerade. (Andernfalls sind x, y, z alle gerade oder x, y beide ungerade. Der erste Fall ist o.B.d.A. unmöglich. Im zweiten Fall 4|x2 − 1, 4|y 2 − 1 und somit 4|z 2 − 2. Das ist aber unmöglich, wie man leicht sieht, wenn man gerade oder ungerade Zahlen mit sich selbst multipliziert.) Dann ist z ungerade, da z 2 = x2 + y 2 . Also gilt z 2 − x2 y2 z+x z−x · = = 2 2 4 4 und somit z+x z−x = r2 und = s2 2 2 z−x und ist 1). Er teilt nämlich (der ggT von z+x 2 2 auch die Summe und somit z (und ebenso x). Aber ggT (x, z) = 1.) Klaus Johannson, Geometrie (L2) §1 Pythagoräischer Lehrsatz 23 Nun ist z+x z−x − = r2 − s2 2 2 y2 y = 2rs, denn = r2 · s2 4 z+x z−x + = r2 + s2 z= 2 2 Dies war zu zeigen. ♦ x= Klaus Johannson, Geometrie (L2)