Transkulturelle und Interkulturelle Aspekte in der Realen Utopie des Humanismus Erich Fromms Georg Blaha Wir sind privilegiert, über eine Brücke zu gehen, die uns zu Fremden macht. Die Brücke bleibt ein Bauwerk, ein Objekt, das bereits ein Ziel hat, einem Zweck dient. Sie ist ein Zeichen der Mühsal für andere. Sie steht zwischen Kulturen, deren Erbe und Bedeutung, deren Tugenden nicht so leicht zu bewegen sind wie wir. Wir sind Menschen. Wir sprechen miteinander über Menschen so wie wir über uns selbst sprechen. Wir machen unsere Geschichte zu der von anderen. Die Privilegierten schaffen sich Verbrecher, Marginalisierte und immer neue Krisen, immer neue Kriege. Ist es nicht Aufgabe der Philosophie, die Geschichte der Menschen tastend zu beobachten? Erich Fromm fragte: Warum? Das ist wichtiger als die Antwort zu finden: Zu erkennen, dass wir vor einer Frage stehen. Und damit vor einer Aufgabe. Fromm beschäftigte sich sein Leben lang mit der Frage, wie der Mensch mit seinem Tod umgeht. Er stellte sich diese Frage zuerst, als eine junge Frau aus dem Bekanntenkreis seiner Familie sich das Leben nahm, dann als der Wahnsinn des Ersten Weltkriegs Europa in einem Blutbad versinken ließ, wiederum als 173 Deutschland den Idealen der Vernunft abschwor und sich der Todessehnsucht des Nationalsozialismus hingab. Fromm trifft die Unterscheidung zwischen der lebensbejahenden, liebenden, schaffenden Biophilie und der todessüchtigen, unterjochenden, verzehrenden Nekrophilie. Weil der Mensch handelt und sich entwickelt, bleibt jede Antwort auf die Frage vorläufig. Ohne Antwort entzieht sich der Mensch jedoch der Verantwortung für seine Wahrnehmungen, seine Gefühle, seine Gedanken und seine Handlungen. Die Realität der eigenen Empfindung und Erfahrung nicht zu deuten, weist dabei auf die Kehrseite des Intellekts hin, nämlich seine Fähigkeit zur Verschleierung der Wirklichkeit durch Eskalation der eigenen Vorstellungen. Ohne Verantwortung versagt sich der Mensch seiner Aufgabe. Ohne Verantwortung verkauft der Mensch das Wissen um sein Geschick. Ohne Verantwortung wird der Mensch auch zum Diener anderer Zwecke. Fromm hatte Psychologie studiert, Soziologie und Philosophie, war mit Gadamer und Marcuse Mitglied der Frankfurter Schule, die eine marxistische Tendenz verfolgte. Wesentlich ist seine Freudkritik: Fromm tritt aus dem Triebschatten Freuds und stellt den Menschen in den Zusammenhang seiner Gesellschaft und seiner Geschichte. Wenn der Mensch so verbunden in seiner Gesellschaft lebt, was meine Ansicht ist, dann gewinnt er seine Bedeutung aus einer vitalen Assistenz, also dem ethischen Beistand. 174 1933 entscheidet sich Fromm, in die USA zu emigrieren, wo er seine Arbeit fortsetzt. 1941 erscheint sein Buch Furcht Vor Der Freiheit. Darin stellt er den Gesellschaftscharakter aus geschichtlicher Perspektive dar, der den Menschen zu Entfremdung und Nekrophilie drängt. Damit ist er einer der ersten fundamentalen Analytiker des Faschismus und nekrophiler Lebensweise. Gleichzeitig appelliert er, Verantwortung für die eigene Freiheit zu übernehmen. Die Begriffe Entfremdung und Nekrophilie bleiben zentrale Elemente der frommschen Philosophie und seines Humanismus. Ab 1951 lebt Erich Fromm ständig in Mexiko und entwickelt hier seine Ideen weiter. Er findet auch die Bereitschaft vor, diese Ideen zu realisieren und weiter zu hinterfragen. Für Cuernavaca entscheidet sich Fromm aus gesundheitlichen Gründen. Dort arbeitet er am CIDOC von Ivan Illich mit. Wie hatte sich Lateinamerika verändert, dass es nicht mehr ein El Dorado versprach, sondern Zuflucht und Heimat? Auch für Lateinamerikaner selbst wie Paulo Freire, der mit Erich Fromm am CIDOC zusammen arbeitete. Das CIDOC – Centro Intercultural de Documentación -selbst wiederum ist eine Gründung des Wieners Ivan Illich, der als Missionar gekommen war und sich von der Amtskirche abwandte, als er die Lebensbedingungen der Menschen konkret verbessern wollte. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch der große Zen-Mönch Daisetz Suzuki einige Zeit mit Erich Fromm in Cuernavaca 175 verbrachte und diesen wesentlich in seinen späten Werken und seiner Gartengestaltung beeinflusste. Der wiener Historikerin Martina Kaller-Dietrich ist zu verdanken, dass die Dokumente des CIDOC einer wissenschaftlichen Sichtung unterzogen worden sind, wodurch weitere Arbeiten dazu möglich gemacht werden sollten. Eine Diplomarbeit von Frau Elisabeth Lemmerer über das soziale Netzwerk am CIDOC ist am Geschichtsinstitut der Universität Wien bereits daraus entstanden. Mein Augenmerk liegt neben der bleibenden Wirkung Fromms in Mexiko auf seiner Entwicklung des Humanismus, die in seinen Büchern das vordringliche Element bildet. Immerhin entstammen einige seiner zentralen Werke dieser Zeit, darunter sowohl sein Bestseller Die Kunst Zu Lieben als auch die Sozialstudie Eines Mexikanischen Dorfes -die zweite große nach der ersten über die deutschen Arbeiter am Vorabend des Nationalsozialismus. Salvador Millán weist in einem Artikel1 über Fromm als Analytiker in Cuernavaca darauf hin, wie dieser seine Studenten immer wieder aufforderte, transkulturelle und sozioökonomische Aspekte der Patienten zu beachten und berichtet: „Fromm sah den Patienten völlig anders als die Studenten. Der Verweis auf das Leiden des Patienten als Quelle seines Behandlungsbedürfnisses macht es Fromm in Cuernavaca 2 – Salvador Millán (1997a) (website der Internationalen Erich Fromm Gesellschaft) 1 176 aus heutiger Sicht möglich, eine Brücke zur Erfahrung des Patienten zu bauen. Diese Einstellung ermöglichte es den Patienten völlig unvoreingenommen zu erreichen.“ Fromm wendet sich in dieser Zeit wieder der Philosophie zu, beschäftigt sich mit Aristoteles, Spinoza und dem Mystiker Meister Eckhardt. Er fertigt die erste Übersetzung der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte ins Englische an und publiziert diese mit seinem Buch Marx' Concept Of Man 1962. In diese Zeit fällt auch sein politisches Engagement. Seine Kontakte und Arbeiten in den USA sind nie abgebrochen, weshalb er in der Zeit des Vietnamkrieges als Pazifist Prominenz erlangt. Seine Schriften vermitteln abseits des Wissenschaftlichen die authentische, berührend menschliche Autorität eines Menschen, der wider seine Erfahrungen an die Fähigkeit des Menschen zur gebenden, erbauenden Zuwendung glaubte – was ihm während der sozialen Revolten der 1960er und 1970er als Naivität angekreidet wurde. Jedoch scheint es, als wäre die Naivität auf der Seite seiner Kritiker viel eher zu finden. Meine Ansicht ist, dass jemand, der einerseits die geschichtsträchtigen Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts miterlebt, und andererseits warnend hinweist, welche Hindernisse dem Menschen im Umgang mit dem Menschen im Weg liegen, keineswegs naiv ist. Im Gegenteil können wir durch Fromms Werke alarmiert sein: Wenn wir keinen Weg des friedlichen Ausgleichs mit der Wut 177 der Unterdrückten – den Ausgebeuteten des Südens und den Unterprivilegierten des Nordens -finden und kein Gleichgewicht mit den Kräften der Erde erreichen, dann werden alle Errungenschaften nichts anderes bedeuten als ein tieferes Grab für alles, was uns gut, wichtig und richtig erscheint. Die Gefahren, die in den 1960ern und 1970ern absehbar waren, sind heute eine bedrohliche menschgeschaffene Wirklichkeit, über die wir die Kontrolle verlieren. Erich Fromms Spuren in Mexiko sind deutlich, wie sein Assistent und Biograph Rainer Funk aufzeigt. Diese sind im Detail noch nicht erforscht, wobei ich denke, dass sein Aufenthalt in Cuernavaca gerade durch die Vielzahl der interkulturellen und transkulturellen Begegnungen wohl zu den fruchtbarsten Jahren Fromms zählt. Schon die lange Freundschaft mit Illich sollte ein Hinweis darauf sein, dass hier Theorie und Praxis des Humanismus ganz im Sinne des später von Funk so bezeichneten Humanismus als reale Utopie und im Sinne eines Befreiungsdenkens vereinbar waren. Interkulturalität und ihre Fähigkeit zur Befreiung führt zu Diskussionen über Humanismus und Ethik, weil ja gerade eben jetzt wirtschaftliche Zwänge wieder einmal soziale Rechte und Menschenrechte übergehen. Ganz so, als ob es keinen Zwang und keine Notwendigkeit dazu gebe, friedlich und schöpferisch zusammen zu leben. Ganz so, als ob das menschliche Recht nicht 178 fähig wäre, Ordnung in seiner Geschichte zu schaffen. In Lateinamerika weiß man das schon, Europa ist in den letzten Monaten mit Hilfe des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Europäischen Gerichtshofes gerade wieder dabei, das zu lernen. Befreit hat es sich noch nicht, eine rational betrachtete ethische Alternative zur Zwangsbeglückung der Hoffnung auf ewiges Wachstum und Profits für Wenige kennt Europa noch nicht. Fromm entwickelte für seine Sozialpsychologie den Begriff des Gesellschaftscharakters. Dieser wird historisch dort augenscheinlich, wo ein System für den eigenen Selbsterhalt die Existenz anderer – die auch Mitglieder der eigenen Gesellschaft sein können, wie die assimilierten Juden in Nazideutschland – in Gefahr bringt. Das Bewusstsein der Gesellschaft entfernt sich damit von der Erfüllung seiner Aufgaben, von seinen Werten und Fähigkeiten. Es wird neurotisch und ängstlich, weil Substanz und Wesen nicht mehr korrespondieren. „Darum ist es unbedingt notwendig, andere Gesellschaften und Kulturen zu verstehen (…), um einfach andere Möglichkeiten von Gesellschaftsstrukturen und Erfahrungen, die für jene bewusst, für uns aber unbewusst sind, zu entdecken und zu verstehen,“ schrieb Erich Fromm2. Der Mensch wird zum Objekt eines fremden Zwecks. Dominanz und Unterdrückung sind damit die waltenden 2 2 in Erich Fromm als Therapeut – Rainer Funk Hg. (2010), p.43 179 Dynamiken der Gesellschaft – da helfen auch formale Rituale der Konflikttarnung, wie sie in der Bürokratie gepflegt werden, nur wenig. Die Befreiungsgeste liegt auch darin, den Charakter einer solchen Gesellschaft zu verändern. Diese Aufgabe geistert durch das System, während die Gewalten den Traum der Notwendigkeit träumen. Beim Erwachen erkennen sie, wie sie ihre sozialen Aufgaben vernachlässigt haben. Deren Maß war nicht die Ratio aus geschichtlicher Erfahrung und utopischer Erwartung, sondern die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit. Wir wären frei, wenn die Welt unseren Vorstellungen von ihr entsprechen würde. Das Problem der Freiheit ist, auf welche Weise die konfligierenden Vorstellungen koexistieren können. Es ist das Wesen des Menschen, dass seine Vorstellungen mit Gewalt geschaffen, beschützt und verändert werden. Damit steht die Frage im Raum, welche Struktur der Gewalt trotzdem der Rationalität ausreichend Raum zur Entfaltung lässt, um den Konflikt symbiotisch zu lösen. Wenn Menschen aber dazu gezwungen werden, anderer Menschen Vorstellungen zu dienen, sind sie nicht frei. Wenn Menschen eigene Vorstellungen untersagt werden, sind sie nicht frei. Wenn Menschen zu sehr unterdrückt werden, müssen wir nämlich erlauben, dass sie weniger 180 unterdrückt werden, sagt Fromm3, und: „Ein autoritärer Mensch ist niemals Revolutionär.4 “Wir stehen mit den Unterdrückten in einer hierarchischen, autoritären Beziehung. Fromm zeigt das anhand geschichtlicher Trends und psychologischer Strukturen auf. Diese Strukturen werden nicht anders geschaffen als das, wozu sie dienen -nämlich in Arbeiten und Werken. Gerade aus der Hierarchie und Autorität der Beziehung erwächst Verantwortung als Notwendigkeit zum Dialog. Die Subjekt-Objekt Diskussion Fromms und Freires erreicht die Auflösung des Individuums im Allgemeinen des Menschen. In einer modernen Leistungsgesellschaft wird der Mensch eher zum egoistischen Singular denn zum Individuum. Irgendjemand erfüllt eine beliebige Funktion ohne seiner Arbeit Bedeutung beizumessen. Die Verrichtung der Dinge lässt alle wahllos existieren. Wollen wir jedoch über die geschichtliche Aufgabe sprechen, so denken wir an ein Subjekt, welches sich bewusst ist, sich nicht substanziell von seinen Objekten zu unterscheiden. Die Unterscheidung ist die, die Objekte nicht sich selbst zu überlassen. Das ist eine soziale Komponente der Rationalität, um nicht zu sagen eine ökumenische, Welt bewohnende. Ob eine Göttin uns Salz schenkt oder Lagerstätten durch 3 4 Furcht vor der Freiheit, GA I p.223 Furcht vor der Freiheit, GA I p.316 181 seismographische Tests nachgespürt wird – das Objekt wird gerade so gut gehandhabt wie es der menschliche Verstand zuwege bringt damit umzugehen und zu begreifen, was er für die Menschheit zu tun hat. Das gilt in gleicher ethischer Hinsicht für den Menschen, von dem der Mensch sich nicht substanziell unterscheidet. Objektivität heißt dann aber, sich den Aufgaben im Leben gemeinsam zu stellen. Unter Zwang wird der Mensch zum Objekt wie ein Ding, einsam und fremd. Indem der objektivierte Mensch seine Unterdrückung rational versteht, kann es ihm gelingen, seine Wut zu Wort kommen zu lassen und damit einen Weg zum Feindbild, zum Objekt der Herrschaft zu bahnen, um die Distanz zu den vorenthaltenen Rechten zu schließen. Auf diesem rationalen Weg erlangen die Unterdrückten eine Autorität aus eigener Kraft. Es macht den Unterschied zwischen Revolution und Befreiung aus, dass in einer Revolution die eigenen Rechte von den Privilegierten eingefordert werden, während sie in der Befreiung als eigenständig entgegen den dominanten Rechten etabliert werden wollen. Der Mensch befreit sich, indem er sich selbst zu beherrschen strebt. Als Souverän ist er sich selbst bewusst, dass er der Menschheit angehört. Das Subjekt hebt die Perversion der Unterdrückung auf, indem es sich selbst zu seinem Objekt erklärt, welches die Aufgabe hat die Welt zu gestalten. Diese 182 Gestalten hüllen das Subjekt ein wie das Meer einen Wassertropfen. Als sein Objekt ist das Subjekt von seiner Gesellschaft nicht mehr zu unterscheiden. Passiver Schutz verwandelt sich in aktive Geborgenheit. Vor dieser Etappe wird die Entscheidung zu mehr Angst oder mehr Geborgenheit getroffen, wobei die Angst meine eigene ist wie mein Tod. Sie bezieht mich ausschließlich auf mich, lässt mich Schutz suchen, passiv und regressiv denken und handeln. Vielleicht ist die Paralyse der Panik ein Hinweis auf das entglittene Objekt, das einen Ausweg geboten hätte. „Intellektualisierung, Quantifizierung, Abstrahierung, Bürokratisierung und Verdinglichung – die Kennzeichen der heutigen Industriegesellschaft also – sind keine Lebensprinzipien, sondern mechanische Prinzipien, wenn man sie auf den Menschen statt auf Dinge anwendet. Menschen, die in einem solchen System leben, werden gleichgültig gegenüber dem Leben und fühlen sich vom Toten angezogen,“ stellt Fromm fest5. Die Leistungen einer Gesellschaft durch formales Training bestimmen zu lassen, machen Generationen zu losen Gespinsten humanistischer Bildung, Geschichte wird zu Terminen reduziert, verliert Bedeutung, Kontext und Geschicklichkeit. Der Wettbewerb – schlicht wie diese Vorstellung nun mal ist -ist eine Ideologie der Pejorisierung und verhindert, das ökumenische Potenzial zum Vorteil 5 Die Seele des Menschen, GA II p.193 183 aller fruchtbar werden zu lassen. Ich habe große Zweifel, dass entscheidende Fortschritte für die Menschheit aus Wettbewerbsdenken entstanden sind. Der Einzelne macht keine Geschichte. Formales Training diskriminiert einen durch die verstrickten Beziehungen gebildeten gesellschaftlichen Körper von sozialer und kultureller Erziehung. Immer wird mit der Angst vor dem Versagen, der Ungültigkeit des allein gelassenen Indivi-duums gespielt. Das rationale Maß geht über die vorgeblichen Notwendigkeiten hinaus. Und ihm ist ihr Zwang zuwider. Formalitäten sind Ausdruck europäischer Terminkultur. Formales bedeutet Quantifizierbares und schließlich Multiplizierbares. Die Faszination der großen Zahl, des Unendlichen, erreicht langsam ihre obere erreichbare Schranke. Vieles bleibt unsichtbar, wurde, bezeichnenderweise, in Kauf genommen. Doch gerade wenn Fachleute das Bemühen starten, Schaden, den sie der Natur angetan haben, wieder gut zu machen, scheitern sie oftmals in lächerlicher Form. Wir kennen das seit dem Buch Silent Spring von Rachel Carson und sehen es aktuell im Golf von Mexiko. Und erst kürzlich fiel mir die Absurdität des Kalküls wieder auf: Es ist wohl vielen bekannt, dass die peruanische Aga-Kröte6 neben dem Känguru eines der bekanntesten, wenn auch weniger beliebten, Tiere Australiens ist. Sie wurde zur Die umgangssprachliche Bedeutung von „Kröten“ für Geld im Deutschen ist durchaus beabsichtigt 6 184 biologischen Schädlingsbekämpfung eingeführt und ist heute selbst ein Ärgernis, das sich in Ermangelung natürlicher Feinde ungehemmt vermehrt. Die Zahl dieser Spezies ist in Australien inzwischen nicht mehr abschätzbar. Diese Kröte ist wohl "too big to fail". Unsere Mitmenschlichkeit ist hingegen der natürliche Feind rücksichtslosen egoistischen Vorteils. Fromms Darstellung des Gesellschaftscharakters führt uns einerseits zu einem Humanismus, der vor allem dazu angetan ist, soziale Ängste zu beseitigen und eine gesellschaftliche Geborgenheit, die immer eine kulturelle ist, zu erschaffen. Andererseits und alltäglicher gesprochen zeigen die Analysen des Autoritären Charakters auch eine kaum abschätzbare Vielfalt individueller Formen der Unterdrückung. Gerade dann, wenn der individuelle Grad an Freiheit im Wachsen begriffen ist und sogar die Institutionen der Politik beiseite lassen kann, erlaubt diese Freiheit von politischer Verantwortlichkeit auch eine individuelle Moral, die sich an der eigenen Willkür orientiert, also herrschendem Charakter und den eigenen Ängsten. Weltanschauungsrhetorik ermöglicht, dieser Sorglosigkeit ein moralisches Fundament zu liefern, während wirtschaftliche Potenz ihr konkrete Macht verleiht. Was als Politik angepriesen wird, ist eine Interpretation der Welt durch die Wirtschaft. Die großen politischen Systeme der letzten Jahrhunderte verliefen sich in den Parametern ihrer Wirtschaftsleistung und 185 errichteten damit eine Konkurrenz aus Krieg und Konsum7. Politik gibt oft verzweifelt kund, sie wolle sich um mehr als das verwaltende Haushalten wirtschaftlicher Vorgaben kümmern und dreht sich doch mit im Schweinezyklus. Humanes hat einen bestenfalls euphemistischen Stellenwert in der politischen oder ökonomischen Debatte. Man weiß um gesellschaftlich wichtige Werte wie Bildung und Gesundheit – und entscheidet sich fürs knausrig kleingeistige Sparen und Horten. Der Mensch ist zum demographischen Stückgut verkommen, das sich seiner Mitmenschlichkeit beinahe nur mehr als absurde Übertreibung seiner beklemmend einsamen Wirklichkeit gewahr zu werden droht. Die Vorstellungen des Menschen von seiner Welt sind gut. Warum verwirklicht er sich nicht? Angst zu bezwingen ist eine Tugend des Elends, weil sie den Charakter der Gesellschaft verwandelt. Leben findet entgegen der quälenden Angst statt. Wider die Lebensbedingungen sein Leben zu fristen und dabei auf andere zu achten, ist bereits eine zutiefst humane Leistung. Armut zuzulassen, um zum eigenen Vorteil Ungleichheit zu erhalten, ist ein Vergehen am gesunden Menschenverstand, an der Freiheit und an allen Toten, die zu verhindern gewesen wären. „Die geschichtliche Aufgabe des Menschen“, sagt Paulo Freire, „ist es, menschlicher zu werden.“ Wie in den Stellvertreterkriegen des Kalten Krieges und aktuell im Krieg um die Herrschaft über den Dollar zwischen USA und China. 7 186