Breiter Support für Knabenbeschneidung

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© Neue Zürcher Zeitung; 21.07.2012;
Ausgaben-Nr. 168; Seite 11
Schweiz (il)
Breiter Support für Knabenbeschneidung
Das eidgenössische Parlament und Strafrechtsexperten stützen die religiöse
Praxis von Juden und Muslimen
Markus Häfliger (hä)
Das Kinderspital Zürich sistiert die Beschneidung von Knaben. Dabei hat sich
das Parlament unlängst hinter diese Praxis gestellt. Auch Rechtsexperten halten
den Entscheid für fragwürdig.
Markus Häfliger, Bern
Ist die Beschneidung von jüdischen und muslimischen Knaben illegal? Seitdem das
Landgericht Köln dies bejaht hat, ist in Deutschland eine heftige Auseinandersetzung
entbrannt. Nun hat das Kinderspital Zürich die Debatte in die Schweiz importiert. Es führt
wegen ethischer und rechtlicher Bedenken bis auf weiteres keine religiös motivierten
Beschneidungen mehr durch.
Bis jetzt gab es hierzulande einen breiten Konsens, dass die Knabenbeschneidung
zulässig sei. Noch nie wurde ein Schweizer Arzt wegen eines solchen Eingriffs zur
Verantwortung gezogen. Und das Parlament hat erst vor kurzem seinen Support für
diese Praxis erklärt. Der Auslöser war eine parlamentarische Initiative von Maria RothBernasconi (sp., Genf): Gestützt darauf haben die eidgenössischen Räte im September
2011 einen Sondertatbestand für die Verstümmelung weiblicher Genitalien geschaffen;
der neue Paragraf ist am 1. Juli 2012 in Kraft getreten. In diesem Kontext wurde die
Frage aufgeworfen, ob man aus Gründen der Gleichbehandlung nicht auch die
Knabenbeschneidung verbieten müsste.
Diese Frage habe die Kommission explizit verneint, sagt deren damalige Präsidentin
Anita Thanei. Die Kommission befand, die Knabenbeschneidung sei «grundsätzlich nicht
problematisch». Sie habe weder physisch noch psychisch negative Folgen, sagt Thanei.
Bei Frauen werde mit der Genitalverstümmelung hingegen gezielt das sexuelle
Empfinden verändert; zudem hätten viele in der Folge gesundheitliche Probleme.
Auch der Bundesrat schloss sich dieser Haltung an. Er befand zwar, die Beschränkung
auf Frauen sei «nicht ganz konsequent». Diese Ungleichbehandlung lasse «sich nur
insoweit rechtfertigen, als die schwere Art der Verletzung weiblicher Genitalien über den
Hauptfall der männlichen Beschneidung hinausgeht». Nur SVP-Nationalrat Dominique
Baettig stellte diese Sichtweise infrage: Er war der einzige von 246 Parlamentariern, der
den neuen, auf Frauen beschränkten Tatbestand ablehnte.
Aufgrund dieses einhelligen, erst kürzlich erfolgten Parlamentsvotums hält Thanei den
Entscheid des Kinderspitals Zürich für wenig verständlich und «übereilt». Das
Kinderspital handle «in Unkenntnis der Schweizer Situation», sagt auch der Jurist und
Nationalrat Daniel Vischer (gp., Zürich). Mit seinen Erwägungen vom September habe
das Parlament den bestehenden Konsens in Sachen Knabenbeschneidung noch
präzisiert und aktualisiert, sagt Vischer. «Ich bin deshalb überzeugt, dass das
Bundesgericht nicht zur gleichen Auffassung käme wie das Kölner Gericht.»
http://www.smd.ch/SmdDocuments/?userInterface=SMD+Search+V7&an=JM201207... 23.07.2012
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Der emeritierte Strafrechtsprofessor Günter Stratenwerth hält die Verurteilung eines
Arztes noch aus einem anderen Grund für unwahrscheinlich. Zwar handle es sich bei der
Knabenbeschneidung «ohne Zweifel um eine Verletzung des Körpers des Kindes».
Strafrechtlich würde es sich aber um einfache Körperverletzung handeln, die nur auf
Antrag verfolgt werde, sagt Stratenwerth. Nur der Betroffene oder seine gesetzlichen
Vertreter könnten Strafantrag stellen. Das wären also die Eltern des Knaben – und diese
haben die Beschneidung ja in aller Regel veranlasst. «Deshalb gibt es in diesen Fällen
keinen Kläger», sagt Stratenwerth. In Köln hingegen hat die Staatsanwaltschaft den Arzt
von Amtes wegen angeklagt.
Der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli hält den Kölner Entscheid auch
juristisch für fragwürdig. Knaben würden zwar oft aus religiösen Gründen beschnitten. Im
Unterschied zur Frauenbeschneidung habe dies aber gesundheitlich nachweisbar
positive Folgen; so werde etwa die Gefahr einer Ansteckung der Sexualpartnerinnen mit
Krebs reduziert. Wegen dieser positiven Effekte hält Niggi den Zürcher Operationsstopp
für nicht nachvollziehbar. «Konsequenterweise», sagt Niggli, «müsste man sonst auch
jede Art von Schönheitsoperation sistieren.»
Ein Knabe an einem Samstag in einem Beschneidungszentrum in Amsterdam.
JUAN VRIJDAG / ANP / KEYSTONE
Moratorium am Zürcher Kinderspital
Reto Scherrer (rsr)
rsr. · Im Kinderspital Zürich werden pro Monat ein bis zwei Knaben auf Wunsch der Eltern und ohne
medizinische Notwendigkeit beschnitten. Auf das Durchführen solcher Eingriffe wird jedoch seit rund zwei
Wochen verzichtet, wie der Mediensprecher des Spitals, Marco Stücheli, einen Bericht des «Beobachters»
bestätigt. Grund für den Schritt sei eine gewisse Verunsicherung nach dem Urteil des Kölner Landgerichts
gewesen. Das Kinderspital wolle nun aber kein endgültiges Verbot durchsetzen, sondern zunächst intern
darüber diskutieren, wie dem Wunsch nach einer Beschneidung künftig begegnet werden soll. Juristische
Konsequenzen fürchte man aber nicht.
«So schnell wie möglich» soll nun laut Stücheli das hausinterne Ethikforum die Frage klären. Bis dieses eine
Antwort gefunden hat, werden nur medizinisch notwendige Beschneidungen durchgeführt. Den meist
muslimischen Anfragenden würde dies so mitgeteilt, erklärt Stücheli. Diesen stünden Alternativen offen wie
etwa der Gang nach Basel oder Luzern – und, falls das Ethikforum des Spitals zum Schluss kommt, dass
Beschneidungen das Wohl der Knaben nicht beeinträchtigen, auch wieder in Zürich.
Erstaunt über Vorprellen
Reaktionen seitens der Religionen
Christoph Wehrli (CW)
C. W. · Vertreter der Juden und der Muslime halten das Moratorium für Beschneidungen für überstürzt und
unüberlegt. In offiziellen Reaktionen wird die Lage indessen nicht dramatisiert. Der Schweizerische Israelitische
Gemeindebund (SIG), zu dem auch sehr beunruhigte Stimmen gelangt sind, hält in einer nüchtern-sachlichen
Stellungnahme fest, die korrekt durchgeführte Beschneidung sei für das Kind, besonders für Säuglinge,
ungefährlich, sie beeinträchtige «weder die Funktion des Organs noch die Möglichkeit des Empfindens», und
Traumata seien nicht nachweisbar. Eine Einschränkung oder ein Verbot dieses unabdingbaren Elements der
jüdischen Religion würden daher die Kultusfreiheit in unzulässiger Weise verletzen. Zur freien Wahl der
Religion schreibt der SIG, man könne jederzeit aus dem Judentum austreten.
Für die Muslime ist die Beschneidung ebenfalls ein Zeichen der Zugehörigkeit zu ihrer Glaubensgemeinschaft,
auch wenn nicht alle Muslime beschnitten sind. Man stelle sich der Diskussion, diese müsse aber seriös geführt
werden, sagt auf Anfrage Hisham Maizar, Präsident der Föderation islamischer Dachorganisationen Schweiz.
Aus seiner Sicht ist das Zürcher Kinderspital vorgeprellt, was er bei einer renommierten, für die
Meinungsbildung wichtigen Institution besonders bedauert. Als Arzt gibt Maizar zudem zu bedenken, dass es
gerade das Interesse des Kindes gebiete, den Eingriff in einer behüteten Sphäre und unter sterilen
Bedingungen vorzunehmen. Ein Moratorium von Spitälern löse kein Problem.
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Die meisten Muslime liessen ihre Kinder bei muslimischen Ärzten beschneiden, schreibt der (streng orthodoxe)
Islamische Zentralrat. Er vergleicht ein allfälliges Verbot der Beschneidung mit einem Verbot der christlichen
Kindstaufe.
Kritik kommt auch von den Zürcher Kirchen. Der reformierte Kirchenrat und der römisch-katholische Synodalrat
äussern sich in einem Communiqué «irritiert und besorgt» über das Moratorium. Dieses sei voreilig, angesichts
der geringen Fallzahlen höchst unverhältnismässig und ein schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit, der mit
dem Judentum eine in der kantonalen Verfassung anerkannte Gemeinschaft treffe. Kirchenratspräsident Michel
Müller ist ferner enttäuscht, dass die Verantwortlichen des Spitals nicht vorab das Gespräch mit den Kirchen
und den Betroffenen gesucht hätten.
Nicht aus heiterem Himmel
Zürcher Beschneidungs-Moratorium hat eine Vorgeschichte
Simon Gemperli (sig)
sig. · Das Urteil der Richter in Köln und der vorläufige Verzicht auf Knabenbeschneidungen in Zürich haben die
breite Öffentlichkeit überrascht. Aus heiterem Himmel kommen die Beschlüsse aber nicht. Die Beschneidung
von minderjährigen Buben wurde in Deutschland seit rund einem Jahrzehnt vermehrt in Zweifel gezogen – von
Strafrechtlern, aber auch vom Gesundheitspersonal, insbesondere vom Verband der Kinder- und Jugendärzte.
Das Landesgericht Köln zitiert in seinem Urteil über die Beschneidung eines Vierjährigen eine Reihe von sich
widersprechenden Lehrmeinungen. Es betrachtet die Knabenbeschneidung als Körperverletzung und als
unvereinbar mit den im Grundgesetz verankerten Rechten des Kindes. Befürworter der Beschneidung wollen
das Urteil ans Bundesverfassungsgericht weiterziehen, um Klarheit zu schaffen.
Regierung und Opposition (mit Ausnahme der Linkspartei) haben angekündigt, die Beschneidung möglichst
rasch durch einen Gesetzeserlass explizit zu erlauben. Trotzdem haben mehrere deutsche Spitäler ein
Moratorium beschlossen, bis die Rechtslage geklärt ist, darunter auch das Jüdische Krankenhaus in Berlin.
Am letzten Wochenende publizierte die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» neue Informationen über die
Umstände der Beschneidung in Köln, welche den Richtern bekannt waren, aber nicht publiziert wurden.
Demnach war der Vierjährige nach der Beschneidung wegen Nachblutungen zehn Tage lang in klinischer
Behandlung. Laut dem Kölner Urteil sind solche Komplikationen mögliche Folgen einer Beschneidung.
Jedenfalls habe der angeklagte Arzt «nach den Regeln der ärztlichen Kunst» gearbeitet. – In allen
europäischen Staaten sind Beschneidungen grundsätzlich erlaubt, in manchen aber nur geduldet. In den
Niederlanden etwa sind die Ärzte verpflichtet, von Beschneidungen abzuraten. Immer mehr Berufsverbände
sprechen sich dagegen aus. Die Reaktion der Schweizer Spitäler bestätigt diesen Trend.
Häufigster Eingriff in der Kinderchirurgie
Das Entfernen der Vorhaut bringt medizinische Vorteile – aber auch Risiken
Alan Niederer (ni)
ni. · Medizinisch notwendig ist die Beschneidung eines Kindes dann, wenn eine narbige Verengung der Vorhaut
(Phimose) vorliegt. Davon zu unterscheiden ist die bei Säuglingen normalerweise enge Vorhaut (physiologische
Phimose). Dieser Zustand korrigiert sich in den meisten Fällen bis zum Abschluss der Pubertät von alleine, so
dass keine spezielle Behandlung notwendig ist. Das Gleiche gilt für Männer, deren Vorhaut sich nicht
vollständig zurückziehen lässt. Eine Operation, bei der die Vorhaut ganz oder nur teilweise entfernt wird, drängt
sich bei Schmerzen unter der Erektion auf.
Optimale Bedingungen
Laut Marcus Schwöbel, Chefarzt der Kinderchirurgie am Luzerner Kantonsspital und Vorstandsmitglied der
Schweizerischen Gesellschaft für Kinderchirurgie, ist die Beschneidung der Vorhaut der am häufigsten
durchgeführte Eingriff in seinem Fachgebiet. Am Luzerner Kinderspital seien vergangenes Jahr 275 Knaben
operiert worden. Bei 28 Kindern sei die Zirkumzision kulturell bedingt gewesen, in den anderen Fällen habe ein
medizinischer Grund vorgelegen. Bisher sei man in Luzern bei religiösen Beschneidungen dem Wunsch der
Eltern gefolgt, weil das Wohl des Kindes es gebiete, den Eingriff unter optimalen Bedingungen und schmerzfrei
durchzuführen, so Schwöbel.
Neben religiösen Gründen werden für die Beschneidung auch langfristige hygienisch-medizinische Argumente
ins Feld geführt. Diese Motivation ist besonders in den USA verbreitet. Tatsächlich gibt es Studien, die zeigen,
dass sich die fehlende Vorhaut unter anderem günstig auf die Rate an Harnwegsinfekten und Peniskarzinomen
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auswirkt. Auch stecken sich beschnittene Männer beim Geschlechtsverkehr weniger rasch mit HIV an, weshalb
die WHO die Zirkumzision seit 2007 als eine von mehreren Präventionsmassnahmen empfiehlt.
Die Gründe für die günstigen Effekte lassen sich mit dem Slogan «Die Beschneidung schafft trockene
Verhältnisse» zusammenfassen. Dadurch haben es potenzielle Krankheitserreger auf der Penisspitze
schwerer, und es bildet sich weniger «Smegma». Dieses Gemisch aus Talg, Zellen und Bakterien gilt nicht nur
als Nährboden für Entzündungen, sondern soll auch die Entstehung von Peniskrebs fördern.
Risiken berücksichtigen
Auf der anderen Seite ist die Beschneidung, wie jede medizinische Intervention, nicht ganz frei von
Komplikationen. Nach den Angaben auf einem amerikanischen Informationsblatt für Patienten kommt es auf
200 Beschneidungen in einem Fall zu Problemen. Diese reichen von ungefährlichen Blutungen und
behandelbaren Infektionen bis zur seltenen Schädigung des Penis. Zudem sei es möglich, dass sich durch den
Wegfall der äusserst sensiblen Vorhaut das sexuelle Empfinden verändere. Dies alles gilt es beim Entscheid für
eine nicht medizinisch notwendige Beschneidung zu berücksichtigen.
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