Bundesforum Männer Dialogtagung „Beschneidung von Jungen

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Bundesforum Männer
Dialogtagung „Beschneidung von Jungen“,
Radialsystem V, Berlin, 24. Juni 2013
Impulsvortrag: Sinn und Essenz der Beschneidung im Judentum
Dr. Edna Brocke, Judaistin, ehemalige Leiterin der Alten Synagoge Essen
Guten Tag und vielen Dank für die Einladung. Es ist wohl seltsam, dass für das Thema Beschneidung aus jüdischer Sicht, nicht ein männlicher Jude, sondern eine Jüdin hier steht. Das
ist wohl den fehlgeschlagenen Versuchen geschuldet, einen jüdischen Mann für diesen Beitrag heute zu gewinnen. Ich kenne eine Reihe derer die angefragt wurden, und vermute,
dass die Debatte vom vergangenen Jahr von den meisten als derart unsachlich wie unangenehm erlebt haben, dass sich die meisten diesem Thema nicht mehr öffentlich stellen wollen. Nicht dass ich es will, aber ich habe eingesehen, dass es vielleicht wichtig wäre, einen
Hinweis auf die Bedeutung die es im jüdischen Kontext hat zu geben und diesen jüdischen
Brauch kurz vorzustellen.
Vorweg: Ich bin weder eine Befürworterin noch eine Gegnerin, sondern meine Rolle verstehe ich heute so, Ihnen zu vermitteln, wie in der allergrößten Mehrheit der jüdischen Gemeinschaften – weltweit - zu diesem Thema gedacht und wie es praktiziert wird. Was natürlich keineswegs heißt, dass es keine Juden da oder dort gibt, die andere Meinungen vertreten. Ich versuche den Mainstream kurz vorzustellen. Wichtig ist dabei aus meiner Sicht zu
sagen, dass Judentum - anders als Christentum und Islam - eben keine Glaubensgemeinschaft ist, sondern Judentum ist an erster Stelle eine Seins-Gemeinschaft. Man ist Jude, nicht
weil man irgendetwas glaubt, sondern weil man in diese Seins-Gemeinschaft gehört. Diese
Seins-Gemeinschaft ist dadurch geprägt - und jetzt muss ich mit den Händen fuchteln - dass
sie eine binomische Existenzform ist. Man ist als geborener Jude oder geborene Jüdin automatisch zweierlei: Man ist Mitglied im jüdischen Volk (oder Nation – alle Vokabeln passen
nicht wirklich um das hebräische am jissra’el zu übersetzen) und man ist zeitgleich Mitglied –
jetzt verwende ich mal das neuzeitliche Wort – Religionsgemeinschaft Judentum. Nur beides
zusammen, diese binomische Existenz, macht mich zur Jüdin. Die Mehrheit der Juden in allen
Zeiten, hat den religiösen Aspekt dieser Zugehörigkeit nicht als erstrangig angesehen. Beweis: In der jüdischen Bibel, also das, was Christen Altes Testament nennen, wären die
Scheltreden eines Amos, eines Jesaja, eines Jeremia völlig überflüssig wenn zu der damaligen
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Zeit die Mehrheit der Juden so fromm gewesen wären. Sie waren genauso wenig fromm
oder religiös, wie die meisten Juden heute. Was nichts daran ändert, dass diese binomische
Existenzform in Spannungszeiten jedem Individuum aber auch der Gruppe jeweils zwei
Standbeine ermöglicht. Und das unterscheidet sich komplett vom Christentum und dem Islam.
Man kann als den ersten namhaften Gegner der Beschneidung Paulus nennen. Er hat – als
Exiljude, der nicht im Land Israel und nicht mit dem hebräisch tradierenden Judentum gelebt
hat – geglaubt, dass die Beschneidung für Christen aus den Völkern nicht nötig sei, weil sie
eben diese binomische Existenzform nicht annehmen. Paulus war wohl derjenige, der innerjüdisch eine Trennung zwischen Juden die Juden geblieben sind und den ersten Juden die
Jesus folgten herbeigeführt hat. Das Aufbrechen dieser binomischen Existenzform hat Paulus
an der Frage der Beschneidung und an der Frage des koscher-Essens festgemacht. Bei beiden
Themen war ihm das hebräisch tradierende Judentum im Kernland sehr fern, da er in der
Diaspora lebte, und an die griechisch-philosophisch Denk- und Lebensweise sehr angepasst
war. Da er sich vor allem an die Heidenvölker wandte, stimmte ja auch sein Ansatz, dass die
binomische Existenzform für diese Völker ja nicht zutrifft und somit entwickelte sich mit der
Zeit aus der Seins-Gemeinschaft Judentum die neue Glaubens-Gemeinschaft Christentum.
Aus all dem Gesagten folgt, dass Judentum sehr viel mehr ist, als nur eine Glaubensgemeinschaft. Judentum ist an erster Stelle ein Way of Life. In diesem Way of Life gibt es sehr viele
Variationen, an denen die religiöse Praxis meist eher eine Fußnote ist. Der Jewish Way of Life
ist auch eine Form der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, die man fühlt. Hier wird das Thema
der Beschneidung relevant. Bei der Beschneidung geht es nicht an erster Stelle um eine religiöse Frage, auch wenn sie natürlich als solche tradiert wird; aber sie ist an erster Stelle konstitutiv für jüdischer Identität im sozialen, gesellschaftlichen Sinne, nicht so sehr im religiösen. Wenn Sie den Staat Israel zum Beispiel nehmen – ich bin dort geboren, aufgewachsen
und lebe die Hälfte des Jahres dort – kann ich nur von ganz wenigen jüdischen Israelis berichten, die ihre Söhne nicht beschneiden lassen. Die allermeisten die ich kenne, sind keine
religiösen Juden haben aber ihre Söhne natürlich beschneiden lassen. Hier stimme ich der
von Ihnen eben genannten Meinung von Herrn Stephan Kramer absolut nicht zu, denn es ist
überhaupt kein tabuisiertes Thema im Judentum. Ein guter Freund von mir, ein Reformrabbiner Louis Barth hat bereits 1980 im Hebrew Union College in Los Angeles, darüber Seminare abgehalten und ein dickes Buch dazu geschrieben, in dem auf Grund vieler Befragungen
und Erhebungen seine Gegnerschaft zur Beschneidung formuliert, seinen Sohn hat er beschneiden lassen. Es ist also m.E. kein innerjüdisches Tabu.
Der Brauch der Beschneidung von Jungs bei Muslimen unterscheidet sich grundsätzlich und
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in vielfacher Hinsicht vom jüdischen Brauch. Gemeinsam bleibt nur eines: Arabische Muslime
(die ja Ismaeliten sind, also Nachfahren von Abrahams Sohn Ismael sind) berufen sich auf die
gleiche biblische Tradition wie Juden. Die nicht-arabischen Muslime (wie Iraner, Türken, Afrikaner, aus Fernosten usw.) verbinden damit einen gänzlich anderen Brauch.
Leider wurden all diese Aspekte im letzten Jahr weder bedacht noch berücksichtigt. Am intensivsten kritisierten diesen Brauch allerdings Gruppierungen von zwar getauften, aber
Menschen, die sich bewusst als Nicht-mehr-Christen verstehen oder „modern“ zu sein vorgeben.
Stellvertretend für einige solcher Positionen will ich hier nur ein Beispiel nennen, nämlich die
„Neun Thesen zur Beschneidungsdebatte aus laizistisch-humanistischer Sicht“, die im August
2012 von Dr. Dr. Joachim Kahl, Marburg, verfasst und am 04. Oktober 2012 von Nils OpitzLeifheit veröffentlicht wurden.
Sie können den Text im Internet herunterladen unter:
(http://www.laizistische-sozis.eu/inhalte-menu/meinung/111-neun- thesen-zurbeschneidungsdebatte-aus-laizistisch-humanistischer-sicht)
In diesen neun Thesen wird stringent mit Paulus argumentiert. Es wird also „laizistischhumanistisch“ überschrieben aber argumentiert lediglich rein christlich – und vermutlich
sind die Autoren ignorant genug, um dies nicht einmal zu merken. Das heißt, sie schleppen
2.000 Jahre christliche Judengegnerschaft mit sich, ohne es sich bewusst zu machen. Mit
Vertretern eines solchen Zugangs war eine Diskussion in 2012 deshalb am schwierigsten,
weil sie sich als die unsachlichsten präsentierten. Zugleich meist auch am emotionalsten.
Darüber hinaus war die Debatte von einem unkritischen Fortschrittglauben, meist gepaart
mit einem erheblichen Maß an Überheblichkeit gekennzeichnet.
Ein weiterer, sehr relevanter Unterschied zur Beschneidung im Islam liegt darin, dass jüdischerseits – gemäß der Torah – die Durchtrennung der Vorhaut bei der Beschneidung, am
achten Tag nach der Geburt vollzogen wird. Der Islam bezieht sich auf die Sunna, nicht auf
den biblischen Text und deshalb ist der Ritus insgesamt ein völlig anderer.
Weil sich das Judentum am Torah-Text orientiert, war auch zu keiner Zeit eine Verstümmelung von Frauen im Genitalbereich angedacht. Gemäß der Torah ist der Brauch der Beschneidung von vornherein nur auf Männer begrenzt.
Die Debatte im vergangenen Jahr ist m.E. nur im Kontext des gesellschafts-politischen Klimas
in diesem Land (und in anderen, stark christlich geprägten Staaten) relevant. Was uns zu
denken geben sollte ist das Ausmaß der entfesselten Emotionen bei sehr vielen Teilnehmern
an der Debatte. Ich gebe zwei historische Beispiele – und Sie werden verstehen, worauf
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mein Hinweis zielt: General Franco hatte in Spanien die Beschneidung verboten während die
Nazis zur gleichen Zeit in Deutschland sie nicht verboten haben. Beide Regime haben die
Beschneidung instrumentalisiert. Zwar gegensätzlich – aber das haben Instrumentalisierungen eben immer an sich. In Deutschland war das politische Ziel so viele Juden wie möglich zu
ermorden. In Spanien war es der übliche christliche Antijudaismus. Möge dies ein Denkanstoß zum Nachzudenken sein.
Ein vorletzter Punkt: Der Islam begann ebenfalls als ein Binom, denn die ersten Muslime waren Araber. Einerseits gehörten sie zur Umma, also zur arabischen Nation, und andererseits
bildete sich der Islam als eine neue Glaubens-Gemeinschaft. Dies war anfänglich die identitätsstiftende Existenzform im Islam. Also auch eine Seins-Gemeinschaft. Erst nachdem sich
die Einsicht durchsetzte, dass das Christentum durch Missionierung zahlenmäßig rasch angewachsen war, begann auch der Islam zu missionieren. Nur: Nachdem das Christentum die
binomische Existenzform für sich ablehnte entwickelten sich mit der Zeit zwei völlig eigenständige Größen: Eine Seins-Gemeinschaft (also die Juden, die Juden geblieben waren) und
eine christliche Glaubens-Gemeinschaft. Beide existieren parallel nebeneinander. Im Islam
hingegen, entstand durch die Missionierung eine interne Trennung: Die arabischen Muslime
einerseits und die nicht-arabischen Muslime andererseits, die sich seither und bis heute in
einem großen Spannungsverhältnis zueinander befinden. Theologisch gesprochen müssten
nur die Ismaeliten beschnitten werden. Das sind die Araber. Die dazu gekommenen: Indonesier, Pakistani, Inder usw., stellen innerhalb des Umfassenden Islams eine andere Identitätsgruppe. Deutlich ablesbar ist diese Unterscheidung an der Existenz der „Arabischen Liga“
einerseits (mit 18 Mitgliedsstaaten) und der „Konferenz islamischer Staaten“ mit 59 Mitgliedsstaaten andererseits, (in der die Mitglieder der Arabischen Liga eingeschlossen sind).
Dass die Spannungen zwischen arabischen Muslimen und nicht-arabischen Muslimen deutlich erfahrbar sind, führt der Aufruhr in vielen arabischen Ländern vor Augen. Es wundert
mich nicht, dass das Kölner Urteil zeitnah zu diesen Veränderungen gefällt wurde, denn solche Themen werden zu allen Zeiten gerne instrumentalisiert. Diese Instrumentalisierung
bereitet vielen von uns große Probleme. Ich stimme Ihrem Schlusssatz bei Ihrer Einführung
zu: Die Heftigkeit der Angriffe sowie die Unsachlichkeit sehr vieler Beiträge zeigen mir, dass
es sich um einen Bereich handelt, der etwas völlig anderem freien Lauf gab als dem, was
vordergründig behauptet wurde. Deshalb kann ich die Eruptionen des letzten Jahres auch
nicht mit dem sachlichen Begriff „Diskussion“ oder „Diskurs“ belegen, sondern sehe darin
ein Forum, das vielen Menschen die Bühne bereitete um ihre tief sitzenden Vorurteile, Emotionen, Antigefühle unkontrolliert, und unter einem scheinsachlichen Argument zu veröffentlichen.
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Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Mir scheint die Frage nach dem Vorrang rechtsstaatlicher Argumente vor den Traditionen zweier Minderheiten, nicht der wirklich Gegenstand der Debatte in 2012 gewesen zu sein, zumal die Beschneidung sich absolut nicht eignet, um an ihr solche Fragen grundsätzlich zu diskutieren. Deshalb wäre ein kluger, juristischer, gesellschafts-politischer, ethischer und allgemeiner Diskurs eher nachvollziehbar gewesen. Hierüber zu sprechen ist sinnvoller, als über das Tendenzurteil von Köln. Die Verbindungen zwischen Passau und Köln sind bekannt. Es wäre vielmehr zu fragen, wer hat was, zu
welchen Zwecken instrumentalisiert.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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