Fall 01 - Wahlrecht - Universität Augsburg

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Institut für Öffentliches Recht
Universität Augsburg
Wintersemester 2010/2011
Fallbesprechungen zum Grundkurs Öffentliches Recht I
(Staatsorganisationsrecht)
Fall 1: Wahlrecht
Erfolgsaussichten eines Vorgehens gegen die 5% -Sperrklausel
Die Landesregierung L könnte zur Überprüfung des § 6 VI 1 1. Alt. BWahlG das
Bundesverfassungsgericht anrufen.
Mögliches Verfahren ist die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 I Nr. 2 GG,
§§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG.
Der Antrag hat Erfolg, wenn er zulässig [Prozessrecht/Verfahrensrecht] 1 und begründet [materielles Recht] ist. [Obersatz]
A. Zulässigkeit
Der Antrag ist dann zulässig, wenn die Sachurteilsvoraussetzungen 2 nach Art. 93
I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG vorliegen. [Obersatz]
I. Zuständigkeit 3
Die Zuständigkeit
Art. 93 I Nr. 2 GG.
des
Bundesverfassungsgericht
ergibt
sich
aus
II. Antragsberechtigung 4
Die Landesregierung L müsste antragsberechtigt sein. [Obersatz] Gem.
Art. 93 I Nr.2 GG, § 76 I BVerfGG sind antragsberechtigt die Bundesregierung, eine Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages. [Definition] Die Landesregierung L fällt unter den genannten
Kreis und ist daher antragsberechtigt. [Subsumtion]
1
Bei den in eckigen Klammern gesetzten Wörtern handelt es sich um Anmerkungen/Erläuterungen zum Aufbau
bzw. zum jeweiligen Prüfungspunkt, um das Verständnis zu erwecken. In der Klausur haben diese aber nichts
zu suchen!
2
Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit das Gericht ein Urteil „in der Sache“ spricht. Wird das Gericht
also überhaupt prüfen, ob der Antragsteller/Kläger in der Sache Recht hat oder wird es die Klage bereits „als
unzulässig“ abweisen, weil der Kläger die Klage z.B. zu spät eingereicht hat, oder nicht anwaltlich vertreten ist,
oder es sich um eine fremde Materie handelt, die den Kläger „gar nichts angeht“ sondern allein einen fremden
Dritten betrifft? Die einzelnen Voraussetzungen, damit dass Gericht überhaupt prüft, ob der Antragsteller/Kläger in der Sache Recht hat, ergeben sich hier aus dem Gesetzeswortlaut des Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13
Nr. 6, 63 ff BVerfGG
3
Welches Gericht in Deutschland ist für die eingereichte Klage / den eingereichten Antrag zuständig? Bei welchem Gericht muss also der Antrag/die Klage eingereicht werden? Bei einem Amtsgericht (AG), einem Verwaltungsgericht (VG), dem Bundesarbeitsgericht (BAG) oder…? Vorliegend ist es unproblematisch, dass der Antrag
beim Bundesverfassungsgericht einzureichen ist. Daher darf die Darstellung ausnahmsweise in der Urteilstechnik erfolgen: „Das BVerfG ist gem. Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 63 ff BVerfGG für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle zuständig“.
4
„Wer darf einen solchen Antrag stellen / eine solche Klage einreichen?“ Jeder einzelne Bürger, die Bayer AG,
nur bestimmte Institutionen?
III. Antragsgegenstand 5
Ferner müsste die zu überprüfende Norm tauglicher Antragsgegenstand
sein. [Obersatz] Was im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle alles
Antragsgegenstand sein kann, bestimmt sich nach Art. 93 I Nr. 2 GG, §
76 I BVerfGG. Danach ist tauglicher Antragsgegenstand Bundes- oder
Landesrecht. [Definition]
§ 6 VI 1 1. Alt. BWahlG ist Bestandteil des Bundesrechts und somit stellt
es einen tauglichen Antragsgegenstand i.S.d. Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I
BVerfGG dar. [Subsumtion]
IV. Antragsgrund 6
Weitere Sachurteilsvoraussetzung ist das Vorliegen eines Antragsgrundes.
[Obersatz] Dies bestimmt sich ebenfalls nach Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I
Nr. 1 BVerfGG.
Gemäß Art. 93 I Nr. 2 GG müssen „Meinungsverschiedenheiten oder
Zweifel“ über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit eines Gesetzes
mit dem Grundgesetz bestehen. [Definition] Vorliegend hat die L nicht
nur Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der 5%-Klausel, sondern hält
diese für verfassungswidrig. [Subsumtion] Somit liegt hier nach Art. 93 I
Nr. 2 GG ein Antragsgrund vor.
[Verlangt eine andere Bestimmung etwas anderes (mehr)?] § 76 I Nr. 1
BVerfGG bestimmt allerdings darüber hinausgehend, dass der Antragsteller die Norm „für nichtig“ hält und legt somit einen strengeren Maßstab
an. [Definition] Jedoch wäre auch dieser strengere Maßstab im vorliegenden Fall gewahrt, denn L hält die 5 %-Klausel für verfassungswidrig.
[Subsumtion] Damit liegt hier sowohl nach Art. 93 I Nr. 2 GG als auch
nach § 76 I Nr. 1 BVerfGG ein Antragsgrund vor. Ein Streitentscheid, welcher Norm der Vorrang gebührt, ist hier somit nicht erforderlich.
Exkurs: Was wäre, wenn L nur erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung hätte? Dann würde nach § 76 I Nr. 1 BVerfGG
hier kein Antragsgrund vorliegen, so dass ein Streitentscheid erforderlich wäre.
[Streitentscheidung] Fraglich ist also, welcher Norm der Vorrang gebührt, ob also lediglich die geringere Anforderung des GG oder aber die
strengere Anforderung des BVerfGG erfüllt sein müssen. Einfaches Gesetzesrecht kann grundsätzlich nicht ein nach der Verfassung bestehendes Antragsrecht einschränken, so dass wegen des Geltungsvorrangs
des Art. 93 I Nr. 2 GG die Zweifel von L für den Antragsgrund ausreichen.
5
Um was geht es? Worüber streiten die Parteien bzw. was genau möchte der Antragsteller überprüft haben und
„geht das“? Ist es also möglich, eine EU-Verordnung, die Hausordnung der Karstadt-Quelle AG oder die Satzung
des TSV Gersthofens im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle durch das BVerfG überprüfen zu lassen?
6
Warum möchte der Antragsteller / Kläger das Gesetz überprüft haben?
2 von 13
V. Form / Frist 7
Der Antrag müsste in der Form des § 23 I BVerfGG erfolgen, also schriftlich und mit Begründung. Eine Frist ist dabei nicht einzuhalten.
VI. Zwischenergebnis
Der Antrag der Landesregierung auf abstrakte Normenkontrolle ist somit
zulässig. 8
B. Begründetheit 9
Damit der Antrag der L insgesamt erfolgreich ist, müsste dieser auch begründet
sein. [Obersatz] Der Antrag ist begründet, wenn § 6 VI 1 1. Alt. BWahlG formell
und/oder materiell nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Art. 93 I Nr. 2 GG,
§ 76 I BVerfGG). [Definition; die Subsumtion erfolgt nun im Anschluss unter I.,
II., III.]
I. Prüfungsmaßstab 10
Zunächst ist zu untersuchen, an welchem Maßstab § 6 VI 1 1. Alt.
BWahlG zu messen ist. [Obersatz] Maßstab für die Prüfung von Bundesrecht – und somit auch für den hier zu untersuchenden § 6 VI 1 1. Alt.
BWahlG – ist gem. Art. 93 I Nr.2 GG, § 76 I BVerfGG das Grundgesetz.
[Definition und Subsumtion]
II. Formelle Verfassungsmäßigkeit 11
§ 6 VI 1 1. Alt. BWahlG müsste formell verfassungsmäßig sein. [Obersatz] Dies setzt neben der Zuständigkeit insbesondere ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren voraus. [Definition; die Subsumtion erfolgt nun im Anschluss unter 1., 2.]
1. Zuständigkeit (Gesetzgebungskompetenz) 12
Der Bund müsste für den Erlass des BWahlG zuständig sein.
[Obersatz] Grundsätzlich liegt die Gesetzgebungshoheit bei den
Ländern, Art. 30, 70 I GG, sofern sich aus dem GG nichts anderes
ergibt. [Definition] Hier bestimmt Art. 38 III GG, das die Einzelheiten der Wahl ein Bundesgesetz bestimmt, mithin also die Zuständigkeit für den Erlass des Gesetzes beim Bund liegt. [Subsumtion]
7
In welcher Weise und innerhalb welchen Zeitraums ist der Antrag / die Klage bei Gericht einzureichen?
Alle Sachurteilsvoraussetzungen liegen also vor, das Gericht muss sich mit der Frage befassen, ob der Antragsteller in der Sache Recht hat oder ob seine Rechtsauffassung fehlerhaft ist („materielles Recht“; im folgenden unter „Begründetheit“ zu prüfen). Wären nicht alle Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt, würde das Gericht
die Prüfung hier bereits abbrechen und die Klage als unzulässig abweisen. Im Gutachten muss aber in jedem
Falle weitergeprüft werden! „Hilfsgutachten“
9
Hat B Recht?
10
Woran ist § 6 VI 1 1. Alt BWahlG zu prüfen? Reicht ein Verstoß gegen andere Bundesgesetze aus? Recht es
also, wenn das BWahlG im Konflikt (unvereinbar) steht mit der Bundeswahlordnung oder mit dem Bayer. Landeswahlgesetz? Oder muss das BWahlG gegen einen Artikel des GG verstoßen?
11
Sind alle durch die Verfassung in förmlicher Hinsicht vorgeschriebenen Gesichtspunkte eingehalten worden?
12
Wer darf ein solches Gesetz erlassen? Der Bund, ein Land oder beispielsweise die BASF AG?
8
3 von 13
2. Gesetzgebungsverfahren und Form
Das BWahlG ist im Rahmen des im GG vorgesehenen Verfahrens
zustande gekommen, denn Verfahrens- und Formfehler sind nach
dem Sachverhalt nicht ersichtlich. 13
3. Zwischenergebnis
§ 6 VI 1 1. Alt. BWahlG ist formell verfassungsgemäß.
III. Materielle Verfassungsmäßigkeit 14
Fraglich ist jedoch, ob § 6 VI 1 1. Alt. BWahlG auch sachlich (materiell)
mit dem GG übereinstimmt, m.a.W. ob die zu untersuchende Norm mit
den Regelungen des GG im Widerspruch steht. [Obersatz]
Vorliegend ergeben sich insbesondere Zweifel, ob § 6 VI 1 1. Alt. BWahlG
nicht gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 38 I 1 GG) und
gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21, 3 I
GG) verstößt.
1. Verstoß gegen Art. 38 I 1 GG (Gleichheit)
Die hier in Streit stehende 5%-Klausel könnte gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verstoßen. [Obersatz] Dies wäre
dann der Fall, wenn der Anwendungsbereich des Art. 38 I 1 GG
gegeben ist und das BWahlG darin (negativ) eingreifen würde und
dieser Eingriff nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt wäre. [Definition, die Subsumtion erfolgt nun im Anschluss unter a), b) und
c)]
a) Anwendungsbereich des Art. 38 I 1 GG (inhaltlicher
Regelungsgehalt) 15
Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu klären,
was unter der „Gleichheit der Wahl“ überhaupt zu verstehen ist, was also der inhaltliche Regelungsgehalt des Art.
38 I 1 GG ist. [Obersatz; Definition und Subsumtion erfolgen nun im Anschluss unter aa), bb) und cc)]
aa) Definition der „Gleichheit“ der Wahl
Die Gleichheit der Wahl i.S.d. Art. 38 I 1 GG umfasst zwei Gesichtspunkte: Die Zählwertgleichheit
und die Erfolgswertgleichheit.
Erstere besagt, dass jeder Wähler die gleiche
Stimmenanzahl haben muss. Dies ist vorliegend
unzweifelhaft gegeben, da jeder Wähler eine Erstund eine Zweitstimme hat.
Der Grundsatz der Erfolgswertgleichheit besagt
hingegen, dass bei der Umsetzung der Stimmen in
die Zuteilung von Parlamentssitzen jede Stimme
13
Urteilsstil ausnahmsweise zulässig, da ersichtlich im Sachverhalt keine Probleme hierzu angelegt sind.
Wird das GG auch inhaltlich von dem BWahlG eingehalten?
15
Was steht im Art. 38 I 1 GG genau drin; welche Anforderungen stellt Art. 38 I 1 GG auf? Der Inhalt ist durch
entsprechende Auslegung zu ermitteln (Wortlaut, theleologisch, systematisch etc.)
14
4 von 13
auch die gleiche rechtliche Erfolgschance haben
muss. 16 Jede gültig abgegebene Stimme muss also
ebenso mitbewertet werden und den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben wie die von einem anderen Wahlberechtigten abgegebene Stimme.
bb) „Erfolgswertgleichheit“ ist abhängig vom Wahlsystem
Die Sicherstellung der Erfolgswertgleichheit lässt
sich nicht unabhängig von der Frage des Wahlsystems beantworten, sondern hängt vielmehr von
dem Wahlsystem selbst ab.
Bei der Mehrheitswahl hat i.E. nur die Stimme Einfluss auf die Sitzverteilung, die für den Mehrheitskandidaten abgegeben wurde. Die auf den/die
Minderheitskandidaten entfallenden Stimmen bleiben bei der Vergabe der Parlamentssitze zwar i.E.
unberücksichtigt und sind somit „erfolglos“, jedoch
haben grundsätzlich alle Stimmen in einem Wahlbezirk die gleiche Chance, den Mehrheitskandidaten zu bestimmen. Um die Erfolgswertgleichheit
auch zwischen den einzelnen Wahlkreisen sicherzustellen, ist es aber auch erforderlich, dass möglichst gleich große Wahlkreise gebildet werden.
Bei der Verhältniswahl hat hingegen jeder Wähler
mit seiner Stimme grundsätzlich den gleichen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung
des Parlaments, da die Anzahl der Stimmen verhältnismäßig auf die zu vergebenden Sitze umgerechnet wird. 17 Erfolgswertgleichheit im System
des Verhältniswahlrechts erfordert daher eine exakte mathematische Umrechnung der Stimmen in
Sitze.
cc) Wahlsystem in der Bundesrepublik
Das Grundgesetz gibt – anders als die Weimarer
Reichsverfassung – das Wahlsystem nicht vor. Es
überlässt diese Entscheidung vielmehr in Art. 38
III GG dem Gesetzgeber.
Der Gesetzgeber hat sich, wie § 1 I 2 BWahlG
zeigt, für eine Kombination von Mehrheits- und
Verhältniswahl entschieden: Eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl.
Grundsätzlich wird die Gesamtzahl der Sitze im
Verhältnis der Zweitstimmen verteilt, § 6 II
16
17
vgl. BVerfGE 95, 408, 417
BVerfGE, a.a.O.
5 von 13
BWahlG. Nach § 6 IV BWahlG werden die Wahlkreisabgeordneten einer Partei auf dieses Kontingent angerechnet. Grundsätzlich, d.h. abgesehen
von den Überhangmandaten nach § 6 V BWahlG,
hat die Erststimme, also das mehrheitswahlrechtliche Element, auf den Parteienproporz im Deutschen Bundestag demnach keinen Einfluss. Somit
trägt das Bundestagswahlrecht den Grundcharakter der Verhältniswahl. 18 Das Merkmal der Gleichheit der Wahl erfordert, wie dargestellt, die Sicherstellung der Erfolgswertgleichheit in der spezifischen Ausprägung des Verhältniswahlrechts, also
einer möglichst exakten mathematischen Umrechnung des Wahlergebnisses. [Definition und Subsumtion]
b) Eingriff in die Erfolgswertgleichheit (Verletzung) 19
§ 6 VI 1 1. Alt könnte in den dargestellten Schutzbereich
eingreifen und somit gegen das GG verstoßen. [Obersatz]
Dies wäre dann der Fall, wenn der gewährte Schutzbereich
gleichsam verkürzt werden würde. [Definition]
Vorliegend werden durch die 5%-Klausel zahlreiche Wählerstimmen bei der Umrechnung in Parlamentssitze nicht
berücksichtigt. Sämtliche Wählerstimmen, die auf Parteien
entfallen, die letztlich weniger als 5% der Stimmen für
sich gewinnen können, bleiben komplett unberücksichtigt.
Damit liegt eine Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den
Stimmen vor, die für Parteien abgegeben werden, die bei
der Sitzverteilung berücksichtigt werden. § 6 VI 1 1. Alt
BWahlG greift damit in den Grundsatz der Wahlgleichheit
ein. [Subsumtion].
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 20
Fraglich ist, ob sich dieser Eingriff in den Grundsatz der
Wahlgleichheit des Art. 38 I 1 GG verfassungsrechtlich
rechtfertigen lässt. [Obersatz]
Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieses Eingriffs
setzt voraus, dass eine – quasi als Ausnahme vorgesehene
– ausdrückliche oder aber durch Auslegung (Gesamtschau
aller sonstigen Verfassungsbestimmungen) zu ermittelnde
Durchbrechung des Gleichheitssatzes überhaupt vorgesehen bzw. möglich ist und, sofern dies der Fall sein sollte,
die Voraussetzungen hierfür vorliegen. [Definition]
aa) Ausdrückliche Ausnahme?
18
BVerfGE 95, 335, 358
Wird der aufgezeigte Schutz, den Art. 38 I 1 GG gewährt negativ durch das BWahlG berührt?
20
Ist dieser Eingriff ausnahmsweise in Ordnung, z.B. weil das GG selbst in einem weiteren Artikel/Absatz sagt:
„Von dem Grundsatz der Wahlgleichheit kann ausnahmsweise abgewichen werden, um….“?
19
6 von 13
Eine Ausnahme von dem Prinzip der Wahlgleichheit
ist weder in Art. 38 GG noch in einer anderen verfassungsrechtlichen Norm explizit vorgesehen. 21
[Subsumtion]
bb) Durch Auslegung zu ermittelnde Ausnahme?
Eine solche Durchbrechung der Wahlrechtsgleichheit könnte sich aber auch aus einer Gesamtschau
(durch Auslegung) anderer grundrechtlicher Bestimmungen bzw. Verfassungsprinzipien ergeben.
[Obersatz]
Eine solche Rechtfertigung könnte sich bereits daraus ergeben, dass im Mehrheitswahlrecht, welches
– wie gezeigt – durch das Grundgesetz ja nicht
ausgeschlossen ist, viel größere Ungleichheiten
auftreten können und im Extremfall bis zu 49,9%
der Stimmen unberücksichtigt bleiben. Ein solcher
„a maiore ad minus“ Schluss ist unzulässig, da die
Wahlsysteme immer für sich zu betrachten sind.
Die Rechtfertigung muss sich vielmehr aus dem in
Deutschland gewählten personalisierten Verhältniswahlrechtes selbst ergeben, denn wenn der Gesetzgeber diesen Wahlrechtstyp wählt, sind die
damit implizierten Anforderungen auch einzuhalten.
Fraglich ist also, ob sich durch Auslegung bzw. einer Gesamtschau anderer grundgesetzlicher Bestimmungen eine Ausnahme ergibt.
(1) Meinung 1
Hält man sich streng formal an den Gedanken der Wahlrechtsgleichheit, so besteht
für eine Durchbrechung grundsätzlich kein
Raum (so z.Zt. der Weimarer Republik:
Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich)
und eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung scheidet von
vornherein aus.
(2) Meinung 2
Andererseits könnte man der Ansicht sein,
dass wegen der Ähnlichkeit zum allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) – beide
Artikel behandelt die Gleichheit der Bürger
– eine Parallele gezogen werden könnte.
21
Die Darstellung darf an dieser Stelle ausnahmsweise in der Urteilstechnik erfolgen, da offensichtlich nirgends
im GG eine Norm zu finden ist, die eine solche Ausnahme von der Gleichheit der Wahl explizit vorsieht. Es gibt
gerade keinen Art. 38 Ia GG der lautet: „Von diesen Wahlrechtsgrundsätzen kann zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments abgewichen werden“.
7 von 13
Nach Art. 3 I GG findet eine Durchbrechung
des formalen Gleichheitssatzes dann statt,
wenn ein vernünftiger, sich aus der Natur
der Sache ergebender oder sonst wie einleuchtender Grund gegeben ist. 22
Folgte man dieser Ansicht, ergäbe sich für
den Zählwert, dass eine Differenzierung
unzulässig ist, da es sich um einen Ausfluss
des Demokratieprinzips handelt, welches
die unbedingte Gleichheit aller Staatsbürger bei der Teilnahme an der Staatswillensbildung beinhaltet.
Beim Erfolgswert wäre hingegen eine Differenzierung nicht ausgeschlossen.
(3) Meinung 3
Schließlich könnte man auch der Ansicht 23
sein, dass es zwischen Art. 3 GG und Art.
38 GG zwar gewisse Ähnlichkeiten gibt,
was die Struktur beider Normen anbelangt,
allerdings darf nicht übersehen werden,
dass es sich bei Art. 38 GG um einen speziellen wahlrechtlichen Gleichheitssatz handelt. Ein Rückgriff auf den allg. Gleichheitssatz ist damit gerade nicht möglich. Vielmehr unterlag der Gleichheitssatz des Art.
38 GG einer selbständigen Entwicklung. Die
Wahlrechtsgleichheit des Art. 38 GG ist
zwar einerseits stärker formalisiert, andererseits gibt es aber auch kein absolutes
Differenzierungsverbot.
Lediglich
aus
„zwingenden Gründen“ ist eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt, da ansonsten andere Verfassungsprinzipien nicht hinreichend berücksichtigt werden können.
(4) Streitentscheidung und Zwischenergebnis
Letztgenannter Ansicht ist zuzustimmen.
Erstgenannte Meinung übersieht, dass kein
Artikel des GG für sich alleine steht. Vielmehr haben die Väter und Mütter des GG
ein ausgewogenes System schaffen wollen,
so dass der einzelne Artikel immer auch im
Licht aller übrigen Verfassungsbestimmungen zu sehen ist. Ein Vorrang eines einzelnen Artikels vor allen anderen gibt es nicht.
Zur Durchsetzung bzw. Aufrechterhaltung
22
23
so die frühere Rspr. BVerfGE 1, 208, 247
so auch BVerfGE 99, 1
8 von 13
anderer in der Verfassung niedergelegten
Ziele und Grundsätze muss es daher auch
möglich sein, von dem aufgeführten Prinzip
der Wahlrechtsgleichheit abweichen zu
können, wenn diese es zwingend erfordern.
Auf der anderen Seite ist auch die zweite
Sichtweise abzulehnen. Eine identische Behandlung von Art. 3 I GG und Art. 38 I 1
GG ist verfehlt. Freilich behandeln beide Artikel die Gleichheit der Staatsbürger im
weitesten Sinne, jedoch darf nicht übersehen werden, dass zwischen Art. 3 und Art.
38 GG erhebliche Strukturunterschiede bestehen. Art. 38 I 1 GG ist stärker formalisiert als Art. 3 I GG.
Im Ergebnis ist damit also der dritten Ansicht zuzustimmen. Eine Rechtfertigung eines Eingriffs – und damit eine Durchbrechung des Grundsatzes der Wahlgleichheit
muss grundsätzlich möglich sein, da dem
Art. 38 I 1 GG kein grundsätzlicher Vorrang
vor allen anderen Artikeln beikommt. Lassen sich andere Grundsätze bzw. der Ziele
der Verfassung nicht erreichen, wenn die
Wahlgleichheit als absolut angesehen wird,
muss diese im Ergebnis durchbrochen werden können. Gleichwohl reichen dafür – wie
dargestellt – nur zwingende Gründe aus,
auch um den Ausnahmecharakter der
Durchbrechung zu wahren. [Definition und
Subsumtion]
cc) Liegen „Zwingende Gründe“ vor?
Zu klären bleibt nun, ob die Voraussetzungen der
vorgenanten Ausnahme gegeben sind; d.h. es ist
zu klären, was unter den „zwingenden Gründen“ zu
verstehen ist und ob solche hier gegeben sind.
[Obersatz; die Definition und Subsumtion erfolgt
nun im Anschluss]
(1) Keine zwingenden Gründe
Solche zwingenden Gründe könnten die in
Art. 3 II und III GG genannten Punkte (Bildung, Vermögen, Klasse, Art der politischen Meinung, Verfassungswidrigkeit einer
Partei (Art. 21 Abs. 2 GG ist abschließend) 24 ) sein. [Obersatz] Nachdem eine
Ungleichbehandlung, welche auf den dort
genannten Gründen basiert, jedoch gerade
24
BVerfGE 6, 84, 91 f
9 von 13
nicht erfolgen darf, stellen diese erst Recht
keine „zwingenden Gründe“ im Verständnis
des Art. 38 GG dar. [Definition und Subsumtion]
(2) Anerkannte zwingende Gründe
Damit ist jedoch noch ungeklärt, was unter
den zwingenden Gründen nun zu verstehen
ist. [Obersatz] Zwingende Gründe ergeben
sich insbesondere aus einer Gesamtschau
des Grundgesetzes selbst, insbesondere
aus der staatspolitischen Gefahr der Funktionsunfähigkeit des Parlaments 25 (beispielsweise die Wahl des Bundeskanzlers,
Art. 63 I GG und die Verabschiedung von
Gesetzen, Art. 77 I GG) sowie durch mathematisches Sitzverteilungsverfahren vorgegebene und unvermeidliche Differenzierung. 26 [Definition] Vorliegend ermöglicht
das Verhältniswahlrecht (im Gegensatz
zum Mehrheitswahlrecht) kleinen und
kleinsten Parteien den Einzug in den Bundestag überhaupt. Dies birgt die Gefahr der
Parteienzersplitterung in sich und führt im
Ergebnis dazu, dass die Mehrheitsbildung
nicht nur schwieriger sondern sogar unmöglich wird. Die Bundeskanzlerwahl, die
Verabschiedung von Gesetzen etc. wird dadurch eine Parteienzersplitterung erheblich
erschwert, was die Gefahr der Funktionsunfähigkeit in Folge von Koalitionszerwürfnissen und damit verbundenen ständigen
Neuwahlen beinhaltet. Zwingende Gründe
sind also gegeben. [Subsumtion]
dd) Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel 27
Die zur Erreichung der zwingenden Gründe eingesetzten Mittel müssen ihrerseits aber wiederum
verhältnismäßig, d.h. geeignet, erforderlich und
verhältnismäßig i.e.S. sein [Obersatz]. 28
Die getroffene Regelung (5%-Klausel) wäre dann
unverhältnismäßig, wenn das Ziel (Funktionsfähigkeit des Parlaments) mit geringer einschneidenden
Mitteln genauso gut erreicht werden könnte. [Defi25
zuletzt BVerfGE 95, 408, 418 f.
BVerfGE 79, 169, 170 f
27
Zwar wurde nun geklärt, dass es zwingende Gründe geben kann, die eine Ausnahme der Wahlrechtsgleichheit
rechtfertigen, jedoch ist noch nicht geklärt, auf welche Weise die Einhaltung des zwingenden Grundes (Funktionsfähigkeit und damit der Parteienzersplitterung vorzubeugen) erreicht werden kann. Hierzu gibt es verschiedene Möglichkeiten (Verbot von allen anderen Parteien außer CDU/CSU und SPD; 20%-Hürde; nur solche Parteien ziehen in den Bundestag ein, die in mind. 10 Bundesländern 25% der Stimmen erhalten haben; nur solche Parteien werden auf die Wahlzettel gesetzt, die zuvor 100 Mio € an den Staat gezahlt haben usw.) . Der
Eingriff muss also von möglichst geringer Intensität (verhältnismäßig) sein.
28
BVerfGE 6, 84, 94
26
10 von 13
nition; die Subsumtion erfolgt wie immer im Anschluss]
(1) Legitimes Ziel
Bei der Erhaltung der Funktionsfähigkeit
des Parlaments handelt es sich um ein legitimes Ziel. 29
(2) Geeignetheit
Um eine Zersplitterung des Parlaments und
damit eine schwierige Mehrheitsfindung mit
den angesprochenen Problemen zu vermeiden, ist eine %-Klausel sehr wohl geeignet. 30
(3) Erforderlichkeit
Jedoch ist fraglich, ob eine %-Hürde auch –
ggf. in dieser Höhe – erforderlich ist, d.h.
ob es also nicht ein weniger einschneidendes Mittel gibt, das genauso gut geeignet
ist, das angestrebte Ziel zu erreichen.
[Obersatz]
Zu denken wäre beispielsweise an Unterschriftenquoren. Diese sind aber nicht
gleich geeignet, da sie nicht verhindern
können, dass zugelassene Parteien gleichwohl wenig Stimmen und damit wenige Sitze erhalten und es so zu einer Zersplitterung des Parlaments kommt. Es ist auch
kein milderes Mittel ersichtlich, denn alle
anderen in Betracht kommenden Mittel
greifen der Wählerentscheidung vor. 31 [Definition und Subsumtion]
Die Höhe der Zugangshürde liegt zudem
grds. in der Entscheidung des Gesetzgebers
und ist gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar (Gewaltenteilungsprinzip, Art. 20
III GG). I.d.R. sind 5% nicht zu beanstanden, außer es liegen besondere Umstände
des Einzelfalls vor. Im Einzelfall würden sogar besondere, zwingende Gründe eine höhere Hürde als 5 % rechtfertigen. 32
Die 5%-Klausel ist demnach erforderlich,
um das angestrebte Ziel zu erreichen. [Definition und Subsumtion]
29
Hier ist ausnahmsweise die Urteilstechnik zulässig, da der Prüfungspunkt vorliegend völlig unproblematisch
ist.
30
Hier ist ausnahmsweise die Urteilstechnik zulässig, da der Prüfungspunkt vorliegend völlig unproblematisch
ist.
31
BVerfGE 6, 84, 98
32
BVerfGE 51, 222, 237
11 von 13
(4)Verhältnismäßigkeit i.e.S./ Angemessenheit
Die getroffene Regelung müsste zudem
auch verhältnismäßig i.e.S. sein. [Obersatz]
Dies stellt eine Mittel-Zweck-Relation zwischen der vorgenommenen Belastung einerseits und dem damit bezweckten Erfolg
andererseits dar, also eine Abwägung der
betroffenen Interessen bzw. in Betracht
kommenden Prinzipien. [Definition]
Vorliegend sind die Erfolgswertgleichheit
und die Funktionsfähigkeit des Parlamentes
in Relation zueinander zu setzen.
Die Funktionsfähigkeit des Parlaments und
damit die Funktionsfähigkeit des Staates an
sich ist von überragender Bedeutung. Ohne
dieses wäre ein Zusammenleben einer Gesellschaft überhaupt nicht möglich. Im Vergleich zu diesem werden die Wähler, welche ihre Stimmen einer Partei geben, die
letztlich an der 5%-Hürde scheitert, nicht
völlig unangemessen benachteiligt. Die getroffene Regelung ist also nicht unangemessen. [Subsumtion]
d) Zwischenergebnis
Die 5% Klausel verstößt demnach nicht gegen Art. 38 I 1
GG.
2. Verstoß gegen Art. 21, 3 I GG (Chancengleichheit der Parteien)
Die 5%-Klausel könnte jedoch gegen Art. 21, 3 I GG verstoßen. 33
a) Anwendungsbereich (inhaltlicher Regelungsgehalt)
Art. 21 I 2 GG verbürgt die Freiheit der Parteigründung.
Daraus folgt die Anerkennung des Mehrparteiensystems. 34
Dies verlangt aber nicht nur die Freiheit der Gründung,
sondern auch die Freiheit der Betätigung. 35 Dazu gehört
insbesondere die Freiheit an Wahlen mitzuwirken, 36 womit
die volle Gleichberechtigung der Parteien notwendig verbunden ist. 37
Diese Anforderung ergibt sich auch aus der demokratischen Gleichheit: Die jeweils herrschende Mehrheit und
die oppositionelle Minderheit müssen bei jeder Wahl aufs
33
Die Prüfung erfolgt hier ausnahmsweise in der Urteilstechnik, da sich zum unter 1. Gesagten keinerlei Neuerungen ergeben.
34
J/P Art. 21 Rn. 15
35
J/P Art. 21 Rn. 10
36
BVerfGE 44, 125, 146
37
a.a.O.
12 von 13
neue die grundsätzlich gleichen Chancen im Wettbewerb
um die Wählerstimmen haben. 38
Auch für die Freiheit der Wahl ist es unerlässlich, dass die
Parteien, soweit irgend möglich, mit gleichen Chancen in
den Wahlkampf eintreten. 39
Die Formalisierung des Gleichheitssatzes im Bereich der
politischen Willensbildung des Volkes hat zur Folge, dass
auch der Verfassungssatz von der Chancengleichheit der
politischen Parteien in dem gleichen Sinne formal verstanden werden muss. 40
b) Eingriff
Die Sperrklausel beeinträchtigt auch die Chancengleichheit
kleiner Parteien, da es diesen nahezu unmöglich gemacht
wird, in den Bundestag einzuziehen, sich dort zu präsentieren und sich auf diese Weise auch neue Wählerschichten zu erschließen.
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Jedoch ist diese Beeinträchtigung aus den unter B. III. 1)
c) bb) genannten Gründen vorliegend ebenfalls gerechtfertigt.
Ergebnis: § 6 VI S. 1 1. Alt. BWahlG ist materiell verfassungsgemäß. Der Antrag
ist somit unbegründet. Er hat keine Aussicht auf Erfolg.
38
39
40
BVerfGE a.a.O., S. 145
BVerfGE a.a.O., S. 146
BVerfGE a.a.O.
13 von 13
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