NOTIZEN Begriffsbildungen zur Valenztheorie Von F. S e e 1 Chemisches Institut der Universität Würzburg (Z. Naturforschg. 7 b, 4 8 2 ^ 8 3 [1952]; eingeg. am 2. Aug. 1952) Selbst in den neuesten Auflagen bewährter Lehrbücher der anorganischen und allgemeinen Chemie werden die valenztheoretischen Begriffe in sehr verschiedenartiger und oft auch unklarer Form definiert. Der Verf. beabsichtigt hiermit keine kritische Stellungnahme zu den Ansichten einzelner Autoren, jedoch möchte er im Hinblick auf die große didaktisdie Bedeutung der valenztheoretischen Definitionen seinerseits darlegen, in welcher Form nach seinen eigenen Unterrichtserfahrungen die vier wichtigsten Begriffe der Valenztheorie am klarsten und zweckmäßigsten zu formulieren sind. Es handelt sich hierbei um keine neuartigen Definitionen, sondern um Begriffsbildungen, welche bereits in der deutschen und angelsächsischen Literatur gebraucht werden. Die A n z a h l d e r A t o m b i n d u n g e n , welche von einem Atom (bzw. Atom-ion) betätigt werden, soll als dessen Bindigkeit bezeichnet werden. Die L a d u n g s z a h l e i n e s A t o m - oder M o l e k ü l - I o n s soll als die Wertigkeit des Ions definiert werden. Zwei weitere wichtige Begriffe sind die formale Ladung („formal charge") eines Atoms im Molekülverband und die Oxydationszahl („oxydation number") eines Elementes in einer Verbindung. Man erhält hierüber Angaben, wenn man einen Molekülverband (Molekül oder Molekülion) nach gewissen Regeln in a t o m a r e Teilchen (Atome und Atom-Ionen) a u f s p a l t e t . Die formalen Ladungen der Atome im Molekülverband entsprechen den Ladungszahlen der Teilchen, welche entstehen, wenn man die Elektronen jeder Atombindung g l e i c h m ä ß i g auf die Bindungspartner verteilt („Homolyse"). Die Oxydationszahlen der Elemente in einer Verbindung entspredien den Ladungszahlen der Teilchen, welche sich ergeben, wenn man den Molekülverband in der Weise aufspaltet, daß die Valenzelektronen u n g l e i c h a r t i g e r Bindungspartner dem e l e k t r o n e g a t i v e r e n Atom zugeteilt werden („Heterolyse"). Bei gleichartigen Bindungspartnern werden die Valenzelektronen (ebenso wie bei der Ermittlung der formalen Ladung) gleichmäßig verteilt. Zu den ersten beiden Begriffsbildungen erscheinen nur wenige weitere Erläuterungen notwendig: Unter dem Begriff Atombindung wird derjenige Bindungsmechanismus verstanden, durch welchen a u c h g l e i c h a r t i g e Atome bzw. Atom-Ionen miteinander verbunden werden können, wie z. B. H, O, N, 0 ~ , Hg+ zu H 2 , 0 2 , N 2 , 0 2 ~ , Hg22+. Die ungleichartige Ladung von Ionen gibt Veranlassung zur I o n e n b i n d u n g , welche (überwiegend) durdi elektrostatische Anziehungskräfte bewirkt wird. Der V a - l e n z s t r i c h sollte unbedingt der Atombindung vorbehalten sein. Die Einführung des Begriffes der formalen Ladung eines Atoms ermöglicht eine rasche und elegante Formulierung der Valenzformel, welche die Verteilung der Atombindungen innerhalb eines Moleküls w i e d e r g i b t D a s Prinzip des Verfahrens beruht darauf, daß im allgemeinen einer b e s t i m m t e n B i n d i g k e i t eine b e s t i m m t e f o r m a l e L a d u n g entspricht. (Bei Radikalen ist die „freie" Bindigkeit mitzuzählen.) Eine Ausnahme von dieser Regel bildet lediglich Kohlenstoff, welcher im — seltenen — dreibindigen Zustand die formale Ladung + 1 und — 1 haben kann. Man erfährt die Formal-Ladung nach der H y d r i d r e g e l , welche besagt, daß die formale Ladung eines Atoms im Molekülverband gleich der Ladung des H y d r i d e s oder H y d r i d - I o n s ist, in welchem das Atom in der gleichen Bindigkeit vorliegt. So ist z. B. die Formal-Ladung des zweibindigen Sauerstoffs = 0, weil das zugehörige Hydrid OH2 ist; die FormalLadung des vierbindigen Stickstoffs ist + 1, denn das zugehörige Hydrid ist NH 4 + usw. Man erhält schließlich durch einfaches Ausprobieren die Valenzformeln eines Moleküls oder Molekül-Ions, wenn man beachtet, daß die Summe der Formal-Ladungen gleich der Ladung des gesamten Komplexes sein muß. Bei der Aufstellung der Valenzformeln sind gewisse Regeln zu beachten, wie z. B. die „ R e g e l d e r m a x i m a l e n Bindigkeit" („ O k t e 11 r e g e 1"), welche besagt, daß in der ersten Achterperiode (und zumeist auch in der zweiten Achterperiode) des Systems der Elemente die Bindigkeit eines Atoms nicht größer als v i e r sein kann, oder die „M e h r f a c h b i n d u n g s r e g e l " , welche verlangt, daß nur von den Atomen der ersten Achterperiode Mehrfachbindungen ausgehen. Oft erscheinen auch bei Beachtung dieser Regeln für ein Molekül m e h r e r e Valenzformeln möglich. In diesem Falle ist das Molekül durch die Gesamtheit dieser Formeln zu beschreiben (Mesomerie). Die Ermittlung der Oxydationszahl wird durch die folgenden Regeln erleichtert: M e t a l l e (außerdem B o r und S i l i c i u m ) müssen stets positive Oxydationszahlen erhalten, F l u o r besitzt stets die Oxydationszahl —1. In zweiter Linie erhält W a s s e r s t o f f die Oxydationszahl + 1, dann in dritter Linie S a u e r s t o f f die Oxydationszahl — 2, schließlich folgen die übrigen Halogene mit der Oxydationszahl —1. Die Oxydationszahlen der restlichen Elemente einer Verbindung bzw. eines Ions erhält man, wenn man beachtet, daß die Summe der Oxydationszahlen gleich der Ladung des Systems sein muß. Der Begriff der Oxydationszahl erweist sich als außerordentlich nützlich für die Betrachtung von R e d u k t i o n s - O x y d a t i o n s - Vorgängen; denn man kann mit Hilfe der Oxydationszahlen rasch feststellen, um wie viele Elektronen sich die oxydierte und die reduzierte Form eines Systems unterscheiden. (Vgl z. B. das Redox+ ? system Mn0 4 ~ + 8 H 4- 4- + 5e Mn 2 + + 4 H 2 0.) Außerdem i Vgl. F. S e e l , Z. Naturforschg. 5 b, 177 [1950]. Dieses Werk wurde im Jahr 2013 vom Verlag Zeitschrift für Naturforschung in Zusammenarbeit mit der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. digitalisiert und unter folgender Lizenz veröffentlicht: Creative Commons Namensnennung-Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz. This work has been digitalized and published in 2013 by Verlag Zeitschrift für Naturforschung in cooperation with the Max Planck Society for the Advancement of Science under a Creative Commons Attribution-NoDerivs 3.0 Germany License. Zum 01.01.2015 ist eine Anpassung der Lizenzbedingungen (Entfall der Creative Commons Lizenzbedingung „Keine Bearbeitung“) beabsichtigt, um eine Nachnutzung auch im Rahmen zukünftiger wissenschaftlicher Nutzungsformen zu ermöglichen. On 01.01.2015 it is planned to change the License Conditions (the removal of the Creative Commons License condition “no derivative works”). This is to allow reuse in the area of future scientific usage. ermöglicht dieser Begriff in vielen Fällen eine präzisere Fassung des unklaren älteren Wertigkeitsbegriffes; man sollte nicht mehr sagen: „Schwefel ist in der Schwefelsäure sechs-wertig", sondern: „Schwefel liegt in der Schwefelsäure in der Oxydationssiu/e + 6 vor". Die vier Begriffe Bindigkeit, Wertigkeit, formale Ladung und Oxydationszahl sollen schließlich am Beispiel des Anions der p h o s p h o r i g e n S ä u r e erläutert werden, dessen Elektronenformel :0: 2 - H:P:Ö: :Ö: ist. Das P h o s p h o r atom ist hier vierbindig, das W a s s e r s t o f f atom und die S a u e r s t o f f atome sind einbindig. Die Wertigkeit des Molekül-Ions ist — 2. (Auf P, H und O kann der Wertigkeitsbegriff nicht angewandt werden, weil diese Atome nicht in der Form von Ionen vorliegen.) Die formale Ladung des P h o s p h o r atoms ist + 1 , die der S a u e r s t o f f atome —1; denn, wenn man die Atombindungen „homolytisch" auftrennt, findet man: ;; © b© P- H- •o :0: Die Oxydationszahl des Phosphors ist + 3, da nach den erwähnten konventionellen Regeln H die Oxydationszahl + 1 und O die Oxydationszahl —2 zuzuordnen ist: :0 ©© ©@© .¿i.©Q Vv©e :0:< Am raschesten findet man die Oxydationszahl, wenn man Überlegungen anstellt, wie sie sich aus dem folgenden Rechenschema ergeben: [P H 03]2x + 1 + 3- (—2) = — 2 x = + 3. Die Valenzformel " o H—P—O O läßt sich mittels der H y d r i d r e g e l leicht bestätigen: Das Phosphoratom muß mindestens vierbindig sein, da es ja vier Liganden trägt. Die formale Ladung des vierbindigen Phosphoratoms ist + 1, weil das zugehörige Hydrid das Phosphonium-Ion PH 4 + ist. Berücksichtigt man endlich, daß den einbindigen Sauerstoffatomen die formale Ladung —1 zuzuordnen ist (zugehöriges Hydrid ist O H - ! ) , so erkennt man, daß die angegebene Formel für das PH0 3 2--Ion die richtige ist: denn + l + 3-(—1)=—2. Die Kristallstruktur des Siliciumdiselenids Von A l a r i c h W e i s s und A r m i n Weiss Eduard-Zintl-Institut für anorganische und physikalische Chemie der Technischen Hochschule Darmstadt (Z. Naturforschg. 7 b, 4 8 3 ^ 8 4 [1952]; eingeg. am 14. Juli 1952) Siliciumdiselenid, SiSe 2 , wurde von S a b a t i e r i durch Überleiten von trockenem Selenwasserstoff über auf Rotglut erhitztes Silicium erhalten und als harte, metallisch glänzende Masse beschrieben. Demgegenüber bildete unser Präparat in reinem Zustand bis zu 2 cm lange, durchsichtige und farblose, faserige Kristalle von asbestähnlichem Aussehen und geringer Härte. Die Fasern waren gut biegsam und besaßen eine hohe Reißfestigkeit. Beim Zerreißen teilten sie sich in dünnere Fasern auf. Dieses SiSe2 wurde dargestellt durch wochenlanges Zusammentempern von reinem Si mit einem geringen Überschuß an reinem Se im evakuierten Einschmelzrohr. Das hierbei erhaltene verfilzte, hellgraue Rohprodukt wurde durch Glühen bei 900° C im Hochvakuum vom überschüssigen Se befreit. Die Analyse ergab 15,22% Si (theor. 15,09%) und 84,73% Se (theor. 84,91%). Zur Züchtung von Einkristallen wurde das gereinigte SiSe2 bei etwa 1100° C im Vakuum sublimiert. In geringen Mengen wurde dabei ein gelblichbraunes Pulver erhalten, das nach den Analysen wahrscheinlich Siliciummonoselenid. ist. SiSe2 ist äußerst luft- und feuchtigkeitsempfindlich und zersetzt sich an der Luft in kurzer Zeit nahezu quantitativ in SiO,, H.,Se und rotes Se. Im Röntgenlicht zeigte das sublimierte SiSe., eine gelbgrüne Fluoreszenz. Die Röntgenuntersuchung der unter Luftausschluß eingeschmolzenen Präparate ergab eine rhombische Elementarzelle mit a = 6,03 A, b = 5,76 A und c = 9,76 A. Die Faserachse fällt mit der kristallographischen b-Achse zusammen. Die Zahl der Moleküle in der Elementarzelle errechnete sich mit der unter wasserfreiem Toluol bestimmten Dichte von 3,61 zu 3,95 4. Drehkristall- und Weissenberg-Aufnahmen * ergaben die Raumgruppe D ^ Icma. Die Punktlagen sind die gleichen wie beim SiS.,2. Die Parameter sind: x = 0,202; z = 0,121. Die berechneten Intensitäten stimmen gut mit den beobachteten Werten überein. Jedes Si-Atom ist tetraedrisch von 4 Se-Atomen umgeben. Da jedes Tetraeder mit dem darüber liegenden zwei Atome gemeinsam hat, kommt es wie beim SiS., zur Ausbildung eindimensional-unendlicher Kettenmoleküle (SiSe2)n in Richtung der b-Achse. Die Si-Se-Abstände in einem Tetraeder betragen 2,23 Â, die Se-Se-Abstände in 1 C. R. S a b a t i e r , C. R. hebd. Séances Acad. Sei. 113, 132 [1891], * Die Auswertung der Weissenberg-Aufnahmen wird erschwert durch die Tatsache, daß die parallel gelagerten feinsten Fasem der Kristalle in der Faserachse häufig verdrillt sind, so daß die Reflexe zu Strichen auseinandergezogen werden. 2 E. Z i n 11 u. K. L o o s e n , Z. physik. Chem. Abt. A 174, 301 [1935]; W. B ü s s e m, H. F i s c h e r u. E . G r u n e r , Naturwiss. 23, 740 [1935].