Angewandte Ethik – Fachkompetenz Martin Lendi1 Die Ethikdiskussion berührt. Dass sie in Lücken einst rational oder religiös fundierter Gewissheiten eindringt und dass sie im öffentlichen Bewusstsein kulminiert, braucht nicht belegt zu werden. Etwas weniger fällt die Nähe zu konkreten Problemwelten auf – eine Konsequenz neuer technologischer Horizonte, in die Zukunft greifender Handlungswirkungen und auch wachsend individualistischer Neigungen inmitten des sozialen Geschehens. Die Debatte in diesen Bereichen folgt nicht den Spuren tradierter kasuistischer Ethiken mit ihren „Fällen“ von der Todesstrafe bis zur Abtreibung, vom Notstand bis zur Notwehr. Sie schliesst ganze Fachbereiche mit ethischen Regeln auf, etwa dort, wo die Umwelt, das Medizinalwesen oder gar die Wirtschaft zu einem zentralen Gegenstand werden. Es sind dies Sachbereiche der angewandten Ethik. Angewandte Ethik Der Begriff der angewandten Ethik signalisiert zweierlei, nämlich Anlehnung an die allgemeine Ethik und gleichzeitig Zuwendung zu Sachbelangen. Den aktuellen Ausgangspunkt für das wachsende Interesse an der angewandten Ethik – Medienethik als weiteres Beispiel – bilden weder Dichte noch Normativitätsanspruch der allgemeinen, sondern Schwierigkeiten der Entscheidungsorientierung in neu wahrgenommenen Sachwelten. Diese waren – unter Vorbehalt des persönlichen Gewissens – als ethikfern eingestuft während langer Zeit vernachlässig worden. Aktuell aber berühren sie das Umfeld des gebotenen Handelns, teilweise bereits im Labor, im Programmentwurf oder im Versuchsstadium. Inmitten der angewandten Ethik werden sachspezifische Grundorientierungen, sektoral geltende Grundregeln, oft sogar breite Normenkataloge aus der allgemeinen Ethik sichtbar. Einige der Vertreter der angewandten Ethiken sehen in ihnen eine Abkürzung gegenüber dem langen Weg von den allgemeinen Aussagen bis zum konkreten Problemfeld und also ein Festmachen spezieller ethischer Vorgaben nahe bei der Fachkompetenz, andere erkennen darin die Bewährung der allgemeinen Ethik in Front konkreter Sach- und Problembezüge. Nähe der Fachkompetenz In den Lehren zu den angewandten Ethiken klafft häufig eine Lücke, nämlich die fehlende Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ethik und Fachkompetenz. Wie verhalten sich diese zueinander? Was geht vor? Darf die Ethik die Fachkompetenz in Frage stellen? Kann ausgewiesene Fachkompetenz der Ethik entbehren? Das Bezugsverhältnis ist auf alle Fälle relevant, denn ethisches Nachfragen trifft, wenn es auf reale Sachbereiche der sich politisch, wirtschaftlich, sozial und technisch wie auch ökologisch verändernden Welt zugeht, notwendigerweise auf Sachfragen und entsprechende Fähigkeiten –und berührt diese. Erkennbar wird die Fachkompetenz, die mehr ist als das fachliche 1 Martin Lendi, Prof. Dr. iur. Dr. h.c.; (em.) o. Professor für Rechtswissenschaft, ETH Zürich; o. Mitglied der (dt.) Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover. Tätigsein, unter anderem an dem mit adäquaten Methoden erarbeiteten Stand des Wissens, gesicherter Erkenntnisse und bewährter Massnahmen, in der Regel sodann an einem überprüfbaren Erfahrungsschatz in Verbindung mit umsichtiger Innovation und sorgfältigem Einführen neuer Techniken, Materialien und Methoden. Die mit der Fachkompetenz verbundene Ernsthaftigkeit schliesst den Imperativ zu hoher Qualität ein. Dahinter stehen Leistungsgebote. Mindestens der Wille zur Fachkompetenz scheint ethischen Ansprüchen zu entspringen, auch wenn sie sich in der Folge nicht moralisch, sondern fachlich ausdrückt. Bei genauerem Zusehen verstecken sich hinter den Überlegungen zur Begegnung von Ethik und Fachkompetenz drei Thesen. Die erste betrachtet Ethik als Teil der Fachkompetenz, d.h. sie spricht der „Fachkompetenz“ just diese (mindestens in Teilen) ab, wenn sie ethisches Bemühen, wie auch immer, nicht aufzunehmen und zu integrieren vermöge. Sie verlangt nach der Gegenwärtigkeit der Ethik im alltäglichen Entscheiden und Handeln. Die zweite akzeptiert den denkbaren und sich häufig einstellenden Konflikt zwischen wissenschaftlich und erfahrungsreich fundierter Fachkompetenz einerseits und Ethik anderseits. Sie versucht aus der Konfrontation Kräfte des moralischen Besinnens zu gewinnen: Reflektierende Urteilskraft bei Störungen. Die dritte vermeint, es gelte gegenüber der speziellen Fachkompetenz normative, allgemeingültige Prinzipien zur Geltung zu bringen, zumal das Besondere des Fachlichen unter das Allgemeine der Ethik zu subsumieren sei. Hinter diesen drei Ansätzen verbergen sich unterschiedliche Mengen und Intensitätsgrade der Ängste und Vorbehalte der Fachleute gegenüber der Ethik, wie umgekehrt unterschiedlich dominierende resp. sich zurückhaltende „Ansprüche“ der Ethik an die Träger der Fachkompetenz sichtbar werden. Klärungen? Die deutsche Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL)2 hat durch einen interdisziplinären Arbeitskreis „Ethik in der Raumplanung“ versucht zu klären, wie es um das Verhältnis von planerischer resp. raumplanerischer Kompetenz und Ethik bestellt sei.3 Eine gewagte Herausforderung. Die Begegnung von Ethik und Sachkompetenz ist nämlich im Bereich des Planens in besonderem Masse heikel, weil Planung als Auseinandersetzung mit der Zukunft den „Planern“ beim Analysieren und Ausrichten der Entwicklung hohe Fachkompetenz abverlangt, sachlich und methodisch, gleichzeitig aber über den Ausgriff in die Zukunft mit dem Doppel von Nicht-Wissen (resp. Ungewissem) und dem DennochHandeln-Müssen ethische Spannweite einschliesst, die bereits im Ansatz Aufmerksamkeit erfordert. Die Akademie verfolgte damit eine Fragestellung, die für die angewandte Ethik zwar nicht neu, in der raumplanerischen Radikalität der Zukunftsorientierung im Verbund mit aktuellem Handeln-Müssen aber exemplarisch sein könnte –und auch ist. 2 Die dt. Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL), mit Sitz in Hannover, besteht aus einem personalen Netzwerk von über 100 ordentlichen und rund 400 korrespondierenden Mitgliedern, sowie einer Vielzahl von Interessenten. Sie alle sind teils der Wissenschaft, teils der Praxis zuzuordnen, jedenfalls stammen sie aus den unterschiedlichsten Disziplinen von der Raumplanung, über Geographie, Ökonomie und Rechtswissenschaft bis zur Ökologie und Soziologie. Aktueller Präsident ist Prof. Dr. H. Zimmermann von der Universität Marburg., Vizepräsidenten sind die Herren a. Staatssekretär Dr. E.-H. Ritter sowie Rektor Prof. Dr. K. Borchard von der Universität Bonn. Präsident des (intern.) Wissenschaftliches Beirates ist Prof. Dr. Günter Heinritz, Universität München 3 Die Publikation des Schlussberichtes erfolgt unter dem Titel Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Ethik in der Raumplanung, Hannover 2004. Der Arbeitskreis wurde durch den Autor dieses Textes moderiert. 2 Angewandte Ethik, so die Spur, welche aufgenommen wurde, bedingt (im Sinne von Kant) „Urteilskraft“, sei es im reflektierenden Umgang mit den Fakten, sei es getragen von Prinzipien gegenüber den Fakten. Im ersten Fall ist die Fachkompetenz von Anfang an herausgefordert, die Gegebenheiten und Prozesse zu durchdringen und dabei – aufsteigend – zu dem vorzustossen, was getan werden muss. Im zweiten fragt sich in einem ersten Schritt, welches die für die Planung massgebenden Prinzipien seien, beispielsweise die moralischen Dimensionen der Verantwortung, der Nachhaltigkeit, der intergenerationellen Gerechtigkeit, der Ehrfurcht vor dem Leben, und erst im zweiten, was dies – absteigend – gegenüber der Fachkompetenz und deren Ausübung aussagt. So oder so, in beiden Varianten, kommt die Fachkompetenz zum Einsatz, wird sie zu einem unabdingbaren Eckstein, in Konfrontation mit der Ethik. Die Folgerung ist gegeben. Weder ersetzt Ethik Fachkompetenz, noch vermag sie diese zu verdrängen, auch dort, wo sie diese fragend bedrängt. Und umgekehrt erübrigt Fachkompetenz moralische Urteilskraft nicht. An sich einfache, beinahe banale Aussagen. Sie aber ernst zu nehmen, fällt schwer genug, Die Ethik muss nämlich ausstehen, dass ausgewiesene Professionalität mit dem Anspruch zur Qualität die Ermächtigung zum ethischen Reden sachlich, örtlich und zeitlich begrenzt oder gar relativiert. Sie darf sich auf alle Fälle dem Fachlichen gegenüber nicht als permanent präsenter Allerweltsmassstab ausgeben. Übereifer diskreditiert. Die Ethik hat sich deshalb vorweg und vor allem als gewichtiges „Grenz“ereignis im Entwurf und bei der Umsetzung der Fachkompetenz zu verstehen, was den alltäglichen Gewissensentscheid, wo er gefordert ist, nicht ausschliesst. Die Fachkompetenz muss auf der andern Seite, mindestens bei Überschreitungen des Aufgabenbereiches und bei inneren Störungen, das ethische Nachfragen zulassen oder das Gespräch mit der Ethik von sich aus suchen. Dass sich Fachkompetenz und Ethik trotz gegenseitiger Respektdistanz letztlich die Hand reichen sollten, macht das Beispiel der Planung nicht minder deutlich. Der notwendige Brückenschlag zwischen dem Nicht-Wissen resp. dem unzulänglichem Wissen und dem Dennoch-Handeln-Müssen, charakteristisch für die Planung, kann nämlich weder ohne Fachkompetenz noch ohne Verantwortungswahrnehmung gelingen. Das Beispiel gebotenen Verzichts auf gewisse Massnahmen bei hoher Ungewissheit möglicher Auswirkungen, verbunden mit der Fähigkeit, Verzichtsnotwendigkeiten aufzugeben, wenn Wissen das Ungewisse einholt, deutet dies an. Und ein weiteres: Planung, besonderes reich an freiem (planerischen) Ermessen abseits gesetzlicher Regelungen, verlangt allein schon unter diesem Titel nach disziplinärer Fachkompetenz, gleichzeitig nach verantwortlicher, ethisch reflektierter Ermessenshandhabung, auch wenn das Recht, das auf einer andern Ebene agiert, von Ungebundenheit spricht und lediglich Ermessensmissbrauch und -überschreitung disqualifiziert. Unruhestifter Weil sich Ethiker nicht dauernd in jede einzelne fachliche Entscheidung einmischen können und dürfen, muss es gelingen, die Urteilskraft Fachkompetenter herauszufordern. Dazu bedarf es erfahrungsgemäss gewisser Hürden. Sie sollen verhindern, dass die stets präsente Fachkompetenz deren Träger gegenüber Störungen und Unterbrüchen, Grenzfragen und Grenzereignissen, blind macht. Durch Schwellen, die zum bedachten Voranschreiten anhalten, soll die Öffnung in kritischen Situationen des Umganges mit Programmentwürfen, bei Ungewissheiten zu Handlungszwängen, unabsehbaren Wirkungen von Massnahmen usw., 3 aber auch bei andern Beurteilungsunsicherheiten, möglich werden. Hürden, Schwellen?: Unruhestifter müssen es sein – mehr nicht. Die Versuchung, solche geistige Unruheherde verkürzend als moralische oder gar rechtliche Gebote und Verbote zu formulieren, beispielweise als „Zehn Gebote“ für Planer, stellt sich ein. Ihr erliegen viele Organisationen, Verbände, Standesvereinigungen. Selbst Akademien sind nicht immun. Eine zweite folgt auf dem Fuss: Sie bevorzugt den kurzen Weg zu alles vereinfachenden Prinzipien, etwa dort, wo das an sich gewichtige der Nachhaltigkeit als Inbegriff des Gebotenen zum verbindlichen Leitbild eng definiert festgeschrieben wird, moralisch-ideologisch oder als Rechtssatz. In der Art eines Kodexes oder sektoraler Prinzipien oder eines umfassenden verbindlichen Nachschlagewerkes verlieren Hürden und Schwellen, die nicht Wegweiser des richtigen Weges, sondern Mahner des Innehaltens sind, ihre tiefer wurzelnde Funktion des fragenden Ausrufezeichens. Die für die Ethik so bestimmende Grundannahme der Freiheit des besonnenen Handelns, die zur Verantwortung befähigt, würde durch Abkürzungen und Rezepte entmündigt. Herausforderungen zum Besinnen zu formulieren, hält schwer.4 Gesetzestechnik zu kopieren genügt nicht. Angewandte Ethik lebt eben nicht von Regeln und Vorschriften, sondern von der motivierten und motivierenden Urteilskraft hin zu einem Besinnen auf besonnenes, gewissenhaftes Handeln, unter Hochachtung vor der Fachkompetenz, die sich allerdings dem Spannungsfeld zur Ethik nicht entziehen kann und darf. Küsnacht, 14. Dezember 2003 4 Die Akademie ARL muss dies noch leisten. Dem Arbeitskreis gelang es bis anhin nicht, die Kunst des Formulierens von Hürden vorzuzeichnen, auch wenn er Versuche zur Kenntnis nahm. 4