Die fünf leeren Tage - Deutsches Ärzteblatt

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Feuilleton
V A R I A
Jahresende
Die fünf leeren Tage
Die letzten Tage im
Jahr wurden von den
indianischen Hochkulturen als Unheil bringend
angesehen.
D
ass die Wissenschaft die
Hochkulturen der Maya
und Azteken Sonnenkönigreiche nennt, hat einen
einfachen Grund: Was immer
dort geplant und unternommen wurde, von der Aussaat
bis zur Ernte, vom Krieg bis
zum Frieden, hing ab vom
Stand der Himmelskörper,
vor allem dem der Sonne.
Beide Kulturvölker entwickelten deshalb einen ähnlichen Kalender, zu dessen
Berechnung sie sich ausgefeilter mathematischer Systeme
bedienten, die die heutigen
Wissenschaftler in Erstaunen
versetzen.
Der Sonnenkalender mit
achtzehn Monaten zu zwanzig Tagen und den verhängnisvollen fünf „leeren“ Tagen
zu Ablauf einer Zeitepoche
ergab ein „Sonnenbündel“ –
ein Jahr. Daneben existierte
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ein weiteres rituelles, oft als
Wahrsagekalender bezeichnetes System aus 13 mal 20
Tagen. Die Verknüpfung der
beiden Kalender erlaubte eine eindeutige Namensbezeichnung für jeden Tag, die
sich in dieser Zahlenkombination nur alle 52 Jahre wiederholte.
Fünf „leere“ Tage blieben den
Azteken vor dem Ablauf ihres
Jahres – Tage der Gefahr. Im heutigen Mexiko finden noch immer
zahlreiche Prozessionen statt, in
denen die alten Todesvorstellungen lebendig sind. Foto: Roland Motz
Fünf so genannte leere Tage blieben den Azteken und
den Maya vor dem Ablauf ihres Jahres – eine Zeitspanne
unberechenbarer Gefahren.
Die fünf namenlosen, leeren
Tage am Jahresende wurden
von den indianischen Hochkulturen Mittelamerikas als
Unheil bringend angesehen.
Wenn die Priester die gefährlichen „nemontemi“ und damit das bevorstehende Ende
eines Jahres verkündeten, befiel die Azteken Furcht. Die
Arbeit ruhte. Die Feuer wurden gelöscht. Man fastete und
lebte enthaltsam. Alle warteten voller Angst und Unruhe
auf die Abenddämmerung
des fünften Tages, wenn die
Priesterastronomen die Kalenderbücher befragen würden, in den frisch blutenden
Wunden der Geopferten ein
neues Feuer entzünden und
den Fortbestand der Welt verkünden würden.
Besonders dramatisch wurde die Situation am Ende eines ganzen Sonnenzeitalters,
also nach jedem Zyklus von
52 Jahren, eingeschätzt, nach
dem der Weltuntergang un-
mittelbar bevorstand. Der aztekische Dichterkönig Nezahualcoyotl schrieb anlässlich eines solchen Jahreswechsels:
„Die ganze Erde ist ein
Grab, und nichts entgeht ihr;
nichts ist so vollkommen,
dass es nicht fällt und verschwindet. Was gestern war,
ist heute nicht mehr, und was
heute lebt, kann nicht hoffen,
morgen zu sein.“
Der Sinn des Lebens bestand für die Azteken darin,
die guten Götter an sich zu
binden und den Einfluss der
schädlichen zu begrenzen.
Durch den ständigen Zwist
zwischen den Göttern waren
bereits vier Welten nacheinander durch Stürme, Feuer,
Vulkanausbrüche und Überschwemmungen zugrunde gegangen. Die Azteken wähnten
sich in der Welt der Fünften
Sonne, deren Ende durch Erdbeben vorherbestimmt und
nur eine Frage der Zeit sei.
Der Kriegsgott Huitzlopochtli
musste jeden Morgen gegen
die Nacht, die Sterne und den
Mond ankämpfen, um siegreich die Sonne ans Firmament
zu begleiten. Die Azteken
mussten ihn unterstützen und
brachten ihm das Wertvollste
dar, was sie hatten: Menschenopfer. Nur so ließ sich der Fortbestand der Welt sichern.
In diese zerbrechliche Welt
des Unheils und der Naturkatastrophen brachen die Spanier just am dritten leeren Tag
der verlöschenden fünften
Sonne ein. „Erdbeben werden das Land aufwühlen, Feuer und Asche werden das
Land unter ihrer Last begraben“, prophezeiten die Azteken den spanischen Siegern
in der Todesstunde der fünften Sonne. Und so ist es gekommen. Geblieben ist den
Mexikanern eine 24 Tonnen
schwere runde Steinplatte,
die 1790 bei Bauarbeiten an
der Kathedrale wiedergefunden wurde. Der aztekische
Kalenderstein, der einstmals
auf der großen Pyramide des
Huitzlopochtli stand, ist heute Mittelpunkt des anthropologischen Museums in der
Hauptstadt und nationales
Symbol Mexikos. Roland Motz
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 Heft 1
 Januar 2003
Deutsches Ärzteblatt
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