Religion und Gesellschaft Band 1 herausgegeben von Wilhelm Schwendemann FEL Evangelische Hochschulperspektiven Die Reihe Evangelische Hochschulperspektiven will die fachliche Arbeit der vier beteiligten Hochschulen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Forschung einer interessierten Öffentlichkeit exemplarisch darstellen. Die Reihe versteht sich als wissenschaftliche Fachpublikation, die jährlich einen Band mit einem interdisziplinären Fokus hervorbringt, der sich an einem aktuellen Thema gesellschaftlicher Entwicklung im Bereich des Bildungs-, Gesundheits-, Sozialwesens orientiert. Dabei soll das kirchliche Profil der Hochschulen inhaltlich ebenso zum Tragen kommen wie die verschiedenen Fachbereiche bzw. Studiendisziplinen der beteiligten Hochschulen. Band 1: Bildung ISBN 3-932650-17-4 2005 208 Seiten 12,00 Euro Band 2: Interkulturalität ISBN 3-932650-20-4 2006 252 Seiten 12,00 Euro Band 3: Soziale Gesundheit ISBN 3-932650-23-9 2007 320 Seiten 15,00 Euro Band 4: Evangelisch - Diakonisch ISBN 978-3-932650-23-1 2008 288 Seiten 15,00 Euro Band 5: Armut – Gerechtigkeit ISBN 978-3-932650-36-9 2009 304 Seiten 15,00 Euro Band 6: Gestaltung und Rationalisierung ISBN 978-3-932650-40-6 2010 222 Seiten 16,00 Euro Band 7: Familie(n) – Geschichte(n) ISBN 978-3-932650-48-2 2011 320 Seiten 15,00 Euro FEL – Forschung, Entwicklung, Lehre ist der Verlag des ‚Forschungs- und Innovationsverbundes an der Evangelischen Hochschule Freiburg‘ FIVE, vormals Kontaktstelle für Praxisorientierte Forschung. Seit Anfang der 90er Jahre erscheinen im Eigenverlag Forschungs- und Projektberichte aus der Arbeit des Instituts. Unter dem Namen FEL werden neuerdings auch Unterrichtsmaterialien und Lehrbücher sowie Tagungsberichte und Reader/Festschriften verlegt. Der Islam in der Diskussion These und Antithese Sadik Hassan Religion und Gesellschaft Band 1 / 2011 © 2011 FEL Verlag Forschung – Entwicklung – Lehre FIVE Forschungsinnovationsverbund an der Evangelischen Hochschule Freiburg, Satz, Layout und Druckbegleitung: Heike Kammerer, Waldkirch Grafikvorlagen:Traugott Wöhrlin Redaktion: Matthias Schwendemann, Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann Bestelladresse: Verlag FEL, EH Freiburg, Bugginger Str. 38, 79114 Freiburg Telefon: 0049 (0)761 47812-57, Fax: 0049 (0)761 47812-22 E-Mail:[email protected] Internet:www.fel-verlag.de ISBN 978-3-932650-47-5 160 Seiten 19,- € Meinen lieben Kindern Miriam und Haider 1 Inhalt 0Vorwort (von Wilhelm Schwendemann).............................................................................. 9 1Einführung..............................................................................................................................13 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 Worüber reden wir eigentlich?..............................................................................................17 Die historischen Beziehungen...................................................................................................17 Die theologische Beziehungen..................................................................................................18 Die Beziehung Vater/Sohn im Christentum, bezogen auf die Beziehung Gott/Jesus...............21 Die Kreuzigung Jesu.................................................................................................................21 Die Trinitätslehre des Christentums .........................................................................................22 3 Der politische Islam................................................................................................................25 3.1Begriffsklärung.........................................................................................................................25 3.2 Ursachen für das Entstehen des politischen Islam....................................................................26 3.3 Identität und Identitätsverlust...................................................................................................27 4 Zweideutigkeiten und Widersprüche im Denken der religiös-politischen Bewegungen............................................................................................35 5 Der Koran ist das Problem.....................................................................................................43 6 Die gesellschaftliche Rolle der Frau ist auch ein Problem..................................................51 6.1 Die Erschaffung der Frau..........................................................................................................53 6.2 Die Sünde..................................................................................................................................53 6.3 Frau als Beute...........................................................................................................................54 6.4 Die Stellung der Frau in der Gesellschaft.................................................................................55 6.5Verhalten...................................................................................................................................55 6.6Bekleidung................................................................................................................................56 6.7Erbschaft...................................................................................................................................58 6.8Eheschließung...........................................................................................................................60 6.9Scheidung..................................................................................................................................64 6.10 Die Gleichberechtigung............................................................................................................64 7 Terror und Gewalt im Namen der Religion..........................................................................67 8 Und trotzdem wird missioniert..............................................................................................79 9 Der Islam und die Demokratie...............................................................................................89 9.1Einleitung..................................................................................................................................89 9.2 Persönliche Freiheit..................................................................................................................90 9.3 Gleichheit unter den Menschen................................................................................................91 9.4Gerechtigkeit.............................................................................................................................91 9.5 Das Recht des Anderen.............................................................................................................92 10 Einblicke in die islamische Kultur..................................................................................... 101 Die islamische Philosophie als Teil der Kultur...................................................................117 Islamische Philosophie............................................................................................................117 Die Gottesgerechtigkeit (al-̔Adl)............................................................................................ 121 Der Monotheismus (at-Tawhīd)............................................................................................. 121 Das Versprechen (al-Wa‘d wa al-Wa‘īd)................................................................................ 121 Der Zwischenrang des Ungehorsams (al-Manzila bayna al-Manzilatayn)............................ 122 Das Gute befördern und das Schlechte verhindern (al-’amr bi l-maʼrūf wa nahiy ʼani lmunkar).................................................................................................................................. 122 11.7Aš‘ariten................................................................................................................................. 123 11.8 Murǧiʼiten.............................................................................................................................. 124 11.9Al-Kindi................................................................................................................................. 125 11.10Abu Bakr ar-Rāzī................................................................................................................... 126 11.11Ibn ar-Rāwandī....................................................................................................................... 126 11.12Brüder der Reinheit................................................................................................................ 127 11.13Ismaeliten............................................................................................................................... 128 11.14Al-Mišāʼiya............................................................................................................................ 128 11.15Ibn Sīnā.................................................................................................................................. 129 11.16Ibn Rušd................................................................................................................................. 129 11.17Sufismus................................................................................................................................. 130 11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6 12 Unser Gott und euer Gott ist einer..................................................................................... 135 13 Integration oder Assimilation?........................................................................................... 141 13.1Einleitung............................................................................................................................... 141 13.2 Die Gruppe der sog. „Gastarbeiter“....................................................................................... 142 13.3 Die Gruppe der Asylanten:..................................................................................................... 146 14Schlussbetrachtung.............................................................................................................. 155 15Literatur................................................................................................................................ 159 0 Vorwort (von Wilhelm Schwendemann) Eine andere Sicht auf den Islam In den letzten zwanzig Jahren sind religiöse, gesellschaftliche und politische Fragestellungen um den Islam vermehrt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung getreten. Oft war diese gesteigerte Aufmerksamkeit eine natürliche Folgeerscheinung der vielfältigen Berührungspunkte innerhalb der multikulturellen-westlichen Gesellschaften, die sich durch einen gewachsenen Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund ergaben. Trotz aller Probleme, die sich in diesen Gesellschaften zwangsläufig beobachten ließen und noch heute lassen, war genau diese gewachsene Aufmerksamkeit auch Ausdruck eines tiefergehenden Interesses, das man am Anderen empfand und weiter entfaltete und das sich nicht selten sogar zur Faszination auswuchs. In vielen Fällen allerdings wurden der Islam, die Muslime und die islamisch geprägten Staaten zu potenziell gefährlichen gesellschaftlichen Antagonisten stilisiert, die in ihren Grundlagen bestimmten Wertvorstellungen geradezu konträr gegenüberstehen, die in der Regel mit den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte in den westlichen Gesellschaften assoziiert werden. Das Bild eines rückständigen und fortschrittsfeindlichen Islam gehört heute ebenso zu den Topoi der herrschenden gesellschaftlichen und medialen Diskurse, wie die Assoziation des Islam mit Begriffen wie Gewalt und Fundamentalismus. Gerade nach den Anschlägen auf das World Trade Center und die Terrorattacken in Europa und Nordafrika geriet jedoch mit der Religion des Islam auch eine große geografische Region der Welt in den Fokus der Öffentlichkeit, in der der Islam als wichtiges Bezugssystem über Jahrhunderte hinweg einen prägenden Einfluss auf die Gesellschaften und das alltägliche Leben der Menschen hatte und noch bis heute besitzt. Eine Folge dieses gesteigerten medialen Interesses an den islamisch geprägten Regionen der Welt war, dass sich eben diese Gesellschaften immer öfter Vergleichen mit den westlichen Gesellschaften ausgesetzt sahen, durch die die Grundlagen dieser Gesellschaften immer wieder aufs Neue auf die Probe gestellt wurden und sich in Abgrenzung zu anderen Gesellschaft rechtfertigten mussten. Auch wenn heute immer deutlicher wird, dass etwa der Vorwurf, der Islam benötige eine innere Reformbewegung, der protestantischen Reformation des 15. und 16. Jahrhunderts vergleichbar, um endlich in der modernen Welt anzukommen, verfehlt ist und gravierende kulturelle und gesellschaftliche Realitäten außer Acht lässt, so scheint die anhaltende westliche Kritik der letzten Jahrzehnte doch nicht völlig auf taube Ohren gestoßen zu sein. Nach und nach wurden Zustände und Prozesse in Frage gestellt, die lange als nicht angreifbar galten. Die Stimmen gesellschaftlicher Reformbewegungen, die ihren Ursprung in den islamischen Gesellschaften haben, und ganz gleich ob sie einen religiösen oder einen säkularen Charakter besitzen, werden seit einigen Jahren immer deutlicher und immer häufiger vernehmbar und ganz sicherlich leistet das Internet durch seine vielfältigen Möglichkeiten blitzschneller Kommunikation und dem Austausch von Unmengen an Informationen diesen Entwicklungen Vorschub. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten diese Prozesse am 10 Der Islam in der Diskussion Anfang des Jahres 2011, als durch Volksaufstände in Tunesien und Ägypten die langjährigen Despoten Ben Ali und Hosni Mubarak zum Rücktritt gezwungen wurden; in den Anfangsmonaten dieses Jahres wurde eine Bewegung geboren, die heute unter dem Namen „arabischer Frühling“ bekannt ist und noch bis heute andauert und noch lange nicht abgeschlossen scheint. Diese Aufstände in den arabischen Gesellschaften scheinen zunächst darauf abzuzielen, Missstände zu beseitigen, die primär mit den Figuren der langjährigen Machthaber assoziiert werden, dass diese nun angestoßenen Reformbewegungen allerdings Chancen eröffnen, viel tiefer zu gehen und das auch müssen, wird sehr bald deutlich werden und auch die vorliegende Untersuchung Sadik Hassans lässt sich in eben diese größeren Kontexte einordnen. Bei der Suche nach den letztlich entscheidenden Gründen für den Ausbruch des „arabischen Frühlings“ treten mit der Zeit immer mehr Faktoren ins Blickfeld der WissenschaftlerInnen. Neben den offensichtlichen und von den Massen auf den Straßen angeprangerten Faktoren Korruption und Unterdrückung durch die herrschenden Klassen, fallen vor allem die Perspektivlosigkeit der Massen und die daraus folgende hohe Arbeitslosigkeit, die mit wirtschaftlichen Schwächen eng verbunden scheint, und besorgniserregende demografische Entwicklungen auf. Die arabischen Gesellschaften sind heute sehr jung und die jungen Menschen in diesen Gesellschaften einem großen Erfolgsdruck ausgesetzt, der viele gut ausgebildete junge Leute letztlich ohne Arbeit und ohne Perspektive auf Veränderung zurücklässt. So war etwa in Tunesien das letztlich auslösende Ereignis, das die Massen auf die Straße brachte, die öffentliche Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohammed Buazizi, der schlicht keine andere Möglichkeit mehr sah, auf sich aufmerksam zu machen. Emmanuel Todd etwa führt die arabischen Erhebungen sogar ganz ausschließlich und ausdrücklich auf diese demografischen Entwicklungen zurück und sieht die aktuellen Entwicklungen außerdem als regelhaft und kontinuierlich ablaufende Prozesse, die in Verbindung mit einer voranschreitenden Alphabetisierung der Massen stehen.1 Der deutsch-ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad sprach bei einem Vortrag an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Juli 2011 davon, dass die arabische Welt derzeit einen Prozess der Götterdämmerung durchlaufe, in dessen Fortgang die alten, überkommenen Götterfiguren nach und nach durch die Menschen gestürzt würden. Er ging in seinem Vortrag außerdem davon aus, dass bestimmte religiöse Dogmen, die seit Jahrhunderten in der islamischen Welt, ohne je ernsthaft hinterfragt worden zu sein, das tägliche Leben bestimmen, mitverantwortlich sind für eine gesellschaftliche Situation, in der sich an vielen Stellen in der arabisch-islamischen Welt diktatorische Strukturen entwickeln konnten. Der Schluss liegt nahe, dass eben diese theologischen Dogmen und Überzeugungen genauso wie die gesellschaftlichen Realitäten sehr sorgfältig geprüft und untersucht werden müssen. Das jetzt bereits spürbare Ergebnis des „arabischen Frühlings“ ist es, 1 Vgl. zu den Thesen Todds etwa: Todd, Emmanuel: FREI! Der arabische Frühling und was er für die Welt bedeutet; im Gespräch mit Daniel Schneidermann. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann, Piper, München, 2011. Vorwort (von Wilhelm Schwendemann) 11 dass genau dies heute auch aus der Mitte der arabischen und islamischen Gesellschaften möglich wird. Politiker und Theologen werden kritisiert und für ihre Handlungen und Äußerungen zur Rechenschaft gezogen, der Konnex zwischen politischem Handeln und religiöser Rechtfertigung, der sowohl politische als auch religiöse Führerfiguren so lange unangreifbar machte und eine quasi göttliche Immunität garantierte, wird Stück für Stück aufgebrochen. In diesen Kontext der Erneuerung und der theologischen Diskussion ordnet sich nun auch das vorliegende Buch von Sadik Hassan ein. Die Idee für diese Untersuchung allerdings entstand bereits, als Ereignisse wie der „arabische Frühling“ noch als träumerische und völlig fantastische Utopien abgetan wurden. Bereits damals war jedoch offensichtlich, dass innerhalb der islamischen Theologie fundamentalistische Diskurse bestimmend geworden waren und mit ihnen Arten des Zugriffs auf die Grundlagen des Islam, die Aussagen des Korans und der Sunna oft wörtlich interpretierten und auslegten und auf eine sehr problematische Weise einen scheinbar einfachen Zugriff zu einer immer komplizierteren Welt boten und darüber hinaus in vielerlei Hinsicht Grundaussagen des Korans und die theologischen Pfeiler des Islam außer Acht ließen. Es war also offensichtlich, dass eines der Felder, die einer Erneuerungsbewegung bedurften, das Feld der aktuell praktizierten Theologie in den islamischen Ländern war. Im historischen Überblick, den Hassan in diesem Buch gibt, wird darüber hinaus deutlich, dass dieser verengte Diskurs der islamischen Theologie ein Phänomen der letzten Jahrhunderte darstellt und also im Kontext der gesamten Geschichte des Islam analysiert und verstanden werden muss. Sadik Hassans Untersuchung in diesem Buch dreht sich um die Grundfrage, was wir als gläubige Menschen tun können, um die Gesellschaft der großen Konfrontationen in eine friedlichere Gesellschaft des gegenseitigen Austausches verwandeln zu können. Eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielt die Art unseres theologischen Zugriffs auf die Quellen unserer Religion, deshalb werden die Thesen der islamistischen Diskurse in diesem Buch offen zur Diskussion gestellt und anhand der islamischen Quellen auf ihre argumentative Überzeugungskraft geprüft. Als umso glücklicherer Umstand stellt es sich also dar, dass die Thesen dieser Untersuchung durch die Ereignisse der arabischen Erhebungen in Tunesien, Ägypten, Syrien und Bahrein verdeutlicht werden und gleichzeitig die Möglichkeit besteht, in Rückbezug auf die Ereignisse des „arabischen Frühlings“, in gesellschaftlichen wie auch in theologischen Auseinandersetzungen völlig neue Wege zu bestreiten. Heute bietet sich uns die einzigartige Möglichkeit, die fundamentalistischen und reaktionären Diskurse innerhalb des Islam, die in den letzten Jahrzehnten medial zu den hegemonialen Diskursen wurden, einer Prüfung anhand der eigenen Quellen des Islam, und eben nicht westlichen Wertvorstellungen, zu unterziehen und diese Diskurse also argumentativ zu entkräften. Die vielen Fragen und Thesen, die der Autor hier aufgreift, hängen außerdem eng mit seinen eigenen Erfahrungen in der irakischen Demokratiebewegung zusammen, die der Autor sowohl als Journalist als auch als Wissenschaftler in den letzten Jahren tatkräftig und unermüdlich unterstützte. Sadik Hassan handelt in diesem Buch alle Fragen ab, die den öffentlichen Diskurs um den Islam in den westlichen Gesellschaften bestimmen. So 12 Der Islam in der Diskussion geht der Autor in den Kapiteln 3-5 sowohl auf das Phänomen des politischen Islam als auch auf die Unstimmigkeiten ein, die sich innerhalb der fundamentalistischen Bewegungen des Islam in Bezug auf die Quellen des Islam, den Koran und die Sunna des Propheten Mohammed, ergeben. Hassan geht sowohl der Frage nach, welche Rolle der Koran selbst bei der Entstehung dieser Diskurse spielt und inwiefern bestimmte Überzeugungen aus Fehlern bei der Auslegung des Koran resultieren und dann zu gewalttätigen Ausbrüchen im Namen der Religion des Islam führen. In den weiteren 6-9 Kapiteln untersucht der Autor die gesellschaftliche Rolle der Frau innerhalb des Islam anhand verschiedener Textstellen des Korans, die im Vergleich mit Auszügen aus Altem und Neuem Testament analysiert werden. Im Folgenden stehen vor allem die Fragen danach im Vordergrund, wie sich das Verhältnis zwischen Islam und Demokratie heute darstellt und welche Bedeutung die Missionsbewegungen innerhalb des Islams innerhalb demokratischer Strukturen und Prozesse besitzen. In den nun folgenden Kapiteln 10-12 eröffnet der Autor Perspektiven auf die Ursachen und Hintergründe vieler der heutigen Probleme, indem er detaillierte Einblicke in die islamische Kultur und Philosophie gibt und in die Grundzüge des Denkens verschiedener islamischer Theologen und Philosophen einführt und deren Differenzen verdeutlicht. Kapitel 13 schließlich schlägt dann eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart und setzt sich mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen in Hinblick auf die Möglichkeiten von Integration und die Gefahren von Ausgrenzung auseinander. An dieser Stelle ist noch anzumerken, dass es dem Autor ein besonderes Bedürfnis war, komplizierte Zusammenhänge in einer Weise darzustellen, die es einer Vielzahl von Lesern und Leserinnen ermöglicht, Zugang zu Fragen zu finden, die den Islam betreffen und sich dann mit diesen Fragestellungen und auch mit den Thesen des Autors auseinandersetzen zu können, um dann die Thesen, die in diesem Buch aufgegriffen und dargestellt werden, in gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Prozessen weiterzuentwickeln. Wilhelm Schwendemann Freiburg, im Oktober 2011 1 Einführung In jeder Religion finden sich Anhänger, die das Wesen ihrer Religion dadurch verfälschen, dass sie unter einem religiösen Deckmantel politische und ideologische Zielvorstellungen verfolgen, die nicht mit den Grundlagen dieser Religionen vereinbar sind. Parallel dazu gab es aber auch immer wieder Versuche, die Religionen von eben diesen Perlusionen zu befreien. Die Geschichte der drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – bildet da keine Ausnahme. Was den Islam angeht, so haben viele seiner Anhänger seit dem Zusammenbruch des Kalifats der vier rechtgeleiteten Kalifen im Jahre 661 n.Chr. bis heute diese Verzerrungen der Religion des Islam von einer Generation zur nächsten weitergereicht. Über die Jahrhunderte hinweg haben sich viele der verschiedenen Gruppierungen der islamischen Religion gegenseitig auf das Heftigste bekämpft, wobei jede für sich in Anspruch nahm, die einzig rechtmäßige Vertreterin der islamischen Religion zu sein. Im Laufe der Zeit beschränkte sich dieser Kampf jedoch nicht mehr allein auf Glaubensfragen oder theologische Differenzen. Zunehmend ging es dabei auch um politische Interessen und ganz besonders um das Erlangen politischer Macht. Die Religion verkam zu einem Instrument politischer Machtkämpfe unter den verschiedenen islamischen Organisationen. Manche Ulema (ʿulamāʾ)2 oder Theologen versorgten ihre jeweiligen Glaubensrichtungen mit politischen Ideen oder Argumentationen und versuchten so, eigene Machtansprüche dauerhaft zu legitimeren. Solche Ulema haben die islamischen Gesellschaften heute noch. Sie predigen die Unterstützung der Despoten in diesen Gesellschaften, weil sie selbst und die durch sie vertretenen Gruppen von deren politischer Macht profitieren. Ihre Unterstützung begründen sie beispielsweise mit dem koranischen Vers 4,59, in dem es heißt: O ihr, die ihr glaubt, gehorchet Gott und gehorchet dem Gesandten und den Zuständigen unter euch.3 (AK). In der Lesart dieser Ulema sind heute die politischen Machthaber zu verstehen, wenn in diesem Vers von den „Zuständigen“ die Rede ist. 2 3 Der arabische Begriff ʿulamāʾ [erscheint im Folgenden als Ulema] bezeichnet die Gruppe der islamischen Religions- bzw. Schriftgelehrten. Die Gruppe der Religionsgelehrten im Islam ist in sich heterogen und nicht Ergebnis einer einheitlich geregelten theologischen Ausbildung. Vielmehr wird der Begriff auf solche Personenkreise angewendet, die sich Wissen um die Quellen angeeignet haben. Die Koran-Übersetzungen stammen aus zwei Quellen. Die erste Quelle ist: Khoury, Adel Theodor: Der Koran, Gütersloh 2007, 4.Auflage. Im Text wird diese Quelle mit der Abkürzung (AK) verdeutlicht. Die zweite Quelle ist: Kirche und Theologie im Web unter theology.de. Diese Quelle wird im Text mit (KT) verdeutlicht. Die Nummerierung der koranischen Verse zeigen als erste Zahl die Nummer der Sure (Kapitel) und als zweite Zahl die Nummer des Verses innerhalb dieser Sure. 14 Der Islam in der Diskussion Die Vermengung von Religion und Politik bzw. politischer Macht hat in den islamischen Gesellschaften das Phänomen des politischen Islam hervorgebracht. Diese Art der Interpretation der islamischen Religion steht im Widerspruch zur himmlischen Religion, die nur klare und feste Prinzipien kennt und daher im Gegensatz zu den wechselhaften politischen Entscheidungen und Interessen steht. Einige Ulema haben aus der Religion eine politische Ware gemacht, mit der sie auf dem weltweiten Markt handelten und heute noch handeln. Gott wollte mit der islamischen Religion den Menschen einen geraden Weg zeigen, auf dem sie ihr Leben im Sinne der Gottesnähe gestalten könnten. Diese Ulema jedoch spekulieren mit der Religion. Durch diese Spekulationen auf politischer Ebene hat sich die himmlische Religion von ihren himmlischen Prinzipien mit der Zeit so weit entfernt, dass die Fundamentalisten keine klare Definition für ihre neue Religion mehr anbieten können. Vielfach verwickeln sie mit ihren Auslegungen die islamische Religion in Widersprüche mit ihren Grundregeln und bringen sie damit in Misskredit. Es entstand eine neue Religion, deren oberste Priorität die politische Macht war, während die Verwirklichung der religiösen Prinzipien immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. Damit ist der politische Islam bei vielen Menschen innerhalb und außerhalb der islamischen Gesellschaften als Synonym zum himmlischen Islam geworden. Um diese Situation zu bewältigen und die Dekadenz in den islamischen Gesellschaften aufzuhalten, sind viele Reformen absolut notwendig. Die bislang in dieser Richtung unternommenen Bemühungen – etwa von den muslimischen Theologen Mohammed Abduh4 am Ende des 19. Jahrhunderts oder Ǧamāl al-Bannā heute -, sind gescheitert. Der Grund für dieses Scheitern ist in der Art und Weise zu suchen, wie die Reformprogramme eingesetzt wurden. Es wurde versucht, das religiöse Denken der Muslime zu beeinflussen, ohne ihnen gleichzeitig die Möglichkeit zu bieten, ihren Bildungsstand zu verbessern. Aber gerade die fehlende Bildung stellt den Hauptgrund für den gesellschaftlichen Rückstand in den islamischen Gesellschaften dar. Eine Verbesserung dieser Situation lag und liegt jedoch nicht im Interesse der politischen Ulema. Ein gebildeter Muslim wäre in der Lage, zwischen himmlischer und irdischer Religion, also der Religion der Ulema, zu unterscheiden – mit der Folge, dass diese Ulema ihre Behauptungen nicht mehr so ohne Weiteres durchsetzen könnten. Mit ihrer Interpretation der religiösen Texte möchte diese politische Richtung die Herrschaft auf beiden Ebenen, auf der politischen und der religiösen, erlangen. Diese Ulema wollen die Menschen im Namen der Religion führen und dabei sowohl die Rolle der religiösen Führer, wie die der Politiker, spielen. Begründet wird dieser Anspruch mit dem Propheten des Islam selbst, mit Mohammed, der seinerzeit in der Gesellschaft des 7. Jahrhunderts n.Chr. diese beiden Rollen eingenommen hatte. Mit einem solchen Vergleich begehen die Ulema jedoch gleich zwei Fehler und widersprechen außerdem ihren eigenen Thesen. Der erste Fehler ist der Vergleich überhaupt, da sie selbst immer davon ausgehen und diese Meinung auch verbreiten, dass der Prophet Mohammed 4 Vgl. Sedgwick, Mark (2010): Muhammad Abduh, Oxford [u.a.]: Oneworld. Einführung 15 eine Sonderstellung innerhalb seiner Gesellschaft gehabt hätte, die aber tatsächlich von keinem Menschen auf dieser Erde erreicht werden kann. Und der zweite Fehler ist die Übertragung der gesellschaftlichen Situation des 7. Jahrhundert auf heutige Verhältnisse und die Meinung, damaliges Handeln besitze auch im 21. Jahrhundert noch unveränderte Gültigkeit. Es stellt sich nun die Frage: Welche Rolle spielen die „poligiösen“ (politisch-religiösen) Ulema bei der Entwicklung ihrer Gesellschaften? Die klare Antwort hier lautet: eine hemmende. Die Ulema stellen sich heute vielfach gegen die Verbesserung des Bildungsstandes, die mittels Änderung der Bildungspläne bzw. Bildungsprogramme möglich wäre. Sie versuchen, jeglichen Kontakt ihrer Gesellschaften mit der modernisierten Welt und mit den Errungenschaften der heutigen Zivilisation zu verhindern oder einzuschränken. Die Tragödie der islamischen Religion liegt also nicht in den Prinzipien der islamischen Religion, sondern in den Interpretationen der Ulema, die zu einem rückständigen, fundamentalistischen Diskurs führen. Der islamische religiöse Diskurs ist ein Instrument der Unkenntnis der vielen Menschen, die bei der Beschaffung ihrer religiösen Informationen auf die Ulema angewiesen sind. Der religiöse Diskurs wird von den Ulema als ein göttlicher, heiliger Diskurs dargestellt, jegliche Kritik daran wird zur Gotteslästerung erklärt. Jeder Mensch, der ein wenig gebildet ist, weiß, dass der Inhalt religiöser Texte von den Menschen unterschiedlich interpretiert werden kann, dabei allerdings nur eine menschliche und keine göttliche Dimension erreicht. Manche Interpretationen der fundamentalistischen Ulema stehen sogar in klarem Widerspruch zum Koran. So ist z.B. an keiner Stelle des Korans die Rede davon, dass ein Muslim, der seine Religion wechseln oder verlassen will, mit der Todesstrafe bedroht wird, wie das die Ulema in ihren Interpretationen glauben machen wollen. Diese Art der Bestrafung steht im Widerspruch einer Reihe von Koranischen Versen, wie etwa: Und sprich: Es ist die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, möge glauben, und wer will, möge ungläubig sein. […] (18,29) (AK). Oder: Es gibt keinen Zwang in der Religion. […] (2,256) (AK). Eine ganze Menge weiterer Verse deutet darauf hin, dass die Religionsfreiheit ein göttliches Angebot ist. Wenn aber einige Ulema sich auf eine angebliche Aussage des Propheten Mohammed stützen und behaupten, er hätte die Todesstrafe gegen diejenigen gefordert, die den Islam verlassen wollten, so bringen sie die gesamte prophetische Botschaft des Islam in Misskredit, denn der Koran zeigt Mohammed genau, was seine Aufgabe ist, nämlich: Der Islam in der Diskussion 16 […] Und Wir haben zu dir die Ermahnung herabgesandt, damit du den Menschen deutlich machst, was zu ihnen herabgesandt worden ist, und damit sie vielleicht nachdenken. (16,44) (AK). Es geht also darum, die göttliche Botschaft, so wie sie ist, zu erklären, und nicht darum, sie durch neue und zusätzliche Verordnungen zu ersetzen. Die himmlische Religion will die Unterschiede zwischen den Menschen nicht abschaffen, sondern sie möchte, dass sich die Menschen in ihrem Anderssein kennen lernen und ihre Kenntnisse miteinander austauschen können: O ihr Menschen, Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. […] (49,13) (AK). Oder: […] Für jeden von euch5 haben Wir eine Richtung und einen Weg festgelegt. Und wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch will Er euch prüfen in dem, was Er euch hat zukommen lassen. So eilt zu den guten Dingen um die Wette. Zu Gott werdet ihr allesamt zurückkehren, dann wird Er euch kundtun, worüber ihr uneins wart. (5,48) (AK). Im vorliegenden Buch werden diese und andere Themen behandelt, die aufgrund der Interpretationen der religiösen Texte nach den Vorstellungen mancher Ulema unter den einfachen Menschen verbreitet und als die wahre Religion dargestellt werden. Es werden Thesen behandelt, die heute von vielen Muslimen als Teil der muslimischen Botschaft verstanden werden und deshalb einen hohen Wert in der Ausübung der Religion besitzen, obwohl sie lediglich ein Teil bestimmter Traditionen und nicht der Religion sind. Es gibt sehr viele Erscheinungen in der islamischen Welt, die in den unterschiedlichen Traditionen ihrer Gesellschaften wurzeln, sie wurden aber als Teil der Religion betrachtet und dementsprechend bewertet. Diese aus der Lebenspraxis der Muslime erwachsenen Situationen und kulturelle Prozesse werden den Tatsachen der heutigen Entwicklung der Gesellschaften gegenübergestellt und diskutiert, in der Hoffnung, dass das Bild des Islam in Europa mit anderen Augen gesehen werden kann. Sadik Hassan, Freiburg 2011 5 Hier sind die Propheten Gottes gemeint. Als Propheten werden im Islam jene Personen bezeichnet, die von Gott auserwählt worden sind, den Menschen sein Wort zu übermitteln (z.B. Adam, Noah, Abraham, Mose, Jesus, Mohammed). Für den Islam ist die Botschaft Mohammeds eine Fortsetzung der abrahamischen Botschaft, die neben dem Islam auch das Judentum und das Christentum beinhaltet. 2 Worüber reden wir eigentlich? Wir meinen, wir reden über eine Religion, wenn wir vom Islam sprechen. Mit dieser landläufigen Meinung liegen wir aber nicht ganz richtig. „Islam“ ist nicht gleichbedeutend mit „islamischer Religion.“ Das Wort Islam ist ein arabisches Wort, es stammt aus der Wurzel (salima). Diese Wurzel bedeutet im Allgemeinen: wohlbehalten, unversehrt, sicher sein, frei sein (von).6 Jedes Wort, welches aus dieser Wurzel stammt, muss diese drei Wurzelkonsonanten s-l-m beinhalten. Das Wort Islam hat zwei Bedeutungen, eine philologische und eine theologische. Im allgemeinen philologischen Sinn bedeutet Islam die völlige Hingabe an Gott oder die Ergebung in den Willen Gottes. Jeder Mensch, der an den einen einzigen Gott (also an den Gott Adams und Abrahams) glaubt und diese Hingabe bzw. Ergebung leistet, wird mit dem arabischen Substantiv als Muslim bezeichnet. Soweit die philologische Bedeutung. Im engeren theologischen Sinn bedeutet das Wort Islam mit dem arabischen Artikel Al, also Al-Islam, die islamische Religion. Mit den Substantiven Muslim (Maskulinum Singular, Plural Muslimūn) und Muslima (Femininum Singular, Plural Muslimāt) wird ein Mensch definiert, der die völlige Hingabe an den Willen Gottes zeigt und der an die Botschaft des Propheten Mohammed als Fortsetzung aller vorherigen Botschaften von Adam über Noah, Abraham, Moses und Jesus glaubt.7 Die islamische Lehre versteht sich als Glied in dieser Kette von göttlichen Botschaften und sieht zu den jüdischen und christlichen Botschaften zahlreiche Beziehungen: 2.1 Die historischen Beziehungen Beim Blick auf die Entstehungsgeschichte der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam kann man viele Gemeinsamkeiten feststellen: 1. Alle drei Religionen entstanden in einem Gebiet der patriarchalischen altorientalischen Gesellschaft, die diese Religionen geprägt hat. 2. Tenach, Bibel (Altes und Neues Testament) und Koran, die Heiligen Schriften der drei Religionen, behandeln Themen, die im Interesse der damaligen Gesellschaften lagen. Die Offenbarungen der drei Religionen entsprachen dem jeweiligen Entwicklungsstand der Menschen und wurden demgemäß formuliert. 3. Alle drei Heiligen Schriften behandeln die Schöpfung und ihren Schöpfer. Viele Geschichten, etwa die von Adam, Noah und Abraham, werden in allen drei Heiligen Schriften auf ähnliche Weise behandelt. 4. Alle drei Religionen entstanden in einem Gebiet, welches von gleichen klimatischen Verhältnissen beeinflusst wird, die wiederum die Lebensweise der Menschen, etwa 6 7 Wehr, Hans: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesbaden 1968. Siehe dazu auch die Koran-Verse 2,136; 3,3; 3,84, 4,136; 4,152; 41,43 (AK) und viele andere Verse mehr. Der Islam in der Diskussion 18 die Kleiderwahl der Menschen bestimmt. Auch dieses Themas haben sich die drei Religionen angenommen, wie ihre Heiligen Schriften bezeugen8 2.2 Die theologische Beziehungen Für den Islam bestehen darüber hinaus weitreichende theologische Beziehungen zwischen den drei Religionen: 1. Moses, Jesus und Mohammed, die Verkünder der drei Religionen sind, nach der islamischen Lehre, Gesandte Gottes, die der Menschheit zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Sprachen eine göttliche Botschaft offenbart haben.9 2. Alle drei Religionen haben diese Botschaften in ihren Heiligen Büchern zusammengefasst und für die Menschen schriftlich niedergelegt. 3. Trotz der differenzierten Formulierungen der Heiligen Schriften behandeln sie alle ein zentrales Thema, die Schöpfung und ihren Schöpfer. 4. Unter dem Schöpfer verstehen die drei Religionen den Gott Abrahams – auch, wenn sie diesen Gott mit verschiedenen Namen nennen. Abraham ist also der gemeinsame Vater des Judentums, des Christentums und des Islam. Nach der islamischen Lehre hat Gott Abraham schon in der Frühzeit seines Lebens als Botschafter seiner Offenbarung erwählt: Und Wir haben zuvor Abraham zu seinem rechten Verhalten geleitet. Und Wir wussten über ihn Bescheid.10 (AK). Al-ʼAdyānu l-ibrāhīmīya, die abrahamitischen Religionen, nennen die Muslime das Judentum und das Christentum neben dem Islam, weil sie sich alle auf Abraham berufen. In der abrahamitischen Lehre liegt nach islamischem Verständnis auch die gemeinsame Wurzel der drei Religionen, der Monotheismus. Die verschiedenen Offenbarungen sind nach islamischer Vorstellung nur eine einzige, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Sprachen durch die Propheten Adam, Abraham, Moses, Jesus und Mohammed verkündet wurden. Diese These wird im Koran mehrmals bestätigt, etwa in Sure 42,13: 8 Vgl. in diesem Zusammenhang: 1.Korinther 11,3-6; 11,10; 1. Timotheus 2,9; Gen 24,65; Ezechiel 15,10 sowie Koran 24,31 und 33,95. 9 In der arabischen Sprache unterscheidet man zwischen Begriffen Gesandter Gottes (arab. Rasūl) und Prophet (arab. Nabī). Rasūl bedeutet: derjenige Prophet, der eine göttliche Botschaft für die gesamte Menschheit oder für ein Volk trägt, wie z.B. die Propheten der drei monotheistischen Religionen: Judentum, Christentum und Islam. Nabī bedeutet: derjenige Prophet, der keine solche Botschaft, sondern eine Anweisung Gottes für eine bestimmte Zeit und an bestimmten Ort bekommt, wie z.B. Noah. Also jeder Rasūl ist ein Prophet, aber nicht jeder Prophet ist ein Rasūl. 10 Koran 21,51 (AK). Worüber reden wir eigentlich? 19 Er hat euch von der Religion verordnet, was Er Noach aufgetragen hat, und was Wir dir offenbart haben, und was Wir Abraham, Mose und Jesus aufgetragen haben: Haltet die (Bestimmungen der) Religion ein und bringt keine Spaltungen hinein.11 (AK). Der Koran spricht hier von nur einer Religion, nicht von mehreren, und fordert die Anhänger der Religion Abrahams auf, diese Einheit zu bewahren. Weitere Beispiele für die Art, wie die Anhänger der göttlichen Botschaften ihre Beziehungen zueinander gestalten sollen, sind im Koran in einer Fülle von Versen zu finden.12 Wenn der Koran im oben genannten Vers gleichzeitig mehrere Verkünder der göttlichen Botschaft nennt, so ist das ein deutlicher Hinweis auf die eine gemeinsame Quelle der Religion, auf Gott. Was sich ändert, sind Zeit und Sprache der Verkündigungen. Wer an Gott als Quelle der Religion glaubt und daran, dass deren Botschafter von Gott beauftragt wurden, seine Lehre zu verbreiten, der kann nicht glauben, dass diese Quelle sich widerspricht oder die Menschen in die Irre führt, indem sie ihnen widersprüchliche Informationen schickt. Dieser koranische Vers, der außerdem auf die Kontinuität der göttlichen Lehre von Adam bis Mohammed verweist, gehört zu den sogenannten vollendeten Versen, arab. Al-ʼĀyātu l- muḥkamātu.13 Solche Verse dürfen nicht beliebig interpretiert oder ausgelegt werden, sie sind vielmehr wortwörtlich zu verstehen. Diese feste Beziehung zu den göttlichen Botschaften wird von manchen muslimischen, aber auch von nichtmuslimischen Auslegern und Hasspredigern trotz ihrer Deutlichkeit nicht akzeptiert, weil sie nicht zu ihrem Denken passt. Die Anhänger der Heiligen Schriften, also des Tenachs und der Bibel, nennt der Koran „Leute der Schrift“ (arab. ahlu l-kitāb). Im Koran 29,46 steht darüber Folgendes: Und streitet mit den Leuten des Buches nur auf die beste Art, mit Ausnahme derer herabgesandt und zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist von ihnen, die Unrecht tun. Und sagt: „Wir glauben an das, was zu uns einer. Und wir sind ihm ergeben.“ (AK). Oder in 3,64: Sprich: O ihr Leute des Buches, kommt her zu einem zwischen uns und euch gleich angenommenen Wort: dass wir Gott allein dienen und Ihm nichts beigesellen, und dass wir nicht einander zu Herren nehmen neben Gott.. Doch wenn sie sich abkehren, dann sagt: “Bezeugt, dass wir Gott ergeben sind.” (AK). 11 Wenn Gott im Koran von sich spricht, tut er das entweder in der dritten Person Singular Maskulinum (Er) oder in der ersten Person Plural (Wir). 12 Z.B. 2,136 und 3,84 (AK). 13 Siehe zu dieser Thematik auch das Kapitel: Terror und Gewalt im Namen der Religion. Der Islam in der Diskussion 20 Schon damals also hat der Koran die Muslime zum Dialog mit anderen aufgefordert. Und diese Aufforderung gilt auch heute noch. Manche muslimischen Ulema versuchen nun, ihre Feindschaft gegenüber Andersgläubigen mit koranischen Versen zu begründen, die – anders als die vollendeten Verse – Mehrdeutigkeiten beinhalten und unterschiedlich ausgelegt werden können. Es sind dies die sogenannten al-ʼAyāt al-mutašabihāt, mit deren parteilicher Interpretation die Ulema alle Gewalttaten, auch gegen Muslime, rechtfertigten. Auch die Zehn Gebote sind ein gutes Beispiel für die ähnlichen Inhalte der Heiligen Schriften von Judentum, Christentum und Islam. Man findet sie im Koran, wenn auch anders formuliert, in Sure 17,22-39. Die Geschichten von der Auseinandersetzung zwischen Mose und Pharao und von der Durchquerung des Roten Meeres erzählt der Koran in Sure 10,75-94. Nicht nur in der koranischen Sure 19, die den Namen Maria trägt und die Geburtsgeschichte Jesu und die Geschichte seiner Mutter, der Jungfrau Maria, ausführlich erzählt, werden Jesus und Maria ehrenvoll erwähnt, sondern auch in vielen anderen Suren des Korans wie z.B. in 3,42, wo steht : „Als die Engel sagten: O Maria, Gott hat dich ausgewählt und rein gemacht, und er hat dich vor den Frauen der Weltenbewohner auserwählt“ (AK). oder 3,45 „Als die Engel sagten: O Maria, Gott verkündete dir ein Wort von Ihm, dessen Namen Christus Jesus, der Sohn Maria, ist; er wird angesehen sein im Diesseits und Jenseits, und einer von denen, die in die Nähe Gottes zugelassen werden“ (AK). Wie schon erwähnt, spielt der Monotheismus im Islam die zentrale Rolle und wird als gemeinsame Basis aller Religionen verstanden. In Sure 2,62 steht: Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die Juden sind, und die Christen und die Sabier, all die, die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und Gutes tun, erhalten ihren Lohn bei ihrem Herrn, sie haben nichts zu befürchten, und sie werden nicht traurig sein. (AK). Die vielen und wichtigen Gemeinsamkeiten der abrahamitischen Religionen sollen uns jedoch nicht daran hindern, auch über die Unterschiede zwischen den drei Religionen zu sprechen. Solche Gespräche sind aber erst möglich, wenn jede Seite sowohl über ihre eigene Identität Bescheid weiß, als auch die der anderen kennt und vor allem anerkennt. Eine weitere wichtige Voraussetzung ist die Übereinkunft der Gesprächspartner, dass es kaum möglich sein wird, sich über alle Punkte vollkommen einig werden zu können. Es sollte im Gespräch vielmehr darum gehen, die Unterschiede als Zeichen der eigenen Identität zu verstehen und sie nicht als Hindernis zur Zusammenarbeit und des Zu- Worüber reden wir eigentlich? 21 sammenlebens darzustellen und dabei die vielen und zentralen Gemeinsamkeiten zu vergessen. Mit einem Wort: Der Dialog muss reifen und braucht dafür eine gewisse Zeit. Wenn wir uns hier auf die Divergenzen zwischen Christentum und Islam konzentrieren, so wollen wir dazu drei theologische Themen herausgreifen: nämlich das Thema Vater/ Sohn, die Kreuzigung Jesu und die Trinitätslehre des Christentums. 2.3 Die Beziehung Vater/Sohn im Christentum, bezogen auf die Beziehung Gott/Jesus. Der Islam und seine Vorstellung von Gott zeigen uns eine Definition Gottes, wonach man Gott nicht in einen Rahmen fassen kann. Gott ist nach dem Koran-Vers in Sure 24,35 „das Licht der Himmel und der Erde.“ Dies bedeutet für einen Muslim, dass man Gott nicht irgendwelche Eigenschaften eines menschlichen Individuums zuschreiben kann. Wenn die Beziehung zwischen Vater und Sohn, bezogen auf die Beziehung zwischen Gott/Jesus, als leibliche Beziehung verstanden wird, so muss sie von den Muslimen abgelehnt werden, da man Gott nicht wie ein Individuum mit biologischen Eigenschaften beschreiben darf. Wenn die Beziehung Vater/Sohn in Bezug auf Gott/Mensch verstanden wird, so ist diese Beziehung keine leibliche, sondern eine seelisch-geistliche Beziehung. Und Jesus ist in diesem Sinne die Seele/Geist Gottes, wie es im Koran 19,17 steht. Diese Art der Beziehung kann aber auf alle Menschen übertragen werden, die sich in einer seelischen bzw. geistlichen Beziehung zu Gott befinden. Danach kann ein Muslim alle diese Menschen als Kinder Gottes bezeichnen.14 Mit dieser Interpretation dieses Themas aus muslimischer Sicht könnte über einen wichtigen Punkt der jeweiligen Lehren, Christentum und Islam, eine Basis der Verständigung zwischen den Anhängern beider Religionen geschaffen werden. 2.4 Die Kreuzigung Jesu Im Islam wird die Kreuzigung Jesu als symbolischer Akt verstanden und dargestellt. Die Muslime glauben daran, dass Gott nicht zugelassen hätte, dass Jesus auf diese Art und Weise stirbt. Im Gegenteil, er hat ihn errettet und ihn zu sich erhoben.15 Hier ist der deutlichste Widerspruch zum Christentum zu sehen. Man wird sich hier auf das „Prinzip“ der Kreuzigung einigen können, die Bereitschaft Jesu, sich für die Menschheit zu opfern. 14 Vgl. in diesem Zusammenhang Matthäus 23,9; 6,31 und 5,9, wo die Rede von dem himmlischen Vater der Menschen ist. 15 Koran 4,157-159 (AK). Der Islam in der Diskussion 22 2.5 Die Trinitätslehre des Christentums Dieser Streitpunkt ist stark mit der islamischen Vorstellung über den Monotheismus verbunden. Für die Muslime ist Gott nach der koranischen Sure 112 ein Einziger und darf nicht mit anderen Elementen in Verbindung gebracht werden, wodurch Gott als einer von mehreren, im Falle des Christentums von Dreien, erscheinen würde. Dieser Streitpunkt hängt aber auch mit dem ersten Streitpunkt, der Beziehung zwischen Vater und Sohn zusammen. Die Verständigung zwischen Christen und Muslimen darüber muss auf verschiedenen Ebenen der Diskussion gesucht werden, aber so, dass jede Seite diesen Streitpunkt auf eine Weise darstellt, durch die sichergestellt ist, dass der Glaube und die Gefühle der anderen Seite nicht verletzt werden. So können wir auch das Problem der Trinitätslehre gut lösen, wenn wir uns auf folgende prinzipielle Punkte einigen können: • die o.g. Vorstellung der Beziehung zwischen Vater und Sohn soll zur Kenntnis genommen werden und eventuell auch akzeptiert werden; • der Heilige Geist der Trinitätslehre stellt hier überhaupt kein Problem dar, da die Muslime an den Heiligen Geist als Gottes Gesandten glauben (siehe Koran: 19,17; 21,91; 66,12). In allen diesen Versen kommt der Heilige Geist in Verbindung mit Jesu Geburt vor. Nach der islamischen Lehre ist Jesus aus dem Heiligen Geist entstanden. Die alten orientalischen Christen haben eine Erklärung für die Trinität gefunden, mit der auch die Muslime einverstanden sein können. Sie haben die drei Elemente mit der Sonne verglichen. Die Sonne erzeugt Wärme, Licht und Farbe. Alle diese drei Elemente stammen letztlich aus einer einzigen Einheit, der Sonne. Ein weiterer Reibungspunkt zwischen Muslimen auf der einer Seite und Juden und Christen auf der anderen Seite betrifft die Opferfigur in der Opferungsgeschichte Abrahams. Die Muslime glauben, dass Ismail, der erste Sohn Abrahams, als Zeichen der Treue und der Loyalität Abrahams zu Gott, hätte geopfert werden sollen. Die Juden und die Christen betrachten den zweiten Sohn Abrahams, Isaak, als den zu Opfernden. Trotz dieser unterschiedlichen Meinung besteht bei allen drei Religionen Einigkeit darüber, dass die Opferungsgeschichte den tiefen Glauben Abrahams bezeugt und ihn als Vorbild im Glauben/Vertrauen auf Gott sieht. Der Koran erwähnt bei der Erzählung dieser Geschichte keinen Namen des Opfers (siehe 37,102-108). Die Geschichte kann dahingehend interpretiert werden, dass nicht die Opferfigur, sondern die Idee der Opferung als Zeichen des starken Glaubens Abrahams an Gott wichtig ist. Auf islamischer Seite versuchen einige radikalen Muslime, die von diesem Zusammenleben nicht viel halten und immer noch auf ihrem universellen Recht beharren, jede Dialog- und Verständigungsmöglichkeit von Anfang an zu unterbinden. Um ihre von Hass und Ablehnung durchsetzte Vorstellung der islamischen Religion und dem Anderen Worüber reden wir eigentlich? 23 gegenüber zu verwirklichen, halten sie auch den Einsatz von Gewalt für gerechtfertigt – auch wenn dieser Andere ein Muslim ist. Die meisten Muslime, die dieser Vorstellung anhängen, kommen aus den Reihen der religiös-politischen Organisationen, die man heutzutage den politischen Islam nennt. Alle Menschen, die an die Schaffung des Friedens unter den Nationen durch den Frieden unter den Religionen glauben, sind aufgerufen, ihre sekundären Differenzen im Interesse des friedlichen Zusammenlebens zurückzustellen und für sich, ihre Kinder und Kindeskinder eine friedliche Welt zu schaffen. 3 3.1 Der politische Islam Begriffsklärung Der politische Islam ist Gegenstand einer ganzen Reihe von Schriften arabischer und muslimischer Autoren. Eine der bekanntesten ist das Werk des ägyptischen Theologen Scheich A ͑ lī A ͑ bd ar-Rāziq, veröffentlicht 1926 unter dem arabischen Titel Al-Islam wauṣul al-Hukm – Der Islam und die Grundzüge des Regierens.16 Der Autor geht darin scharf mit den Bestrebungen mancher religiösen Organisationen ins Gericht, an die politische Macht zu kommen, und sorgt damit bis heute für heftige Diskussionen. Weil seine – theologisch und wissenschaftlich untermauerten – Thesen im Widerspruch zu denen des politischen Islam stehen, hatte Abd ar-Rāziq selbst jahrelang unter Verleumdungen und Bedrohungen muslimischer Fundamentalisten zu leiden. Sein Werk kann jedoch als Wegbereiter für spätere Veröffentlichungen bekannter Theologen gelten, die sich auf ähnliche Art mit dem Thema befassten. Autoren wie Abd ar-Rāziq haben das Thema der politischen Macht in Verbindung mit dem Islam wissenschaftlich und theologisch ausgeleuchtet und dabei versucht, gewisse Regeln zu entwickeln, um zwischen Religion und Politik eine Grenze zu ziehen. Ausgangspunkt dieser gewünschten Trennung von Religion und Politik sind bestimmte feste Prinzipien des Islam, die nicht mit den sich ändernden politischen Situationen vermischt werden dürfen. Die Autoren vertreten die Auffassung, dass der Islam nicht als politische Ware im politischen Geschäft gehandelt werden dürfe und dass der Islam im Falle eines solchen Handels seine religiösen und moralischen Grundzüge verlieren könnte. In das Konzept des islamischen Fundamentalismus passt die Idee einer solchen Trennung freilich nicht. Er predigt im Gegenteil die These „Al-Islam dīn wa dawla“, der Islam ist eine Religion und ein Staat. In den letzten Jahren kann man das Phänomen des politischen Islam in vielen Teilen der muslimischen Gesellschaften beobachten. Dass die Instrumentalisierung der islamischen Religion auf Hochtouren läuft, ist an vielen Ereignissen abzulesen. Religiös-politische Bewegungen sind entstanden, durch die der Islam nicht mehr als Religion dargestellt wird, sondern als eine politische Bewegung. Innerhalb dieser islamischen Bewegungen wiederum haben sich verschiedene islamische Richtungen/Parteien gebildet, die sich oftmals gegenseitig bekämpfen, weil jede Partei sich als die wahre und einzige Vertreterin der echten Religion versteht. Die bewaffneten Kämpfe zwischen den beiden schiitischen Organisationen in Libanon, Hisbollah und Amal, oder zwischen den Muǧāhidin-Gruppen in Afghanistan sind einige Beispiele dafür. Der sogenannte politische Islam, (arab. Al-̔Islam as-siyāsīu), ist also als ein Teil einer gesellschaftlich-kulturellen Strömung entstanden, die die religiösen Prinzipien in den Dienst der Politik stellte. Das Ziel ist nun nicht mehr die Verwirklichung der religiösen 16 Der deutsche Titel ist: Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft: Übersetzung und Kommentar des Werkes von ʽAlī ʽAbd ar-Rāziq durch Hans-Georg Ebert; Assem Hefny, Frankfurt am Main; Berlin; Bern; Wien [u.a.]: Lang, 2010. Der Islam in der Diskussion 26 Lehre und die Pflege der islamischen Vorschriften und Lebensgestaltung, sondern Machtgewinn und politische Herrschaft. Einige muslimische Theologen sind mit der Bezeichnung „politischer Islam“ nicht einverstanden, weil es für sie nur einen Islam gibt und nicht mehrere, von denen der politische Islam einer ist. Das Phänomen, für das der Begriff steht, beobachten sie in den islamischen Gesellschaften zwar sehr wohl, schlagen aber andere Bezeichnungen dafür vor, etwa „Bewegung der Politisierung des Islam“ (arab. ḥarakāt tasyīs al-Islam) oder „Bewegung der Islamisierung der Politik“ (arab. ḥarakāt ʼaslamat as-siyāsa). Die aus der Vermischung der Elemente Religion und Politik entstandenen politisch-religiösen Bewegungen haben bei allen Unterschieden, sowohl in der religiösen Lehre als auch in den politischen Ansichten, einen gemeinsamen Nenner, nämlich die Behauptung, Vertreter der wahren Religion zu sein. Dadurch erklärt sich auch ein weiteres Phänomen der diversen Bewegungen in jeder islamischen Gesellschaft. Die Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen und ihre Unfähigkeit zu Toleranz und Verständigung, sowie ihre Unfähigkeit, sich einem Dialog zu öffnen, führten in vielen Fällen zu heftigen Kämpfen, die die Vernichtung des Anderen zum Ziel hatten und mit dem auf beiden Seiten zu hörenden Ruf „Allahu Akbar“ – Gott ist der größte –, vorangetrieben wurden. 3.2 Ursachen für das Entstehen des politischen Islam Bei der Entstehung und Entwicklung der religiös-politischen Gruppen innerhalb und außerhalb der islamischen Gesellschaften spielen mehrere Faktoren eine wichtige Rolle. Wir können davon ausgehen, dass in jeder Gesellschaft die Menschen auf ihre Umwelt reagieren und sich entsprechend verhalten. Die Reaktionen können unterschiedlicher Art sein und sich in jedem Bereich des Lebens, im religiösen, im politischen, im sozialen und wirtschaftlichen Bereich, manifestieren. Und genauso können wir die Entstehung und die Entwicklung der religiös-politischen Bewegungen erklären. Dieses Phänomen ist eine Reaktion auf eine gemeinsame Krise, die die islamischen Gesellschaften beherrscht, und wurde verursacht durch: 3.2.1 (Eine) Politik der Demütigung Die Ablehnung der Herrschaftspolitik des Westens im (nach-) kolonialen Zeitalter, die diese Gesellschaften seit langer Zeit begleitet. Diese Politik der Demütigung und Unterdrückung hat vielen Menschen einen Anlass gegeben, sich dagegen aufzulehnen und die gesamten Beziehungen zu der westlichen Welt auf den Prüfstand bzw. zur Disposition zu stellen. Es ist nicht zu leugnen, dass in den islamischen Gesellschaften vieles nicht in Ordnung ist. Es ist auch nicht zu übersehen, dass die islamische Religion in diesen Gesellschaften von der Politik instrumentalisiert worden ist. Es ist aber auch nicht zu Der politische Islam 27 leugnen und nicht zu übersehen, dass diese Situation von der westlichen Politik direkt oder indirekt positiv oder negativ beeinflusst worden ist. Kai Hafez schreibt: „Die Mitverantwortung westlicher Staaten und Gesellschaften an vielen negativen Entwicklungen im islamischen Orient sind nicht übersehbar. In Israel und Palästina droht ein zunächst hoffnungsvoller Friedensprozess nicht zuletzt an der nachhaltigen Stützung Israels durch den Westen zu scheitern. In Algerien haben europäische Staaten durch ihre Stabilisierung des dortigen Regimes und den Abbruch der demokratischen Wahlen von 1991/92 einen Bürgerkrieg mit verursacht. Im Irak hat sich unter dem Einfluss einer Boykottpolitik die Kindersterblichkeit vervielfacht.“17 Aber auch die Ereignisse in den islamischen Gesellschaften in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts, wie die Kriege im Afghanistan und im Irak als Folge des Terrors von 11. September 2001, oder die Aufstände der Völker in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrein, und Syrien gegen die Machthaber, die mit dem Westen gute wirtschaftliche und/oder politische Beziehungen haben, sind einige Beispiele dieser Herrschaftspolitik des Westens. 3.3 Identität und Identitätsverlust Die neue Identitätsvorstellung und das neue Identitätsverständnis der Muslime, die sich durch ihre wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen zum Westen bzw. zu den Kolonialmächten entwickelt hatten, führten zum Kampf der Interessen auf beiden Seiten. In diesem Kampf wurde auch die Religion so eingesetzt, dass manche religiösen Organisationen in den muslimischen Gesellschaften diesen Kampf als Kampf zwischen den Religionen und Kulturen, und nicht zwischen den politischen und wirtschaftlichen Interessen, betrachtet und dargestellt haben. Nicht nur auf der Seite der Muslime wurden die Beziehungen zwischen dem Westen und den islamischen Gesellschaften so verstanden. Auch im Westen wurden Stimmen laut, die den „Kampf der Kulturen“ propagierten.18 Diese neueArt derAuseinandersetzung wurde von manchen muslimischen Organisationen mit dem Begriff „Re-Islamisierung“ bezeichnet. Diesen Begriff hören die muslimischen Religionsfanatiker sehr gerne, weil sie sich dann als Retter eines bedrohten, verloren geglaubten Islam darstellen können. 17 Hafez, Kai (Hg.): Der Islam und der Westen, Frankfurt Main 1997, S.12. 18 Z.B. Huntington, Samuel: The Clash of Civilization in Foreign Affairs, Summer 1993, zuerst als Artikel, dann als Buch mit gleichem Titel. 28 Der Islam in der Diskussion 3.3.1 Islam und der Westen Die Versuche der westlichen Politik, ganz besonders der amerikanischen, die Beziehungen mit den sogenannten islamischen Staaten nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch auszubauen, hat zur Blockbildung innerhalb dieser Staaten geführt. Wenn wir die letzten zwei Golfkriege als Beispiel dafür nehmen, so sehen wir folgendes Bild: Im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran von 1980 bis 1988 entstanden in der islamischen Welt zwei Blöcke. Der erste Block war mit dem Westen verbunden und hat mit ihm zusammengearbeitet. Dieser Block bestand hauptsächlich aus dem Irak, Ägypten, Jordanien und den Golfstaaten. Der Gegenblock bestand aus dem Iran, Syrien und Libyen.19 Im zweiten Golfkrieg, dem sogenannten Kuwait-Krieg von 1991, sah das Bild ganz anders aus. Es entstand ein Pro-Westblock, der aus fast allen arabischen Staaten bestand, während der Irak, Jordanien und der Jemen den Anti-Westblock bildeten. Im Irakkrieg von 2003 sah das Bild ungefähr wie im zweiten Golfkrieg von 1991 aus. Nicht nur die Regierungen wurden in diese Blöcke aufgeteilt, sondern auch die Menschen der gesamten islamischen Welt.20 Diese Politik hätte natürlich keinen Erfolg erzielen können, wenn es in der islamischen Welt keine Machthaber gegeben hätte, die von der westlichen Politik abhängig sind. Diese allgemeine Darstellung der Krisenursachen wurde von Fachleuten der verschiedenen Fachrichtungen spezifisch analysiert. Je nach Fachrichtung wurde dabei nur jeweils eine Krisenursache in den Vordergrund dargestellt. Während sich zum Beispiel die Soziologen auf die sozialen Probleme der islamischen Gesellschaften konzentrieren21, sehen die Wirtschaftswissenschaftler die Situation der muslimischen Gesellschaften als Resultat der Niederlage der Mittelschicht in der islamischen Welt, die nach der offiziellen Beendigung der Kolonialherrschaft in ihren Ländern die wirtschaftliche Entwicklung nicht vorantreiben könne.22 Auf der anderen Seite verbinden die religiös-politischen Gruppierungen die Probleme der muslimischen Gesellschaften mit dem Sich-Entfernen der Menschen vom göttlichen Weg und mit der Nichtbeachtung der religiösen Vorschriften und Regeln im täglichen Leben.23 Alle Interpretationen betrachten das Phänomen des politischen Islam nur von einer Seite und vergessen, dass es die Kombination sämtlicher Faktoren ist, die diese Situation ins Leben gerufen hat. Mit anderen Worten: Die politisch-religiösen Bewegungen sind eine Reaktion auf die herrschenden Verhältnisse in den Gesellschaften der islamischen Welt; sie sind eine Reaktion auf die Unfähigkeit der etablierten politischen Parteien, 19 20 21 22 Hassan, Sadik: Der politische Islam: Interkulturell, Heft 4, Jahrgang 1998, S.100. Ebd. S.101. Wie Armut, fehlende Bildung oder das Festhalten an der Sippen- und Stammesverhältnisse. Da diese Gesellschaften als Konsumenten geblieben sind ohne weitere Entwicklung der Industrialisierung. 23 Hier wird die Übernahme der westlichen Lebensweise als Zeichen für die Entfernung von den islamischen Prinzipien. Der politische Islam 29 Lösungen für die Probleme der Menschen in diesen Ländern zu finden. Ob die religiöspolitischen Bewegungen dazu in der Lage sein werden, ist zweifelhaft. Sie gehen aber in ihrer politischen Arbeit davon aus, dass die Rückkehr zur „wahren“ Religion die Lösung für alle Probleme der Gesellschaften sein wird. Historisch gesehen kann man den Ursprung aller politisch- islamischen Bewegungen auf die „Muslimbrüder“ (arab. al-ʼiḫwān al-mulimūn) zurückführen, eine Organisation, die im Jahre 1928 von dem Ägypter Hassan al-Banna (1906-1949) in Ägypten gegründet wurde. Hassan al-Banna hatte die Unterstützung vieler Kräfte außerhalb Ägyptens, die großes Interesse an der Gründung einer solchen Organisation hatten. Der ägyptische Schriftsteller und Denker Tarek Heggy schreibt, dass der britische Geheimdienst MI6 Hassan al-Banna im Jahre 1928 geholfen hätte, die Organisation der Muslimbrüder zu gründen. Das war ein Jahr nach dem Tod des ägyptischen Nationalführers Saad Zaġlūl. Die britische Regierung und der ägyptische König Fouad sahen die Gründung dieser Bewegung als Mittel, die ägyptische Bevölkerung im Namen des Islams für sich zu gewinnen und davon abzuhalten, sich der Nationalpartei al-wafd zuzuwenden, die gerade ihren Denker und Führer Zaġlūl verloren hatte.24 Der Ägypter Hassan al-Banna war der geistiger Vater des „puritanischen“ Syrers Mohammed Raschid Ridha. Dieser war das Verbindungsglied zwischen Hassan alBanna und Abdul Aziz al-Saud, der mit der Hilfe der Engländer im Jahre 1925 König von Ḥiǧāz wurde.25 Die zweitwichtigste Bewegung wurde von Abū Alā al-Maudūdī (1903-1978) in Pakistan unter dem Namen „Die islamische Gruppe“ (Ǧamaāte-Islami) zu Beginn der 1940er Jahre gegründet. Deren Vorarbeit wurde dann in Ägypten von einem der wichtigsten Vertreter und Denker des politischen Islam in der islamischen Welt, Said Qutb (19061966), fortgesetzt. Seine Ideen haben für alle politisch-islamischen Organisationen die Richtlinien bestimmt. Nach dem Tod Qutbs26 gab es lange Zeit keine nennenswerten Impulse für den politischen Islam mehr. Erst nach dem Sieg der islamischen Revolution im Iran 1979 bekamen die politisch-religiösen Organisationen neue Unterstützung durch die dortigen neuen Machthaber, vor allem mit ihren enormen finanziellen Möglichkeiten durch die Produktion von Erdöl in Iran. Die Entwicklung dieser Bewegungen hat dann eine andere Dimension angenommen. Die verschiedenen Organisationen kämpften mehr und mehr für die Verwirklichung ihrer eigenen, meist politischen Interessen. In vielen islamischen Gesellschaften beharren die politisch-islamischen Organisationen auf der Richtigkeit ihrer Positionen und versuchen, trotz ihrer unterschiedlichen und differenzierten Glaubensrichtungen und Konfessionszugehörigkeiten, sich und ihre Ideen als wahre Verteidiger des Islam zu präsentieren. Wegen dieser unterschiedlichen Haltungen kam es in vielen Fällen zum bewaffneten 24 Heggy, Tarek: http://www.ahewar.org/debat/show.art.asp?aid=228787, Aufsatz auf Arabisch vom 12.09.2010. 25 Heggy, Tarek: http://www.ahewar.org/debat/show.art.asp?aid=228787, Aufsatz auf Arabisch vom 12.09.2010. (Ḥiǧāz ist ein Gebiet im heutigen Königreich Saudi-Arabien). 26 Er wurde 1966 zum Tode verurteilt und in Kairo im selben Jahr gehenkt. 30 Der Islam in der Diskussion Kampf zwischen den verschiedenen Gruppierungen. Im Libanon zum Beispiel haben sich die schiitischen Bewegungen Amal und Hisbollah bewaffnete und gewaltsame Auseinandersetzungen geliefert. In Afghanistan bekämpfen sich noch heute die Muǧāhidin (Gotteskämpfer) mit aller Gewalt. Im Irak haben diese Bewegungen Milizen gegründet, die sich gegenseitig vernichteten – und alles im Namen der islamischen Religion. In Palästina bekämpfen sich etwa Hamas und die Bewegung der islamischen Muǧāhidin, obwohl sie sich beide auf den sunnitischen Islam berufen. Alle diese Kämpfe zwischen den muslimischen Organisationen wurden von verschiedenen Seiten unterstützt. Die Art und Weise der Unterstützung lässt keinen Zweifel daran, dass es dabei um politische Interessen ging. Gekämpft wurde also nicht etwa deshalb, weil die Religion oder die Reinheit der islamischen Lehre verteidigt werden sollten, sondern weil man dieses oder jenes politische Ziel, nämlich die Machtergreifung, erreichen wollte. Alle behaupten aber, dass sie für die Religion und für die Verbreitung der religiösen Ideen und Prinzipien kämpfen. Sie versuchen sogar, diese Kämpfe nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene, auszutragen, weil sie alle von den universellen Ansprüchen des Islam ausgehen. Es entstand eine Situation, in der alles als „unislamisch“ definiert wird, was nicht in die Denkweise der verschiedenen Gruppen passt. Diese Ablehnung bezieht auch das Denken und die Kulturen anderer Gesellschaften mit ein. Errungenschaften der Menschheit, wie Menschenrechte, Freiheit des Denkens, Religionsfreiheit, oder wissenschaftliche Erkenntnisse werden abgelehnt, weil sie aus nicht-islamischen Gesellschaften kommen. Dabei wird übersehen, dass diese sogenannten „fremden“ Ideen eine starke Verbindung zur islamischen Lehre besitzen.27 Der auf sein universelles Recht pochende politische Islam ignoriert in vielen öffentlichen Bereichen, nicht jedoch im privaten Leben, die neue Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen auf der Erde. Die Möglichkeiten zu Kontakten mit und Beziehungen zwischen den Menschen in vielen Teilen der Erde, ohne Rücksicht auf Entfernung, und andere Neuerungen haben zu einer Verbreitung von Wissenschaft und Kultur auf internationaler Ebene geführt, die von keiner Macht der Welt aufgehalten werden kann. Eine Ablehnung dieser neuen Möglichkeiten des Austauschs ist umso weniger zu verstehen, als diese Entwicklungen, genau betrachtet, eigentlich ganz im Sinne der islamischen Lehre stattgefunden haben und noch stattfinden. Die Muslime sollten diese neue Situation nutzen, um Kontakte mit den Völkern der Erde zu pflegen und andere Kulturen kennenzulernen. Sie gewönnen dadurch die Möglichkeit, ihre Ideen darzustellen und zu verbreiten und eventuell die anderen davon zu überzeugen. Das heißt, der muslimische Mensch muss heutzutage in der Lage sein, einen Weg zu benutzen, auf dem er nehmen und geben kann. Und gerade einen solchen Weg lehnt der politische Islam aber ab, mit der Behauptung, alles, was nicht islamisch ist, sei fremd oder importiert oder passe nicht zur islamischen Gesellschaft. 27 Hassan, Sadik: Der politische Islam: Interkulturell, Heft 4, Jahrgang 1998, S.102-103. Der politische Islam 31 Die Kritik an den religiös-politischen Organisationen, die den Islam zu einem Hilfsmittel für ihre Parteiinteressen degradieren, erstreckt sich aber auch auf deren Unterstützer außerhalb der islamischen Gesellschaften. Sie sind – aus eigennützigen Motiven – mitverantwortlich dafür, dass eine von Gott und seinem Propheten als humane Lebensphilosophie verkündete Religion zu einem Instrument von Machtgewinnung und -erhalt auf politischer Ebene verkommen ist. Zu diesen Unterstützungsgruppen zählen: a. Die Medien Hier sind vorrangig die westlichen Medien zu nennen, von denen viele nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion am Ende des Kalten Kriegs auf der Suche nach einem neuen spanenden Thema waren. Die Anwesenheit von vielen Muslimen in den westlichen Gesellschaften, und das für vielen Menschen in diesen Gesellschaften fremdes Verhalten dieser Muslime, ermutigte die westlichen Medien, die islamische Religion als gut geeinigtes Beispiel dafür darzustellen, wobei speziell die rechtsgerichteten Medien im Westen, ein neues Feindbild entdeckt haben wollten, welches nicht nur eine Verfremdung bzw. Gefährdung für den Westen von außen darstellt, sondern auch als Feind, der innerhalb der westlichen Grenzen operiert. Die Art, wie manche Journalisten, aber auch einige Schriftsteller den Islam darstellten, hat sehr viele Muslime in ihren Gefühlen verletzt.28 Auf der anderen Seite haben viele Muslime auf diese Verletzungen in einer Weise reagiert, die sie in immer größere Nähe zu den religiös-politischen islamischen Organisationen in Europa rückte. In vielen dieser Organisationen, die eigentlich zum großen Teil ordnungsgemäß arbeiten, das heißt, sie sind als Vereine registriert worden und funktionieren nach einer von deutschen Gerichten anerkannten Satzung, versucht eine geringe Zahl von Mitgliedern, die Religion als Deckmantel für ihre nicht-religiösen Ziele (hauptsächlich politische Ziele) zu nutzen. Sie versuchen, junge Leute, die an der Berichterstattung über den Islam in den Medien Anstoß nehmen, für ihre radikalen Ideen zu gewinnen und sie in dieser Richtung zu erziehen.29 b. Die Interessenbeziehungen zwischen den Islamisten und der Politik im Westen Durch Gründung oder Unterstützung religiöser Organisationen haben manche Regierungen der westlichen Welt immer wieder versucht, eine korrupte Regierung zu stärken oder eine bestimmte politische Situation herbeizuführen bzw. zu verändern. Das beste Beispiel dafür ist die Situation in Afghanistan, als die Taliban-Organisation das Land regierte und es auf barbarische Art und Weise beherrschte. Bevor die Taliban aber an die Macht kamen, hatten sich sämtliche politisch-religiösen Organisationen in diesem Land erbitterte Kämpfe geliefert, denen sehr viele Menschen zum Opfer gefallen sind. Wenn man zurückdenkt und sich vor Augen führt, wie die Taliban gegründet, 28 Beispielsweise Ralph Giordano, der sich in einer solchen Weise äußert, vgl. hierzu etwa: Giordano, Ralph: „Der Islam ist das Problem“ in: http://www.focus.de/Politik/cicero-exklusiv/ tid-7505/cic. oder : Politically Incorrect (PI) im Stern Nr.32 am 04.08.2011 29 Wie z.B. die Terrororganisationen, die Moscheebesucher für ihre Zwecke gewinnen können. 32 Der Islam in der Diskussion finanziert, unterstützt und bewaffnet wurden30, so wird schnell der große Einfluss, den die amerikanische Politik auf die Organisation der Taliban genommen hat, deutlich. Fast alle vergleichbaren Organisationen in Afghanistan wurden von den USA gegen die sowjetische Macht eingesetzt und deshalb auch mit allen Mitteln unterstützt. Die Lage in Algerien ist ein weiteres Beispiel für die Einmischung westlicher Politik in der islamischen Welt.31 Wenn die westliche Welt die Demokratie propagiert, sie aber nur in den westlichen Teilen der Erde praktiziert, so kann man nur sagen, dass diese Politik unglaubwürdig ist und zu keiner Ruhe in der Welt führen kann. Als in Algerien Anfang der 1990er Jahre demokratische Wahlen durchgeführt wurden, haben die politischreligiösen Parteien in der ersten Wahlrunde die absolute Mehrheit erreicht. Die Wahlergebnisse wurden sofort von den algerischen Machthabern für ungültig erklärt und der ganze Wahlvorgang wurde gestoppt. Das Militär wurde dann von der algerischen Regierung beauftragt, das Land mit totalitären Methoden unter Kontrolle zu halten. Viele Regierungen der westlichen Welt, allen voran die französische Regierung, haben diese Entscheidung gelobt, die algerische Regierung in ihrer Macht bestätigt und sie militärisch, wirtschaftlich und politisch unterstützt. Diese Unterstützung führte zu einem jahrelangen Bürgerkrieg, der tausende Menschenleben kostete. Alle Experten waren sich allerdings einig, dass die politisch-religiösen Parteien in Algerien die Probleme des Landes nicht hätten lösen können, wenn sie an die politische Macht gekommen wären. Außer ihren alten religiösen Konzepten verfügten sie über keinerlei Programm, womit sie die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Probleme des Landes hätten angehen können. Auch in ihrer Wahlpropaganda war von modernen Konzepten nichts zu finden. Man konnte deshalb mit Fug und Recht annehmen, dass sie sich nicht sehr lange an der Macht hätten halten können. Die politisch-religiösen Parteien hätten sich über kurz oder lang selbst entlarvt und sich allmählich in der Isolation wiedergefunden. Alle diese politisch-religiöse Bewegungen, egal, wo sie sich befinden, argumentieren immer mit den islamischen Prinzipien und betrachten sie auch als politische Programme, die die Lösungen für alle Probleme der Menschheit, und nicht nur die Probleme der islamischen Gesellschaften, lösen können. Wenn man sie aber fragt, welche Richtung der vielen muslimischen Strömungen diese Prinzipien vertreten, haben sie nur eine Antwort auf diese Frage nämlich: Der Islam sei überall gleich. Wir können aber nicht von „dem Islam“ sprechen, weil der Islam mehrere Dimensionen annimmt, die wiederum mehrere Interpretationen und Auslegungen beinhalten. Einer dieser Auslegungen ist die der Ḫāriǧiten (arab. für die Ausgetretenen), die sich im Jahre 661 von der islamischen Gemeinde abspalteten. Die Abspaltung begründeten sie damit, dass sie mit der politischen Linie des vierten Kalifen, Ali bin abi Talib, nicht einver30 Die USA hat erst die Gründung der Taliban ermöglicht. In dem man die Muǧāhidin mit Waffen, Geld und Informationen versorgt hatte. Genauso wie die Taliban jetzt wurden über 80000 Muǧāhidin in pakistanischen lagern ausgebildet. (aus Zeit Online –Ausland- von 09.03.2009). Muǧāhidin bedeutet die Kämpfer für die Religion in der Sprache der Islamisten. 31 Siehe hierzu auch: Hassan, Sadik: Der politische Islam, S. 105. Der politische Islam 33 standen waren. Diese Abspaltung der Ḫāriǧiten war gewissermaßen der Grundstein des politischen Islam. Seitdem versuchen mehrere Bewegungen, die Ḫāriǧiten nachzuahmen. Mit der Zeit bildeten sich politische Gruppierungen, die ihre Aktivitäten als einen Teil des religiösen Glaubens darstellten. Für ihre religiös-politische Arbeit legten sie die folgenden Thesen fest: • Die Politik ist ein Teil des Islam, und politische Aktivitäten sind eine religiöse Pflicht.32 • Ausschließlich diejenigen Menschen, die mit diesen Gruppierungen zusammenarbeiten, (natürlich meint jede Gruppe dabei nur sich selbst) sind echte Muslime. Alle anderen sind Abtrünnige und sogar „Heiden“(arab. Kāfir). Manche Gruppen ergänzen diese Behauptung und fordern für Menschen, die sich gegen die Vorgaben der Gruppierungen stellen die Todesstrafe.33 • Um die eigenen Ideen durchzusetzen, müssen alle verfügbaren Mittel eingesetzt werden. Auch Gewalt ist erlaubt. Antithesen dürfen nicht aufgestellt werden. Gegen Andersdenkende, auch wenn es sich bei diesen um Muslime handelt, wird der bewaffnete Kampf, der Ǧihād, geführt34 Es soll nun versucht werden, diese Behauptungen zu kommentieren, zu analysieren und mögliche Gegenpositionen darzustellen. Die Behauptung, die Politik sei ein Teil der islamischen Lehre, stellt eine Verfälschung dieser Lehre dar. Diese nämlich kennt keine politischen Parteien mit unterschiedlichen Programmen und Inhalten. Die islamische Lehre kennt nur die Umma, (d.h., die Gesamtheit der islamischen Gemeinde) und den Inhalt der islamischen Vorschriften, die von Gott durch seinen Gesandten Mohammed verkündet wurden. Diese Vorschriften regeln zwar viele Bereiche des Lebens in den islamischen Gesellschaften, sie sind aber rein religiöser Art. Sie regeln das Leben nach den von Gott gegebenen Empfehlungen und stehen auf der Basis der persönlichen Freiheit, der Fähigkeiten und Möglichkeiten, die jedem einzelnen Muslim gegeben sind. Die Arbeit der Gruppierungen des politischen Islam sieht jedoch ganz anders aus. Hier spielen die politischen Konflikte und Differenzen zwischen den verschiedenen religiösen Parteien eine große Rolle. Nach vielen koranischen Versen soll der Muslim die Freiheit zu eigenen Entscheidungen haben.35 Der politische Islam ignoriert diese Freiheit sofort, wenn es um den Gewinn und den Ausbau von Macht geht. Ebenfalls ignoriert der politische Islam die Stabilität der religiösen Vorschriften und die Wechselhaftigkeit politischer Entscheidungen, wenn er beide zusammenbringen will und damit die Religion für seine Zwecke zu instrumentalisieren sucht. 32 „Al-Islam dīn wa dawla“ Der Islam ist Staat und Religion; eine der Hauptthesen des politische Islam 33 Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen, die zum Mord an den Gegnern führen, sind Beispiele für diese Behauptungen. 34 Etwa die Selbstmordattentäter. 35 Z.B. Koran 18,29 oder 10,108 (AK). 34 Der Islam in der Diskussion Die Kritik, die man gegen diese zweite These anführen kann, ist Folgende: Wenn die religiös-politischen Parteien so denken und ihre Anhänger ihnen darin nachfolgen, so müssten sie sich eigentlich gegen die Mehrheit der Menschen in der islamischen Welt stellen. Auf der einen Seite müssten sie sich gegen die Machthaber in ihren eigenen Ländern stellen, auf der anderen Seite gegen alle oppositionellen Parteien und Bewegungen außerhalb ihrer Reihen, denn diese arbeiten ja nicht nach der Vorstellung des politischen Islam. Das koranische Prinzip der Beratung (arab. aš-Šūrā)36 wird hier von einer Minderheit total missachtet. Auch die Basis der persönlichen Freiheit in der Religionsausübung wird von dieser Minderheit vollkommen zerstört. Niemand kann durch Mord und Gewalt ein dauerhaftes und vernünftiges Ziel erreichen. Wenn der politische Islam seine Ideen mit allen Mitteln verwirklichen will, um damit an die politische Macht zu kommen, so kann er vielleicht ein oder mehrere Etappenziele erreichen, aber niemals wird er dahin gelangen, eine neue friedensstiftende Gesellschaftsordnung zu schaffen. Die Denker des politischen Islam sollten von der alten und der neueren Geschichte der Menschheit lernen. Der Aufstieg und die Niederlage der totalitären politischen Systeme in der Weltgeschichte sind die besten Beispiele dafür. 36 Siehe Koran 42,38 (AK). Aš-Šūrā ist ein arabischer Begriff und bedeutet: Die Beratung. In diesem Vers verlangt der Koran von den Muslimen ihre Angelegenheiten miteinander zu besprechen, bevor sie eine Entscheidung treffen. 4 Zweideutigkeiten und Widersprüche im Denken der religiöspolitischen Bewegungen Nasr Hamid Abu Zaid (1947-2010) liefert in seinem Buch Islam und Politik, Kritik des religiösen Diskurses eine kenntnisreiche Auskunft über den islamischen Diskurs.37 Seine philosophische und historische Analyse des politischen Islam beinhaltet eine Fülle wertvoller Informationen über dieses Thema. Ich will mich mit der praktischen Seite dieses Diskurses, sowie mit den Reaktionen darauf, innerhalb und außerhalb der islamischen Gesellschaften, beschäftigen. Schon eine flüchtige Analyse des Phänomens des politischen Islam zeigt uns, dass dessen ideologische Ausrichtung sich in mehrere, zum Teil widersprechende, Formen aufspaltet. Als Hauptrichtungen können wir die religiöse und die politische ausmachen. Da sie sich mit den Verhaltensweisen der Menschen in zwei verschiedenen Bereichen befassen, eben dem der Religion und dem der Politik, geraten die religiös-politischen Bewegungen immer wieder in widersprüchliche Situationen. Ihr großes Problem ist, dass sie sich nicht eindeutig definieren können. Wenn sie als religiöse Bewegungen erscheinen, suchen sie dennoch den religiösen Diskurs zu bestimmen. Wenn sie aber als politische Organisationen auftreten, so müssen sie sich der politischen Sprache bedienen, die nicht unbedingt mit religiösen Ausdrucksformen identisch ist. Die Festlegung ihrer Rolle in der Gesellschaft, ob sozial-politisch oder religiös, stellt ein Problem für diese Bewegungen dar. Es mag sein, dass man in der westlichen Welt keine großen Unterschiede zwischen diesen beiden Rollen macht, weil man im Westen die Trennung zwischen Staat und Religion schon seit langer Zeit erlebt. Im islamischen Denken sieht man diese Vermischung zwischen Religion und Politik mit anderen Augen. Ein gläubiger muslimischer Mensch betrachtet seine religiösen Regeln als solche, welche nicht gebrochen werden dürfen. Zu diesen Regeln gehören, z.B. Aufrichtigkeit, Einhaltung von Versprechen und andere Tugenden, die man in der politischen Arbeit nicht vollkommen verwirklichen kann, da man in der Politik auf Manöver und verschiedene Möglichkeiten der Interpretationen der politischen Aussagen und Versprechungen angewiesen ist. Wenn wir einen muslimischen Alim (sg. von Ulema), welcher sich mit der Politik beschäftigt, als Beispiel nehmen, so können wir uns folgendes Bild vorstellen: Dieser „Alim“ predigt in seiner Eigenschaft als religiöser Mensch, und seine Reden werden in diesem Bereich als religiöse Überlegungen respektiert. Wenn dieser Mensch aber eine politische Bühne betritt und Werbung für eine politische Partei macht, die von vielen Menschen als unglaubwürdig angesehen wird, so wird der Prediger infolgedessen wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Partei kritisiert. Und nun zeigt sich der Widerspruch im Verhalten des „Alim“. Jede Kritik an seiner politischen Person analysiert er selbst als Angriff auf seine religiöse Integrität, was in seinen Augen einem Angriff auf die islamische Religion gleichkommt. Er instrumentalisiert die Religion für seine politischen Ziele und wehrt 37 Abu Zaid, Nasr Hamid: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt 1992. 36 Der Islam in der Diskussion sich gegen jede Kritik in dem einen oder anderen Bereich seiner Tätigkeit. Manche einflussreichen Ulema rufen für diesen Fall sogar nach Strafen, mit der Begründung, diese Kritiker hätten die Religion beleidigt. Als ein gutes Beispiel dafür seien hier die Machthaber in Iran erwähnt. Alle Kritiker Khomeinis und seiner Theorie von dem „Staat des religiösen Führers“ (arab. wilāīat al-faqīh) wurden als Feinde des Islam erklärt und deswegen auch bestraft. Ein anderes praktisches Beispiel ist die Doppelmoral der Islamisten,38 ganz besonders der radikalen unter ihnen. Sie haben eine bestimmte Haltung gegenüber allem, was nicht islamisch ist. Nicht-islamisch bedeutet für sie aber, alles, was nicht von Muslimen stammt. Und egal ob es sich nun um ein Produkt, ein Verhalten oder eine Kultur handelt, alles Nicht-Islamische wird kategorisch abgelehnt. In diesem Zusammenhang betrachten die Islamisten die nicht-islamischen Menschen als Heiden (arab. Kāfir). Neben der Ablehnung verbreiten sie den Imperativ „die Heiden nicht nachzuahmen“, was im praktischen Leben allerdings den Verzicht auf viele Errungenschaften bedeutet, sofern sie nicht aus den islamischen Gesellschaften stammen. Gerade die Islamisten selbst aber sind die ersten Konsumenten aller Produkte der nicht-islamischen Gesellschaften. Wenn die Islamisten z.B. sämtliche Errungenschaften der Wissenschaft, wie Internet, Autos, Flugzeuge, die Waffen, die sie für ihre Morde benutzen und viele andere Produkte der nichtislamischen Gesellschaften ohne Hemmung benutzen, so kann man ihre Behauptungen, alles, was nicht islamisch ist, zu verbieten, nicht als akzeptabel betrachten. Die religiös-politischen Bewegungen argumentieren auch mit der Rückkehr zum „alten“ Islam, d.h., mit der Rückkehr zu den gesellschaftlichen Zuständen zur Zeit des Propheten Mohammed und seiner vier Nachfolger bis 661 n.Chr. Diese Zeit zwischen 610 n.Chr. und 661 n.Chr.39 war die Zeit des Anfangs der islamischen Botschaft, in der die Gesellschaften in Mekka und Medina einen vollkommen anderen Lebensstil pflegten als in späteren Zeiten. Wenn die Islamisten, also diejenigen, die die Religion für politische Zwecke instrumentalisieren, die Rückkehr zu diesem Zeitalter fordern, so sind diese Aufrufe auf ihre Ernsthaftigkeit zu überprüfen. Der Verdacht liegt mehr als nahe, dass dieses „Zurück“ opportunistisch eingesetzt wird, um im Namen der Religion an politischem Boden zu gewinnen. Die Islamisten wissen ganz genau, dass der Prophet Mohammed damals versuchte, die Menschen für seine Botschaft zu gewinnen, indem er die Menschen eben nicht dazu gezwungen hatte, die islamische Lehre anzunehmen. Es wäre schön, wenn die Islamisten von heute das Verhalten von damals akzeptieren könnten, als Mohammed den Menschen sagte: 38 Dieser Begriff wird für alle Muslime verwendet, die den Islam als politische Waffe gegen die Anderen instrumentalisieren. 39�������������������������������������������������������������������������������������������� Im Jahre 610 n.Chr. hat Mohammed mit der Verbreitung seiner Botschaft erst in der Stadt Mekka begonnen, als er 40 Jahre alt war. Er starb im Jahre 632 n.Chr. in der Stadt Medina. Nach ihm haben die sogenannten vier rechtgeleiteten Kalifen die muslimische Gemeinde bis 661 n.Chr. geführt. Danach wurden die Staaten der Dynastien der Umayyaden, Abbasiden und Osmanen gegründet. Zweideutigkeiten und Widersprüche im Denken der religiös-politischen Bewegungen 37 Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion. 109,6. Der Koran ist voll mit Versen, die die damalige Zeit in Mekka und Medina beschreiben. Mohammed hat die Mekkaner zum Islam aufgerufen und viele von ihnen haben ihn und seine Botschaft abgelehnt, er hat aber lange mit ihnen über die Lehre des Islam diskutiert. Die mekkanische Periode war die Zeit des Friedens, obwohl Mohammed und seine heranwachsende Gruppe oft den Gewalttaten der Mekkaner ausgesetzt waren. In keinem koranischen Vers in der Zeit zwischen 610 n.Chr. und 622 n.Chr., als Mohammad aus der Stadt Mekka fliehen musste, ist von Gewalt gegen Nichtmuslime die Rede.40 Der Koran hatte dann später in Medina den Gewalteinsatz erlaubt, allerdings in Bezug auf die Selbstverteidigung der Muslime. Wenn die Islamisten also Mohammed nachahmen wollen, dann sollten sie sich den Anderen gegenüber so verhalten, dass sie zumindest keine Gewalt gegen sie anwenden, weil sie – als Muslime oder auch Nichtmuslime – nicht auf ihrer Linie sind. Auch zur Zeit Mohammeds, als die Beziehung zwischen Himmel und Erde, wie die Muslime es glauben, ohne Unterlass fortbestand,41 war es die Aufgabe des Propheten, mit den Menschen über diese Beziehung zu reden, ihnen zu erklären, was Gott mit seiner Botschaft meint, und sie von der Rechtmäßigkeit dieser Botschaft zu überzeugen. Nach dem Tod des Propheten Mohammed kann keine Gruppe der Islamisten von sich behaupten, diese Beziehung mit dem Himmel über den Erzengel Gabriel weiter pflegen zu können. Deshalb kann keine dieser Gruppen von den Menschen verlangen, hinter ihnen herzulaufen, und sie unter diesen vielen Gruppen als einzige Vertreterin der islamische Lehre zu betrachten. Auch wenn die Islamisten die Menschen zur Rückkehr zur Zeit der vier Kalifen nach Mohammed aufrufen, können sie nicht glaubwürdig darlegen, dass sie den Islam und die Heilige Schrift, nämlich den Koran, so verstehen, wie die Kalifen ihn verstanden und interpretiert haben. Die vier Kalifen haben den Islam unmittelbar vom Propheten gelernt, da sie alle vier die engsten Gefährten des Propheten waren. Die allgemeine Vorstellung in den islamischen Gesellschaften geht davon aus, dass mit dem Tod des Propheten Mohammed auch die direkte Beziehung zwischen Himmel und Erde endete. Alle Auslegungen des heiligen Textes danach sind Menschenwerk und darum fehlbar. Aber die Islamisten meinen, dass ihre Auslegungen unfehlbar seien. Dieser Diskurs von den heutigen Islamisten hat, wie schon erwähnt, seine organisatorischen Wurzeln im politischen Islam. Seine historischen Wurzeln liegen aber in der gesamten islamischen Geschichte, die mit der Gründung des Umayyadenreiches 40���������������������������������������������������������������������������������������� 622 n.Chr. musste Mohammed aus der Stadt Mekka fliehen, nachdem die Bedrohung durch seine Gegner so stark geworden war, dass er um sein Leben fürchten musste. Sein Zufluchtsort war Medina. Mit diesem Jahr, dem Jahr der Auswanderung (arab. Hiǧra), beginnt die muslimische Zeitrechnung. 41������������������������������������������������������������������������������������������� Die islamische Lehre beschreibt, wie der Erzengel Gabriel die göttliche Botschaft zu Mohammed herab gebracht hatte. Damit war die direkte Verbindung zwischen Gott und den Menschen, durch Mohammed, immer gewährleistet Der Islam in der Diskussion 38 in Damaskus im Jahre 661 n.Chr. begonnen hatte. Die neuen Machthaber in diesem Reich haben sich gut darauf verstanden, die Religion für ihre politische Macht einzusetzen. Auch die sogenannten islamischen Reiche, die den Umayyaden folgten, haben die Methoden der Instrumentalisierung der islamischen Religion für die Befestigung ihrer politischen Macht verwendet. Eine dieser Methoden war der organisierte Einsatz von Ulema, die im Staatsapparat entweder als Textinterpreten oder als Hadith-Erzähler fungierten.42 Ein Beispiel dafür kann uns die Rolle dieser Ulema bei manchen Machthabern erklären. In Anwesenheit des Gründers des Umayyadenreiches, Muʼawiya bin Abi Sufiyān, stand einer dieser, Ulema, während einer Versammlung auf, zeigte auf den Machthaber Muʼawiya und schrie laut: „Wenn dieser stirbt, dann folgt ihm dieser“, wobei er dann auf Muʼawiyas Sohn Yazid bin Muʼawiya zeigte. Dann schrie er weiter: „Und wenn irgendjemand mit dieser Entscheidung nicht einverstanden ist, dann dieses“, und dabei zeigte er auf sein Schwert.43 Die Widersprüche im Diskurs der Islamisten umfassen alle Thesen des politischen Islam. Es ist nicht möglich, hier alle Widersprüche zu entlarven und zu widerlegen, dafür bräuchte man wohl mehrere Abhandlungen. Es sollen nur zwei bekannte Thesen herausgegriffen und diskutiert werden, gleichzeitig soll versucht werden, sie zu widerlegen. Die erste und bekannteste These ist die Frage nach der politischen Macht. Bevor wir diese Frage diskutieren, müssen wir zunächst den arabischen Begriff „Al-Ḥukm“ erklären. Al-Ḥukm bedeutet entweder das Regieren, also die politische Macht, oder es bedeutet, im juristischen Sinne, ein Urteil fällen oder zwischen zwei streitenden Parteien richten. Im Koran wird der Begriff ausschließlich im juristischen Sinne gebraucht, niemals im politischen. Zu dieser Feststellung gelangt man, wenn man die Verse richtig liest und dabei entdeckt, dass innerhalb der Formulierung des Verses das arabische Adverb „baina“ verwendet wird, was so viel wie „zwischen“ oder „über“ oder auch „unter“ bedeutet. In Sure 4,58 heißt es etwa: […] Und, wenn ihr unter den Menschen urteilt, nach Gerechtigkeit zu urteilen […]. oder in Vers 39,3: […] wird Gott urteilen über das, worüber sie uneins sind. […]. Noch viele weitere Verse im Koran deuten auf den Begriff „Al-Ḥukm“ im juristischen Sinne hin. Die Islamisten verbreiten jedoch immer wieder ihre eigene Interpretation und ignorieren den korrekten philologischen Inhalt dieser Verse. Auf der Basis ihrer Inter42 Hadith bedeutet die Erzählungen und Reden des Propheten Mohammed. Hadith und das Verhalten, die Lebensweise und die Entscheidungen Mohammeds wurden Sunna genannt. Die Sunna stellt nach dem Koran die wichtigste Quelle der islamischen Lehre dar. Die Hadith-Erzähler sind diejenigen, die die Reden und Erzählungen des Propheten unter den Menschen verbreiten. 43 As-Sayid, Rif‘at: Al-Irhāb, Sina, Dar Aḫbār al-Yawm, Kairo 1995, S. 154. Zweideutigkeiten und Widersprüche im Denken der religiös-politischen Bewegungen 39 pretationen gehen sie mit Gewalt gegen Menschen vor, die ihre Auslegung des Korans ablehnen, und setzen sich damit in Widerspruch zum Koran. Das zweite Beispiel ist der Aufruf, welchen die Islamisten immer und überall verbreiten. Dieser Aufruf lautet „Al-Islam huwa al-ḥall“ – „der Islam ist die Lösung.“ Und nun, wenn man die Islamisten fragt: „Welchen Islam meint ihr eigentlich?“, so antworten sie, der Islam sei überall gleich, es gebe nur einen Islam. Wenn sie von dem einen Islam sprechen, so meinen sie damit aber lediglich, dass die Muslime überall das islamische Glaubensbekenntnis aussprechen44, dass die Muslime überall fünfmal am Tag beten (arab. aṣ-ṣalāt), Almosensteuer zahlen (arab. as-zakāt), im Ramadan fasten (arab. aṣ-Ṣawm) und dass sie alle nach Mekka pilgern (al-Haǧǧ). Diese fünf Pflichten nennt man in der islamischen Theologie „Die Fünf Säulen des Islam“ (arab. arkān adDīn oder auch arkān al-Islam), deren Ausübung tatsächlich von allen Muslimen der Welt als Zeichen der Frömmigkeit betrachtet wird. Sie stellen aber nur einen Teil der islamischen Lehre bzw. der Auslegung dieser Lehre dar. Der Koran beinhaltet noch weitere Themen, wie die sozialen (al-̔ilāqāt) und die wirtschaftlichen (al-Mu‘amalāt) und die Verträge zwischen den Menschen. Außerdem beinhaltet der Koran fast alle Erzählungen und Geschichten (al-Qaṣaṣ), die man im Alten und Neuen Testament findet. Und gerade bei diesen Themen der sozialen und wirtschaftlichen Bereiche gehen die Meinungen und die Interpretationen der Muslime, sowohl im Allgemeinen als auch unter den Ulema auseinander. Der einfache Muslim weiß nicht mehr, welcher der fünf verschiedenen islamischen Schulen45 er folgen soll, um die Frömmigkeit richtig zu realisieren. Aus diesen Schulen sind dreiundsiebzig Sekten (arab. Furqa) Richtungen entstanden, die sich wieder in insgesamt mehr als vierhundert Gruppierungen gespalten haben.46 Das ist einer der Gründe, warum so viele Probleme in den islamischen Gesellschaften entstanden sind, da keine dieser Gruppen in der Lage ist, Lösungen für alle sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme zu finden. Mit dem politische Aufruf der Islamisten: „Der Islam ist die Lösung!“, versuchen sie die Gefühle der Menschen zu erreichen, indem sie die Religion ins Spiel bringen und damit die Muslime mit einem sensiblen Thema in Berührung zu bringen, nämlich mit der Religion, um sie später politisch zu beherrschen. Wenn sie aber ihr Ziel erreicht haben und an die Macht gekommen sind, so hat die Geschichte uns gezeigt, dass die Islamisten die Probleme der islamischen Gesellschaften nicht gelöst, sondern noch vermehrt haben. Zwei Beispiele, ein sunnitisches und ein schiitisches, seien dazu erwähnt. 44 Das islamische Glaubensbekenntnis (arab. aš-Šahāda) lautet: „Ich bekenne, es gibt keinen Gott außer Gott. Und ich bekenne, dass Mohammed Gottes Prophet ist.“ Die Schiiten ergänzen es mit dem Halbsatz: „und ich bekenne, dass Ali der Freund Gottes ist.“ 45 Die fünf islamischen Schulen fassen vier sunnitische und eine schiitische. Die sunnitischen sind: die hanafitische, die malikitische, die schafiitische und hanbalitische Schule. Die schiitische ist die imamitische Schule. 46 Nach Scharif Yahīya al-ʼAmin: Lexikon der islamischen Gruppen (arabisch). Dar al-ʼAḍwā‘, Beirut 1986. 40 Der Islam in der Diskussion Bei dem sunnitischen Beispiel handelt es sich um die Machtergreifung der TalibanIslamisten in Afghanistan. Mit der Gründung ihres Gottesstaates haben die Taliban die Probleme der dortigen Menschen vervielfacht. Das Land wurde in die Zeiten des Mittelalters zurückgeworfen. Die wirtschaftlichen Probleme wurden komplizierter, nachdem die Taliban die Beziehungen zur sogenannten nicht-islamischen Welt abgebrochen hatten. Dadurch ist z.B. die Arbeitslosigkeit unter der Bevölkerung enorm gestiegen, weil Investitionen aus dem Ausland durch die politische Macht der Taliban verhindert wurden. Die Frauen durften sich außerhalb des Hauses nicht beschäftigen. Die kulturellen Probleme nahmen zu, als die Taliban außer den Koranschulen fast alle anderen Schulen verboten oder in ihren Kompetenzen stark beschränkten. Die Mädchen durften die Schule nicht besuchen. Außer religiösen Büchern konnte man kaum andere Bücher finden. Es gab keine Presse- oder Meinungsfreiheit. Durch den Einsatz der sogenannten Sittenpolizei, die die Menschen überall Bekleidungs- und Verhaltenskontrollen unterzog, nahmen schließlich auch die sozialen Probleme, wie Drogen, Vergewaltigungen und Gewalt zu.47 Das schiitische Beispiel beschäftigt sich mit dem Gottesstaat in Iran. Das erste Phänomen, das beim iranischen Muster des Gottesstaates beobachtet werden kann, ist die Beseitigung aller politischen Gegner sowohl innerhalb als auch außerhalb des religiösen Lagers. Es entwickelte sich eine Diktatur, in der nur der religiöse Führer das letzte Wort hat. Man hat zwar Wahlen in diesem Gottesstaat organisiert, aber die gewählten Personen müssen Anhänger der ideologischen Ausrichtung des religiösen Führers sein, ansonsten dürfen sie sich nicht zur Wahl stellen. Auch hier hat die Sittenpolizei die Menschen auf den Straßen, in ihren Geschäften und Arbeitsstellen und sogar in ihren Privathäusern kontrolliert. Die religiöse Diktatur hat immer mit brutaler Gewalt auf alle Proteste von Studenten, Arbeitern und Intellektuellen reagiert.48 Gleichzeitig mit dem Aufruf „Der Islam ist die Lösung“ versuchen die Islamisten das System des Kalifats zu revitalisieren und einen neuen Kalifen an der Spitze der politischen Macht zu etablieren. In diesem Bestreben ignorieren sie die Realität der heutigen Welt und widersprechen sich gewaltig. Die Erklärung dafür kann man in der islamischen Geschichte und in der heutigen Entwicklung der islamischen Gesellschaften finden. In der islamischen Geschichte stellte das Kalifat bis 1924 ein politisches Machtsystem für die ganze islamische Welt dar. Zwar gab es islamische Gebiete mit lokalen Machthabern, aber diese Gebiete waren ein Teil des gesamten islamischen Reiches, an dessen politischer Spitze der Kalif bzw. der Sultan49 stand. Die Wiederherstellung des Kalifats ist heute das wichtigste Anliegen des politischen Islams. Das Problem liegt 47 Afghanistan: Psychosoziale Arbeit in Kabul, Caritas International / Jahresbericht 2010. 48 Aktuelle Beispiele für ein solches Vorgehen seitens der iranischen Regierung bot die brutale Bekämpfung der Opposition im Iran nach der Präsidentenwahl im Iran im Jahr 2009. 49 Die Bezeichnung Kalif (arab. Nachfolger) bezieht sich auf den Nachfolger des Propheten und hat deshalb eine religiöse Bedeutung für den politischen Machthaber. Die Bezeichnung Sultan wurde im osmanischen Reich verwendet und hatte mehr politische Bedeutung für den Machthaber, der aber immer auch religiöser Führer der muslimischen Gemeinde war. Zweideutigkeiten und Widersprüche im Denken der religiös-politischen Bewegungen 41 aber darin, dass die Islamisten heutzutage über kein islamisch-politisches Zentrum mehr verfügen. Sie können auch keine einheitliche islamische Welt neu erschaffen, da die islamischen Gebiete so unterschiedlich sind, dass man niemals – wie vor 1400 Jahren– von einem einzigen Reich sprechen kann, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, diese Idee überhaupt realisieren zu können, und zwar, wenn es um die Person des Kalifen geht. Welche Nationalität soll der Kalif besitzen? Welcher Glaubensrichtung soll er angehören? Wo soll er seinen Hauptsitz haben? Die ganze Problematik der Wiederherstellung des Kalifats scheint wohl auch eher nur ein Versuch des politischen Islam zu sein, die Menschen emotional zu berühren und sie mit unrealistischen Plänen zu beschäftigen. Auf der anderen Seite stehen in den islamischen Gesellschaften Muslime den Islamisten gegenüber, die das gesamte Konzept des politischen Islam und seines Diskurses ablehnen und sogar bekämpfen. Unter diesen Menschen stehen neben moderaten und liberalen Ulema auch viele Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller und Künstler sowie Menschen aus den unterschiedlichen Schichten der islamischen Gesellschaften. Wenn diese Menschen die Thesen des Islamismus und dessen eingeschränkte Diskurse bekämpfen, so versuchen sie, diesen Kampf mit zivilisierten, friedlichen und religiöswissenschaftlichen Mitteln zu führen. Sie haben damit auch schon gewisse Erfolge erzielt. Alleine, dass man heutzutage kritische Veröffentlichungen auf dem Büchermarkt finden kann, die den Diskurs des politischen Islam widerlegen, gilt als großer Schritt der Aufklärung in dieser Richtung. Gleichwohl bleibt noch viel zu tun in der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Diskurs. Als wichtige Schritte in diese Richtung bieten sich an: 1. Konfrontation der Islamisten mit denselben Quellen, mit denen sie ihre Thesen erklären. Diese Quellen bestehen hauptsächlich aus dem Koran und der Sunna, die anders verstanden und ausgelegt werden können. 2. Die Auseinandersetzung mit dem Diskurs des politischen Islam darf sich nicht auf die Ebene der Elite beschränken. Sie muss auf der Straße, von den einfachen Menschen ausgetragen werden. Denn nur mit vernünftigen Argumenten kann man die Menschen von den möglichen Gegenpositionen zu einem islamistischen Diskurs überzeugen. 3. Alle Gegner dieses Diskurses sollten mit einer Stimme sprechen und mit gemeinsamen Konzepten arbeiten. Sie müssen ihre Arbeit gut organisieren, auch wenn ihnen dafür ungleich geringere Mittel zur Verfügung stehen als der Gegenseite, der politische Islam, ganz besonders die reaktionärste Form davon, nämlich die wahabitische Richtung in Saudi Arabien, wird von vielen Mächten finanziell unterstützt und mit diesen Mitteln in der ganzen Welt verbreitet.50 Die 50 Spiegel Online Panorama von 28.10.2003. 42 4. 5. 6. 7. Der Islam in der Diskussion liberalen und progressiven Denker in der islamischen Gesellschaften verfügen nicht über solche Unterstützungen. Die Islamisten stehen gegen die Hälfte der islamischen Gesellschaften, weil sie sich gegen die Rechte der Frauen stellen, die sie unterdrücken und als minderwertige Wesen betrachten. Dieses Gebiet ist eines der wichtigsten im Kampf gegen die Islamisten und ihrer Thesen. Ganz besonders hier müssen sich die Frauenorganisationen und -verbände intensiv beteiligen. Der Kampf muss auch auf pädagogischer Ebene geführt werden und Lehrpläne und Schulsysteme erreichen. Die gesamte Schulausbildung in den islamischen Gesellschaften muss neu bearbeitet und umgestellt werden. Die heutigen Lehrpläne sind fast alle kontraproduktiv. Durch neue Lehrprogramme kann der einfache muslimische Mensch seine Religion besser kennenlernen. Er wird sich dann nicht länger vom Diskurs der Islamisten in der Ausübung seiner Religion beeinflussen lassen. Und nicht zuletzt muss man versuchen, den Dialog in der Gesellschaft zum Hauptinstrument der Auseinandersetzung zumachen, und die Islamisten immer wieder dazu aufzufordern, ihre Thesen zur öffentlichen Diskussion zu stellen. Wenn man von diesen Maßnahmen spricht, wird klar, dass der Kontakt und die Gespräche mit den Islamisten nicht vermieden werden können. Hier stellt sich die Frage: Auf welcher Basis können diese Gespräche stattfinden? Das Denken der Islamisten ist auf bestimmte Themen und Quellen konzentriert. Sie interessieren sich nicht für die Themen und Quellen der Anderen. Deshalb ist es sinnvoll, mit ihnen auf der Basis ihrer eigenen Quellen zu diskutieren. Eine wichtige Quelle hierzu ist das heilige Buch des Islam, der Koran. 5 Der Koran ist das Problem Die heutige Fassung des Korans ist die endgültige, einheitliche und von allen Muslimen in der Welt anerkannte Fassung. Die originale Fassung des Korans ist in klassischem Arabisch verfasst und beinhaltet 114 Kapitel (arab. Sūra) mit einer je unterschiedlichen Anzahl von Versen. Die Kapitel des Korans beschäftigen sich mit vier Hauptthemen. Diese sind: die religiösen Pflichten (al-͑ibādāt), die Beziehungen zwischen Mensch/Gott und Mensch/Mensch (al‘ilāqāt), die wirtschaftlichen Vereinbarungen zwischen den Menschen (al-mu‘amalāt) und die Geschichten (al-qaṣaṣ). Der Koran ist für die Muslime das Gotteswort, welches der Prophet Mohammed innerhalb von zweiundzwanzig Jahren (610-632 n.Chr.) von Gott durch den Erzengel Gabriel empfangen hat. Die Formulierung des Korans wurde zunächst mündlich tradiert und dann schriftlich festgehalten und verbreitet. Der dritte Kalif, Uthman (644-656 n.Chr.), hat die heutige schriftliche Formulierung fixieren lassen und sie zur einzigen anerkannten und für alle Muslime verbindliche und Version der Offenbarung erklärt.51 Die göttliche Offenbarung durch den Koran ist nicht zu verstehen, wenn man den koranischen Text nicht mit seinen historischen, theologischen und auch philologischen Dimensionen verbindet. Deshalb ist es wichtig, den Koran zunächst von diesen Seiten kennenzulernen, damit man nachher alle Probleme, die damit verbunden sind, besser verstehen kann. Die erste Dimension hängt mit dem Ort der Offenbarung zusammen. An jenem Ort auf der arabischen Halbinsel, wo die klimatischen Verhältnisse extrem und dadurch die Lebensbedingungen sehr schwer sind, lebte eine Gesellschaft, die sich in ständigem Kampfzustand befand. Diese Gesellschaft führte einen Kampf, um zu überleben und sich zu schützen. Und schützen musste sich diese Gesellschaft nicht nur vor den Gefahren des Ortes, sondern auch vor den Gefahren durch die Mitbewohner dieses Ortes, die auf der Suche nach Nahrung auch die Anderen angegriffen und beraubten. Viele der wandernden Beduinen des Ortes wurden nach und nach sesshaft. Als Mohammed im Jahre 570 n.Chr. in Mekka geboren wurde, war Mekka neben Medina die wichtigste Stadt der arabischen Halbinsel. Beide Städte fungierten als Zwischenstation auf dem langen Handelsweg zwischen Indien und Syrien bzw. Byzanz und Persien. Trotz Sesshaftigkeit hielten die Bewohner dieses Ortes an ihrem Stammesdenken bzw. Stammesbewusstsein fest, welches ihr Verhalten weiterhin sehr stark beeinflusste. Mohammed akzeptierte die Stammesverbindungen nicht, sondern lehnte sie ab, und als er mit seiner Offenbarung in diese Gesellschaft kam, kritisierte er viele Erscheinungsformen dieser 51 Der Koran wird auch als „Miṣḥaf ̔Uṯmān“ genannt, um den Koran nach der Zusammensetzung von ‘Uṯmān zu verdeutlichen. 44 Der Islam in der Diskussion Lebensweise auf das Schärfste.52 An oberster Stelle stand für ihn die Gemeinschaft der Gläubigen (arab. Umma), die in ihrem Glauben an einen einzigen Gott verbunden ist. Mohammed predigte die Gleichheit der Menschen und lehnte die schlechte Behandlung der Sklaven ab. Vor allem aber bekämpfte er den Polytheismus in der Gesellschaft und rief zu dem einen und einzigen Gott, dem Gott Abrahams, auf. Die Aufforderungen mussten aber so formuliert sein, dass sie von den damaligen Menschen verstanden werden konnten, denn nur so war es den Menschen möglich, ihnen eventuell Folge leisten. Die Formulierung des koranischen Textes, der diese Aufforderungen umfasst, musste also dem Denkvermögen der Menschen des 7. Jahrhunderts entsprechen. Die Islamisten leugnen diese örtliche und zeitliche Gebundenheit der Offenbarung und versuchen, den Text des Korans davon zu trennen. Viele Verse, die mit den damaligen geografischen, sozialen und klimatischen Situationen der arabischen Halbinsel zu tun haben, sind für die heutigen Gebiete der islamischen Welt nicht mehr von Bedeutung. So z.B. die Sure 106, die lautet: Im Namen Allahs, des Gnädigen des Barmherzigen. Wegen der Vorliebe der Quraisch. Ihrer Vorliebe für Reisen im Winter und Sommer. Sollten sie den Herrn dieses Hauses verehren. Der sie gespeist hat gegen Hunger und sie sicher gemacht vor Furcht. (NK). Diese Sure bleibt im Koran als heiliger Text der Offenbarung für die damaligen Verhältnisse bestehen. Heutigen Menschen hat diese Sure nichts mehr zu sagen. Und so steht es um viele Verse, die von den Stämmen und Sippen der Beduinengesellschaft von damals Auskunft geben. Die zweite Dimension des koranischen Textes hat mit der Dauer der Offenbarung zu tun. Die zweiundzwanzig Jahre, in denen der Koran nach und nach in zwei Phasen53 offenbart wurde, zeigen, dass die stufenweise Übermittlung eine große Rolle bei der Erklärung dieser völlig neuen Informationen spielte. In der mekkanischen Phase, in der der Islam schwach und die wenigen Muslime in der Stadt Mekka bedroht waren, hatte Mohammed den Schutz seiner Gemeinde als wichtigste Aufgabe gesehen und auch entsprechend gehandelt. In dieser Phase war der Text des Korans philologisch gesehen sehr klar und deutlich, mit der Konzentration auf bestimmte und klare Themen, z.B. Schöpfung und Schöpfer. Die wichtigste Aufgabe der Offenbarung in dieser Phase war die Über52 6/151(NK), Sprich: «Kommt her, ich will vortragen, was euer Herr euch verboten hat»: Ihr sollt Ihm nichts zur Seite stellen, und Güte (erzeigen) den Eltern; und ihr sollt eure Kinder nicht töten aus Armut, Wir sorgen ja für euch und für sie. Ihr sollt euch nicht den Schändlichkeiten nähern, seien sie offen oder verborgen; und ihr sollt nicht das Leben töten, das Allah unverletzlich gemacht hat, es sei denn nach Recht. Das ist es, was Er euch geboten hat, auf dass ihr begreifen möget.“ (KT). 53 Die erste war in Mekka von 610 n.Chr. bis Mitte 622 n.Chr. und wird daher als mekkanische Phase beschrieben, die zweite begann nach der Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina von 622 n.Chr. bis zu seinem Tod im Jahre 632 n.Chr. und wird medinensische Phase genannt. Der Koran ist das Problem 45 mittlung der göttlichen Botschaft über Monotheismus in friedlicher und überzeugender Form. Wichtig war, den Menschen von Ideen zu erzählen, die sie schon kannten, im Laufe der Zeit aber aus den Augen verloren hatten. Es ging also darum, mehr oder weniger stufenweise, an den Schöpfer und die Schöpfung und an die anderen Propheten zu erinnern. Die aus der mekkanischen Phase stammenden Verse des Korans widmen sich hauptsächlich der Reflexion friedlicher Ideen des Islam. Mit Gewalt oder Gewaltanwendung befasst sich in dieser Phase kein einziger Vers. Das ändert sich während der medinensischen Phase, in der der Islam auch nach der Übersiedelung nach Medina von den Mekkanern54 militärisch angegriffen wurde und damit in seiner Existenz bedroht war. Hier wurde im Koran der Einsatz von Gewalt als Mittel der Verteidigung erlaubt. Wenn die Islamisten nur mit den Gewaltversen dieser Phase argumentieren, um ihre Gewaltaktionen gegen andere Muslime und Nichtmuslime zu legitimieren, so ignorieren sie die zwölf Jahre Koran-Offenbarung in Mekka und setzen den Islam insgesamt dem Verdacht des Opportunismus aus. Die dritte Dimension der koranischen Offenbarung ist die philologische Dimension. Es handelt sich hier um die Art und Weise, in der der Korantext schriftlich fixiert wurde und damit eng verknüpft das Problem des Textinhalts. Um diese Probleme verstehen zu können, muss man sich zunächst mit der Art des philologischen Diskurses im 7. Jahrhundert überhaupt beschäftigen. In diesem Jahrhundert empfing der Prophet Mohammed die göttliche Offenbarung. Der Koran wurde in der arabischen Sprache des 7. Jahrhunderts offenbart. Diese Sprache hatte bis dahin mehrere Entwicklungsphasen durchgemacht, im Zuge derer mehrere Mundarten entstanden. Der Stamm der Quraiš55 bediente sich einer anderen arabischen Mundart als etwa die arabischen Stämme im Jemen. Hinzu kommt das Problem der damals verbreiteten sieben Lesarten des Korans, das heute noch unter den Arabern diskutiert wird. Vielerorts wurde der Text des Korans so gelesen, als ob es sich um einen gesprochenen Text handeln würde. Zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort wurde kein Unterschied gemacht. Natürlich war der Koran nicht nur für den Stamm des Propheten gedacht, und nicht nur für die Mekkaner oder Medinenser und auch nicht nur für die Menschen auf der arabischen Halbinsel, sondern für alle Menschen, und alle diese Menschen musste der Text des Korans erreichen. Mit der zunächst mündlichen und Jahrzehnte später begonnenen schriftlichen Verbreitung des Korans entstanden mehrere Lesarten in verschiedenen von den Arabern bewohnten Gebieten. Die Inhalte von ein und demselben Text waren nicht identisch. Dadurch waren viele Muslime unsicher, welche Lesart denn nun die richtige sei. Diese Verwirrung war der Hauptgrund, welcher den dritten Kalifen, Uthman (644656 n.Chr.), veranlasste, den Koran in einer einheitlichen Sprache schreiben zu lassen. Um den Propheten Mohammad zu ehren, hatte man die Sprache des Stammes der Quraiš, Mohammeds Stamm, dafür ausgewählt. Von diesem Koran Uthmans wurden 54 Nämlich vom Stamme Quraiš und seinen damaligen Verbündeten. 55�������������������������������������������������������������������������������������� Quraiš ist der Stamm des Propheten Mohammed. Viele Sippen und Familien des Stammes waren in der Zeit der Offenbarung in Mekka sesshaft. Die Familie Mohammeds, die Hašimiten, war eine davon. 46 Der Islam in der Diskussion sieben Exemplare abgeschrieben und auf die Zentren des Islam verteilt. Diese Zentren waren: Medina, Mekka, Jemen, Bahrain, Basra, Kufa56 und Syrien.57 Danach ordnete Kalif Uthman die Verbrennung aller anderen Exemplare in allen Gebieten an, damit die neue Fassung des Korans die einzig gültige Fassung für alle Muslime bleiben konnte. Auffällig bei der Bewältigung des Sprachenproblems ist die vernünftige Art und Weise, mit der hier eine Lösung gefunden wurde. Die wichtigste Feststellung in hinsichtlich dieses Prozesses ist die Tatsache, dass sich unter den Texten, die der Kalif Uthman verbrennen ließ, auch solche befanden, die ohne Zweifel ein Teil der göttlichen Offenbarung gewesen waren. Keiner der Gefährten Mohammeds beschimpfte aber Uthman als Ungläubigen oder Abtrünnigen oder forderte gar seinen Tod, obwohl einige von ihnen mit der Verbrennungsaktion nicht einverstanden waren. Die Islamisten von heute hätten Uthman gleich mehrmals zum Tode verurteilt, weil sie sein Handeln als Gotteslästerung betrachten und nicht erkennen, dass Uthmans vernünftige, menschliche Lösung ein großes und komplexes Problem aus der Welt geschafft hat. Für die Vorstellung, dass Gott die Beseitigung eines sozialen Problems mit friedlichen Mitteln lieber sein könnte als die von den Fundamentalisten heutzutage verbreiteten Hass- und Gewaltpredigten, reicht das Denkvermögen der Islamisten nicht aus. Die vierte Dimension beschäftigt sich mit den Widersprüchen zwischen Theorie und Praxis, denen wir heute bei der Analyse des Korantextes begegnen. Damit ist die Bereitschaft der heutigen muslimischen Gesellschaften angesprochen, mit der Modernisierung im 20./21. Jahrhundert zu Recht zu kommen, ohne dabei das Gefühl zu haben, von ihrer Religion getrennt zu werden. Die Muslime stehen vor einem Text, der über 1400 Jahre alt ist. Dieser Text ist ohne Zweifel ein heiliger Text und darf nicht umformuliert oder abgeschafft werden. Er darf und er muss aber übersetzt und analysiert werden, da nicht alle Muslime heute die Sprache des Stammes der Quraiš verstehen. Und hier liegt das Problem: das Problem der Interpretation und Auslegung des heiligen Textes. Für die Auslegung eines Textes wie der des Korans stehen zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten zu Verfügung. Die erste ist die wortwörtliche Erklärung des Textes, die keinen Spielraum für eigene Gedanken und Ideen lässt. Der Koran hat Themen angesprochen, die entweder heute nicht mehr relevant sind oder sich so verändert haben, dass man die Korantexte nur zur Orientierung benutzen kann. Die zweite Methode ist die Übersetzung und Interpretation des Textes und der Einsatz des Denkvermögens des Übersetzers oder Interpreten. In diesem Fall darf man, den Inhalt des Textes nicht mit dessen Vokabeln wortwörtlich erklären, sondern muss versuchen, den Inhalt eventuell auch mit den Deutungen dieser Vokabeln verständlicher und praktischer zu machen. Als Beispiel für diese Methode wollen wir die Sure 22, 27 näher anschauen: Und ruf unter den Menschen zur Wallfahrt auf, so werden sie zu dir kommen zu Fuß und auf vielen hageren Kamelen, die aus jedem tiefen Passweg daherkommen, […]. 56 Die Städte Basra und Kufa liegen im heutigen Irak. 57 Syrien oder auch aš-Šams genannt, umfasste damals neben dem heutigen Syrien die jetzigen Gebiete des Libanon, von Palästina und Jordanien. Der Koran ist das Problem 47 Bei wortwörtlichem Verständnis dieses Textes müsste die Pilgerfahrt der Muslime nach Mekka auch heute noch entweder zu Fuß oder auf Kamelen absolviert werden. Und das ist natürlich unmöglich für die Muslime, die über die ganze Welt verstreut leben. Wenn man aber die Kamele als Symbol für ein Fortbewegungsmittel bzw. ein Fahrzeug betrachtet, so wird es den Muslimen möglich, hier alle anderen Fahrzeuge, die man heute benutzen kann, während der Pilgerfahrt zu verwenden. Es gibt noch viele Beispiele im Text des Korans, die ähnlich interpretiert und ausgelegt werden können. Dies bedeutet nicht, dass der Text infrage gestellt wird, sondern es wird vielmehr seine praktische Bedeutung und Anwendung für das Leben der Muslime in ihrer Gegenwart hervorgehoben. Die Araber stellen zurzeit eine Minderheit unter den Muslimen in der Welt dar. Wenn schon die Araber, in deren Muttersprache der Koran offenbart wurde, solche Probleme mit ihrem Text haben, so müssen die muslimischen Nichtaraber noch weitaus größere Schwierigkeiten damit haben. Und damit kommen wir zu dem Problem der Übersetzung in andere Sprachen. Der Koran wurde tatsächlich schon in viele Sprachen der Welt übersetzt. Es ist selbstverständlich, dass bei jeder Koran-Übersetzung mehrere Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Die erste ist die philologische Fähigkeit des Übersetzers sowohl in der arabischen als auch in der Sprache, in die der Text des Korans übersetzt werden soll. Und die zweite Voraussetzung ist die Fähigkeit des Übersetzers, Formulierungen zu finden, mit denen die Wiedergabe des originalen Textes gewährleistet wird. Aber egal, wie gut und perfekt die Übersetzung sein mag, den genauen Inhalt des Originals auf vollkommene Weise widerspiegeln kann sie nicht. Als Letztes soll noch die Frage der Abrogation58 im Koran zur Sprache kommen. Die Abrogation des koranischen Verses ist seit langer Zeit eine Wissenschaft für sich geworden. Diese Art der Interpretation soll hier ganz kurz dargestellt werden. Es geht hier um das Ersetzen eines koranischen Verses durch einen anderen, sodass der erste Vers keine verbindliche Gültigkeit mehr hat. Als Beispiel der Abrogation können die Verse hinsichtlich des Weingenusses analysiert werden. In Sure 4,43 steht: O ihr, die ihr glaubt, kommt nicht zum Gebet, während ihr betrunken seid, bis ihr wisst, was ihr sagt, […]. Dieser Vers beinhaltet kein Alkoholverbot. Er deutet nur daraufhin, dass ein Muslim nicht in einem berauschten Zustand sein darf, wenn er zum Gebet kommt. Viel später und aus verschiedenen Gründen wurde die Sure 5,90 offenbart: O ihr, die ihr glaubt, der Wein und das Glücksspiel, die Opfersteine und die Lospfeile sind ein Gräuel von Satans Werk. Meidet es, auf dass es euch wohl ergehe. (AK). 58 Abrogation (nasch, arabisch, DMG nasḫ; vom Lateinischen abrogare: abschaffen) ist ein Verfahren der islamischen Rechtswissenschaft, mit dem Texte oder Vorschriften des Korans oder des Hadith verändert, aufgehoben oder gestrichen werden können. 48 Der Islam in der Diskussion Dieser Vers wurde als ein klares Verbot des Weingenusses überhaupt verstanden, womit dem Inhalt der Sure 4,43 keine Verbindlichkeit mehr zukommt, der nur den berauschten Zustand beim Gebet verbietet. Die Abrogation wurde von den Muslimen unterschiedlich verstanden. Die Anhänger der wortwörtlichen Interpretation erklären diese Inhalte zu einer Bestätigung des Gottesworts in den beiden Versen. D.h., der Inhalt der Sure 5,90 schließt den Inhalt der Sure 4,43 ein, und damit bleiben beide Verse verbindlich. Es kommt also nicht zu einer Abrogation, bei der einer der Verse seine Gültigkeit verliert. Die Anhänger der Abrogation dagegen sehen diese Veränderung im koranischen Text als ein klares Beispiel für die Verbindung des Textes mit den veränderten Situationen in der islamischen Gesellschaft. Am Anfang der islamischen Offenbarung war die Religion nicht so stark, dass man mit strengen Vorschriften, wie dem Alkoholverbot, hätte beginnen wollen. Die Gesellschaft damals sah sich vorwiegend sozialen Problemen gegenübergestellt, wie die Unterdrückung der Sklaven oder Stammesfanatismus usw., die Vorrang bei der Behandlung, haben sollten. Mit der allmählichen Etablierung und Festigung der Religion im gesellschaftlichen Kontext konnte man später auch zu anderen Problemen des täglichen Lebens übergehen. Es ist kein Wunder, wenn Muslime, speziell unter den Islamisten, manche ihrer aufgestellten Behauptungen mit dem Koran verbinden. Viele Muslime haben sich auf das Auswendiglernen des Textes verlegt, ohne viel davon zu verstehen. Die Islamisten, ob Araber oder Nichtaraber, füttern diese Menschen mit Behauptungen, die man im Koran nirgendwo finden kann, wie z.B. die Todesstrafe für diejenigen, die ihre Religion wechseln wollen, oder die Steinigung für Ehebrecherinnen. Mit solchen Behauptungen versuchen sie die einfachen Menschen so zu verunsichern, dass sie durch ihre Angst stets an ihre Ideen gebunden werden. Die zweite Quelle des Islam, die Sunna, ist auch ein Problem für die Muslime. Unter Sunna versteht man im Allgemeinen alle Reden, das Verhalten und die Entscheidungen des Propheten Mohammed. Bei manchen muslimischen Rechtsschulen, wie bei der hanbalitischen Schule wurde dieser Begriff ausgeweitet und umfasst auch Reden und Verhalten der vier rechtgeleiteten Kalifen nach Mohammed und aller Gefährten des Propheten, die mit ihm lange Zeit zusammen waren. Allein aus diesem Grund ist die Zuverlässigkeit der Sunna sehr gering. Das Wichtigste bei der Glaubwürdigkeit der Sunna ist die Glaubwürdigkeit des Erzählers. Deshalb haben die bekanntesten HadithSammler, also diejenigen, die die Erzählungen, Entscheidungen und das Verhalten des Der Koran ist das Problem 49 Propheten Mohammed aus verschiedenen Quellen gesammelt haben, wie beispielsweise al-Būḫārī, vieles von dem, was sie gesammelt hatten, als unglaubwürdig verworfen. Die Sunna als die zweite Quelle der islamischen Religion wurde von den verschiedenen muslimischen Schulen unterschiedlich bewertet. Manche messen ihr den gleichen Wert wie dem Koran zu. Die anderen stufen sie als sekundäre Quelle ein. Diese unterschiedliche Bewertung der Sunna führt dazu, dass auch die Einstufung der Wichtigkeit des Inhaltes unterschiedlich ausfällt. Und es gibt noch ein Problem, welches ebenfalls mit der Bewertung der Erzählungen zu tun hat. Wie sollen sich die Muslime verhalten, wenn es über ein und dasselbe Thema zwei unterschiedliche Urteile gibt, ein koranisches und eines aus der Sunna? Manche sagen, man hält sich an das zuletzt geschriebene Wort, also das jüngste Wort. Andere sagen, das Urteil des Korans ist das wichtigste, da dem Inhalt des Korans niemals widersprochen werden darf. Eine dritte Gruppe plädiert für dasjenige, das am leichtesten einleuchtet, da es im Koran (2,185) heißt: […] Gott will für Erleichterung, er will für euch nicht Erschwernis, […]. Probleme über Probleme müssen die Muslime bewältigen, um ihre Quellen richtig verstehen, auslegen und anwenden zu können. Unter diesen Umständen wundert man sich nicht, wenn die Terrororganisationen ihre Aktionen immer mit dem Koran oder mit der Sunna legitimieren und die entsprechenden Stellen in diesen Quellen anführen.59 Es gibt noch andere Quellen der islamischen Religion, wie die Analogie oder der Konsens, die hier nicht von großer Bedeutung sind.60 59 Z.B. 8/60 Und rüstet wider sie, was ihr nur vermögt an Streitkräften und berittenen Grenzwachen, damit in Schrecken zu setzen Allahs Feind und euren Feind und außer ihnen andere, die ihr nicht kennt; Allah kennt sie. Und was ihr auch aufwendet für Allahs Sache, es wird euch voll zurückgezahlt werden, und es soll euch kein Unrecht geschehen. (KT). 60 Analogie (arab. Qiyās) bedeutet eine Lösung eines Problems in der islamischen Geschichte überhaupt auf ein ähnliches Problem in der Gegenwart zu übertragen. Der Konsens bedeutet die gemeinsame einvernehmliche Lösung eines Problems, die von der gesamten islamischen Gemeinde getroffen wird. 6 Die gesellschaftliche Rolle der Frau ist auch ein Problem Die Beeinflussung der verschiedenen Gesellschaften und Kulturen durch die Religionen oder die religiösen Botschaften muss in Verbindung mit den damals herrschenden Normen und Gebräuchen jener Gesellschaften gesehen und auch entsprechend interpretiert werden. Ohne diese zeitgebundene Beobachtung würde jede Analyse des heiligen Textes mit falschen Resultaten einhergehen. Wenn wir heutzutage Maßstäbe entwickeln, dann sind diese Maßstäbe eine Reaktion unseres heutigen Denkens und werden deshalb so entwickelt, weil sie sich in der Regel den Normen und Gebräuchen unserer heutigen Gesellschaft anpassen. Der Diskurs um die Rolle und die Stellung der Frau bietet vielerlei Beispiele einer solchen historisch unreflektierten Aneignung der koranischen Offenbarungstexte. Die Gesellschaften der abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam haben in den letzten dreitausend Jahren verschiedene Lebensformen und gesellschaftliche Strukturen entwickelt. Jede Gesellschaft musste immer wieder auf neue wissenschaftliche soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Entwicklungen reagieren und sich und ihre Lebensform entsprechend ändern bzw. entsprechend weiterentwickeln. Die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern war bei der Entstehung aller drei Religionen von den damals herrschenden Gedanken und Normen der patriarchalischen Gesellschaft sehr stark beeinflusst. Männer wurden im Gegensatz zu den Frauen die schweren körperlichen Aufgaben des Lebens zugetraut. Die Überwindung der Herausforderungen des Lebens war sehr oft mit der Stärke des Körpers verbunden. Die Verteidigung des Stammes bzw. der Familie, die Beschaffung von Nahrungsmitteln und viele andere schwere Aufgaben waren oft nur für die Männer vorgesehen. Die Frauen in diesen patriarchalischen Gesellschaften spielten immer eine sekundäre Rolle. Deshalb waren die Frauen den Männern in jenen Gesellschaften in ihrer sozialen Stellung untergeordnet. Im Laufe der Zeit und nachdem die Gebiete der drei Religionen sich unterschiedlich entwickelt hatten, kam es zu Veränderungen der Rollenverteilung in Reaktion auf die oben genannten neuen gesellschaftlichen Entwicklungen. Diese neue Situation hat nun nicht sehr viel mit den alten religiösen Gesellschaftsordnungen zu tun. Wegen der neuen wirtschaftlichen und kulturellen Herausforderungen und wegen der Vermischung der verschiedenen Kulturen, die auch verschiedene religiöse Normen und Gebräuche mit sich gebracht haben, hat man versucht, das patriarchalische Gesicht der Gesellschaft zu verändern. Wenn wir z.B. die europäischen Gesellschaften beobachten, so können wir eine Entwicklung feststellen, die nicht unbedingt vom Christentun alleine geprägt ist. Die gesellschaftliche Entwicklung auf diesem Teil der Erde kann man nicht verstehen, wenn man sie nicht mit den Einflüssen der griechischen und römischen Kulturen, mit der französischen Revolution, mit der industriellen Revolution, aber auch mit der religiösen Reformation verbindet. Es ist daher falsch, wenn wir bei diesem Thema immer den Ver- 52 Der Islam in der Diskussion gleich zwischen dem Islam und dem Westen ziehen. Diese beiden Begriffe stellen in diesem Punkt Elemente dar, die man nicht miteinander vergleichen kann. Wenn wir bestimmte Vergleiche forcieren wollen, dann muss der Vergleich zwischen zwei vergleichbaren Elementen gezogen werden, wie z.B. Islam und Christentum oder Morgenland und Abendland, Orient und Okzident usw. Wenn wir nun die Stellung der Frau in den monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam anhand der heiligen Schriften dieser Religionen kennenlernen wollen, so muss versucht werden, sich von heutigen Maßstäben zu distanzieren und gleichzeitig die Texte der heiligen Schriften auf die Messlatte der damaligen gesellschaftlichen Maßstäbe zu legen. Bei der Betrachtung der religiösen Texte sehen wir manchmal fast identische Formulierungen, obwohl die Zeiten, in denen diese Texte offenbart und verfasst wurden sehr weit auseinanderliegen. Damit wird die These bestätigt, die davon ausgeht, dass der Inhalt der religiösen Botschaften sich im Wesentlichen ähnelt und nur die Zeiten und die Sprachen sich verändert haben, d.h., dass die religiösen Offenbarungen zu verschiedenen Zeiten auf unterschiedliche gesellschaftliche Zustände reagierten. In diesem Zusammenhang sollen hier einige Texte der heiligen Schriften der drei Religionen über die Stellung der Frau miteinander verglichen werden, um feststellen zu können, wie die Lehre, also die Theorie und nicht die Praxis, dieser Religionen die Rolle der Frau in der Gesellschaft sieht. Und gleichzeitig können wir das Verhalten der Islamisten den Frauen gegenüber analysieren, und warum sie sich in vielen Fällen an Texten festhalten, die eigentlich mit der Entwicklung der Gesellschaften, sowohl innerhalb als auch außerhalb der islamischen Welt, nichts zu tun haben. Diese Texte der heiligen Schriften verdeutlichen theoretische Zugänge in folgenden Bereichen: 1. Erschaffung der Frau 2. Die Sünde 3. Die Frau als Beute 4. Stellung der Frau in der Gesellschaft 5. Das Verhalten der Frau in der Gesellschaft 6. Bekleidung 7. Die Erbschaft 8. Eheschließung 9. Scheidung 10.Die Gleichberechtigung Die gesellschaftliche Rolle der Frau ist auch ein Problem 6.1 53 Die Erschaffung der Frau Alle drei heiligen Bücher, das Alte Testament (AT)61 das Neue Testament (NT) und der Koran sprechen von Gott als dem Schöpfer des Himmels und der Erde und allem, was dazugehört, und auch von den Lebewesen. In allen diesen heiligen Büchern finden wir einige Stellen, die sich nur mit Erschaffung der Frau aus dem Mann beschäftigen. AT/NT (1) Koran (2) (AK) Gen 2,22 „Aus der Seite machte er eine Frau und brachte sie zu dem Menschen.“ 16,72 „Und Gott hat euch aus euch selbst Gattinnen gemacht […].“ (vgl. auch 4/1). 1Kor 11,8 „Der Mann wurde nicht aus der Frau geschaffen, sondern die Frau aus dem Mann“ 11,12 „Zwar wurde die Frau aus dem Mann geschaffen; aber der Mann wird von der Frau geboren. Und beide kommen von Gott, der alles geschaffen hat.“ Ansonsten wurde im Koran von der Erschaffung der Menschen überhaupt gesprochen, z.B. 96,2 oder 22,5 und 23,12-14. 6.2 Die Sünde Über die Rolle der Frau bei der Vertreibung der ersten Menschen (Eva und Adam) aus dem Paradies und den Verursacher dieser Vertreibung unterscheiden sich die heiligen Bücher allerdings entscheidend. Während die Bibel die Frau und den Mann mit einer Akzentverschiebung zu Eva anklagt, das Gebot im Paradies übertreten zu haben und damit die Vertreibung des Menschenpaares Adam und Eva aus dem Paradies verursacht zu haben, macht der Koran beide, also Adam und Eva (ohne den Namen Eva zu erwähnen) für diese Vertreibung verantwortlich. 61 AT/NT nach: Die Bibel (Die Bibel, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1982, 2.Auflage). Der Islam in der Diskussion 54 AT/NT (1) Koran (2) (AK) Gen 3,6-19 Diese Verse erklären, wie die Frau die Vertreibung aus dem Paradies verursacht hat. Es werden an dieser Stelle nur einige Abschnitte dieses Kapitels erwähnt, weil sie zu lange und zu zahlreich sind.6. „[…] Sie (die Frau) pflückte eine Frucht, biss davon ab und gab sie ihrem Mann […].“ 12. „Der Mann erwiderte: Die Frau, die du mir gegeben hast, reichte mir eine Frucht, da habe ich gegessen.“ 13. „Gott fragte die Frau, warum hast du das getan.“ 2,35-36 „Und wir sprachen: O Adam, bewohne du und deine Gattin das Paradies. Esst reichlich von ihm zu eurem Wohl, wo ihr wollt. Aber naht euch nicht diesem Baum, sonst gehört ihr zu denen, die Unrecht tun. Da ließ sie Satan beide vom Paradies fallen und vertrieb sie vom Ort, wo sie waren.“ 1Tim 2,14 „Es war auch nicht Adam, der vom Verführer getäuscht wurde, die Frau ließ sich täuschen und übertrat das Gebot Gottes.“ 6.3 Frau als Beute In den alten Kulturen des gesamten Orients war die soziale Stellung der Frau in der Gesellschaft sehr niedrig eingestuft. Sie wurde im Wesentlichen als KonsumentenIn und nicht als ProduzentenIn in sozialer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Güter gesehen. Sie wurde aber auch als Lustobjekt der Männer betrachtet. Deshalb spielte die Geiselnahme der Frau bei kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Stämmen eine große Rolle und wurde als Zeichen der Stärke und Überlegenheit der Sieger interpretiert und symbolisierte darüber hinaus die Schwäche und Schande des besiegten Stammes. Die heiligen Bücher der abrahamitischen Religionen erzählen uns einige Geschichten darüber. AT/NT (1) Gen 34,29 „und raubten alles, was sie in den Häusern fanden. Auch die Frauen und Kinder verschleppten sie als Beute weg.“ Jeremia 6,12 „Ihre Häuser und Äcker nehmen andere in Besitz; ihre Frauen werden eine Beute der Fremden.“ Koran (2) (AK) Der Koran erwähnt diesen Ausdruck „Beute“ nicht. Er beschreibt aber einige Situationen, die darauf hindeuten, wie z.B. die Sure 81,8-9 „Und wenn das Mädchen, das verscharrt wurde, gefragt wird, wegen welcher Sünde sie denn getötet wurde“. Nicht nur die Angst vor Armut, sondern auch vor der Geiselnahme der Frau als Beute hat viele Familien in der Zeit vor dem Islam veranlasst, ihre neugeborenen Mädchen zu töten. Der Islam hat das verboten. Die gesellschaftliche Rolle der Frau ist auch ein Problem 6.4 55 Die Stellung der Frau in der Gesellschaft AT/NT (1) Lev 12,2 „Wenn eine Frau einen Sohn zur Welt bringt, ist sie 7 Tage unrein […]. 4. 2danach muss die Frau noch 33 Tage warten, bis sie wieder ganz rein ist.“ 12,5 „Hat sie eine Tochter zur Welt gebracht, wird sie 14 Tage unrein und muss noch 66 Tage warten, bis sie wieder rein ist.“ Koran (2) (AK) 16,58-59 „Wenn einer von ihnen von der Geburt eines Mädchens benachrichtigt wird, bleibt sein Gesicht finster und er unterdrückt seinen Groll. Er verbirgt sich vor den Leuten wegen der schlimmen Nachricht. Sollte er es nun trotz der Schmach behalten oder es im Boden verscharren, Übel ist, wie sie urteilen.“ Gen 3,16 „Zur Frau aber sagte er: „es wird dich 2,228 „Und sie [die Frauen; Anm. d.Vfs.] zu einem Mann hinziehen, aber er wird dein haben Anspruch auf dasselbe, was ihnen obHerr sein.“ liegt, und dies auf rechtliche Weise. Die Männer stehen eine Stufe über ihnen. Und Gott 1Kor 11,3 „Ich muss euch aber auch sagen: Jeder Mann ist unmittelbar Christus unterstellt, ist mächtig und weise.“ die Frau aber dem Mann; und Christus steht unter Gott.“ Epheser 5,22 „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter! Dadurch zeigt ihr, dass ihr euch dem Herrn unterordnet.“ 6.5 4,34 „Die Männer haben Vollmacht und Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Gott die einen vor den anderen bevorzugt hat […].“ Verhalten AT/NT (1) Koran (2) (AK) 1Kor 14,33-35 „Wie es bei allen christlichen Gemeinden üblich ist, sollen die Frauen in euren Versammlungen schweigen. Sie sollen nicht reden, sondern sich unterordnen, wie es auch das Gesetz vorschreibt. Wenn sie etwas genauer wissen wollen, sollen sie zu Hause ihren Ehemann fragen. Denn es schickt sich nicht für eine Frau, dass sie in euren Versammlungen spricht.“ 1.Tim 2,11-12 „Die Frauen sollen still zuhören und sich unterordnen. Ich lasse nicht zu, dass sie vor der Gemeinde sprechen oder sich über die Männer erheben. Sie sollen sich ruhig und still verhalten.“ 4,34 „[…] Die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben und bewahren das, was geheim behalten werden soll, da Gott es geheim hält. Ermahnt diejenigen, von denen ihr Widerspenstigkeit befürchtet und entfernt euch von ihnen in den Schlafgemächern und schlagt sie. Wenn sie euch gehorchen, dann wendet nichts weiter gegen sie an. Gott ist erhaben und groß.“ Was den Ausdruck „schlagen“ als Übersetzung des arabischen Verbs „ḍaraba“ angeht, so gehen die Meinungen auseinander. Einige Interpreten nehmen den allgemeinen Inhalt des Verbs, worunter die Benutzung der Hand gegen eine andere Person verstanden wird, also die physische Berührung. Andere interpretieren es als eine Art Strafe, die in verschiedenen Formen zum Ausdruck gebracht werden kann. Es ist aber tatsächlich so, dass es in den arabischen Wörterbüchern mehrere Bedeutungen für dieses arabische Der Islam in der Diskussion 56 Verb gibt, wie z.B. ein Gleichnis prägen, ein Beispiel geben, reisen usw. In diesem Zusammenhang muss der Ausdruck aber im Sinne einer Bestrafung verstanden werden. Es hat kein Sinn, wenn einige Muslime versuchen, die physische Bestrafung der Frau damals zu verleugnen. Diese Muslime, meistens unter den Islamisten, müssen eine mutige Interpretation dieses Verses darlegen und erklären, dass die Verhältnisse der Gesellschaft auf der arabischen Halbinsel damals diese Art der Frauenbehandlung erlaubt hatte. Diese Muslime müssen aber gleichzeitig verstehen, dass diese Verhältnisse in den heutigen Gesellschaften, auch in den islamischen Gesellschaften, sich geändert haben und sie nicht mehr in der damaligen Form vorhanden sind, oder nach modernem Recht nicht vorhanden sein sollten. Damit bleibt dieser Text als heiliger Text im Koran vorhanden, aber ohne tatsächliche Funktion, genau wie viele andere Texte dieser Art. 6.6 Bekleidung In den Entstehungsgebieten der drei Religionen, also im alten Orient, haben die klimatischen Verhältnisse die Menschen dazu veranlasst, passende Kleider und also eine bestimmte Form der Bekleidung zu nutzen. Das Kopftuch z.B. war in dieser Region ein Kleidungsstück, welches von allen Menschen getragen wurde. Die Männer haben zwar andere und einfachere Farben getragen als die Frauen und die Form des Tuchtragens auf dem Kopf war auch unterschiedlich zwischen Männern und Frauen, aber sie haben alle dieses Kleidungsstück getragen. Wenn wir die alten Ikonen oder Bilder der damaligen orientalischen Gesellschaften betrachten, so finden wir dieses Phänomen bestätigt. Diese Tradition wurde auch später im Orient fortgesetzt. Nach der Islamisierung der arabischen Halbinsel hat man dieses schon vorhandene Phänomen als Schutz der Frauen vor der Belästigung der Männer dargestellt und eine bestimmte Art des Tuchtragens als Maßnahme zur Durchsetzung dieses Schutzes verordnet. Heute noch können wir in vielen orientalischen Gebieten Männer und Frauen beobachten, die ihre Kopftücher tragen als Fortsetzung der alten Tradition und Schutz gegen die Sonne. In vielen muslimischen Gebieten sowohl im Orient als auch außerhalb sehen wir heute Frauen, die verschiedene Formen des Kopftuchs verwenden. Aus diesem Kopftuch wurde später nach der Islamisierung von verschiedenen Völkern ein Körpertuch entwickelt mit unterschiedlichen Formen und Farben, da diese Völker ihre Traditionen neben dem Islam weiter ausübten, und dazu gehörte auch die Form der Verkleidung. Beispielsweise tragen die Frauen in Afghanistan die Burka für die Bedeckung des ganzen Körpers und des Gesichtes. In Iran bedecken die Frauen ihren Körper mit dem Tschador, wobei das Gesicht frei bleibt. Im arabischen Raum wird der Niqab für die Bedeckung des Körpers und des Gesichtes, ohne die Augen verwendet. Und der Hidschab ist die Bedeckung des ganzen Körpers mit freiem Gesicht. Bei vielen Menschen wurde diese späte Entwicklung des Tuchtragens als ein Symbol der Frömmigkeit betrachtet. In diesem Zusammenhang muss man die Einflüsse der verschiedenen Kulturen beachten, die die islamische Religion geprägt haben. Wir können zwar von einem einheitlichen Islam sprechen was die religiösen Pflichten angeht, wie z.B. Beten, Fasten, Pilgern usw., wir Die gesellschaftliche Rolle der Frau ist auch ein Problem 57 können aber nicht von einem einzigen Islam sprechen, was Sitten und Gebräuche der verschiedenen islamischen Gesellschaften betrifft. Bei den anderen Gesellschaften, die dieses Phänomen nicht kennen, wird dies als eine Art der Unterdrückung der Frau analysiert, sie möchten die Maßstäbe ihrer Gesellschaft einsetzen, um diese „unterdrückten“ Frauen zu befreien. Es ist natürlich wünschenswert, dass man sich für die Rechte der anderen Menschen einsetzt, dieser Einsatz darf aber nicht über die Entwicklungsstufe der betroffenen Gesellschaft springen. Viele Mädchen in den islamischen Ländern wurden von ihrer Kindheit an in dieser Weise erzogen und darauf vorbereitet, dass sie ab einem bestimmten Alter ein Kopftuch tragen müssen. Wenn diese Mädchen es dann tun, so tragen sie ihre Kopftücher aus Überzeugung, und sie werden es tragen, solange sie davon überzeugt sind. In vielen Fällen kommen diese Frauen in eine Konfliktsituation, in der sie ihre Überzeugung verlieren oder daran zweifeln. Sie können aber und dürfen, aus verschiedenen familiären und gesellschaftlichen Gründen, das Kopftuch nicht ablegen. Andere Frauen schaffen diesen Schritt, wenn sie sich in anderen offenen, liberalen gesellschaftlichen Strukturen befinden. Natürlich gibt es Situationen, in denen die Mädchen oder die Frauen gezwungen werden, sich in einer bestimmten Weise zu kleiden. In solchen Situationen spielen verschiedene Faktoren wie Bildung, die Einstellung zur Religion und die gesellschaftlichen Verhältnisse eine große Rolle. Die Islamisten haben aus diesem Thema ein Politikum gemacht. Sie versuchen die These zu verbreiten, dass das Tragen des Kopftuches bei den Frauen ein Zeichen der Frömmigkeit sei. Sie verbinden auch damit das Verhalten der nichtislamischen Gesellschaften. Ganz besonders in Europa verbinden die Islamisten ihre guten oder schlechten Beziehungen zu den europäischen Gesellschaften oder Regierungen mit dem Erlaub oder Verbot des Kopftuches. Und es ist leider auch so, dass manche europäischen Staaten Islamisten in ihrer These ermutigt haben, das Tragen des Kopftuches als politisches Symbol und als Zugehörigkeitsbeweis zu einer islamistischen Bewegung zu verstehen und darzustellen. Deutschland kann hier als Beispiel angeführt werden. Die ehemalige Kultusministerin des Bundeslandes Baden-Württemberg Dr. Annette Schavan, hat mit ihrem Streit über das Tragen des Kopftuches durch muslimische Lehrerinnen eine Debatte ausgelöst, die von den Islamisten im Lande dankbar aufgenommen wurde, da diese radikalen Muslime aus diesen Äußerungen ein Politikum machen konnten, und das Verhalten der Ministerin als eindeutiges Beispiel für die Feindschaft dem Islam gegenüber interpretierten. Dieses Verhalten mancher Institutionen (z.B. Schulen, Bildungseinrichtungen) in Europa sollte geändert und die Fälle der kopftuchtragenden Frauen im Einzelnen behandelt werden, um feststellen zu können, aus welchen Motiven die Frau ein Kopftuch trägt und ob es in diesen speziellen Situationen möglich ist oder nicht. Es gibt viele fromme muslimische Frauen, die das Tragen des Kopftuches nicht als Symbol der eigenen Frömmigkeit betrachten. In diesem Zusammenhang soll aber auch erwähnt werden, dass heute noch in vielen orientalischen Gesellschaften die Tradition des Kopftuchs nicht nur von den Muslimen fortgesetzt wird, sondern auch von manchen christlichen Männern und Frauen, ganz Der Islam in der Diskussion 58 besonders, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben. Sie bewerten das Tragen der Kopfbedeckung als eine christliche Tradition, die unter anderem durch folgende Textstellen des alten und neuen Testaments gedeckt scheint. AT/NT (1) Koran (2) (AK) 1Kor 11,3-6 „Eine Frau dagegen entehrt ihren Mann und sich selbst, wenn sie im öffentlichen Gottesdienst betet oder Weisungen Gottes verkündet und dabei den Kopf nicht bedeckt hat. Wenn sie kein Kopftuch trägt, kann sie sich gleich die Haare abschneiden lassen. Sie sollen ihren Schleier auf den Kleiderausschnitt schlagen.“ „Deshalb muss die Frau als Zeichen ihrer Bevollmächtigung ein Kopftuch tragen und damit der Ordnung genügen, über die die Engel wachen.“ 1Tim 2,9 „Ebenso will ich, dass die Frauen im Gottesdienst passend angezogen sind. Sie sollen sich mit Anstand und Schamgefühl schmücken anstatt mit auffallenden Frisuren, goldenem Schmuck, Perlen oder teuren Kleidern.“ Gen 24,65 „[…] und Rebekka bedeckte ihr Gesicht mit dem Schleier.“ Ez 15,10 „…[…] und gab dir ein buntes Kleid und Sandalen aus weichem Leder, ein Kopftuch aus feinstem Leinen […].“ (vgl. auch Dtn 22,5). 24,31 „und zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicken senken und ihre Scham bewahren, ihren Schmuck nicht offen zeigen, mit Ausnahme dessen, was sonst sichtbar ist. Ist es etwa entehrend für eine Frau, sich die Haare abschneiden oder den Kopf kahl scheren zu lassen? Dann soll sie auch ihren Kopf verhüllen.“ 33,59 „O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihren Überwurf über sich herunterziehen. Das bewirkt eher, dass sie erkannt werden und dass sie nicht belästigt werden. Und Gott ist voller Vergebung und barmherzig.“ 6.7 Erbschaft Die männliche Nachkommenschaft hat in den alten Gesellschaften eine große Rolle gespielt. Ob bei dem Weitertragen des Familien- oder Stammesnamens oder bei der Gütererbschaft, der Sohn kommt zuerst und dann die Tochter. Vor dem Islam war die Erbschaft auf der arabischen Halbinsel so geregelt, dass die weibliche Nachkommenschaft des Verstorbenen keinerlei Ansprüche auf das Erbe hatte. Der Islam allerdings änderte diese Regel. Die gesellschaftliche Rolle der Frau ist auch ein Problem 59 AT/NT (1) Koran (2) (AK) Num 27, 4 „Soll nun sein Name in Israel aussterben, nur weil kein männlicher Erbe da ist, der ihn weiterträgt […]“ „Zu den Israeliten aber sollst du sagen: Wenn ein Mann stirbt, ohne einen Sohn zu hinterlassen, hat seine Tochter Anspruch auf sein Erbe.“ 2,8 „[…] Und es steht ihnen (den Ehefrauen) ein Viertel dessen, was ihr hinterlasst, zu, wenn ihr keine Kinder habt. Wenn ihr Kinder habt, dann steht ihnen ein Achtel dessen, was ihr hinterlasst, zu, und zwar nach Berücksichtigung eines Testamentes, das ihr etwa gemacht habt […].“ 4,11 „Gott trägt euch in Bezug auf eure Kinder (folgendes) auf: Einem männlichen Kind steht so viel wie der Anteil von zwei weiblichen zu; sind es nur Frauen, über zwei an der Zahl, so stehen ihnen zwei Drittel dessen, was er hinterlässt, zu. Ist es nur eine, so steht ihr die Hälfte zu […].“ Der Koran hat die Erbschaft unter den Familienmitgliedern ausführlich behandelt und die genauen Anteile angegeben. An verschiedenen Stellen der koranischen Sure 4 steht die genaue Verteilung der Erbschaft. So steht z.B. in den Versen 11 und 12 dieser Sure Folgendes: 11. Allah verordnet euch in Bezug auf eure Kinder: ein Knabe hat so viel als Anteil wie zwei Mädchen; sind aber (bloß) Mädchen da, und zwar mehr als zwei, dann sollen sie zwei Drittel seiner (des Verstorbenen) Erbschaft haben; ist‘s nur eines, so hat es die Hälfte. Und für seine Eltern ist je ein Sechstel der Erbschaft, wenn er ein Kind hat; hat er aber kein Kind und seine Eltern sind seine Erben, dann soll seine Mutter ein Drittel haben; und wenn er Geschwister hat, dann soll seine Mutter ein Sechstel erhalten, nach allen etwa von ihm gemachten Vermächtnissen oder Schulden. Eure Eltern und eure Kinder: ihr wisst nicht, wer von ihnen euch an Nutzen näher steht Eine Verordnung von Allah - wahrlich, Allah ist allwissend, allweise. 12. Und ihr habt die Hälfte von dem, was eure Frauen hinterlassen, falls sie kein Kind haben; haben sie aber ein Kind, dann habt ihr ein Viertel von ihrer Erbschaft, nach allen etwa von ihnen gemachten Vermächtnissen oder Schulden. Und sie haben ein Viertel von eurer Erbschaft, falls ihr kein Kind habt; habt ihr aber ein Kind, dann hat sie ein Achtel von eurer Erbschaft, nach allen etwa von euch gemachten Vermächtnissen oder Schulden. Und wenn es sich um eine Person handelt - männlich oder weiblich -, deren Erbschaft geteilt werden soll, und sie hat weder Eltern noch Kinder, hat aber einen Bruder oder eine Schwester, dann haben diese je ein Sechstel. Sind aber mehr (Geschwister) vorhanden, dann sollen sie sich in ein Drittel teilen zu (gleichen) Teilen, nach allen etwa gemachten Vermächtnissen oder Schulden, ohne Beeinträchtigung - eine Vorschrift von Allah, und Allah ist allwissend, milde. (KT). Der Islam in der Diskussion 60 Es ist sehr wichtig, an dieser Stelle die Thesen der Islamisten zu diskutieren. Wenn man im Allgemeinen einen Muslim oder eine Muslime nach der Regelung des Erbes unter den Kindern im Islam fragt, so bekommt man die Antwort: „Einem männlichen Kind steht so viel wie der Anteil von zwei weiblichen zu.“ Diese Art der Verteilung der Erbschaft steht tatsächlich im bereits zitierten koranischen Vers in Sure 4,11. Dies ist aber nur ein Teil des Verses. Der Rest wird von vielen ignoriert und zwar entweder aus Unwissenheit oder aus fanatischen, frauenfeindlichen Gründen. Denn in diesem Vers steht weiter: „Sind es nur Frauen, über zwei an der Zahl, so steht ihnen zwei Drittel dessen, was er hinterlässt zu.“ Was bedeutet das nun? Der Koran spricht von zwei Dritteln für die weiblichen Kinder, wenn sie mehr als zwei sind. Und wo bleibt das dritte Drittel? Wenn wir den Text genau lesen, so können wir feststellen, dass bei dieser Gleichung zwei Elemente eine Rolle spielen: die männlichen und die weiblichen Kinder. Bei dem ersten Teil des Verses, der von dem doppelten Anteil der Erbschaft für das männliche Kind spricht, wurden die zwei Elemente, nämlich das männliche und das weibliche, im Text erwähnt. Bei dem zweiten Teil des Verses wurden nur die weiblichen Kinder erwähnt, hinsichtlich des Falles, dass sie mehr als zwei sind. Dies bedeutet, dass das Element der Gleichung, was das männliche Kind anbetrifft, unverändert bleibt, nämlich ein männliches Kind. Das heißt, die Erbschaft wird hier zwischen einem männlichen Kind und mehr als zwei weiblichen Kindern so verteilt, dass das männliche Kind ein Drittel und die weiblichen Kinder zwei Drittel von der Erbschaft bekommen sollen. Und genau so geht es bei dem dritten Teil des Verses: „Ist es nur eine, so steht ihr die Hälfte zu.“ Dies bedeutet hier auch ein männliches und ein weibliches Kind. In diesem Fall bekommt jedes Kind die Hälfte der Erbschaft. Natürlich sprechen wir hier von der Erbschaft, welche den anderen Verwandten des Verstorbenen zusteht, wie der Ehefrau, der Mutter oder dem Vater. Diese Verteilung an die Kinder erfolgt nach Abzug der Anteile der anderen Verwandten des Verstorbenen. 6.8 Eheschließung Obwohl die Eheschließung in vielen Gesellschaften heutzutage von den Zivilgesetzen geregelt wird, spielt das religiöse Gesetz immer noch eine wichtige Rolle bei vielen Anhängern der drei abrahamitischen Religionen. Trotzdem können wir große Unterschiede bei der Umsetzung des religiösen Gesetzes feststellen. In vielen christlichen Gesellschaften bemerken wir z.B. eine Lockerung der kirchlichen Trauung, da die standesamtliche Trauung eine wichtigere Rolle spielt und die Grundlage für gesetzliche Rahmenbedingungen bildet. Die Ehe in einer christlichen Gesellschaft kann nicht nur vom Staat, sondern auch von der Gesellschaft akzeptiert werden, auch wenn sie ohne kirchliche Trauung abgeschlossen worden ist. Die gesellschaftliche Rolle der Frau ist auch ein Problem 61 In den jüdischen und islamischen Gesellschaften hat die religiöse Trauung bei vielen Menschen noch eine deutlich größere Bedeutung. Religiös gesehen soll die Verbindung zwischen zwei Menschen von Gott gesegnet werden. Es ist auch wichtig, dass nach der Eheschließung durch einen Ehevertrag die Rechte und Pflichten beider Seiten in diesem Vertrag festgelegt werden. Aus wirtschaftlichen Gründen und nach den herrschenden Verhältnissen in den alten Gesellschaften, in denen die Männer für die Ernährung der Familie sorgten, muss der Ehemann vor der Eheschließung eine wirtschaftliche Leistung erbringen. Diese Leistung wird Mohar (hebräisch) oder Mahr (arabisch) genannt. („Morgengabe“ sonst ist auch von „Lohn“ die Rede.) Die rechtliche Regelung des Brautpreises bedeutet aber nicht, dass Frauen wie Waren käuflich gehandelt wurden. Vielmehr ist in der Zahlung des zwischen den männlichen Oberhäuptern der beiden Familien vereinbarten Brautpreises oder der Morgengabe ein Wertausgleich zu sehen, der nach der Bibel dem Vater oder dem ältesten Bruder als Familienoberhaupt zustand, um die mit der „Heimholung“ der Verlobten wegfallenden Dienstleistungen der Tochter oder Schwester zu ersetzen (vgl. Dtn. 22,28f). An die Stelle einer einmaligen Zahlung konnte auch eine Dienstverpflichtung treten.62 Im Koran dient die Mitgift als wirtschaftliche Sicherheit für die Ehefrau, damit sie im Falle einer Scheidung versorgt ist.63 Im Koran Sure 3,4 steht: Und gebt den Frauen ihre Morgengabe als Geschenk. (AK). Die Ehe soll auch aufgrund des Einverständnisses beider Partner stattfinden und die gegenseitige Geborgenheit, Zuneigung und Liebe von Mann und Frau verwirklichen. AT/NT (1) Koran (2) (AK) 1Petr 3,7 „Ihr Männer müsst euch entsprechend verhalten, seid rücksichtsvoll zu euren Frauen! Bedenkt, dass sie der schwächere Teil sind. Achtet und ehrt sie; denn Gott schenkt ihnen das ewige Leben genauso wie euch. Handelt so, dass nichts euren Gebeten im Wege steht.“ Epheser 5,25 „Ihr Männer, liebt eure Frauen.“ (vgl. auch 1.Thess 4,4, Prv 5,18, 12,4 und 31,10-12, 30,21. 30,21 „Und es gehört zu seinen Zeichen, dass er euch aus selbst Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen wohnet. Und er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gemacht. Darin sind Zeichen für Leute, die nachdenken.“ (vgl. auch 4,1). Auch die Frage der Polygamie in den Religionen soll hier diskutiert werden. Das Phänomen der Vielehe scheint eine normale Angelegenheit in den alten Gesellschaften 62 Siehe etwa 1.Sam 18,25ff oder Gen 29,18: Jakobs siebenjähriger Dienst um Rahel. 63 Thyn, Johan-Dietrich: Bibel und Koran, 2000. 62 Der Islam in der Diskussion zu sein. Die Ehen von Abraham, Jakob, David und Lamech sind einige Beispiele dieses Phänomens. Gen 4,23 „Lamech sagte zu seinen Frauen: Ihr meine Frauen Ada, Zila hört…“ oder 2.Samuel 5,13: Nachdem David von Hebron nach Jerusalem gezogen war, nahm er sich noch weitere Frauen und Nebenfrauen und bekam noch mehr Söhne und Töchter.64 In vielen Gesellschaften der heutigen Kulturen der drei Religionen ist die Polygamie nach den Zivilgesetzen verboten worden. In vielen anderen Gesellschaften der islamischen Religion ist dieses Phänomen immer noch vorhanden und wird praktiziert. In diesen Fällen argumentieren die Befürworter dieser Praxis mit dem koranischen Text. Diese Art der Argumentation soll hier ausführlich diskutiert werden. Es wird in diesem Zusammenhang immer mit dem Vers in Sure 4,3 argumentiert, in dem unter anderem steht: […] dann heiratet, was euch an Frauen beliebt, zwei, drei oder vier. (AK). Wenn man sich mit dem Text dieses Verses auseinandersetzt, so muss man folgende Punkte beachten: Dieser Text wird von dem gesamten Textinhalt isoliert, also von dem gesamten Inhalt des Verses. Der gesamte Inhalt dieses Verses lautet nämlich wie folgt, Sure 4,3: Und wenn ihr fürchtet, gegenüber den Waisen nicht gerecht zu sein, dann heiratet, was euch an Frauen beliebt, zwei, drei oder vier. Wenn ihr aber fürchtet (sie) nicht gleich zu behandeln, dann nur eine, oder was eure rechte Hand (an Sklavinnen) besitzt. Das bewirkt es eher, dass ihr euch vor Gerechtigkeit bewahrt. In diesem Text haben wir zwei Parameter, die als zu erfüllende Bedingungen der Vielehe von Bedeutung sind: Die erste Bedingung ist die Befürchtung, den Waisenkindern nicht gerecht zu werden. Was bedeutet das? Wenn wir uns mit dem vorherigen Vers der Sure 4, also mit 4,2 beschäftigen, so lesen wir: [...] und gebt den Waisen ihr Vermögen und tauscht nicht Schlechtes gegen Gutes aus. Und zehrt nicht ihr Vermögen auf zu eurem Vermögen hinzu. In diesem Vers wird eine Situation ausgeschildert, in der sich Waisen befinden. Das arabische Wort Waisenkind bedeutet: Kinder, die ihre Väter verloren haben und mit 64 Es gibt noch viele andere Stellen, die auf die Vielehe in den alten Kulturen der Religionen hindeuten, wie z.B. Dtn 21,15-17 oder 1.Kön 11,1-8. Die gesellschaftliche Rolle der Frau ist auch ein Problem 63 der Mutter alleine leben. Das heißt also, wenn ein Mann sich um diese Waisenkinder kümmern möchte, er aber verheiratet ist und selber Kinder hat und nun fürchtet, dass er die Waisenkinder nicht gleich behandeln kann wie seine eigenen, so darf er in diesem Fall diese Mutter der Waisenkinder als zweite Frau heiraten und diese Waisenkinder wie seine eigenen behandeln. Und so gilt es auch für die anderen Frauen. Diese Analyse der beiden Verse 4,2 und 4,3 ist eine Analyse der Formulierung des Inhaltes dieser Texte nach der arabischen Grammatik. In der arabischen Sprache gibt es die Möglichkeit zwei Sätze miteinander zu verbinden, um die Verbindung des Inhaltes der beiden Sätze darzustellen. Diese Verbindung geschieht nicht auf der Basis des Haupt- und Nebensatzes, sondern durch die Verbindungsmöglichkeit mit einem Anreihungspartikel, womit ein Anreihungssatz gebildet werden kann. Diese Art der Formulierung bedeutet in der arabischen Sprache, dass die Inhalte des ersten und zweiten Satzes untrennbar sind und miteinander analysiert und verstanden werden müssen. Als Anreihungspartikel dient hier der arabische Buchstabe ( َوwaw). Wenn dieser Buchstabe mit dem Vokalzeichen des Akkusativs versehen wird, so bedeutet er „und“ als Anreihungspartikel. Das bedeutet: Vers 3 darf bei der Umsetzung und der Analyse des Inhaltes dieses Verses gar nicht vom Inhalt des Verses 3 isoliert werden. Deshalb fängt Vers drei mit „und“ an und als Anreihungspartikel zwischen 4,2 und 4,3 und setzt die Formulierung mit „dann“ fort. Die zweite Bedingung ist die Gleichbehandlung der Ehefrauen. Wenn diese Bedingung nicht verwirklicht werden kann, dann darf man nach 4,3 nur eine Frau heiraten. Der Koran stellt aber fest, dass die Männer die Gleichbehandlung vieler Ehefrauen gleichzeitig nicht aufbringen können, auch wenn sie es wollen. In der Sure 4,129 steht: Und ihr werdet es nicht schaffen, die Frauen gleich zu behandeln, ihr mögt euch noch so sehr bemühen. (AK). Das Phänomen der Polygamie ist heutzutage ein Zeichen des Reichtums und des damit verbundenen Prestiges. Während im Westen viele Männer außereheliche Nebenbeziehungen pflegen, heiraten viele Muslime, ganz besonderes die Reichen von ihnen, in den islamischen Gesellschaften mehrere Frauen gleichzeitig. Sie begründen die Vielehe mit der koranischen Sure 4,3, ohne seine Verbindung mit dem vollständigen Inhalt des Verses selbst, und auch ohne seine Verbindung mit dem Inhalt der Sure 4,2 und 4,129 zu berücksichtigen. Ihr Reichtum ermöglicht ihnen ihr Handeln religiös zu legitimieren, indem sie die äußerliche Gleichbehandlung wie Wohnen, die Versorgung mit Geld und Kleidern und dergleichen als eine Erfüllung der geforderten Gleichbehandlung darstellen. Von dem Vorhandensein der Waisenkinder ist sowieso keine Rede. Nach dieser Darstellung müsste man die Polygamie im Islam nach den heutigen Verhältnissen verbieten, da die o.g. Bedingungen nicht erfüllt werden können. Viele Muslime argumentieren darüber hinaus damit, dass der Prophet Mohammed selbst die Vielehe praktiziert habe. Diese reichen Muslime vergessen aber zwei Einwände: Der Islam in der Diskussion 64 1. Die Zeiten und die Verhältnisse haben sich nicht nur auf der arabischen Halbinsel, sondern auf der ganzen Welt gewaltig verändert. 2. Der Prophet Mohammed hatte damals und unter damaligen Verhältnissen im Sinne der Religion gehandelt und zwar in einer Zeit, in der er den Gottesauftrag erfüllen sollte, die Beziehungen des Propheten zu verschiedenen Sippen und Stämmen zu stärken, damit die neue Religion sich in dieser Stammesgesellschaft festigen konnte. Dies konnte nur verwirklicht werden mit der Schaffung einer Verwandtschaft durch verschiedene Heiraten. Es ist sozusagen ein Sonderauftrag Gottes, geregelt nach der herrschenden Stammesstruktur von damals. 6.9 Scheidung In diesem Bereich kann man gewisse Unterschiede zwischen den heiligen Büchern der drei Religionen feststellen. Während die Texte der Bibel eher davor warnen, versucht der Koran diese Angelegenheit zwischen den Eheleuten zu regeln, wenn es tatsächlich dazu kommen muss. AT/NT (1) Koran (2) (AK) Mk 10,2-9 „Da kamen einige Pharisäer und versuchten, ihm eine Falle zu stellen. Sie fragten ihn, ist es einem Mann erlaubt, seine Frau wegzuschicken? Jesus antwortete mit einer Gegenfrage: Was hat euch Mose denn für ein Gesetz gegeben? Sie erwiderten: Nach dem Gesetz Moses kann ein Mann seiner Frau eine Scheidungsurkunde ausstellen und sie dann wegschicken. Da sagte Jesus: Mose hat euch die Ehescheidung nur zugestanden, weil ihr so hartherzig seid. Aber Gott hat am Anfang den Menschen als Mann und Frau geschaffen. Deshalb verlässt ein Mann Vater und Mutter, um mit seiner Frau zu leben. Die zwei sind dann eins, mit Leib und Seele. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Und was Gott zusammengefügt hat, sollen Menschen nicht scheiden.“ (vgl. auch Mk 10,12-ff und Mt 18,9). 4,35 „Und wenn ihr ein Zerwürfnis zwischen beiden (Ehepartnern) befürchtet, dann bestellt einen Schiedsrichter aus seiner Familie und einen Schiedsrichter aus ihrer Familie. Wenn sie sich aussöhnen wollen, wird Gott ihnen Eintracht schenken. Gott weiß Bescheid und hat Kenntnis von allem.“ 2,229 „Die Entlassung darf zweimal erfolgen. Dann müssen sie (die Frauen) in rechtlicher Weise behandeln oder im Guten freigegeben werden. Und es ist euch nicht erlaubt, etwas von dem, was ihr ihnen zukommen ließt, zu nehmen [...].“ (vgl. auch 2,228-232). 6.10 Die Gleichberechtigung Trotzdem findet man viele Stellen in den heiligen Schriften der drei Religionen, die auf die Gleichstellung von Mann und Frau hindeuten. Die gesellschaftliche Rolle der Frau ist auch ein Problem 65 AT/NT (1) Koran (2) (AK) 1Kor 11,11-12 „Vor dem Herrn ist allerdings die Frau nichts ohne den Mann und der Mann nichts ohne die Frau. Zwar wurde die Frau aus dem Mann geschaffen, aber der Mann wird von der Frau geboren. Und beide kommen von Gott, der alles erschaffen hat.“ 16,97 „Wer Gutes tut, ob Mann oder Weib, und dabei gläubig ist, den werden wir bestimmt ein angenehmes Leben leben lassen.“ (vgl. auch 2,188; 195 und 33,35). Durch diese Textgegenüberstellung aus den heiligen Büchern der drei Religionen wurde versucht zu zeigen, dass diese Religionen eigentlich ähnliche Positionen der Rolle der Frau gegenüber vertreten. Die gesellschaftliche Veränderung der Stellung der Frau in manchen (z.B. europäischen oder amerikanischen) Gesellschaften der drei monotheistischen Religionen kann man nur in Verbindung mit den postmodernen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Veränderungen und Entwicklungen in diesen Gesellschaften verstehen. 7 Terror und Gewalt im Namen der Religion „Alleine im Jahr 2006 fanden in Afghanistan über 120 Selbstmordanschläge statt, und tausende Zivilisten verloren bei militärischen Auseinandersetzungen ihr Leben. Diese besorgniserregende Entwicklung beunruhigt nicht nur Politiker und Militärs, sondern auch die afghanische Geistlichkeit. Seit mehreren Jahren setzen sich aus diesem Grund auch moderate Mullahs kritisch mit der Ideologie des Selbstmordattentates auseinander, so auch der Islamgelehrte Maulawi Khumaro. Viele Mullahs und Imame denken in Afghanistan wie dieser Theologe, trauen sich aber nicht mehr, offiziell Stellung zu beziehen. Denn obzwar es Meinungsfreiheit gibt, können mittlerweile derartige Äußerungen nicht nur für die Person, die sie äußert, sondern auch für ihr ganzes Umfeld lebensgefährlich sein. Nur noch wenige islamische Theologen von Rang und Namen trauen sich, offen gegen die selbsternannten Prediger der Selbstmordideologie anzugehen. Zu viele aus ihren Reihen mussten für ihre moderaten Ansichten mit dem Leben bezahlen. Im Herbst des vergangenen Jahres überlebte der angesehene Imam der Zentralmoschee von Herat, Hebatullah Fazeli, nur knapp einen Suizidanschlag; er wurde bei diesem Attentat schwer verletzt. Sein „Vergehen“ bestand darin, einige Wochen zuvor im Rahmen einer Freitagspredigt in der im 12. Jahrhundert erbauten Freitagsmoschee, der bekannten Masjid-e-Jami, das Selbstmordattentat als unislamisch verurteilt zu haben. Bei dem Anschlag verlor er ein Bein. Die Tragödie ist leider kein Einzelfall: Bis August 2007 wurden über 35 Islamgelehrte in Afghanistan von Extremisten getötet. Ähnlich ergeht es mittlerweile auch moderaten Journalisten, wie die Verleumdungskampagnen und Morde in den letzten Monaten gezeigt haben. Das Spannungsverhältnis zwischen Meinungs- und Pressefreiheit sowie demokratischen Grundrechten auf der einen und der radikalen Auslegung des Qurans auf der anderen Seite hat dazu beigetragen, dass der medienpolitische Konflikt in Afghanistan seit 2005 immer stärker eskaliert ist.“65 Dieses Zitat von Khalatbari verdeutlicht, welche wichtige Rolle die Gespräche und die Annäherungsversuche sowohl zwischen den Vertretern der verschiedenen Gruppierungen innerhalb einer und derselben Religion als auch zwischen den Vertretern der verschiedenen Religionen spielen können. Es soll nun versucht werden, einige Weisheiten der verschiedenen Religionen zu sammeln, die auch gleichzeitig einen Teil der Grundprinzipien einiger Religionen verdeutlichen. Von welcher Religion sprechen wir, wenn wir die folgende Weisheit lesen? Man sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für einen selbst unangenehm ist; das ist das Wesen der Moral.66 65 Khalatbari, Babka: Bpb Bundeszentrale für politische Bildung: Afghanistan unter dem Terror der Taliban, (2008). 66 Hinduismus: Mahabharata XIII.114,8. Der Islam in der Diskussion 68 oder Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.67 oder Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ebenso.68 Diese und viele ähnliche Prinzipien finden sich in allen Religionen, denn sie kommen aus einer einzigen Quelle, der Beziehung des Menschen zu Gott. Haben diese religiösen Weisheiten auch etwas mit der islamischen Religion zu tun, obwohl sie aus anderen Religionen stammen? Beinhaltet diese Religion, die sich ebenfalls als monotheistische Religion darstellt, diese Prinzipien auch? Und, wenn es so wäre, wie kann man sich das Phänomen der vielen Gewalttaten und Terroraktionen erklären, die in Verbindung mit dieser Religion gebracht werden? Über die verschiedenen Terroraktionen der sogenannten islamistischen Gruppierungen hört, liest und sieht man heutzutage sehr viel. Wie an anderer Stelle dieses Buches erwähnt worden ist, stellt der Glaube an den Monotheismus die Grundbasis der islamischen Religion dar. Ohne diesen Glauben ist keine Frömmigkeit im Sinne der islamischen Lehre möglich, wie gewissenhaft auch immer die anderen vier Säulen der Religion – Beten, Fasten, Abgaben von Steuern und die Pilgerfahrt – befolgt werden. Was hat aber die Verbreitung des Hasses einiger muslimischer Gruppierungen auf Andersgläubige, ja, sogar auf ihre eigenen Glaubensgeschwister, mit der islamischen Lehre zu tun? Wer profitiert von den Morden, Entführungen, Selbstmordanschlägen und Erschießungen von Soldaten und Polizisten, wobei nicht einmal darauf geachtet wird, ob die Opfer Muslime oder Andersgläubige sind? Womit begründen die Gewalttäter ihre Terroraktionen gegen unschuldige Menschen? Üben sie damit tatsächlich ihre Religion aus, so wie sie es behaupten? Sind es eigentlich nur sogenannte religiöse Gruppierungen, die dahinter stecken oder sind einige Regierungen darin verwickelt, also der politische Islam? Und vielleicht noch eine von vielen weiteren wichtigen Fragen: Wie viel Prozent der 1,3 Milliarden Muslime auf der Erde machen diese Gruppierungen und ihre Unterstützer aus? Die Bewegungen des politischen Islam, die eigentlichen Hauptverantwortlichen für die Verbreitung von Hass und Gewalt, verbinden ihre Terroraktionen mit dem islamischen Begriff Ǧihād und erteilen sich nach ihrer eigenen Interpretation dieses Begriffes die Legitimation, im Namen der islamischen Religion Gewalt einzusetzen. Der Begriff Ǧihād ist einer der wichtigsten und am meisten diskutierten Begriffe in der islamischen Religion. Dieser Begriff kommt im Koran in sehr verschiedenen Bedeutungen vor. Er 67 Judentum: Rabbi Hillel, Sabbat,31a. 68 Christentum: Matthäus 7,12 u. Lukas 6,31. Terror und Gewalt im Namen der Religion 69 ist ein Substantiv und stammt aus der Wurzel „ǧahada“. Diese Wurzel bedeutet: sich anstrengen, oder sich Mühe geben, um ein Ziel zu erreichen. Durch die historische Entwicklung sowohl innerhalb als auch außerhalb der islamischen Gesellschaften wurde dieser Begriff in mehreren Formen und verschiedenen Bedeutungen dargestellt: Von vielen Nichtmuslimen wird er als Symbol der Gewalt gegen Nichtmuslime verstanden. weil es viele Muslime gibt, die den Begriff Ǧihād leider in diesem Sinne verstehen und auch praktizieren. Diese Muslime sehen im Gewalteinsatz gegen die Anderen die Möglichkeit einer Verwirklichung ihrer eigenen Religiosität. Diese Art von Gewalt richtet sich dann nicht selten auch gegen Muslime, die mit ihrer Vorstellung von Religion nicht einverstanden sind. Im Koran steht: Rückt aus, ob leicht oder schwer, und setzt euch mit eurem Vermögen und mit eurer eigenen Person auf dem Weg Gottes ein, das ist besser für euch, so ihr Bescheid wisst. 9,41 (NK). Dieser Vers wird von allen Muslimen als Aufruf des Korans zum Ǧihād verstanden. Hier ist die Rede vom Einsatz des Vermögens und der eigenen Person auf dem Weg Gottes. Also Vermögen als Mittel des Ǧihād und nicht die Gewalt. Was den Einsatz der eigenen Person angeht, so wird dies auch als Anstrengung und Bemühung des Menschen selbst auf diesen Weg. Unter der Anstrengung kann man vieles Verstehen, wie z.B. im Bereich der Bildung oder Frömmigkeit usw. Die Haltung und Meinung der radikalen Muslime, die einen Bruchteil der 1,3 Milliarden Muslime in der ganzen Welt ausmachen, werden in den Medien immer wieder als die Haltung und Meinung von allen oder der Mehrheit der Muslime präsentiert.69 Damit wird die tatsächliche Mehrheit der Angehörigen der islamischen Religion ignoriert. Einer der bekanntesten ägyptischen Ulema, Jamal al-Banna, diskutiert in seinem arabischen Buch „Al-Islam dīn wa umma wa laysa dīn wa dawla“ ( Der Islam ist eine Religion und Gemeinde und keine Religion und Staat) die Vorstellung der Islamisten vom Begriff Ǧihād und erklärt ausführlich die Bedeutung dieses Begriffes im Sinne des o.g. koranischen Verses.70 Die islamisch-wissenschaftliche Erklärung des Begriffes Ǧihād deutet für al-Banna auf die Anstrengungen im Leben überhaupt, sowohl im religiösen als auch im nichtreligiösen Sinn hin. Ganz besonders im religiösen Bereich darf der Muslim keinen Zwang einsetzen bei dem Bemühen, Nichtmuslime für den Islam zu gewinnen. Denn der Koran sagt (2,256): Es gibt keinen Zwang in der Religion. […] (AK). 69 Siehe Fußnote 28. 70 Al-Banna, Jamal: Al-Islam dīn wa umma wa laysa dīn wa dawla (arabisch), Dar al-Fikr alIslami, Kairo 2003, S. 325-334. 70 Der Islam in der Diskussion Der Muslim soll den Versuch machen, andere Menschen von seinem Glauben zu überzeugen, aber die Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung der islamischen Religion muss er dem freien Willen der Anderen überlassen, wie es in Sure 18, Vers 29 heißt: Und sprich: Es ist die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun glauben will, möge glauben, und wer will, möge ungläubig sein. […] (AK). Nur in einer Situation des Ǧihād darf der Muslim Gewalt einsetzen. Und dies ist die Verteidigungssituation. Diese Situation muss verschiedene Voraussetzungen erfüllen: 1. Es muss Gewalt gegen die Muslime von einer anderen Seite erfolgen. 2. Diese Gewalt muss eine ernsthafte Bedrohung für die Religion, das Leben und den Wohnort der Muslime darstellen. In so einer Situation erlaubt Gott die Verteidigung auch mit Gewalt, allerdings ohne Übertretungen (siehe Koran 2,190): Und kämpft auf dem Weg Gottes gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, und begeht keine Übertretungen. Gott liebt die nicht, die Übertretungen begehen. (AK). 3. Die dritte Regel betrifft die Dauer eines solchen Kampfes von Seiten der Muslime. Diese Zeit kann auch von der anderen Seite bestimmt werden, wenn sie die Bereitschaft zum Frieden zeigt. Das bedeutet: Die Muslime dürfen diesen Verteidigungskampf nicht weiterführen, wenn die andere Seite Frieden anbietet. Denn in 8,61 steht: Und wenn sie sich dem Frieden zuneigen, dann neige auch du dich ihm zu und vertraue auf Gott. […] (AK). Der Kampf in diesem Sinne soll aber nicht zum gezielten Verlust des Lebens der muslimischen Kämpfer führen. Man soll versuchen, sich bei diesem Kampf zu schützen, um am Leben zu bleiben. Die Absicht, sich in Gefahr zu bringen, wäre einem Selbstmord gleichzusetzen, und der ist im Islam streng verboten, denn der Koran sagt uns in 2,195: Und spendet auf dem Weg Gottes und steckt nicht eure Hände nach dem Verderben aus, und tut Gutes. Gott liebt die, die Gutes tun. (AK). Ǧihād����������������������������������������������������������������������������� mit friedlichen oder nicht-friedlichen Mitteln muss nicht immer mit dem zerstörerischen Einsatz des eigenen Körpers in Verbindung gebracht werden. Der Einsatz von Besitztum auf dem Weg Gottes kann im Sinne der islamischen Lehre auch als Ǧihād betrachtet werden. In 9,41 steht: Terror und Gewalt im Namen der Religion 71 Rückt aus, ob leicht oder schwer, und setzt euch mit eurem Vermögen und mit eurer eigenen Person auf dem Weg Gottes ein. Das ist besser für euch, so ihr Bescheid wisst. (AK). Alle diese bisher genannten Formen des Ǧihād betrachtet der Islam als den kleinen Ǧihād. Unter großem Ǧihād versteht man im Islam den Kampf jedes gläubigen Muslims mit sich selbst. Damit ist der Kampf um die Kontrolle über die eigene Seele gemeint, sowie das Beherrschen von eigenen Wünschen, wenn sie ganz oder zum Teil im Widerspruch zur islamischen Lehre stehen sollten. Der große Ǧihād ist an keine bestimmte Zeit oder Situation gebunden. Der Erfolg im großen Ǧihād ist die Voraussetzung für die Erfüllung des kleinen Ǧihād. Natürlich findet man im Koran viele Stellen, die zum Gewalteinsatz aufrufen. Diese Stellen sind die Hauptargumente der radikalen fanatischen Bewegungen und Parteien in den islamischen Gesellschaften. Die Schwäche dieser Argumentation liegt aber darin, dass diese Stellen nicht zu den vollendeten koranischen Versen mit eindeutig festgelegten Zeichen (al-ayāt al-muḥkamāt), sondern zu den mehrdeutigen Versen im Koran (al-ayāt al-mutašābihāt) zählen. So z.B. gehört der Inhalt der Sure 112: 112. Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. 1. Sprich: «Er ist Allah, der Einzige; 2. Allah, der Unabhängige und von allen Angeflehte. 3. Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt; 4. Und keiner ist Ihm gleich.» (KT). zu den vollendeten koranischen Versen, weil man sich bei diesem Text keine Interpretation erlauben darf und an diese Eigenschaften Gottes glauben muss. Während wir bei einer Sure wie 22,27: Und verkündige den Menschen die Pilgerfahrt: Sie werden zu dir kommen zu Fuß und auf jedem hageren Kamel, auf allen fernen Wegen. (KT). eine Anweisung finden, welche heutzutage gar nicht verwirklicht werden kann. Kein Mensch geht heute zum Pilgern und benutzt dabei Kamele oder läuft zu Fuß aus seinem Heimatland zu den heiligen Stätten des Islam. Wenn wir aber unter Kamelen Transport- oder Verkehrsmöglichkeiten verstehen und diese Stelle dann auch so interpretieren können, so können wir sagen, dass der wörtliche Inhalt dieses Textes keine praktische Bedeutung mehr hat. 72 Der Islam in der Diskussion Das bedeutet in Bezug auf die Verse des Korans, in denen zur Gewalt aufgerufen wird, dass diese Verse an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort gebunden sind und zu einem bestimmten Anlass (arab. Asbāb an-nuzūl) offenbart wurden. Die wissenschaftlich-theologische Basis dieser Analyse ist das Grundprinzip der islamischen Religion, wie bei allen anderen monotheistischen Religionen, nämlich das Bestreben zum Frieden und nicht zur Gewalt. Die koranische Sure 3,7 unterstützt diese Feststellung mit den Worten: Er ist es, der das Buch auf dich herabgesandt hat. In ihm gibt es eindeutig festgelegte Zeichen – sie sind die Urnorm des Buches – und andere, mehrdeutige. Diejenigen, in deren Herzen Abweichen von der Wahrheit steckt, folgen dem, was in ihm mehrdeutig ist, im Trachten danach, (die Menschen) zu verführen, und im Trachten danach, es (eigener) Deutung zu unterziehen. […]. (AK). Die radikalen und fanatischen Kräfte innerhalb der islamischen Religion stecken eigentlich in einem Dilemma. Wenn sie anstelle von Frieden Krieg und Gewalt als Basis der Religion betrachten und ihre Frömmigkeit auf diese Weise zum Ausdruck bringen. In diesem Fall handeln sie im Widerspruch zu den islamischen Hauptprinzipien. Und nun, was sagt die zweite Quelle der islamischen Religion, die Sunna, dazu? Man geht davon aus, dass die Aufgabe der Sunna darin liegt, die unklaren Formulierungen mancher koranischer Texte zu klären. Denn der Koran verlangt diese Erklärungen von dem Propheten, wie z.B. die Formulierungen der Suren 16,44 und 64 zeigen: 44. Und Wir haben dir die Ermahnung hinabgesandt, auf daß du den Menschen erklären mögest, was ihnen hinabgesandt ward, und dass sie nachdenken. 64. Und Wir haben dir das Buch nur darum hinabgesandt, auf das du ihnen das erklären mögest, worüber sie uneinig sind, und als Führung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben. (KT). So darf man in der Sunna eigentlich keine Widersprüche zur Hauptquelle des Islam, zum Koran, finden. Die Beziehung zwischen Koran und Sunna ist noch heute ein großes Diskussionsthema unter den Muslimen. In einer Reihe von Überlieferungen, die von vielen Gelehrten als richtig und zuverlässig eingestuft werden, finden wir ähnliche Richtlinien über das Thema Gewalt bzw. Gewalteinsatz wie im Koran.71 Sollen solche Thesen gründlich behandelt werden, so müssen die gesellschaftlichen, politischen, und nicht zuletzt auch die kulturellen Gegebenheiten dieser Epoche der Weltgeschichte und ihre Entwicklung im 5. Jahrhundert n. Ch. analysiert werden. 71 Siehe z.B.: www.wshoffmann.de / Grundlegende Einstellungen zum Thema Islam und Gewalt. Und Heine, Peter: Terror in Allahs Namen, Herder, 2001. Terror und Gewalt im Namen der Religion 73 In jener Zeit herrschte sowohl auf der arabischen Halbinsel als auch in den Gebieten der Nachbarstaaten des Oströmischen Reiches Byzanz und des Sassanidenreiches die Logik der Stärke, die den Einsatz von Gewalt bis hin zur Brutalität erlaubte. Kriege und Gewalteinsatz konnte also auch Mohammed mit seiner friedlichen Mission nicht verhindern. Er hat aber bestimmte Prinzipien für solche Situationen festgelegt, die für die Muslime verbindlich sind und als Teil ihrer Überzeugung deklariert werden. Diese Prinzipien wurden zum großen Teil auch von den vier Nachfolgern Mohammeds in der Zeit zwischen 632 und 661 n.Chr. befolgt. Ob in der Zeit des Propheten oder in der Zeit seiner vier Nachfolger alle diese Prinzipien von allen Muslimen so verwirklicht worden sind, wie die islamische Lehre es vorschreibt, ist mehr als fraglich. Sicher aber ist, dass diese Prinzipien über Gewalt und Gewalteinsatz von den Muslimen, ob Herrscher oder Beherrschte, nach 661 n.Chr. immer wieder verletzt, missbraucht und falsch interpretiert worden sind. Bis heute erleben wir diese Phänomene im Namen der islamischen Religion. Die wichtigsten dieser Prinzipien im Falle eines notwendigen Gewalteinsatzes sind: • Es existiert ein Angriffsverbot auf die zivile Bevölkerung, auf die Familien der Feinde, auf die Bewohner des Ortes, auf dessen Boden der Krieg stattfindet und auf die Zivilmitarbeiter der feindlichen Armee, solange sie sich mit nicht-militärischen Aktionen und Versorgungsleistungen wie Kochen, Transportieren, Behandlung von Verletzten usw. beschäftigen. • Es herrscht das Prinzip der Gegenseitigkeit im Falle einer Geiselnahme, d.h., die Muslime dürfen nur dann Geiseln nehmen, wenn die gegnerische Seite mit der Geiselnahme angefangen hat. Dieses Prinzip gilt auch für die Behandlung der Geiseln. • Neben dem genannten Angriffsverbot, gilt ein Angriffsverbot auf wirtschaftliche Ziele, die die Nahrungsmittel der Zivilbevölkerung betreffen. Verboten ist auch jede Art der Zerstörung der Landwirtschaft. • Der Schutz der Zivilbevölkerung, sowie deren Häuser und Tiere muss zu jedem Zeitpunkt gewährleistet werden. • Das Verbot der Diskriminierung und Schlechtbehandlung der Einwohner der Kriegsgebiete. Gutes Benehmen der muslimischen Soldaten in den Kriegsgebieten. • Schutz der anderen Religionen, ihrer Institutionen und Angehörigen. • Verbot der Vergiftung des Wassers und der Nahrungsmittel der Gegner.72 Diese überlieferten Prinzipien und die obengenannten koranischen Stellen klingen fremd in den Ohren der muslimischen Fanatiker, die davon nichts, aber auch gar nichts hören wollen. Diese radikalen Muslime haben ihre eigenen Gesetze entwickelt, um alle 72 Für diese Prinzipien und viele andere mehr, vgl.: Khairy, Sami: „Krieg und Frieden im Islam“. Deutschsprachiger Muslimkreis, Hannover. 74 Der Islam in der Diskussion Menschen, auch die Muslime, die eine andere Meinung haben, zu verurteilen und zu bestrafen. Sowohl die erste als auch die zweite Quelle der islamischen Religion haben also den Einsatz der Gewalt definiert und bestimmte Regeln dafür entwickelt, sodass man den Begriff Ǧihād nicht beliebig verwenden kann. Und wenn man noch tiefer in die Quellen eindringt, so wird man feststellen, dass darin sogar die Gebiete definiert sind, in denen der Gewalteinsatz erlaubt bzw. nicht erlaubt ist. In Sure 60,8 lesen wir dazu Folgendes: Gott verbietet euch nicht, denen, die nicht gegen euch der Religion wegen gekämpft und euch nicht aus euren Wohnstätten vertrieben haben, Pietät zu zeigen und Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Gott liebt ja die, die gerecht handeln. (AK). Das bedeutet: Der Gewalteinsatz als Ausdruck des Ǧihād darf nicht in Gebieten durchgeführt werden, in denen Muslime in Sicherheit wohnen und ihren Glauben frei ausüben dürfen. Danach sind die Anschläge vom 11. September nur als Terror zu bezeichnen, da in den USA 10 Millionen Muslime in Frieden und Freiheit leben. Auch die Sure 2,85 unterstreicht diese These: Dennoch seid ihr Leute, die ihr einander erschlagt und einen Teil der Eurigen aus ihren Häusern treibt, einer den andern stützend gegen sie mit Sünde und Missetat. Und wenn sie als Gefangene zu euch kommen, kauft ihr sie los, obwohl ihre Austreibung selbst für euch ungesetzlich war. Glaubt ihr denn nur an einen Teil des Buches und verwerft den andern? Es gibt darum keinen Lohn für jene unter euch, die also tun, denn Schande in diesem Leben, und am Tage der Auferstehung sollen sie der schwersten Strafe überantwortet werden; und Allah ist nicht achtlos eures Tuns. (KT). Dieser Vers weist darauf hin, dass es den Muslimen nicht erlaubt ist, sich gegenseitig zu bekämpfen. Die islamische Religion erlaubt es nicht, den Ǧihād gegen Muslime auszurufen. Der achtjährige Krieg zwischen Irak und Iran ist diesem Prinzip zufolge also ein Verstoß gegen die islamische Lehre gewesen, weil die Führer dieser Länder zum Ǧihād gegen die Muslime im anderen Land aufgerufen haben. Wenn wir alle diese Prinzipien der islamischen Religion, die die Regelung des Gewalteinsatzes bestimmen und kontrollieren, genau betrachten und sie mit den Taten und Aktionen verschiedener islamistischer Organisationen vergleichen, so können wir eine klare Linie ziehen zwischen dem tatsächlichen Inhalt der islamischen Lehre und dem, was im Namen dieser Lehre daraus gemacht wird. Mit anderen Worten: Die Instrumentalisierung der Religion tritt durch die Taten solcher Organisationen klar und deutlich zutage. Die Selbstmordattentäter, die Geiselnehmer, die Bombenwerfer, die Brandstifter, die Mörder aller Art und alle, die im Namen der islamischen Religion operieren und unter Terror und Gewalt im Namen der Religion 75 dem Deckmantel „Ǧihād“ Gewalt gegen Andersdenkende ausüben und Konflikte zwischen den Religionen bzw. Nationen anzetteln, bewegen sich in der Tat nicht auf dem Boden der Grundprinzipien des Islam. Ihr Handeln hat mit dem Inhalt der islamischen Lehre nicht das Geringste zu tun. Der politische Islam hat es geschafft, viele Menschen, ganz besonders diejenigen, die in prekären sozialen und kulturellen Verhältnissen leben, davon zu überzeugen, sich an solchen Aktionen zu beteiligen. Er hat auch viele Muslime aus diesen Schichten mit finanziellen Mitteln angelockt, um sie für solche Gewalteinsätze zu gewinnen. Der politische Islam und ganz besonders seine radikalen Flügel, stellen den Islam so dar, als ob die Grundprinzipien dieser Religion nur aus Mord, Selbstmord und Gewalt beständen. Bei den Anhängern dieser politischen Organisationen hat man mit solchen Ideen eine Gehirnwäsche geleistet und vermittelt nach außen ein Bild von Brutalität, Gewalt und Aggressivität der Religion. Im Namen der islamischen Religion hat man damit einen politischen Kampf geführt und die Religion als Kampfprogramm dargestellt. Im Kampf um die politische Macht verloren viele Menschen in den islamischen Gesellschaften in einer komplizierten Lebenswelt die Orientierung und waren in der Folge den unterschiedlichen und in vielen Fällen auch divergierenden Entscheidungen und Interpretationen einiger Ulemarn ausgeliefert. Unter diesen Umständen kann man nur an ein Rezept denken, welches den Menschen auf dieser Erde helfen könnte. Und das ist der Dialog zwischen den Menschen unterschiedlicher Religionen und Nationen. Kein Mensch kann sich ein Bild vom Leben, vom Verhalten und Denken eines anderen Menschen machen, ohne diesen Menschen kennen zu lernen und ihm näher zu kommen. Wir alle, ob als Anhänger einer Religion oder als Bürger einer Nation, stehen vor vielen Herausforderungen unserer Zeit. Hier sind etwa Faktoren wie Armut, Elend und Krankheiten, Terror und Naturkatastrophen, Unterdrückung und Verfolgung, Krieg und ständige Weiterentwicklung von Kriegsmaterial zu nennen. Wir haben nur zwei Möglichkeiten, diesen Herausforderungen zu begegnen. Entweder verhalten wir uns wie unsere Vorfahren und suchen, auch in unseren heiligen Büchern und in unseren Traditionen, nach noch mehr und weiteren Gründen und Anlässen zu gegenseitigen Anschuldigungen und gegenseitiger Bekämpfung und hören auf das, was die Hassprediger, wie z.B. Aiman aẓ-Ẓawāhirī (der Nachfolger Bin Ladens), überall mit Wort und Schrift verbreiten und halten jegliche Annäherung für unmöglich. Oder wir verhalten uns wie zivilisierte Menschen des 21. Jahrhunderts und versuchen, uns selbst und anderen Menschen zu helfen und nach gemeinsamen Wegen zu suchen, trotz aller religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede – und seien sie noch so zahlreich. Dialog und Geduld führen uns zu diesem Weg, der als der einzige vernünftige Weg erscheint. Dialog und Geduld – ohne vorher festgelegte Bedingungen, ohne Vorurteile, ohne hervorgehobene Position von einer oder der anderen Seite und ohne Überheblichkeit – können dafür sorgen, den Gedanken des Weltethos zu realisieren und den Frieden zwischen den Religionen und Nationen zu schaffen. Der Islam in der Diskussion 76 Ist dieser Dialog möglich? Ja: • Der Dialog ist möglich, wenn die richtigen Dialogpartner gefunden werden können. Dialogpartner, die es ernst mit dem Dialog meinen und nach Annäherungsmöglichkeiten suchen. • Der Dialog ist möglich, wenn er von allen beteiligten Organisationen, Institutionen oder einzelnen Personen ernsthaft und unvoreingenommen geführt werden kann. • Der Dialog ist möglich, wenn die Dialogpartner sich gegenseitig als gleichberechtigte Partner anerkennen und zum Gespräch miteinander bereit sind. (Diese Bereitschaft darf nicht zum Verlust der Identität führen.) • Der Dialog ist möglich, wenn man die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellt, ohne dabei die Unterschiede zu ignorieren oder zu verleugnen. • Der Dialog ist möglich, wenn man bereit ist, Kompromisse zu schließen, ohne die allgemeine Grundlage der eigenen Prinzipien zu verletzen. • Im Dialog sollen die Dialogpartner nicht die volle Einigung erwarten und diese zum Hauptziel des Dialogs machen. Denn solche Einigung gibt es nicht, auch in den eigenen Reihen nicht. Ihre Bestrebung soll die Formulierung gemeinsamer Ziele sein. • Der Dialog wird Erfolg haben, wenn er nicht nur in Kreisen der Fachleute stattfindet, sondern den Weg in die Öffentlichkeit findet. Der Dialog muss das Interesse der Öffentlichkeit gewinnen. Vereinfacht können die Voraussetzungen zum Dialog wie folgt dargestellt werden: • Kenntnis der Basisstrukturen führt zur Fähigkeit zu unterscheiden. • Die Fähigkeit zu unterscheiden führt zum Verstehen des Anderen. • Das Verstehen des Anderen führt zur Überzeugung von der Wichtigkeit des Dialogs. Mit dem Ziel, einen solchen Dialog zwischen Christen und Muslimen zu auf den Weg zu bringen, richtete am 13.Oktober 2007 eine Gruppe von 138 muslimischen Ulema, Theologen und Wissenschaftlern einen offenen Brief an christliche Führungspersönlichkeiten, darunter auch der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen ÖRK. Der Brief mit dem Titel „Ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch” beschreibt Grundlagen des christlichen und muslimischen Glaubens und Lebens, die den Anhängern beider Religionen nach Auffassung der Verfasser gemeinsam sind. Mit Zitaten aus Bibel, Koran und Hadith verweisen die Muslime auf die Ähnlichkeiten zwischen christlichen und muslimischen Lehren in Bezug auf die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Lehren laden die Verfasser die Christen ein, sich mit ihnen über die gemeinsamen Grundaussagen der beiden Religionen zu ver- Terror und Gewalt im Namen der Religion 77 ständigen. Sie stellen auch klar, dass es Unterschiede zwischen Christentum und Islam gibt, und raten davon ab, diese zu verschleiern.73 Wenn man davon ausgeht, dass die Christen und Muslime zusammen 55 % der Weltbevölkerung ausmachen, so leuchtet ein, wie wichtig ihre Beziehung zueinander ist und welche Rolle diese zwei Religionen für den Weltfrieden spielen können. Wenn man diesen Brief als Anlass für die Unterstützung der neuen Denkweise bei vielen Anhängern von Christentum und Islam betrachtet und als Beginn eines Weges, auf dem die alten gegenseitigen Vorurteile und Missverständnisse keine Rolle mehr spielen, so kann man sagen: Durch Frieden zwischen Christen und Muslimen kann man dem Weltfrieden tatsächlich näher kommen. Dieser Annäherungsversuch vom Oktober 2007 war ein mutiger Schritt. Er verdient die Unterstützung aller Anhänger der beiden Religionen und sollte nicht allein den Gelehrten oder Vertretern der religiösen Institutionen überlassen bleiben. Diese Unterstützung kann man mit folgenden Überlegungen begründen: 1. Der Brief beschreibt sehr ausführlich die Ähnlichkeiten, die es zwischen Christen und Muslimen in den wesentlichen Punkten der Gottes- und der Nächstenliebe gibt. Die Unterschiede in der Art und Weise der Ausübung dieser Liebe dürfen dabei jedoch nicht übersehen werden. 2. Der Brief schafft eine Situation der Annäherung, in der es möglich sein wird, dass Christen den Islam besser kennen lernen und genau zuhören können, was Muslime selbst über ihren Glauben sagen. Und umgekehrt werden die Muslime in einer solchen Situation der Annäherung eine bessere und direkte Möglichkeit haben, das Christentum kennen zu lernen, indem auch sie genau zu hören, was Christen selbst über ihren Glauben zu sagen haben. 3. Dieser Schritt gibt den Christen und Muslimen eine Möglichkeit, ihre vorgefassten Meinungen zu überdenken und die Einsichten und Erkenntnisse des jeweils anderen so zu verstehen, wie dieser selbst sie aus seiner eigenen Sicht darstellt. 4. Es ist höchste Zeit (in einer Zeit von Terror, Krieg und Verfolgung im Namen der Religion), dass Christen und Muslime Wege finden, wie sie das, was ihnen gemeinsam ist, stärken können. Sie müssen sie aber auch Wege finden, wie sie die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede anerkennen und respektieren können und wie sie diese dann auch verstehen können. Sie dürfen nicht zulassen, dass die Feinde des Friedens auf beiden Seiten Feindschaft zwischen ihnen säen. Und nun kann man die Frage stellen: Wenn wir von den Gemeinsamkeiten sprechen, auf welcher Basis können wir uns dann gemeinsam bewegen, um einander näher zu kommen? Gibt es diese gemeinsame Basis überhaupt? Die Antwort auf diese Frage ist ein großes und deutliches JA. Wenn wir die Beziehungen zwischen den abrahamitischen Religionen genau studieren, so finden wir diese Basis in vielen Bereichen. 73 Mehr dazu in: „Elemente einer Antwort“, Evangelische Akademie Baden, Januar 2009. 78 Der Islam in der Diskussion Der Glaube an Gott von Abraham kann die erste und wichtigste gemeinsame Basis dieser Beziehung sein. Aber auch die gemeinsamen religiösen Pflichten, die die Gläubigen aller drei Religionen ausüben, wie Beten, Fasten, die Abgaben von Almosen und das Pilgern, gehören zu den Regeln der Frömmigkeit des Judentums, des Christentums und des Islam, obwohl man sie unterschiedlich ausübt. 8 Und trotzdem wird missioniert Im Arabischen gibt es innerhalb des Themenkomplexes Mission im theologischen Diskurs zwei zentrale Begriffe – „Da‘wa“ und „Tabšīr“ –, die an dieser Stelle zunächst philologisch und dann theologisch erklärt werden sollen. Da‘wa, oder auch ad-Da‘wa, hat nach dem Aufbausystem der arabischen Sprache, dem sogenannten Wurzelsystem, mehrere Bedeutungen: Ruf, Aufruf, Aufforderung, Einberufung zu etwas, Vorladung, Einladung, Anspruch, Propaganda, Segenswunsch, und, im theologischen Bereich, Missionstätigkeit. Tabšīr, oder auch at-Tabšīr, hat im arabischen Sprachgebrauch eine stärkere Verbindung zum Thema Missionierung als der Begriff al Da‘wa. Die christlichen Missionsbewegungen im arabischen Raum werden immer nur mit dem Begriff Tabšīr verbunden. Man nennt sie „Ḥarakāt at-Tabšīr al-masīhīya“, die christlichen Missionsbewegungen oder Organisationen. In diesem Sinne, d.h., in einer im Grunde theologischen Bedeutung, kommen beide Begriffe auch im Koran vor. Den Begriff Tabšīr, im Sinne von Freudenboten Baschir, – und hier ist auch der Prophet Mohammed gemeint – erwähnt der Koran an vier Stellen (2,119; 33,45; 35,24; 48,8). Ein fünfter Vers (Sure 35,24) stellt Mohammed als einen der vielen Freudenboten unter den Botschaftern Gottes dar: Wir haben dich mit der Wahrheit gesandt als Freudenboten und als Warner. Und es gibt keine Gemeinschaft, bei der nicht früher ein Warner aufgetreten wäre. (AK). Der Begriff Freudenbote also stellt einen Prophet dar, welcher als Gesandter Gottes eine göttliche Botschaft an die Menschheit bringt, um diese Menschheit auf den Gottesweg zu bringen und sie vor Irrwegen zu retten. Der Begriff Da‘wa hingegen wird im Koran im Zusammenhang mit zwei Gruppen von Menschen erwähnt. Die erste Gruppe bezeichnet die Menschen, die schon auf dem Weg Gottes sind. Und die zweite Gruppe umfasst die Menschen, die erst noch auf diesen Weg gebracht werden sollen. Die erste Gruppe, die hauptsächlich aus Muslimen besteht, soll immer wieder Gott um Hilfe anrufen. Diese Gruppe spricht der Koran in sechs Stellen an (2,23; 7,56; 10,38; 11,13; 25,14). Sure 33,46 verwendet den Begriff Dā‘iyan für den Propheten Mohammed als einen, „der zu Gott mit seiner Erlaubnis ruft.“ Die zweite Gruppe, also die Menschen, die den Weg Gottes noch nicht entdeckt haben, wird in Sure 16,125 angesprochen: 80 Der Islam in der Diskussion Ruf zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und streite mit ihnen auf die beste Art. Dein Herr weiß besser, wer von seinem Weg abirrt, und Er weiß besser, wer die sind, die der Rechtleitung folgen. (AK). Mit diesem Vers wollen wir uns nun beschäftigen. Bevor wir ihn aber interpretieren, müssen wir einen kurzen Blick auf die Interpretationsmethoden der verschiedenen Rechtsschulen werfen. Die traditionelle konservative Richtung des Islam unterteilt die Nichtmuslime in zwei Gruppen. Die Mitglieder der einen sind entweder ungläubige Heiden, die bewusst nicht bereit sind, ihr Heidentum und ihren Irrweg zu verlassen und sich auf den Weg Gottes zu begeben. Die Mitglieder der anderen Gruppe sind Ungläubige oder Heiden, die bereit sind, die Führung im Glauben zu akzeptieren und sich dem Willen Gottes unterzuordnen. Die erste Gruppe stellt für die Muslime dieser Richtung eine dauerhafte Gefahr dar. Die Gefahr, nach dieser Meinung, besteht aus der Ablehnung der Religion überhaupt bzw. aus der Verleugnung des Gotteswegs, was zum Angriff auf die Muslimischen Gebiete führen könnte. Je nach der Art und dem Ausmaß der Gefahr, werden die Anhänger dieser Richtung ihr Verhalten dieser Gruppe gegenüber bestimmen. Vor diesem Hintergrund sind die sogenannten Eroberungskriege „Al-Futūḥāt al-Islamiya“ in der früheren islamischen Geschichte zu verstehen.74 In Bezug auf die zweite Gruppe soll ein Muslim sich bemühen und anstrengen, den Menschen zu helfen, den Weg Gottes so leicht wie möglich zu finden und sich auf diesem im Leben zu bewegen. Dieser Gruppe gilt die Missionsarbeit der Muslime. Wenn ein Muslim solche Leistung, Menschen auf den Weg Gottes zu bringen, erbracht hat, so kann man mit einer Hassana (Wohltat) oder mehreren Hassanāt (Wohltaten) von Gott rechnen. Und nun kehren wir zum Text von Sure 16,125 zurück, um festzustellen, welche Gruppe von Menschen mit diesem Text gemeint ist und was dieser Aufruf überhaupt bedeutet: Ruf zum Weg deines Herrn. Dieser Satz bedeutet hier, dass der Aufruf sich auf den Gottesweg konzentrieren soll, d.h., diejenigen, die diesen Weg nicht kennen, sollen mit ihm bekannt gemacht werden. Alle Menschen, die diesen Weg bereits kennen, sind von diesem Aufruf ausgeschlossen. Mit Weisheit, al-Ḥikma bedeutet für die Araber damals wie heute, mit dem Einsatz von Vernunft und Klugheit. Vernunft und Klugheit setzen Bildung voraus. Derjenige, der zum Gottesweg aufruft, muss also über solide Kenntnisse dieses Weges verfügen. Folglich kann nicht jeder Muslim ein sogenannter Dā‘iyan, also derjenige, der zu Gott ruft, sein. Dazu braucht man die Fähigkeit, beim Aufruf zum Gottesweg, seine Argumente und Einsichten klar und überzeugend darzustellen. Denn in Sure 12,108 steht in diesem Sinne Folgendes: 74 Die Byzantiner im Nordwesten und die Sassaniden im Nordosten des Entstehungsorts des Islam wurden als eine bedrohliche Gefahr für die neue Religion im 7. Jh. n.Chr. betrachtet und die Kriege gegen diese zwei großen Reiche wurden als Verteidigungskriege deklariert. Für weitere Informationen vgl. etwa: Küng, Hans: „Der Islam“, Piper, 2. Auflage, 2004, S. 56 ff. Und trotzdem wird missioniert 81 Sprich: Das ist mein Weg. Ich rufe zu Gott aufgrund eines Einsicht bringenden Beweises, […]. Und schöner Ermahnung: Mit dem Begriff Ermahnung (arab. al-Maūṭiā) ist die Anleitung zum Gottesweg mit guter Aufklärungsarbeit und Ratschlägen gemeint. Mit den zwei Begriffen al-Ḥikma und al-Maūṭiā, Weisheit und schöne Ermahnung, unterstreicht der Koran die friedliche Art des Aufrufs zum Gottesweg. Der Koran weist auch darauf hin, dass die Annahme oder die Ablehnung dieses Aufrufes eine freiwillige Entscheidung ist, denn, nur einige Beispiele herauszugreifen: Es gibt keinen Zwang in der Religion. [...] (2,256) (AK).75 oder Und sprich: Es ist die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, möge glauben, und wer will, möge ungläubig sein. […] (18,29) (AK). Die Freiwilligkeit ergibt sich wiederum aus dem Text unseres Textes 16,125, wo es heißt: Dein Herr weiß besser, wer von seinem Weg abirrt, und er weiß besser, wer die sind, die der Rechtleitung folgen. Mit dieser Feststellung muss jeder Muslim wissen, dass kein Mensch das Recht hat, über den Glauben seiner Mitmenschen zu urteilen. Auch der Prophet Mohammed hatte ein solches Recht nicht. Der Koran hat ihn vielmehr an vielen Stellen ermahnt, seine Aufgabe als Wegweiser zu Gott zu erfüllen. Darüber, wer dann an diesen Weg auf die rechte Weise glaubt und wer nicht, weiß nur Gott Bescheid. So heißt es etwa in Sure 39,41: Wir haben für die Menschen das Buch mit der Wahrheit auf dich hinabgesandt. Wer der Rechtleitung folgt, tut das zu seinem eigenen Vorteil. Wer irregeht, geht irre zu seinem eigenen Schaden. Und du bist nicht ihr Sachwalter.76 (AK). Der Prophet selbst sagt im Koran: […] Und ich bin nicht Hüter über euch. […] (6,104) (AK). 75 Vgl. in diesem Zusammenhang auch 6,107 und 42,6. 76 Vgl. in diesem Zusammenhang auch 6,107 und 42,6 (AK). 82 Der Islam in der Diskussion Wenn wir also alle Teile der Sure 16,125 im Zusammenhang betrachten, so können wir folgende Schlussfolgerungen ziehen: 1. Der Aufruf zum Gottesweg in diesem Vers wurde für diejenigen formuliert, die diesen Weg noch nicht kennen oder ihn ignorieren. Die Aufrufe, die der Koran für diejenigen bereit hält, die diesen Weg schon kennen, haben andere Inhalte und wurden anders formuliert, wie wir später noch sehen werden. 2. Nicht jeder Muslim kann zum Gottesweg aufrufen. Der Aufruf zum Gottesweg verlangt Wissen und Kenntnisse über diesen Weg sowie überzeugende Argumente, die das Einschlagen dieses Weges vernünftig rechtfertigen. 3. Die Art und Weise, wie der Muslim diesen Aufruf verwirklicht, muss friedlich sein. Zwang darf nicht angewendet werden. 4. Die angesprochenen Menschen müssen in vollkommener Freiheit über Annahme oder Ablehnung des Gottesweges entscheiden können. Niemand, auch der Prophet Mohammed nicht, darf über diese Menschen ein Urteil fällen, gleichgültig, wie sie sich entscheiden. Das ist allein Gottes Sache. Als wichtige Voraussetzung, den Inhalt dieses Verses zu verwirklichen, nennt der Koran noch die Frömmigkeit. Sie ist ein Zeichen des Glaubens, aber nicht jeder Muslim praktiziert den Glauben und ist in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen. In Vers 49,14 heißt es dazu: Die arabischen Beduinen sagen: „Wir glauben.“ Sprich: Ihr glaubt nicht (wirklich). Sagt vielmehr: Wir sind Muslime geworden. Der Glaube ist ja noch nicht in eure Herzen gedrungen. […] (AK).77 Die Frömmigkeit führt den Menschen in einen Zustand, in dem er Gott so gut versteht und sich nach Art der Mystiker mit ihm vereint, dass er den Weg Gottes ohne viel Mühe mit Erfolg erklären kann. Diese frommen Menschen werden im Koran als die Gott am nächsten stehenden Diener bezeichnet: […] Der Angesehenste von euch bei Gott, das ist der Gottesfürchtigste von euch. […] (49,13) (AK). Die islamische Geschichte hat uns in vielen Epochen ihrer Entwicklung gezeigt, wie unterschiedlich die Wege waren, die frühere Muslime eingeschlagen haben, um ihre Ideen zu verbreiten. 77 Man unterscheidet in der arabischen Sprache zwischen Muslim und Mu‘min, wobei Muslim lediglich einen Anhänger der islamischen Religion bezeichnet und Mu‘min einen Menschen beschreibt, der an die Lehre des Islam im Herzen und aus tiefer Überzeugung glaubt und diese Überzeugung durch sein Handeln zum Ausdruck bringt. Und trotzdem wird missioniert 83 Als etwa Mohammad im Jahr 610 n.Chr. in Mekka begann, seine Botschaft unter den Heiden seines Stammes Quraiš in Mekka zu verkünden, konnte er dies zunächst nur in einem sehr engen Kreis seiner Familie tun78. Auch als sich dieser Kreis allmählich etwas weitete, konnte Mohammed seine neuen Ideen nicht einer breiten Öffentlichkeit kund tun, da von den meisten Stammesmitgliedern, die Mohammeds Ideen ablehnten, gleichzeitig eine existenzielle Gefahr ausging. Nach und nach konnte die neue Religion aber auch außerhalb Mekkas Menschen für ihre Ideen gewinnen, womit eine gewisse Lockerung der Bewegung einher ging. In völliger Freiheit konnte Mohammed jedoch erst im Jahr 622 n.Chr. in der Stadt Medina laut zum Gottesweg aufrufen und die Prinzipien der neuen Religion befestigen. Der Islam geht, wie die anderen abrahamitischen Religionen auch, vom Prinzip der Absolutheit aus. Viele koranische Verse werden in diesem Sinne so ausgelegt, dass man den Eindruck bekommen könnte, alle anderen, vor dem Islam an die Menschheit ergangenen Botschaften Gottes, würden abgelehnt. Und Wir haben dich für die Menschen allesamt nur als Freudenboten und Warner gesandt. Aber die meisten Menschen wissen nicht Bescheid. (34,28) (AK). Oder Die Religion bei Gott ist der Islam. Diejenigen, denen das Buch zugekommen ist, sind erst uneins geworden, nachdem das Wissen zu ihnen gekommen war, dies aus ungerechter Auflehnung untereinander. Wenn aber jemand die Zeichen Gottes verleugnet – siehe, Gott ist schnell im Abrechnen. (3,19) (AK). In diesem letzten Vers geht es nach Meinung von Husain Tabatabai um die Einheit der Religion, die durch verschiedene Botschaften gesandt worden sei79. Diese Botschaften seien aber von vielen Menschen verleugnet worden, obwohl sie alle göttlichen Ursprungs seien. Islam bedeute hier die völlige Hingabe in den Willen Gottes. Ich habe in diesem Kapitel bereits erwähnt, dass der Diskurs des Korans für die Nichtmuslime, die aber an den Gott Abrahams glauben, ein anderer ist als der Diskurs mit denjenigen, die diesen Glauben nicht haben. Der Glaube an den einen einzigen Gott von Abraham, ob er Gott, Ilohim, Chudeh, Allah oder noch einen anderen Namen trägt, ist der echte Monotheismus nach der islamischen Lehre. Abraham ist der gemeinsame Vater des Judentums, Christentums und des Islam. Und so heißen diese Religionen auch die abrahamitischen Religionen, arab. al-ʼAdyānu l-ibrāhīmīya. Im Koran heißt es dazu in Sure 2,135: 78 26,214: „Und warne deine nächsten Sippenmitglieder“ (AK). 79 Tabatabai, Husain Mohammad: „Der Qur‘an im Islam“, Bremen, 2009. 84 Der Islam in der Diskussion Und sie sagen: „Werdet Juden oder Christen, so folgt ihr der Rechtleitung.“ Sprich: Nein, (wir folgen) der Glaubensrichtung Abrahams, als Anhänger des reinen Glaubens; und er gehörte nicht zu den Polytheisten. (AK). In mehr als 60 Versen wird Abraham im Koran erwähnt. Die 14.Sure ist mit seinem Namen (arab. Ibrāhīm) überschrieben. Hier sei noch einmal auf die verschiedenen Offenbarungen der abrahamitischen Religionen hingewiesen, die nach islamischem Verständnis nur eine einzige war, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Sprachen, verkündet durch die Propheten Adam, Noah, Abraham, Mose, Jesus und Mohammed. Diese These wird im Koran mehrmals bestätigt, etwa in 42,13: Er hat euch von der Religion verordnet, was Er Noach aufgetragen hat, und was Wir dir offenbart haben, und was Wir Abraham, Mose und Jesus aufgetragen haben: Haltet die (Bestimmungen der) Religion ein und bringt keine Spaltungen hinein. (AK). Es ist hier also nur von einer Religion die Rede, nicht von mehreren, und der Koran fordert die Anhänger der Religion Abrahams auf, diese Einheit zu bewahren. Die islamische Lehre geht davon aus, dass die gemeinsame Wurzel der drei Religionen die abrahamitische Lehre ist. Wie soll der Diskurs unter den Mitgliedern der abrahamitischen Familie bzw. innerhalb dieser Bestimmungen vonstatten gehen? Kann hier die gleiche Methode wie beim Aufruf zum Gottesweg angewandt werden, mit der Unterscheidung zwischen denjenigen, die diesen Weg nicht kannten, und denjenigen, die sich schon auf diesem Weg befinden? Der Koran erklärt uns diese Situation und sagt, dass Juden und Christen, die, ebenso wie die Muslime, eine Heilige Schrift besitzen, in denen die an sie gesandten göttlichen Botschaften festgehalten sind, von den Muslimen Respekt und Anerkennung verdienen. Besonders bei der Bewältigung innerreligiöser Probleme soll auf einen friedlichen Umgang geachtet werden: Und streitet mit den Leuten des Buches nur auf die beste Art, mit Ausnahme derer von ihnen, die Unrecht tun. Und sagt: „Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt und zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist einer. Und wir sind ihm ergeben.“ (29,46) (AK). Also nicht missionieren in einem gewalttätigen Sinn soll das Ziel der Muslime sein, sondern zu diskutieren, wenn es um den Umgang mit Juden und Christen geht. Es wird nicht zum Weg Gottes aufgerufen, da wir alle schon auf diesem Weg sind, sondern dazu, nach Wegen zu suchen, wie wir alle auf diesem gemeinsamen Weg unser gemeinsames Ziel erreichen können, nämlich immer näher und näher zu Gott zu kommen. Der Aufruf Und trotzdem wird missioniert 85 zum Dialog muss hier die Art des Diskurses bestimmen. Der Koran verlangt diesen Diskurs von den Muslimen und sagt in Vers 3,64 in diesem Zusammenhang: Sprich: O ihr Leute des Buches, kommt her zu einem zwischen uns und euch gleich angenommenen Wort: dass wir Gott allein dienen […] (AK). Der Dialog also ist angesagt als der beste Weg, Gott zu dienen. Diskutieren statt Missionieren. Mit diesem Dialog, in dem jeder Teilnehmer seine Identität bewahrt, die Identität der Anderen nicht nur respektiert, sondern auch schützt, die Bereitschaft hat zuzuhören, die Freiheit aller Beteiligten zu verteidigen und für die respektvolle Art und Weise des Dialogs einzutreten, können wir den Willen Gottes an dieser Stelle verwirklichen – „Haltet die Religion ein und bringt keine Spaltung hinein.“ An dieser Stelle könnte die berechtigte Frage auftauchen, ob denn eigentlich alle Muslime an einen solchen Dialog glauben und an ihm interessiert sind oder ob es unter ihnen nicht solche gibt, die genau das Gegenteil tun, nämlich die Feindschaft zwischen den drei Religionen zu schüren? Die Antwort ist klar und deutlich: Nein, nicht alle Muslime glauben an den Dialog, und, Ja, es gibt viele unter ihnen, die immer wieder versuchen, die theologischen Differenzen innerhalb der abrahamitischen Familie als grundsätzliche Hauptwidersprüche darzustellen und zu vertiefen und damit jegliche Hoffnung auf Verständigung von Anfang an zu zerstören. Das ist eine Tatsache, die man nicht leugnen oder schönreden darf. Als Beispiele dafür kann man alle gewalttätigen Ausbrüche des radikalen Islam und dessen Methoden, wie Mord, Erpressungen und Entführungen anführen. Bevor wir dieses Phänomen in der islamischen Welt analysieren, versuchen wir zunächst, dessen Ursachen zu erforschen. Eine dieser Ursachen liegt mit Sicherheit bei den Quellen, die diese Muslime für die Bestätigung ihres Verhaltens verwenden. Und eben weil der Koran die erste und Hauptquelle der islamischen Religion ist, versuchen diese Muslime ihn für diesen Zweck einzusetzen. Also werden wir auch hier wieder auf das Problem der Auslegung und Interpretation des koranischen Textes stoßen. Wir haben es aber in diesem Zusammenhang nicht nur mit der Auslegung des Gotteswortes zu tun, sondern auch mit dessen historischem Wert und dem Anlass der Offenbarung. Es gibt viele Stellen im Koran mit unfreundlichen, negativen und sogar feindlichen Äußerungen über Juden und Christen. Bei näherer Betrachtung von einigen dieser Stellen ergibt sich dabei folgendes Bild: 86 Der Islam in der Diskussion 1. Die genannten Äußerungen sind immer gegen bestimmte Menschen und nicht gegen deren Religion gerichtet. 2. Diese Stellen sind mit historischen Ereignissen verbunden, die den Anlass zu Formulierungen dieser Art gegeben haben. Als Beispiel können wir die Verse 41 bis 66 der 5.Sure heranziehen. Hier sind einige Beispiele davon: 57. O die ihr glaubt, nehmt euch nicht die zu Freunden - unter jenen, denen vor euch die Schrift gegeben ward, und den Ungläubigen -, die mit eurem Glauben Spott und Scherz treiben. Und fürchtet Allah, wenn ihr Gläubige seid; 58. Die es als Spott und Scherz nehmen, wenn ihr zum Gebet ruft. Dies, weil sie Leute sind, die nicht begreifen 66. Und hätten sie die Thora befolgt und das Evangelium und was (nun) zu ihnen hinabgesandt ward von ihrem Herrn, sie würden sicherlich (von den guten Dingen) über ihnen und unter ihren Füßen essen. Es sind unter ihnen Leute, die Mäßigung einhalten; doch gar viele von ihnen - wahrlich, übel ist, was sie tun. 67. O du Gesandter! Verkündige, was zu dir hinabgesandt ward von deinem Herrn; und wenn du es nicht tust, so hast du Seine Botschaft nicht verkündigt. Allah wird dich vor den Menschen schützen. Wahrlich, Allah weist nicht dem Volk der Ungläubigen den Weg. 68. Sprich: «O Volk der Schrift, ihr fußet auf nichts, ehe ihr nicht die Thora und das Evangelium befolgt und das, was zu euch herabgesandt ward von eurem Herrn.» Aber gewiss, was von deinem Herrn zu dir hinabgesandt ward, wird gar viele von ihnen zunehmen lassen an Aufruhr und Unglauben; so betrübe dich nicht über das ungläubige Volk. (KT). Der Koran spricht an diesen Stellen von Juden und Christen, die zum Propheten kamen, um ihn zu verspotten oder zu verärgern. Sie stellten ihm Fragen, deren Antworten eigentlich in den heiligen Büchern des Judentums und des Christentums zu finden sind. Der Prophet hatte diese Leute auf die Weisheit und das göttliche Licht in ihren heiligen Büchern hingewiesen und sie aufgefordert, zu ihren Büchern zurückzukehren. Vor dieser Art von Juden und Christen, die ihre Schriften ignorieren, hat Mohammed gewarnt und die Muslime aufgefordert, sie nicht als Freunde zu betrachten. 1. Es wird oft übersehen, dass manche koranische Stellen nur eine begrenzte historische Wirkung gehabt hatten, nämlich zur Zeit ihrer Offenbarung, als diese Haltung für die Befestigung der Religion als nützlich angesehen wurde. Mit veränderter Situation büßten diese Stellen ihre Bedeutung ein und fungieren nun als heilige Und trotzdem wird missioniert 87 Stellen, als Gottesworte, die aber keine Funktion mehr im praktischen Leben haben können. Der zweite Kalif Omar80 z.B. hatte einige dieser Stellen nicht befolgt, weil er keinen Grund mehr für deren Anwendung sah, so etwa den Vers 9,60, in dem es um die Verteilung von Almosen geht. Der Kalif hatte diejenigen, deren Herzen mit der göttlichen Botschaft vertraut gemacht werden sollten, später von der Verteilung ausgeschlossen, obwohl der Koran diese Art der Almosenverteilung klar und deutlich festgelegt hatte.81 Er begründete sein Vorgehen damit, dass diese Maßnahme nur am Anfang der Botschaft wichtig gewesen sei, jetzt aber nicht mehr (vgl. etwa die bereits genannten koranischen Stellen, die die Pilgerfahrt auf Kamelen, die Zeitehe, usw. betreffen). 2. Einige dieser koranischen Stellen können aufgrund der heutigen politischen, wirtschaftlichen und internationalen Situationen und Tatsachen nicht mehr angewandt werden, weil sie entweder von den früheren Auseinandersetzungen zwischen den Menschen von damals Auskunft geben oder/und deren Abhandlungen heutzutage durch neue Maßnahmen ersetzt worden sind, die auch in den islamischen Gesellschaften entwickelt wurden. Dazu zählt die Kopfsteuer, die in Vers 9,29 festgelegt ist und früher von den Nichtmuslimen in den islamischen Gesellschaften bezahlt werden musste: Kämpfet wider diejenigen aus dem Volk der Schrift, die nicht an Allah und an den Jüngsten Tag glauben und die nicht als unerlaubt erachten, was Allah und Sein Gesandter als unerlaubt erklärt haben, und die nicht dem wahren Bekenntnis folgen, bis sie aus freien Stücken den Tribut entrichten und ihre Unterwerfung anerkennen (KT). Die Nichtmuslime waren nicht zur Abgabe der Zakāt, der muslimischen Steuer, verpflichtet, sollten sich aber in Form der Ǧizya, der Kopfsteuer für Nichtmuslime, am sozialen Leben beteiligen. Heute werden alle Bürger in den islamischen Staaten, unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit, aufgefordert, ihre Steuer nach den herrschenden Zivilgesetzen dieser Gesellschaften zu zahlen. Die fundamentalistische traditionelle Schule im Islam, die immer noch auf ihrem Absolutheitsrecht beharrt, verbreitet neben der wortwörtlichen Auslegung des Korans noch viele Hadithe, Erzählungen und Reden des Propheten, die man als Teil der Sunna, der zweiten Quelle der islamischen Lehre nach dem Koran betrachtet. Die darin enthaltenen Hinweise auf das Absolutheitsrecht der islamischen Religion interpretiert die 80 Kalif bedeutet „Nachfolger“. Damit ist gemeint: Nachfolger des Propheten Mohammed. Omar hatte diese Funktion inne gehabt in der Zeit von 634-644 n.Chr. 81 Die Almosen sind nur für die Armen und Bedürftigen und für die mit ihrer Verwaltung Beauftragten und für die, deren Herzen versöhnt werden sollen, für die (Befreiung von) Sklaven und für die Schuldner, für die Sache Allahs, Und für den Wanderer: eine Vorschrift von Allah. Und Allah ist allwissend, Allweise. (KT). 88 Der Islam in der Diskussion fundamentalistisch-traditionelle Schule als Richtschnur für das Leben und das Verhalten der heutigen Muslime. Mittlerweile weiß man, dass sehr viele Hadithe gefälscht wurden und dass fast jede islamische Richtung ihre eigenen Hadithe überliefert hat und besitzt, die von anderen Richtungen zum Teil nicht anerkannt werden. Bei der Argumentation mit der Sunna stellt sich also nicht nur das Problem der Interpretation, sondern auch das der Echtheit der verwendeten Hadithe. Deshalb wird heute in fast allen islamischen Gesellschaften nicht außerhalb der eigenen Gesellschaft missioniert, um Nichtmuslime für den Islam zu gewinnen, sondern innerhalb dieser Gesellschaften. Diese Art der Missionierung für eine bestimmte Konfession oder für eine bestimmte islamische Sekte unter den Muslimen selbst weist darauf hin, dass es dabei nicht um die Hauptprinzipien der islamischen Lehre geht, sondern um die Verbreitung bestimmter Ideen, wobei wir wieder bei der Instrumentalisierung der Religion für bestimmte Ziele wären. Diese Ziele müssen nicht unbedingt religiöser Natur sein. Sie können auch politisch oder sektiererisch sein. In jedem Fall ist die Missionierung häufig mit Gewalt und Terror verbunden Die islamische Geschichte kennt aber auch sektiererische Missionierungen, die friedlich verlaufen sind, wie es bei den Ismailiten (Iḫwan as-Safa im 10. Jahrhundert in Basra) der Fall war oder in jüngerer Zeit bei der al-Aḥmadiya (gegründet 1889 in Indien von Mirza Gulam Ahmad 1835-1908). Das verbreitete Bild über den Islam heute zeigt sehr viele dunkle Seiten und tiefe Schatten in dieser Religion, die von ihren Anhänger selbst verursacht worden sind. Die intuitive Assoziation des Islam mit Themen wie Frauenunterdrückung über Polygamie, Selbstmordattentäter bis zum sogenannten „Heiligen Krieg“ sind heutzutage die Reaktionen vieler Menschen auf den Islam, wobei sie den Islam nur durch die Taten der radikal-konservativen Muslime sehen. Ein lebendiges Beispiel der immer mit Gewalt verbundenen sektiererischen Missionierung ist die Wahabiya-Bewegung mit Hauptsitz in Saudi Arabien.82 Die Anhänger Ibn Abd al-Wahabs nehmen für sich in Anspruch, die islamische Lehre authentisch zu vertreten. Wie allerdings in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde steht die wahabitische Lehre in vielerlei Hinsicht in Widerspruch zu den koranischen Quellen und damit zu den Grundlagen der islamischen Lehre. 82 Al-Wahabiya als ein Teil der hanbalitischen Schule (gegründet von Ibn Hanbal, 780-855 n. Chr.) ist eine konservative und dogmatische Richtung des sunnitischen Islams, hanbalitischer Richtung. Die Bewegung gründet auf den Lehren Muhammad ibn Abd al-Wahhabs im Jahre 1731 und ist im heutigen Saudi-Arabien angesiedelt. Die meisten Wahhabiten leben heute in Saudi-Arabien. Sie stellen dort die größte religiöse Gruppe in der Bevölkerung dar, und ihre Lehre ist Staatsreligion. 9 9.1 Der Islam und die Demokratie Einleitung Zunächst wollen wir die Begriffe Demokratie und Islam definieren. Die Demokratie wird im politischen Sinne, als Instrument zur Regelung der politischen Macht, und im sozialen Sinne als Möglichkeit einer unter bestimmten Vorgaben existierenden Ordnung in einer Gesellschaft verstanden. Der Islam ist eine Religion, die auf der einen Seite die Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer, nämlich Gott, regelt und auf der anderen Seite den Beziehungen der Menschen in einer Gesellschaft untereinander einen Rahmen setzt. Dies bedeutet, dass die Verwirklichung der Demokratie in einer Gesellschaft theoretisch nur einen Teil der islamischen Lehre berühren kann. Dieser Berührungspunkt ist die Beziehung zwischen den Menschen untereinander. Und genau dort liegt auch das Arbeitsfeld von Islam und Demokratie. Nun ergibt sich die Frage, was die Prinzipien der Demokratie – Menschenrechte, Entscheidungsfreiheit, Meinungsfreiheit, friedliches Zusammenleben, Gerechtigkeit und Ordnung im normalen Leben, Respekt vor dem Anderen, um nur die wichtigsten zu nennen – eigentlich mit der Religion, speziell der islamischen, zu tun haben. Die Religion als göttliche Botschaft kann als wichtiger Antrieb gesellschaftlicher Veränderungen verstanden werden die diese Gesellschaften voranbringen und verbessern sollen. Bei der Ausübung der religiösen Prinzipien muss für jedes Mitglied einer Gesellschaft die Möglichkeit gegeben sein, dass die Verwirklichung dieser Prinzipien und die praktizierte Religiösität auf der Basis von eigener Überzeugung und freier Entscheidung geschieht. In den muslimischen Gesellschaften sollte das auch so sein, denn nur mit der Überzeugung des einzelnen Mitglieds kann die Veränderungsfunktion der Religion erfüllt werden. Diese These, die eigentlich als ein Teil der islamischen Lehre gilt, wird von den Islamisten verleugnet, weil sie ein anderes Verständnis von Demokratie und Freiheit haben. Auf dieses Thema, nämlich das Šūrā-Prinzip (Beratungsprinzip), werden wir in diesem Kapitel genauer eingehen. Aber wieso verbindet man die Demokratie mit der islamischen Lehre? Die Praxis der islamischen Religion umfasst zwei Bereiche: Der erste beschäftigt sich mit der Religion auf privater Ebene. Als gutes Beispiel dieser Beschäftigung können hier die Hauptpflichten wie Gebet, Fasten, Abgaben und Pilgern genannt werden. Hier darf sich keiner in die Angelegenheit der Anderen einmischen, denn es geht um die private Regelung der Beziehung zwischen Gott und Mensch aufgrund einer persönlichen Überzeugung. Durch die Erfüllung bzw. Vernachlässigung der religiösen Pflichten ist es allein die Person selbst, die im Jenseits mit Belohnung oder Bestrafung durch Gott rechnen muss, und niemand anders: Der Islam in der Diskussion 90 Am Tag, da jede Seele kommt, um für sich selbst zu streiten, und da jeder Seele voll erstattet wird, was sie getan hat. Und ihnen wird kein Unrecht getan. 16,11183 (AK). Dies bedeutet, dass kein anderer Mensch zur Verantwortung gezogen wird als derjenige, der diese Pflichten erfüllt bzw. vernachlässigt hat. Der zweite Bereich beschäftigt sich mit der Religion innerhalb einer Gesellschaft. Hier geht es um die Verpflichtung, die sozialen Prinzipien der Religion zu verwirklichen, ohne die Freiheit der Anderen zu verletzen. Die wichtigsten dieser Prinzipien sind: 9.2 Persönliche Freiheit Es gibt viele Stellen im Koran, die die Ausübung der Religion als eine rein private Angelegenheit betrachten. Nach der islamischen Lehre hat Gott uns den richtigen Weg gezeigt. Sein Wille ist, dass wir diesen Weg in unserem Leben folgen sollen. Wir müssen uns nun entscheiden, und zwar jede und jeder für sich, ob wir aus freien Stücken den Willen Gottes verwirklichen wollen und können oder nicht. Mehrere Verse im Koran verdeutlichen dies: Es gibt keinen Zwang in der Religion. […] 2,256. (AK). Oder: Und sprich: Es ist die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, möge glauben, und wer will, möge ungläubig sein. […]. 18,2984 (AK). Alle diese Verse zeigen uns, dass es keinem Mensch erlaubt ist, einen Anderen zum Glauben an die islamische Lehre zu zwingen. Dieser Umgang mit dem Glauben führt dazu, dass die Religion auch andere damit zusammenhängende Freiheiten, wie etwa die Meinungsfreiheit, garantieren muss. Letztere sollte also ein wichtiges Prinzip im Leben eines muslimischen Menschen sein. Die religiös-fundamentalistische Vorstellung der Islamisten sieht anders aus. Die Islamisten betrachten sich als die einzig wahren Vertreter der islamischen Religion, diskriminieren jede andere Meinung und bekämpfen sie mit allen Mitteln, die ihnen zu Verfügung stehen. Mit dem islamischen Prinzip des Respekts vor der persönlichen Freiheit des Anderen ist dieses Verhalten nicht vereinbar. 83 Vgl. in diesem Zusammenhang auch 2,286 und 16,97 (AK). 84 Auch die Verse 17,107; 10,99; 109,6 und 11,86 (AK) stärken diese Perspektive. Der Islam und die Demokratie 9.3 91 Gleichheit unter den Menschen Der Koran sieht alle Menschen als gleich an. Unterschiede in Hautfarbe, Sprache, Rasse und Herkunft stellen keine Berechtigung dar, dass eine Gruppe von Menschen eine andere Gruppe diskriminiert oder aus welchen Gründen auch immer benachteiligt wird. Darüber sagt der Koran Folgendes: O ihr Menschen, Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der Angesehenste von euch bei Gott, das ist der Gottesfürchtigste von euch. […] 49,13.85 Auch hier werden die Behauptungen der Islamisten widerlegt, wenn sie meinen, nur diejenigen, die ihren Ideen folgen, seien gute Menschen. Es ist vielleicht von Bedeutung zu erwähnen, dass dieses Prinzip zu einer Zeit verkündet wurde, als in den Nachbarstaaten der Muslime, wie z.B. in Byzanz, andere Gesellschaftsordnungen herrschten. Diese Staaten waren bestimmt durch ein politisch-soziales System der Aufteilung der Gesellschaft in eine Herren- und eine Sklavenschicht, welches vor dem Erscheinen des Islam auch auf der arabischen Halbinsel die vorherrschende Form gesellschaftlicher Organisation darstellte. Obwohl der Islam die Sklaverei nicht ausdrücklich verbot, wollte er doch mit seiner Ablehnung der Schichtengesellschaft das Prinzip der Gleichheit der Menschen als Geschöpfe Gottes verwirklichen. Als Zeichen des Glaubens forderte Mohammed seine Anhänger auf, die Sklaven entweder zu befreien oder für eine gerechte Behandlung durch deren Herren zu sorgen. Der Inhalt der Sure 2,177 sagt darüber Folgendes: Es ist keine Frömmigkeit, wenn ihr eure Angesichter in Richtung Osten oder Westen wendet; Frömmigkeit ist vielmehr, daß man an Allah glaubt, den Jüngsten Tag, die Engel, das Buch und die Propheten und vom Besitz – obwohl man ihn liebt – den Verwandten gibt, den Waisen, den Armen, dem Sohn des Weges, den Bettlern und (für den Freikauf von) Sklaven, dass man das Gebet verrichtet und die Zakah entrichtet. Es sind diejenigen, die ihr Versprechen einhalten, wenn sie es gegeben haben; und diejenigen, die in Elend, Not und in Kriegszeiten geduldig sind; sie sind es, die wahrhaftig und gottesfürchtig sind. (KT). 9.4 Gerechtigkeit Auch mit der Vernachlässigung dieses islamischen Prinzips entlarven sich die Islamisten als Menschen, die die islamische Lehre nicht aus religiösen Gründen verteidigen, sondern sie für ihre eigene politische Zwecke instrumentalisieren wollen. Sie nehmen 85 Siehe dazu auch 4,1 und 17,70 (AK). Der Islam in der Diskussion 92 sich das Recht, Menschen, die in ihren Augen Abtrünnige sind, zu töten. Was sagt der Koran dazu? O ihr, die ihr glaubt, tretet für Gott ein und legt Zeugnis für die Gerechtigkeit ab. Und der Hass gegen bestimmte Leute soll euch nicht dazu verleiten, nicht gerecht zu sein. Seid gerecht, das entspricht eher der Gottesfurcht. […]. 5,8.86 Aber auch Gerechtigkeit in Geschäftsbeziehungen wird im Koran von Gott ausdrücklich verlangt, wie es in Sure 6,152 steht. Gerechtigkeit wird im Islam als ein Teil des menschlichen Wesens gesehen. Er verlangt sie auch gegenüber friedlichen „Ungläubigen“ (Sure 60,8). Die Islamisten ignorieren dies und gehen davon aus, dass die Muslime bevorzugt und besser als die Anderen behandelt werden sollten. 9.5 Das Recht des Anderen In der islamischen Tradition gibt es die Redewendung:(al-ʼinsān ʼaḫun laka fī ad-Dīnu aw šabihun laka fī ḫalq), die wie folgt übersetzt werden kann: „Der Mensch ist entweder dein Bruder im Glauben oder ein Abbild von dir.“ Der Koran betrachtet die Unterschiede zwischen den Menschen als ein Zeichen Gottes. Der Islam verlangt von seinen Anhängern, dass diese Entscheidung Gottes respektiert werden muss: Zu seinen gehört die Erschaffung der Himmel und der Erde, und auch die Verschiedenheit eurer Sprachen und Arten. Darin sind Zeichen für die Wissenden. (30,22) (AK). Hier haben wir den religiösen Ausgangspunkt jedes Muslims, was die Beziehungen zu anderen Menschen angeht. Wenn die Islamisten aber meinen, dass alle Menschen Muslime sein müssen, so widersprechen sie den koranischen Versen, die gegen eine einzige Gemeinde der Menschheit sprechen, wie z.B. der Vers 11,118: Und wenn dein Herr gewollt hätte, hätte Er die Menschen zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber sie sind noch immer uneins. (AK). Bekämpfung der Unterdrückung In manchen Situationen stehen die Islamisten an der Seite der Machthaber und Unterdrücker, wenn nämlich diese die Interessen der Islamisten direkt oder indirekt unterstützen. Das geschieht auch, wenn diese Machthaber die Rechte der anderen Menschen vernachlässigen und sie diskriminieren. Die Islamisten wechseln aber schnell ihre Position und bekämpfen ihre verbündeten Machthaber, wenn sie merken, dass diese 86 Vgl. auch 7,29 und 49,9 (AK). Der Islam und die Demokratie 93 ihre Meinung nicht im Interesse des politischen Islam geändert haben. Das beste Beispiel für diese Haltung war die Beziehung zwischen den ägyptischen Islamisten und dem damaligen Staatspräsidenten Anwar as-Sadat.87 Als Anwar as-Sadat als Nachfolger des verstorbenen ägyptische Präsidenten Gamal Abdel Nasser an die Macht kam, wollte er eine freundliche und friedliche Politik den Islamisten gegenüber durchsetzen. Er hatte ihre Gefangenen frei gelassen und ihnen die freie Meinungs- und Versammlungsrechte garantiert. Die Islamisten haben infolgedessen die Politik des Präsidenten, insbesondere die neue offene Beziehung zum Westen, unterstützt. Als Anwar as-Sadat die Verhandlungen mit Israel aufgenommen hatte, die zum Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel führten, haben die Islamisten ihr Verhalten dem Präsident gegenüber so grundlegend verändert, was letztlich zur Ermordung Sadats führte. Ein anders Beispiel aus Afghanistan zeigt uns, wie die Taliban Menschen, die nicht ihrer Meinung waren, unterdrückt und gequält haben. Sie haben aber diese inhumanen Maßnahmen immer mit religiösen Argumenten gerechtfertigt.88 Als die Taliban an die Macht kamen, haben sie nicht nur die Muslime unterdrückt (Arbeitsverbot für die Frauen, Kleidungszwang für die Männer und die Frauen, Bart wachsen lassen für die Männer, Bekämpfung anderer islamischen Richtungen wie die Schiiten usw.), sondern auch die Nichtmuslime. Ihre Angriffe auf die buddhistischen Statuen in Afghanistan, um sie zu vernichten, haben die ganze Welt erschüttert, weil diese Statuen als Weltkulturerbe gelten. Die Unterdrückung eines anderen Menschen, egal welcher Art, ist nach der islamischen Lehre eine der größten Sünden, die ein Mensch begehen kann. Sie wird als ein Angriff auf die Entscheidungen Gottes dargestellt, weil Gott selber die Unterschiede in der Gesellschaft gewollt hat, wie es in obengenannter Sure 11,118 steht. Die islamische Religion fordert ihre Anhänger auf, die Unterdrückung zu bekämpfen, egal von welcher Seite sie ausgeht. Der Koran sagt darüber: Erlaubnis (zum Kampf) ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen ja Unrecht getan wurde – und Gott hat gewiss die Macht, sie zu unterstützen – […]. 22,3989 (AK). An die Unterdrücker wendet sich Gott in Sure 46,1290 […] Und dies ist ein Buch zur Bestätigung in arabischer Sprache, um diejenigen, die Unrecht tun, zu warnen, und als Frohbotschaft für die Rechtschaffenen. (AK). Wenn wir nun die soziale Situation in den muslimischen Gesellschaften betrachten, so können wir leicht feststellen, dass die oben genannten islamischen Prinzipien in kaum einer dieser Gesellschaften realisiert worden sind. Warum? Dafür gibt es mehrere 87 88 89 90 As-Sayyid, Rif‘at: Al-Mutʼaslimūn (Arabisch), Verlag: Dar Aḫbār al-Yawm, Kairo, 1. Auflage. Z.B. Das Schulverbot für Mädchen, obwohl im Koran nichts darüber steht. Vgl. auch 4,148 (AK). Vgl. auch 4,148 und 42,42 (AK). 94 Der Islam in der Diskussion Gründe und Faktoren, die in den verschiedenen Entwicklungsepochen dieser Gesellschaften eine große Rolle gespielt haben. Grob gesehen, können wir zwischen endogenen und exogenen Faktoren unterscheiden. Zu den exogenen Faktoren gehören mit Sicherheit die Einflüsse der Kolonialzeiten in diesen Ländern. Die Kolonialmächte haben nach der offiziellen Beendigung ihrer Herrschaft Regierungen in ihren ehemaligen Kolonien eingesetzt, die ihre Interessen auch weiterhin schützen und vertreten konnten. Damit haben sie eine antidemokratische Tradition in diesen Gebieten eingeführt und gestützt, die auch später – und mit Unterstützung der früheren Kolonialherren – fortgesetzt wurde. Diese Fortsetzung wurde von den sogenannten nationalen Kräften betrieben, die ihre Beziehungen zu den alten Kolonialmächten immer gepflegt haben. Die heutigen Machthaber in vielen dieser Staaten unterscheiden sich nur wenig von denen, die gleich nach der Beendigung der Kolonialherrschaft an die Spitze der politischen Macht kamen und den antidemokratischen Prozess einleiteten. Die neuesten Ereignisse des sogenannten „Arabischen Frühlings“ haben den Menschen in Tunesien, Ägypten, Syrien, Jemen, Libyen, Bahrein und auch in Saudi Arabien gezeigt, wie korrupt und diktatorisch diese Machthaber sind. Die Aufstände gegen diese totalitären Systeme haben dazu geführt, diese Herrschaften zu beenden und dies ohne die Beteiligung der Islamisten, die immer versuchten, die politische Ebene zu beherrschen und ihre islamistischen Parolen unter der Bevölkerung zu verbreiten. Taher Ben Jelloun bemerkt hinsichtlich dieser Ereignisse: „In erster Linie bedeutet diese Bewegung die Niederlage des Islamismus. Die islamistischen Aktivisten wurden vom Ausmaß der Proteste überrumpelt und waren größtenteils nicht vertreten. Neue Werte, die eigentlich alte Werte sind, haben das Terrain der arabischen Protestbewegung erobert: Freiheit, Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit. Das islamistische Softwarepaket – wie es einige nennen _ hat den Anschluss verpasst. Facebook, Twitter, Internet und neue Vorstellungswelten haben den einschläfernden anachronistischen und stumpfsinnigen Diskurs des Islamismus hinweggefegt, der zu seiner Verbreitung auf das Irrationale und einen neurotischen Fanatismus setzte.“91 Mit Sicherheit werden die anderen despotischen Herrschaftssysteme im arabischen bzw. islamischen Raum langsam hintereinander verschwinden. Aber wieso konnten die Machthaber diese Praxis so bis heute ohne Weiteres fortsetzen? Hier kommen die endogenen Faktoren ins Spiel, als deren wichtigster der Mangel an Bildung gelten kann. In manchen dieser Länder können annähernd 50 % der Gesamtbevölkerung weder schreiben noch lesen92. Ein Analphabet in diesen Gesellschaften beschäftigt sich kaum 91 Ben Jelloun, Tahar: Arabischer Frühling, Berlin Verlag, 2011, S. 12-13. 92���������������������������������������������������������������������������������������� Einige Beispiele dafür: Marokko: Analphabetenrate: Männer 38%, Frauen 63%; Algerien: Analphabetenrate: Männer 23%, Frauen 42%; Ägypten: Analphabetenrate: Männer 33%, Frauen 55%; Irak: Analphabetenrate: Männer 45%, Frauen 76%; Iran: Analphabetenrate: Männer 16%, Frauen 30%; Saudi Arabien: Analphabetenrate: Männer 16%, Frauen 32%; Pakistan: Analphabetenrate: Männer 42%, Frauen 71%. Quelle: WELT ONLINE (politik.de) vom 05.01.2004. Der Islam und die Demokratie 95 mit seinen Rechten und beugt sich oft vor der Macht der Politik, die er nicht beeinflussen kann, weil er die Politiker nicht wählen darf. Abgesehen davon spielen hier der Glaube und das Vertrauen, dass alles, was geschieht, nach Gottes Willen geschieht, eine entscheidende Rolle. Das ist ganz besonders dann der Fall, wenn die religiösen Institutionen diese Art des Glaubens unterstützen und auf Seite der Machthaber stehen. Als zweiter endogener Faktor können die wirtschaftlichen Verhältnisse in diesen Gesellschaften genannt werden. Obwohl einige dieser Staaten sehr reich an Öl und Bodenschätzen sind, findet man bei ihnen viele Bevölkerungsschichten, die unter der Armutsgrenze leben. Diese Menschen sind mit dem täglichen Lebenskampf so sehr beschäftigt, dass für Politik oder Bildung kaum Zeit und Kraft bleibt. Hier liegt auch ein weiterer Grund für den Analphabetismus: Viele Familien schicken, bei fehlender Schulpflicht, ihre Kinder lieber zur Arbeit als in die Schule. Ein weiterer endogener Faktor ist der Einfluss der religiösen Fundamentalisten. Sie lehnen die Demokratie ab und tendieren zur Zusammenarbeit mit den politischen Machthabern, sofern diese nur einen Teil ihrer Interessen verwirklichen können. Der vierte Faktor, eine Mischung aus exogenen und endogenen Faktoren, ist der Mangel an Unterstützung der demokratischen Kräfte durch die demokratischen, nichtislamischen Systeme oder Parteien der Welt. Die freie Welt unterstützte nach dem Ende der Kolonialherrschaft vielmehr und in zunehmendem Maße die politischen Machthaber und Unterdrücker in den islamischen Gesellschaften, wobei man für eine Erklärung dieses Phänomens nicht sehr tief schürfen muss. Ein Blick auf die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der Industriestaaten zu den Ölscheichs in Saudi Arabien oder in den gesamten Golfstaaten aber auch zu den diktatorischen Regimen im arabischen Raum, wie das der Baath-Diktatur im Irak oder Syrien sind einige Beispiele für diese Beziehungen. Es liegt natürlich im Interesse der politischen Machthaber in der islamischen Welt, dass diese Situation unverändert weiter besteht und mit ihr die eigene Machtposition. Einige dieser Machthaber haben sogar dafür gesorgt, dass nach ihrem Tod ihre Söhne als Nachfolger eingesetzt werden konnten, obwohl man in einem republikanischen System lebte. Die Demokratie wird aber auch von den Islamisten abgelehnt. Sie meinen, die westliche Demokratie stelle in der islamischen Gesellschaft einen Fremdkörper dar. Die islamische Gesellschaft habe ihre eigene Demokratie, die Beratung (arab. aš-Šūrā). Im Koran gibt es einige Stellen, die das Prinzip aš-Šūrā als eine Art Regelung der gesellschaftlichen Ordnung darstellen, z.B. Vers 42,3893 […] und die auf ihren Herrn hören und das Gebet verrichten, ihre Angelegenheiten durch Beratung regeln und von dem, was Wir ihnen beschert haben, spenden, […]. (AK). 93 Vgl. auch 3,159 (AK). 96 Der Islam in der Diskussion Aš-Šūrā bedeutet also die Beratung, die der Prophet mit seinen Gemeindemitgliedern führen sollte. Gott hatte ihm empfohlen, sich bei den Entscheidungen mit den Gläubigen zu beraten. Diese Stellen wurden von den Islamisten als die islamische Art der Demokratie dargestellt. Vor der Beantwortung der Frage, ob die beiden Begriffe Demokratie und ašŠūrā gleiche Inhalte und Bedeutungen haben, müssen aber zunächst viele weitere Fragen ausführlich diskutiert werden. In einem demokratischen System müssen die Menschen, die dieses System verwirklichen und dessen Maßnahmen durchführen von der Bevölkerung des betreffenden Landes für eine bestimmte Zeit gewählt werden. Eine andere Art der Realisierung der Demokratie ist das Referendum, mit dem die wahlberechtigten Menschen sich unmittelbar an den Entscheidungen des Landes beteiligen. In den koranischen Texten über aš-Šūrā ist keine Rede von Wahl oder Referendum. Die Fragen, die sich hier stellen, lauten: Wie wird der Šūrā-Rat zusammen gestellt? Wer wird im Šūrā-Rat sitzen? Und wie lange? Welche Funktion kann der Šūrā-Rat ausüben? Darüber, wie verbindlich die Entscheidungen dieses Gremiums sind, findet sich im Koran kein Anhaltspunkt. Das ist nicht einmal so verwunderlich, denn aš-Šūrā heißt: die Beratung. Die Muslime beantworten diese Fragen damit, dass Gott viele Angelegenheiten der islamischen Gemeinde nicht ausführlich geregelt hätte. In vielen Fällen habe man im Koran nur Andeutungen und ganz allgemeine Anweisungen bekommen. Der Mensch sollte bei Bedarf in der Lage sein, diese allgemeinen Regeln zu spezifizieren und seinen Möglichkeiten entsprechend realisieren. Wenn die Muslime mit dieser optimistischen Ansicht Recht hätten, so könnte man die obengenannten islamischen Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit usw. ohne Weiteres durchsetzen. Das ist heutzutage aber nicht der Fall. Die islamischen Gesellschaften leiden unter vielen Problemen. Keiner der Machthaber, die nach der Beendigung des Kolonialismus die politische Macht übernahmen, konnte die miserablen Bedingungen in vielen Bereichen des Lebens verbessern. Die Lage hat sich im Gegenteil in manchen dieser Gesellschaften noch verschlechtert. Auch die Islamisten haben mit ihren verschiedenen Parolen den Menschen nur Hoffnungen gemacht. Wo sie aber an die politische Macht kamen, erwiesen sie sich nicht besser als die traditionellen Politiker. Abgesehen von den wirtschaftlichen und kulturellen Problemen stellt die Beziehung zwischen Staat und Religion eines der wichtigsten Probleme der politischen Systemen in der islamischen Welt dar. Wenn man mit den Islamisten über dieses Thema diskutiert, versuchen sie den Eindruck zu vermitteln, dass die Trennung zwischen Staat und Religion, wie sie die liberalen Muslime durchsetzen wollen, einer Trennung zwischen Religion und Gesellschaft bzw. den Menschen gleichkomme. Sie stellen die Menschen vor die Wahl zwischen dem religiösen und dem atheistischen Staat. Dabei nutzen sie die emotionalen Bindungen der einfachen Menschen an ihre Religion so geschickt, dass diese sofort an die totale Entfernung der Ge- Der Islam und die Demokratie 97 sellschaft von der Religion denken, an eine Gesellschaft ohne Gott und damit auch ohne Prinzipien. Diese Darstellung ist natürlich falsch und auch unwissenschaftlich. Man darf hier nicht nur die theologische Seite dieses Themas behandeln. Es gibt noch andere Aspekte, die eine große Rolle bei dieser Diskussion spielen können, nämlich historische und philosophische Aspekte. Diese wiederum hängen mit den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Gesellschaft zusammen. Es ist richtig, dass die Religion die Geschichte der Menschheit in den verschiedenen Epochen ihrer Entwicklung begleitet hat, in welcher Form auch immer. Dennoch ist sie nur ein Teil dieser Entwicklung. Der Mensch hat im Laufe seiner Existenz immer etwas Heiliges oder Spirituelles gehabt. Mit diesen Gedanken ist er aufgewachsen, und seine Erziehung war damit mehr oder weniger verbunden. Gleichzeitig wurde das Leben der Menschheit immer auch von vielen anderen Faktoren, wie Klima oder Flora und Fauna seiner Umgebung beeinflusst. In vielen Fällen ist es dem Menschen gelungen, eine Kombination aus den verschiedenen Elementen seines Lebens zu finden, wie aus der Natur (Wüste, Steppe, Gebirge, Wasser Wald usw.) und den Traditionen einer Gesellschaft, die ihm das Leben leichter machten, wobei es besonders auf jene Elemente ankam, die durch die dynamische Veränderung der Gesellschaft erforderlich wurden. Die wichtigste Kombination, die für unseren Kontext an dieser Stelle von Interesse ist, ist die Beziehung zwischen Staat und Religion aus der Sicht des Islam. Die Islamisten sehen Staat und Religion als untrennbar miteinander verbunden an und sprechen von „dīn wa dawla“, also Staat und Religion, als das politische System der islamischen Gesellschaft. Wie kann man diese These verstehen? Stimmt sie überhaupt so, wie die Islamisten sie darstellen? Wenn die Islamisten propagieren, dass der Islam in seiner ganzen Geschichte keine Trennung zwischen Staat und Religion gekannt habe, so verfälschen sie diese Geschichte, die, wie die wissenschaftlichen historischen Forschungen zeigen, ganz anders verlaufen ist.94 Eine Analyse der verschiedenen Epochen der islamischen Geschichte ergibt, dass der Islam den geistlichen und den weltlichen Bereich weder voneinander getrennt hält, noch sie zusammenführt. Die These der Einigung zwischen den beiden Elementen ist eine Behauptung einiger religiös-politischer Gruppierungen, die mit der Verbreitung dieser These ihre politischen Ziele in bestimmten Epochen der islamischen Geschichte erreichen wollten. Viele Orientalisten haben diese These einfach übernommen und, ohne sie wissenschaftlich zu prüfen, im Westen weiter verbreitet. Solche historischen Missverständnisse in der Geschichte der muslimischen Gesellschaften sind das Resultat der Vermischung von religiösen, politischen und kulturellen Erscheinungen in diesen Gesellschaften. Die Islamisten argumentieren immer mit der Gesellschaftsordnung der islamischen Gesellschaft in der Stadt Medina unter dem Propheten Mohammed und bezeichnen diese als „Staat des Gesandten“ (arab. dawlat ar-Rasūl). Um dieses Argument zu analysieren, 94 Vgl. etwa die Arbeiten Jamal al-Bannas; siehe Fußnote 65. 98 Der Islam in der Diskussion müssen wir die gesamte islamische Geschichte von ihrem Anfang an beobachten, und nicht nur die medinensische Epoche. Die Geschichte des Islam beginnt im Jahre 610 n.Chr. in der Stadt Mekka, wo Mohammed sich bis zum Jahr 622 n.Chr. aufhielt. Mekka kann also auf eine längere islamische Geschichte zurückblicken als Medina. Mehr als die Hälfte des Korans wurde in dieser Epoche offenbart. In jener Zeit hatte Mohammed nie an die Gründung eines Staates gedacht oder dafür gepredigt. Sein wichtigstes Ziel war der Schutz seiner Gruppe, weil die Muslime in Mekka in der ständigen Gefahr lebten, vom Stamm Quraiš, dem Stamm des Propheten, angegriffen oder sogar getötet zu werden. Der Prophet unternahm immer wieder Versuche, in Mekka eine kleine Gemeinde (arab. Umma) zu gründen. Das Wort Umma ist der muslimische Ausdruck für Gemeinde oder Gemeinschaft im weiteren Sinne der religiösen Zugehörigkeit, unabhängig von Nationalität, Herkunft und Hautfarbe. Die Wurzel des Wortes ist amma und bedeutet: sich begeben, vorausgehen (vgl. Imam = Vorbeter). Die Muslime betrachten ihre Einheit in Verbundenheit mit dem einzigen Gott als Symbol des Monotheismus. Man spricht von „wihdatu l-umma min wihdatu–l-Ilah“, und das bedeutet: die Einheit der Umma ist von der Einheit Gottes. Die Umma stellt bei den Muslimen die Zugehörigkeit aller Muslime in der Welt dar und verursacht ein Gefühl des sozialen Zusammenhalts und der gemeinsamen Verantwortung der Religion gegenüber. „al-ummat al-islāmiya“ oder „ummatu Moḥammad“ deutet hier in politischer Sprache auf eine Nation hin, also die islamische Nation oder die Nation Mohammeds. Die Bezeichnung Umma umfasst alle Völker, die sich zum Islam bekennen und achtet dabei nicht auf ihre unterschiedlichen kulturellen, geschichtlichen oder ethnischen Besonderheiten. Diese Vorstellung von der Umma in spiritueller Bedeutung ist eines der Hauptkonfliktthemen zwischen den Nationalisten und den Fundamentalisten der verschiedenen Völker der islamischen Welt. Dieses Ziel einer geeinten Gemeinde konnte Mohammed aber erst erreichen, als er und seine noch kleine Gruppe in die Stadt Medina kamen. Durch den Pakt von Medina zwischen den Einwanderern und den Stämmen der Stadt Medina hatte Mohammed ein gesellschaftliches System entwickelt, dessen Hauptsäulen die Religion und ihre Prinzipien waren. In diesem System gab es keine Verteilung von politischen Ämtern oder ähnliche Institutionen, die man in den Nachbarstaaten des Sassanidenreiches und Byzanz, finden konnte. Mohammed war zwar der Führer dieser Gemeinde, aber vor allem ein religiöser Führer, mit einer bestimmten religiösen Aufgabe, nämlich die gött- Der Islam und die Demokratie 99 liche Botschaft zu verbreiten. Er dachte nicht ans Regieren oder politische Herrschaft und hat auch nicht in diese Richtung gearbeitet. Wichtiger war für ihn die Gründung einer religiösen Gemeinde. Auch wenn die Islamisten dieses Gesellschaftssystem in Medina „Staat“ (arab. Dawla) und nicht „Gemeinde“ (Umma) nennen, können sie nicht propagieren und behaupten, dass sie dieses System wieder erreichten könnten. Die Gründe dafür sind Folgende: 1. Egal, wie man denkt, man darf die heutige Situation in den verschiedenen islamischen Gesellschaften nicht mit der damaligen Situation in der Stadt Medina vergleichen. Jeder Mensch kann mit Sicherheit feststellen, dass die Lebensweise der Menschen im 21. Jahrhundert sich im Vergleich zum 7. Jahrhundert deutlich verändert hat. 2. Unsere Vorstellung vom Staat heute mit seinem politischen, wirtschaftlichen, juristischen und kulturellen Aspekten können wir mit keinem gesellschaftlichen System der islamischen Geschichte bis 661 n.Chr., als in Damaskus das UmayyadenReich gegründet wurde, vergleichen. Die einzige Institution, die damals gegründet wurde, war eine juristische in Form eines Gerichtshofes mit Kadi als Hauptrichter. Diese Funktion wurde vom Kalifen selbst geführt. Gegründet wurde sie in der Amtszeit von Kalif Umar (634-644 n.Chr.). Zu einem Staatssystem fand man erst in der Zeit der Umayyaden in Damaskus. In diesem Staat aber war Politisches und Religiöses getrennt. Der Kalif war zwar der Führer der Gesellschaft, aber mehr im religiösen Sinne, was auch an seinem Beinamen „Amir al-Mu’iminin“, Prinz der Gläubigen, abzulesen war. Für alle politischen, militärischen und juristischen Entscheidungen gab es eigene Behörden. Auch das Zentrum der Führung hatte sich geändert. In Medina war die Moschee das Zentrum des Propheten, in der er seine Führungsrolle ausübte. Im Umayyaden-Reich95 aber und auch in allen anderen islamischen Reichen bis zum Osmanischen Reich, saßen die Kalifen und später die Sultane in ihren Palästen, von wo aus sie den Kontakt zu ihren Behörden pflegten. 3. Auch wenn die Islamisten das System von Medina wiederholen könnten, so müssten sie eine Führungspersönlichkeit wie den Propheten Mohammed finden, die in der Lage wäre, dessen Rolle zu spielen. Sie geben selber zu, dass niemand die Rolle und Funktion dieser Persönlichkeit ausfüllen könnte, denn alles, was Mohammed tat und sagte, war von Gott offenbart durch die Verbindung zwischen dem Himmel und der Erde damals, welche seitdem nie mehr stattgefunden hat. Der Begriff Dawla, welcher den politischen Staat definiert, kommt im Koran übrigens nur ein einziges Mal vor, und zwar nicht im Sinne von Staat als politisches System nach der heutigen Vorstellung vom Staat, sondern als Möglichkeit der Geldverteilung. Wie es im Vers 59,7 steht: 95 Gegründet in Syrien im Jahre 661 n.Chr. und dauerte bis 750 n.Chr. 100 Der Islam in der Diskussion Was Allah Seinem Gesandten als Beute von den Bewohnern der Städte gegeben hat, das ist für Allah und für den Gesandten und für die nahen Verwandten und die Waisen und die Armen und den Wanderer, damit es nicht bloß bei den Reichen unter euch die Runde mache. Und was euch der Gesandte gibt, nehmt es: und was er euch untersagt, enthaltet euch dessen. Und fürchtet Allah; wahrlich, Allah ist streng im Strafen. (KT). Dagegen erwähnt der Koran den Begriff Umma 49-mal. Das bedeutet, dass der Islam die religiöse Seite des Zusammenlebens in der Gesellschaft in den Vordergrund stellt und nicht die politische. 10 Einblicke in die islamische Kultur Wenn wir die Kultur als die Gesamtheit der literarischen, wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Traditionen einer Gesellschaft oder einer Nation definieren, so muss man sich viel Mühe geben, um eine passende Definition für die islamische Kultur zu finden. Die Verbreitungsgebiete des Islam umfassen heute den ganzen Globus. Viele Völker und Nationen bekennen sich zur islamischen Religion und versuchen dabei, Aspekte ihrer alten Traditionen zu bewahren bzw. mit der religiösen Lehre auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Auch deshalb wird es mit der Zeit sehr schwierig, zwischen Religion und Tradition klar zu differenzieren. Zu dieser Schwierigkeit kommen noch die vielen verschiedenen Möglichkeiten, die islamische Religion auszuüben und ihre Lehre im praktischen Leben umzusetzen. Die sogenannten islamischen Rechtsschulen ermöglichen es jedem Muslim, sein religiöses Leben in den Lehren und Interpretationen einer dieser Schulen zu verwirklichen Die verschiedenen islamischen Schulen sind sich zwar über die allgemeinen Prinzipien der islamischen Religion einig, wie z.B. die fünf Pflichten eines Muslims, machen aber dennoch Unterschiede in der Bewertung verschiedener Aspekte des Lebens und in den Interpretationen der religiösen Vorschriften. Bevor diese Unterschiede näher betrachtet werden, die in der Tat auch ein Teil des kulturellen Lebens vieler Muslime in verschiedenen islamischen Gebieten geworden sind, soll ein kurzer Blick auf diese Schulen gerichtet werden. Dabei müssen wir zwischen den beiden Hauptrichtungen der islamischen Religion, Sunna und Schia, differenzieren. Während die Schia in einer eigenen Schule mit mehreren Gruppierungen innerhalb dieser Schule vertreten ist, teilt sich die Sunna, ebenfalls mit ihren verschiedenen Gruppierungen, auf vier verschiedene Rechtsschulen auf. Chronologisch steht die schiitische Schule an erster Stelle. Die Entstehung dieser Schule gleich nach dem Tod des Propheten im Jahre 632 n.Chr. wird auch als die erste Spaltung in der islamischen Gemeinde betrachtet. Bei dieser Spaltung ging es um den Nachfolger des Propheten. Es entstanden drei Gruppen, die bei der Regelung dieser Frage ihre jeweils eigenen Vorstellungen durchsetzen wollten. Jede Gruppe sah sich dazu berechtigt, den Nachfolger des Propheten aus ihren Reihen zu stellen. Die erste Gruppe bildeten die Medinenser, die ihren Kandidaten Saad bin Abaada zum Nachfolger des Propheten ernannten. Die zweite Gruppe, die Mekkaner (arab. alMuhaǧirūn) ernannte ihren Kandidaten Abu Bakr zum Nachfolger. Die dritte Gruppe. die Haschimiten (arab. banu Hāšim) sah als legitimen Nachfolger des Propheten dessen Schwiegersohn und Vetter Ali ibn abi Talib. Da es dieser Gruppe nicht gelang, ihren Wunsch durchzusetzen, sammelten sich die Mitglieder der Gruppe um ihren Kandidaten 102 Der Islam in der Diskussion und bildeten eine Partei, die zwar den neuen Nachfolger (Kalif) politisch unterstützte, theologisch aber die Entscheidungen ihres Führers Ali ibn Abi Talib befolgte. Diese Partei wurde Šiat Ali, Partei Alis, genannt. So begann die Geschichte der Schia. Diese Spaltung entwickelte sich dann nach dem Tod Alis zu einer Rechtsschule für die schiitische Theologie. Die anderen Rechtsschulen, die sich auf der Seite der Sunniten entwickelten, vier an der Zahl, existieren mit zahlreichen Anhängern noch heute und vertreten die sogenannte sunnitische Theologie. Nicht nur die Spaltung der islamischen Gemeinde aufgrund der ungeklärten Nachfolgefrage war Anlass zur Gründung der Schia und danach der schiitischen Rechtsschule, viele Historiker führen außerdem noch andere Faktoren ins Feld. Einige sehen im Streben nach politischer Macht den wichtigsten Grund für die Spaltung. Andere halten soziale Probleme für den Hauptgrund.96 Die Gruppe um Ali hatte die drei Nachfolger des Propheten, Abu Bakr, Omar und Uthman, wegen ihrer Sozialpolitik kritisiert. Ganz besonders wurde der dritte Kalif, Uthman, wegen seiner vermeintlichen Vetternwirtschaft heftig angegriffen. Im Jahr 656 n.Chr. wurde Uthman von der Opposition ermordet.97 Im Gegensatz dazu sehen die Schiiten selbst die Gründe für die Spaltung in der Zeit des Propheten und betrachten sie als logisches Resultat der theologischen Differenzen zwischen sich und den Anderen.98 Wichtig für die Schiiten ist die Festlegung der Spaltungszeit auf die frühen islamischen Epochen in der Stadt Mekka. Damit wollen sie Folgendes festhalten: 1. Die arabische Herkunft der Schia. 2. Die Spaltung fand in der Zeit der ursprünglichen islamischen Lehre statt. Dies bedeutet, dass diese Spaltung genau zu der Zeit erfolgte, als die islamische Lehre noch nicht von anderen fremden, nicht arabischen Kulturen beeinflusst worden ist. Für die schiitische Rechtsschule muss der Imam, also der religiöse Führer der muslimischen Gemeinde um die Umma zu führen, über eine große Menge an Wissen verfügen, Persönlichkeit und Bereitschaft zum Einsatz für die Religion usw. besitzen. Diese Eigenschaften haben die Schiiten nur bei der Familie des Propheten (arab. Ahlu l-bait) gesehen. Deshalb war für sie Ali als Vetter des Propheten die geeignetste Person für die Führung der Gemeinde, also für die Nachfolgerschaft Mohammeds. Im weiteren 96 Halm, Heinz: Die Schia, wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1988, S. 1-3. Für eine übersichtliche Einführung in die islamische Geschichte vgl. außerdem Gudrun Krämers Geschichte des Islam. Krämer, Gudrun: Geschichte des Islam.Beck, München, 2005. 97 Hussain, Ṭāhā: Al-Fitnatu l-kubra (arab.) Band 2( ̔Ali wa banūḥ), Dar al-M‘aārifṭh, Kairo. Ṭāhā Hussain stellt außerdem fest, dass Ali und seine Söhne Hassan und Hussein an der der Ermordung ‘Uṯmāns nicht beteiligt waren, sondern im Gegenteil versuchten ihn gegen die Aufständischen zu verteidigen. 98 Kāšifu l-Ġiṭā ̔a, Mohammed Hussain: ʼAṣlu l-ši‘at wa ʼuṣūluha (arab.), Dar al-ʼAḍwā‘, Beirut, 1990, S.118-131. Einblicke in die islamische Kultur 103 Verlauf der Geschichte hat sich die schiitische Theologie dahin gehend entwickelt, dass die Schiiten die männlichen Nachfolger Alis als spätere legitime Führer der Gemeinde festlegten. Die Schiiten haben sich aber selbst bei dieser Frage gespalten, weil sie mit der Zahl der Nachfolger der Imame nicht einig waren. Deshalb gab es mehrere Gruppen, die unterschiedliche Zahlen von Imamen haben. Die bekannteste Gruppe ist die Zwölfer-Schia, die an elf Nachfolger nach Ali glaubt. Weil die meisten Machthaber der islamischen Reiche mit dieser Theorie der Schiiten nicht einverstanden waren, standen die Schiiten meistens auf Seiten der Opposition. Die Schiiten machen heute etwa 15 % aller Muslime auf der Welt aus. Die verschiedenen Gruppen neben der Zwölfer-Schia, wie die Alawiten, die Ismailiten, die Zayditen und anderen kleinere Gruppierungen sind hauptsächlich in Iran, Irak, Libanon, Syrien, Türkei, Bahrain, Jemen und zum Teil in Südostasien verbreitet.99 Die vier Rechtsschulen der Sunniten unterscheiden sich in ihren theologischen Richtungen und Entscheidungen sowohl von der schiitischen Rechtsschule als auch untereinander. Diese vier Schulen sind: 1. Die Hanafitische Rechtsschule, genannt nach dem Theologen Abu Hanifa (697-767 n.Chr.), der aus Persien stammte und im Irak gelebt und studiert hat. Er hat sich hauptsächlich mit den Traditionen beschäftigt, die auf den Propheten zurückgeführt wurden. Er hatte alle von ihm angewandte Hadithe des Propheten sorgfältig auf ihre Echtheit geprüft, um sie als Grundlage für sein Rechtssystem zu nutzen. Abu Hanifa betrachtet also den Koran und die echte Sunna zusammen als Quelle seiner Schule100. Diese Lehre wurde dann von seinen Schülern auch vor seinem Tod verbreitet. Die wichtigsten Prinzipien seiner Rechtsfindung sind das persönliche Urteil (arab. Ra‘y) – weshalb seine Schule auch „Madrasatu l-ra‘y“, Schule der persönlichen Entscheidung, genannt wird – und der Analogieschluss unter Berücksichtigung der aktuellen Situation.101 Damit wird neben dem Koran und der echten Tradition der gesunde Menschenverstand als eine wichtige Quelle der Rechtsfindung herangezogen. Die wichtigsten Bausteine der Lehre Abu Hanifas sind der Glaube, die echten 99 Halm,Heinz: „Die Schia“, wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1988. 100������������������������������������������������������������������������������������������� Mit der echten Sunna gemeint: die Erzählungen (Hadithe), die Entscheidungen und das Verhalten des Propheten Mohammed, die aus zuverlässigen, überprüfbaren und glaubwürdigen Quellen stammen. Überprüfbar heißt in diesem Fall, dass die Überlieferer dieser Tradition für ihre Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit in ihrer Gesellschaft damals bekannt waren. Um dieses Verfahren durchführen zu können musste der Sammler dieser Tradition eine Kette der Überlieferer aufstellen und jede Person dieser Kette nach ihrer Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit und dem guten Ruf in ihrer Gesellschaft, durch intensiven Forschungen, prüfen. Wenn der Sammler der Tradition irgendwann eine Person in dieser Kette findet, die ihm als unglaubwürdig erscheint, bricht er diese Kette ab und betrachtet überliefertes Material als unecht und darf es nicht als zuverlässige Quelle angegeben. 101 Ende, W. u. Steinbach, Udo (Hg): „Der Islam in der Gegenwart, C.H. Beck, 2. Auflage 1989, S. 63. 104 Der Islam in der Diskussion Quellen, der gesunde Menschenverstand. Die Gegner dieser Lehre kritisieren, dass die Bejahung der persönlichen Meinung jeder Willkür Tür und Tor öffnen könnte. Mit dieser Lehre habe Abu Hanifa außerdem die Wissenschaft der juristischen Kniffe beim Umgang mit den Gesetzen entwickelt. Die Hanafitische Schule war unter den Abbasiden im Irak die bekannteste Rechtsschule. Auch später war sie in den Gebieten des osmanischen Reiches weit verbreitet. Die Hanafitische Schule wird heute von vielen Sunniten in Irak, Türkei, Jordanien, Libanon und vielen Gebieten Ostasiens unterstützt. 2. Die Malikitische Rechtsschule. Die zweite Rechtsschule der Sunniten ist nach dem Theologen Anas bin Malik (715-795 n.Chr.) benannt, der in der Stadt Medina lebte. Er ist bekannt durch sein Werk al-mauwṭṭa̔,102 welches als das älteste Rechtsbuch der islamischen Geschichte gilt. Er hatte sich mit der Tradition der Stadt Medina in der Zeit des Propheten beschäftigt und nahm sie als Grundprinzip für seine Rechtsschule. Seine Rechtsfindung begründete er mit der Tradition der früheren Gemeinde in Medina und mit dem Gewohnheitsrecht der Stadt und den Entscheidungen ihrer Rechtsgelehrten. Die malikitische Schule war früher in Andalusien (Spanien) weit verbreitet. Heute folgen viele Muslime in Nordafrika, Sudan, Oberägypten, Mauretanien und Nigeria dieser Rechtsschule.103 3. Die Schafiitische Rechtsschule, genannt nach dem Theologen aš-Šāfi̔ī, (767-820 n.Chr.). Er gilt als Theoretiker des islamischen Rechts. Geboren in Gaza, lebte er zunächst in Mekka und später in Ägypten, wo er im Jahre 820 n.Chr. auch starb. Aš-Šāfi̔ī bemühte sich, die vorhandenen Rechtssysteme zu korrigieren und zu verbessern, indem er einen Mittelweg suchte. Er versuchte zwischen denjenigen, die sich streng an die Tradition halten und eine konservative Linie vertreten, wie z.B. die Malikiten, und denjenigen, die für die Erneuerung im islamischen Rechtssystem eintraten, wie z.B. die Hanafiten, einen Mittelweg zu finden. Die Basis seiner Rechtsschule ist der Konsens. Dies bedeutet die Übereinstimmung der Rechtsgelehrten der muslimischen Gemeinde als Grundlage der Rechtsfindung. Die Schafiiten sind heute vor allem in Ägypten, Jordanien, Pakistan, Indien, Iran und Indochina vertreten.104 4. Die Hanbalitische Rechtsschule105, genannt nach dem Theologen Ibn Hanbal, (780855 n.Chr.), in Bagdad geboren, wo er auch Rechts- und Traditionslehre studierte. Sein berühmtes Werk der Traditionssammlung, al-Musnad, ist eine wichtige Basis seiner Lehre. Diese Schule gilt als Hauptvertreterin der strengen konservativen Richtung im Islam. Die wichtigsten Prinzipien dieser Schule sind: 102 Wird häufig übersetzt mit „Der geebnete Pfad“, bedeutet allerdings etwa „Übereinstimmung“ und ist auf die Verbindung der juristischen und religiösen Ebene bezogen. 103 Ende, W. u. Steinbach, Udo (Hg): „Der Islam in der Gegenwart, C.H. Beck, 2. Auflage 1989. 104 Ebd. 105 Ebd. Einblicke in die islamische Kultur 105 a. Der Koran so, wie er ist, ist absolute Grundlage des Rechts. b. Die Gesamtheit der islamischen Überlieferungen, die auf den Propheten Mohammad zurückgeführt werden können. c. Die Stellungnahmen der Gefährten und Begleiter des Propheten Mohammad, da sie den Koran besser als alle anderen verstanden haben. Nur bei unterschiedlichen Meinungen, könnte man eine Rangordnung unter ihnen aufstellen. d. Übereinstimmung der Gemeinde, ohne dass die Gemeinde auf einer neuen Rechtslage gründet, sondern nur das einmütige Verständnis des Korans und der Tradition durch die Gemeinde dokumentiert wird. Ibn Hanbal verurteilte die Bemühungen um die Bildung eines eigenen Urteils als Willkür und Instrument der Innovation. Auch die Analogie als eine Quelle des islamischen Rechts lehnte er ab. Seine Schule ist heute hauptsächlich in Saudi Arabien vertreten, als wahabitische Konfession dieser Schule. Sie ist auch in solchen Staaten oder Organisationen zu finden, wo der Einfluss des Könighauses von Saudi Arabien groß ist. Sowohl die schiitische als auch die sunnitischen Rechtsschulen sind über die Skala der menschlichen Handlungen einig. Diese Skala beinhaltet fünf Stufen, wonach die Taten der Menschen aufgeteilt worden sind. Das Leben eines Muslims besteht danach aus: 1. Pflichten: diese sind die fünf Säulen des Islam (Glaubensbekenntnis „aš-Šahāda“ Beten „aṣ-Ṣalāt“, Fasten „aṣ-Ṣawm“, Steuerzahlen „az-Zakāt“ und einmal im Leben nach Mekka pilgern „al-Ḥaǧǧ“, wenn es möglich ist), und damit verbundenen Taten und Verhaltensweisen im täglichen Leben. 2. Empfehlenswert: z.B. Besuchen von Gräbern, oder mehr als fünf Gebete am Tag verrichten. 3. Erlaubt: z.B. nicht fasten und kurzbeten, wenn man verreist oder krank ist. 4. Verwerflich: z.B. die Scheidung. 5. Verboten: z.B. Verzehr von Schweinefleisch oder Blut nicht rituell getöteter Tiere. Mit der Stufe „Verboten“ verbindet der Muslim alle Taten, durch die man eine Sünde begehen kann. Der Begriff Sünde wird aber von den Islamisten so leicht herangezogen, dass jeder Mensch, der nicht genau das tut, was sie für richtig halten, sündig ist. Folge der Sünde ist die Bestrafung durch Gott. Die Islamisten haben eigentlich mehr und stärkere Beziehung mit dem strafenden Gott als mit dem gnädigen, obwohl dieser Begriff im Koran öfter vorkommt als der Begriff Strafe. Die 99 schönsten Namen Gottes deuten darauf hin.106 Aber bevor wir über die islamische Vorstellung von Sünde sprechen, sollten wir zunächst die Situationen im Leben des einzelnen Menschen untersuchen, die zur Sünde führen 106 Ball, Hannes; Hassan, Sadik; Schwendemann, Wilhelm & Wöhrlin, Traugott: „Haus des Islam“, Calwer 2008, S. 53. 106 Der Islam in der Diskussion können. Auch sollte man untersuchen, ob man sich selbst in eine dieser Situationen begibt oder ob der Mensch keinerlei Wahl hat, seine Lage selbst zu beeinflussen und sich von den Sünden zu befreien. Der fromme Muslim glaubt an Gott als Schöpfer und Herrscher der Welt. Eine wichtige Eigenschaft dieses Herrschers ist die Gerechtigkeit. Einer der 99 schönen Namen Gottes im Islam ist Gott der Gerechte. Diese Feststellung bedeutet für den frommen Muslim, dass der Glaube an Gott nicht von dem Glauben an seine Gerechtigkeit getrennt werden darf. Mit dieser Verbindung versteht der Muslim sein Verhalten im Diesseits. Zu dieser Verbindung gehört auch der Glaube, dass alles, was gut und schön ist, von Gott kommt. Gott kann nach dieser Vorstellung niemals der Verursacher von schlechten Taten sein, die die Menschen in ihrem Leben begehen, obwohl Gott diese Taten und ihre Verursacher unter den Menschen schon kennt. Außerdem glauben die Muslime, dass Gott für alle Geschöpfe, die er schuf, einen Grund hatte, denn im Koran Sure 4,126 steht: Und Gott gehört, was in den Himmeln und was auf der Erde ist. Und Gott umfasst alle Dinge. (AK). Man verbindet auch die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen, vor allem zu den Menschen, mit dem Glauben an einen gerechten Gott, der den Menschen nie zu einer Sünde führt. Diese Feststellung bedeutet für einen frommen Muslim, dass Gott den Menschen niemals zur Sünde verführen würde. Man begründet diese Feststellung wie folgt: Gott liebt die Menschen → Die Menschen spüren diese Liebe und reagieren mit Gehorsamkeit Gott gegenüber → Gott würde seinen geliebten Menschen niemals zu dem, was er hasst, führen. Natürlich unterscheiden sich hinsichtlich dieses Gedankenganges die verschiedenen Schulen und Richtungen im Islam. Einige sagen, dass die Sünde dem Menschen vorbestimmt sei. Deshalb habe der Mensch, der die Sünde trägt, keine andere Wahl, weil Gott alles plane, was der Mensch in seinem Leben erlebt. Die Anderen sagen: Es passiert manchmal etwas, was Gott nicht selber wollte, aber auch nicht verhinderte. In diesem Fall hat der Mensch seinen Verstand für die Vollendung seiner Tat eingesetzt. Also ist der Mensch selbst für seine Taten verantwortlich. Alle diese unterschiedlichen Meinungen werden im nächsten Kapitel, die islamische Philosophie, behandelt. Dieser Streit hält heute noch in der islamischen Welt an und beschäftigt die Gelehrten und ihre Anhänger in den verschiedenen Rechtsschulen. Im Islam wird der Mensch grundsätzlich sündenfrei geboren. Im Laufe des Lebens kommt der Mensch in bestimmte Situationen, die ihn zur Sünde führen. Aber was versteht ein frommer Muslim unter dem Begriff Sünde? Die islamische Theologie unterscheidet zwischen der großen und der kleinen Sünde. Über die Definition der großen Sünde sind sich die Gelehrten des Islam einig, da es eine klare Stelle im Koran gibt, die diese Art von Sünde definiert. In Sure 4,48 heißt es dazu: Einblicke in die islamische Kultur 107 Gott vergibt nicht, was ihm beigesellt wird, und Er vergibt, was darunter liegt, wem Er will. Und wer Gott (andere) beigesellt, hat eine gewaltige Sünde erdichtet. (AK). Der Polytheismus (arab. „aš-Širk“) stellt im Islam also die größte Sünde dar. „[…] und Er vergibt, was darunter liegt“ wird von den islamischen Theologen so interpretiert, dass der Mensch bei allen anderen Sünden auf die Gnade Gottes hoffen kann, denn Er trägt auch den Beinamen „Der Gnädige“. Sure 53,32 lautet: Diejenigen, die die schweren Sünden und die schändlichen Taten meiden, abgesehen von leichten Verfehlungen … Wahrlich, dein Herr hat eine umfassende Vergebung. Er weiß besser über euch Bescheid, als Er euch aus der Erde entstehen ließ und als ihr Embryos im Leib eurer Mütter waret. So erklärt nicht euch selbst für rein. Er weiß besser, was gottesfürchtig ist. (AK). Die Bewertung der kleinen Sünden und ob eine kleine Sünde schwer oder leicht wiegt, hängt, wie oben geschildert, wiederum von der Bewertung der menschlichen Handlung im Diesseits ab. Bei der Interpretation der Stufen der menschlichen Handlungen, bilden sowohl die schiitische Rechtsschule als auch die vier sunnitischen Rechtsschulen ihre eigene Meinung bzw. Rechtsfindung an, um eine Tat als schwere oder leichte Sünde zu deklarieren. Bei dieser Rechtsfindung können wir bei der Bestimmung des Sündengrades deutliche Unterschiede erkennen. Bei der sunnitischen Hanbaliten-Rechtsschule etwa betrachtet man den Besuch von Gräbern überhaupt als Sünde, während die anderen Schulen diesen Besuch als ein Fürbitte einstufen, allen voran die Schiiten, die den Besuch der Gräber ihrer Imame als einen Teil der Frömmigkeit verstehen. Auch bei der Bewertung des Alkoholgenusses gibt es bei einigen Rechtsgelehrten unterschiedliche Interpretation des koranischen Verses in Sure 5,90: O ihr, die ihr glaubt, der Wein, das Glücksspiel, die Opfersteine und die Lospfeile sind ein Greuel von Satans Werk. Meidet es, auf dass es euch wohl ergehe. (AK). Die Hanafiten etwa weisen darauf hin, dass der Ausdruck „verboten“ beim Weingenuss nicht auftaucht, wie z.B. bei Schweinefleisch im koranischen Vers 2,173: Verboten hat Er euch nur Verendetes, Blut, Schweinefleisch und das, worüber ein anderer als Gott angerufen worden ist. […].107 (AK). Sie bekräftigen ihre Aussage damit, dass das Schweinefleisch, das Blut und das Verendete nicht als Speise im Paradies vorkommen, weil diese Speisen ausdrücklich 107 Siehe auch 5,3 und 16,115 (AK). 108 Der Islam in der Diskussion verboten sind, während der Wein im Koran als ein Genuss im Paradies beschrieben wird. Im Koranischen Vers 16,67 steht: Und (Wir geben euch) von den Früchten der Palmen und der Weinstöcke, woraus ihr euch ein Rauschgetränk und einen schönen Lebensunterhalt nehmt. Darin ist ein Zeichen für Leute, die verständig sind. (AK). Diese Gelehrten meinen auch, wenn Gott den Weingenuss im Diesseits verboten hätte, hätte Er ihn im Jenseits nicht erlaubt, genauso wie bei den anderen verbotenen Sachen. Alle anderen drei sunnitischen Schulen und auch die schiitische Schule meinen, die Beschreibung des Weingenusses im Diesseits als Gräuel des Teufels reiche aus, ihn zu verbieten, und der Ausdruck „vermeiden“ habe hier sogar stärkere Wirkung als der Ausdruck „verboten“, weil der Satan versuche, die Menschen vom Weg Gottes abzubringen und sie sündig werden zu lassen. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass zwischen den muslimischen Gelehrten Einigkeit herrscht, wenn es um die Stufen eins und fünf der obengenannten Handlungsskala geht. Alle anderen Handlungen der Menschen, die nicht klar und deutlich unter diesen zwei Stufen liegen, sind interpretierbar und können daher die Zugehörigkeitsstufe der Skala je nach Rechtsschule wechseln. Es ist für die Muslime sehr beruhigend, wenn sie immer die Vorstellung von dem gnädigen Gott im Kopf haben. Um in den Genuss der Gnade zu kommen, müssen aber gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. Das wichtigste Prinzip im Leben des frommen Muslims ist die reine Absicht. Es wird auf den ehrlichen und reinen Umgang gegenüber Gott, mit sich selbst und mit der Umwelt überhaupt aufgebaut. Wenn man diese reine Absicht besitzt und irgendwann in die Sünde gerät, so darf man ernsthaft mit der Gnade Gottes rechnen. Diese Gnade muss aber von dem Sündigen so verstanden werden, dass nur die reine Absicht, diese Sünde nicht zu wiederholen und keine andere Sünde zu begehen, diese Gnade ermöglicht. Dies bedeutet die Dauerhaftigkeit des menschlichen Verhaltens im Sinne der religiösen Lehre und nach den Prinzipien der islamischen Ethik. Wie oben erwähnt, wird der muslimische Mensch nach der islamischen Lehre sündenfrei geboren. Deshalb hat das Thema Erbsünde keinen Platz in der islamischen Theologie. Die Erlösungstheorie, die mit der Erbsünde stark verbunden ist, kennt der Islam normalerweise nicht. Dies bedeutet aber nicht, dass der Koran den ersten Sündenfall und die damit verbundene Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies nicht kennt. Der Koran erzählt z.B. in den koranischen Versen 2,35-39 darüber: 35. Und Wir sprachen: «O Adam, weile du und dein Weib in dem Garten, und esset reichlich von dem Seinigen, wo immer ihr wollt; nur nahet nicht diesem Baume, auf daß ihr nicht Frevler seiet.» Einblicke in die islamische Kultur 109 36. Doch Satan ließ beide daran straucheln und trieb sie von dort, worin sie waren. Und Wir sprachen: «Gehet hinweg, einige von euch sind Feinde der andern, und für euch ist eine Wohnstatt auf Erden und ein Nießbrauch für eine Weile.» 37. Dann empfing Adam von seinem Herrn gewisse Worte. So kehrte Er Sich gnädig zu ihm; wahrlich, Er ist der oft gnädig Sich Wendende, der Barmherzige. 38. Wir sprachen: «Gehet hinaus, ihr alle, von hier. Und wer, wenn zu euch Weisung von Mir kommt, dann Meiner Weisung folgt, auf die soll keine Furcht kommen, noch sollen sie trauern. 39. Die aber ungläubig sind und Unsere Zeichen leugnen, die sollen Bewohner des Feuers sein; darin müssen sie bleiben.» (KT). Die Muslime denken an die Rolle eines Fürsprechers oder Vermittlers zwischen Gott und dem Menschen nur in bestimmten Situationen, die aber nicht zum Grundglauben der Religion gehört. Die Rolle des Fürsprechers wird so definiert, dass der Prophet Mohammed den Muslimen im Jenseits beistehen wird, um ihnen bei Gott zu helfen, ihnen die kleinen Sünden zu verzeihen. Bei manchen Gruppen von Muslimen, wie z.B. den Schiiten, wird diese Rolle nicht nur dem Propheten zugewiesen, sondern auch dessen Imamen und Heiligen. Was den heutigen koranischen Text betrifft, so sind sich alle Muslime darüber einig, dass er das Wort Gottes ist, welches seinem letzten Propheten, Mohammed, offenbart wurde. Sie unterscheiden sich aber bei der Auslegung und Interpretationen dieses Textes. Was die Sunna des Propheten angeht, so gibt es große Meinungsunterschiede zwischen den muslimischen Schulen über deren Echtheit und Bewertung.108 Je nachdem, wie die verschiedenen Gruppen die Quellen verstanden oder ausgelegt haben, haben sich unterschiedliche Richtungen entwickelt, die später die ganze islamische Kultur beeinflusst haben. Auch innerhalb ein und derselben Gruppe waren die Meinungen über dieses oder jenes Thema so unterschiedlich, dass eine Gruppe die andere als heidnisch oder ketzerisch bezeichnete. Das beste Beispiel dafür liefern die Meinungsverschiedenheiten der Mu‘taziliten im 8. Jahrhundert. Die Frage, die diese Gruppe sich gestellt hatte, lautete: Ist der Mensch für seine Taten selbst verantwortlich oder hat Gott das Leben der Menschen und alles, was sie tun, von Anfang an bestimmt? Diese bis heute ungelöste Frage hat die islamische Denkweise in verschiedenen Epochen und Situationen der islamischen Gesellschaft begleitet. Während die meisten Machthaber und ihre Anhänger die These des vorbestimmten Schicksals des Menschen propagiert hatten und damit ihre Macht als Gotteswille darstellen konnten, versuchten die anderen Gruppen,109 die diese Art der Herrschaft ab108 Siehe oben im Kapitel über den Koran und die Sunna. 109 Z.B. die Mu`taziliten (im Kapitel Die islamische Philosophie). 110 Der Islam in der Diskussion lehnten und bekämpften, den Menschen, seine Taten und Entscheidungen in den Mittelpunkt zu stellen und damit auch die persönliche Entscheidungsfreiheit zu legitimieren. Dies machte es ihnen möglich einen Despoten abzusetzen, falls dies erforderlich wurde. Diese zwei sich gegenüberstehenden Auslegungen und Interpretationen des koranischen Textes führten und führen heute noch nicht nur zum Kampf mit Worten, sondern in vielen Fällen auch zum Einsatz physischer Gewalt, ganz besonders seitens der Machthaber und ihrer Anhänger. Auf Basis der islamischen Tradition mussten und müssen die Muslime ihre Kultur in der Vergangenheit, heute und in der Zukunft verstehen und analysieren. Die islamische Kultur existiert aber nicht allein in einem bestimmten Teil der Welt. Sie ist zwangsläufig mit anderen Kulturen direkt oder indirekt verbunden. Die islamische Geschichte ist ein Teil der Weltgeschichte, und die islamische Lehre wird von vielen Völkern der Erde, unabhängig von ihrer Herkunft, Rasse oder Hautfarbe, anerkannt. Die Islamisierung vieler Völker hat niemals das Ziel gehabt, diese Völker von ihren gesamten Traditionen zu trennen. Der Islam hätte dieses Ziel nicht erreichen können, auch wenn er es gewollt hätte. Vielmehr war es bei der Islamisierung wichtig, dass der religiöse Inhalt der islamischen Lehre durchgesetzt und der Monotheismus als Zentrum der Glaubenslehre verwirklicht wurde. Die moralischen Vorstellungen der neuen Religion prägten langsam die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der neuen Muslime. Auf der arabischen Halbinsel, also im Entstehungsland des Islam, konnte es die neue Religion nicht schaffen, das System der Sklaverei zu beseitigen. Dieses System war damals einer der Grundsteine des gesamten wirtschaftlichen Systems. Mit der Zeit hat der Prophet Mohammed zwar Belohnungen versprochen für diejenigen, die ihre Sklaven befreien, verboten hatte er dieses System jedoch niemals. Dieses System ist heute zwar als Wirtschaftszweig verschwunden, aber Sklaven gibt es immer noch bei vielen reichen oder königlichen islamischen Familien, wie etwa bei den reichen Familien in Saudi Arabien.110 Manche Völker haben sogar einige ihrer Traditionen in die neue Religion eingebracht und sie weiter gepflegt als Teil ihrer religiösen Identität. Als Beispiel dafür kann die Entwicklung der islamischen Mystik gelten. Ein indischer Muslim z.B. hat seine eigenen Vorstellungen von Meditationen, die sich von den Vorstellungen eines arabischen oder afrikanischen Muslims unterscheiden. Diese Traditionen haben sich mit der Zeit so durchgesetzt, dass einige Muslime sie als einen Bestandteil des Glaubens ausüben, während der andere Teil sie als religiös verbotene Taten darstellt. In diesem Zusammenhang können wir die Verwendung der Musik bei den Meditationen als Beispiel anführen. Bei vielen Völkern Indiens oder Afrikas hatte Musik als meditatives Medium schon früher eine feste Tradition. Auch nachdem viele dieser Völker den Islam als neue Religion angenommen hatten, musizierten sie weiter. Sie verwendeten die verschiedenen einfachen und später komplizierten Musikinstrumente bei ihren religiösen Meditationen. Diese Tradition finden wir auch heute noch bei vielen muslimischen Gruppierungen wie bei110 Die Presse, Panorama von 09.07.2008:1,5 Millionen Hausangestellte müssen in Saudi-Arabien zum Teil unter „sklavenähnlichen Bedingungen“ arbeiten, bemängelt die MenschenrechtsOrganisation „Human Rights Watch“. Einblicke in die islamische Kultur 111 spielsweise bei den Sufis. Andere Gruppen, z.B. die Hanbaliten, verbieten die Musik grundsätzlich und betrachten jede Verwendung der Musik nicht nur in der Ausübung der religiösen Pflichten, sondern auch im normalen täglichen Leben als eine Sünde, die man beseitigen müsse, ansonsten stünde man nicht auf der Seite der Gläubigen. Einige muslimische Gelehrte vertreten die Meinung, dass nicht jede Form von Musik verboten sei, sondern nur die Verwendung von bestimmten Musikinstrumenten. Für diese Gelehrten ist z.B. nur die Verwendung von Trommeln, Rohrflöte oder Tamburin erlaubt. Mit der Entwicklung der Mystik in vielen islamischen Gesellschaften hat sich eine spezielle Art der religiösen Musik entwickelt. Diese Musik fängt mit der Lesung des Korans an. Der Koran soll nicht wie ein normales Buch oder eine Zeitung gelesen werden, sondern er muss rezitiert werden (arab. „tartīl“ oder „taǧwīd“). Diese Art, den Koran zu lesen, die nicht mit Musikbegleitung stattfinden darf, kann man nicht als Gesang bezeichnen. Der Musikwissenschaftler Habib Hassan hat diese Art zu rezitieren wie folgt beschrieben: „Die musikalische Struktur der Lesung wird in erster Linie bestimmt durch die musikalischen Fähigkeiten des Lesers und durch die Ausdruckskraft seiner Stimme. Dieselbe Sure kann daher mehrere musikalische Gestalten annehmen. Ein Rezitator, der besonders auf Aussprache und Zäsuren achtet, kann eine Sure auf einem, auf zwei oder drei Tönen ausführen oder den Vortrag in eine kunstvolle, musikalisch komplexe Form kleiden.“111 Im Gebetsruf (arab. aḏān) kann man auch musikalische Regeln feststellen, die in Form verschiedener Formen und Lautstärken beachtet werden. Der Mu‘aḏḏin, der auf dem Minarett zum Gebet aufruft, setzt dabei seine eigene Kunst, die Schönheit und die Stärke seiner Stimme ein. Koranlesung und Aḏān werden ohne Musikbegleitung durchgeführt. Jegliche Art von Musik ist hier bei allen Schulen und Richtungen in der islamischen Religion streng verboten. Bei den anderen religiösen Gesangsarten, wie z.B. „ḏikr“, Gedenken an den Propheten, oder „madīh an-nabawī“, Lobpreisung des Propheten, dürfen Musikinstrumente eingesetzt werden. Genau wie der Einsatz der Musik im Leben der Muslime unterschiedlich betrachtet wird, wird auch das Umgehen mit den Bildern unterschiedlich bewertet. Im Koran gibt es keinen Vers über das Bilderverbot. Nur die Interpretation mancher Verse geht in diese Richtung, wie z.B. den oben erwähnten Vers in Sure 4,48; Gott vergibt nicht, was ihm beigesellt wird, und Er vergibt, was darunter liegt, wem Er will. Und wer Gott (andere) beigesellt, hat eine gewaltige Sünde erdichtet. (AK). Dieser und die anderen ähnlichen Verse 112wurden dann von vielen Islamisten so ausgedeutet, dass das Herstellen oder Malen von Figuren, die Lebewesen darstellen, 111 Touma, Habib Hassan: Die Musik der Araber, Wilhelmshaven,1989, S.191. 112 Z.B.4,116 und 6,151 (AK). 112 Der Islam in der Diskussion verboten sei. Das Abbilden von Lebewesen wie Menschen oder Tiere komme einer Gotteslästerung gleich, denn Lebewesen zu erschaffen, sei allein Gott vorbehalten. Hier haben sich die muslimischen Theologen ihre eigene Interpretation von Lebewesen gemacht. Die Frage hier lautet: Gehören außer Menschen und Tieren auch Pflanzen dazu? Im Allgemeinen hält man sich hier an zwei Kriterien: 1. Vollkommenheit der geschaffenen Kunstwerke durch die Malerei. 2. Gottes Kreaturen, die eine Seele besitzen, wie Tiere und Menschen. Nach diesen Kriterien dürfen also auch Pflanzen nicht gemalt und dargestellt werden, da man sie niemals in ihrer Vollkommenheit darstellen könnte. Als der Islam im Jahre 610 n.Chr. auf der arabischen Halbinsel erschien, herrschte dort die Kultur des Polytheismus. Figuren aus Lehm, Steinen, Holz und Datteln symbolisierten die Götterfiguren der verschiedenen Stämme Mit dem Bilderverbot wollten die muslimischen Theologen zwei Dinge verhindern: • Nachahmung des Göttlichen Werkes. • Wiederholung der Situation vor dem Islam. Welche Rolle spielten diese Figuren damals, und welche Rolle spielen sie heute? Wenn ihre Funktion auf Verehrung und Anbetung beschränkt wird, dann gilt ihre Herstellung als uneingeschränkt verboten. Wenn sie aber als Schmuck, Spielfiguren (Puppen), Fotos für Dokumente usw. benutzt werden, so kann diese Art der Benutzung erlaubt sein. Dem uneingeschränkten Verbot unterliegt jede Darstellung des Göttlichen in Bildern oder Figuren, denn Gott ist im Islam „das Licht der Himmel und der Erden“, und dieses Licht kann man weder lokalisieren noch definieren.113 In der Tat gibt es in der islamischen Geschichte mehrere Epochen, in denen die Malerei als Teil der islamischen Kunst betrachtet wurde. Im 12. Jahrhundert etwa haben die Perser wertvolle und sehr schöne Bilder und Statuen der Sultane geschaffen. Diese Art von Kunst finden wir heute noch in vielen islamischen Gesellschaften – als Bilder von Staatspräsidenten oder Briefmarken mit verschiedenen Motiven von Pflanzen und Tieren. Die theologische Begründung für diese Erlaubnis wird so erklärt: Der Mensch, der diese Bilder und Figuren darstellt, kann diesen keine Seele geben. Das ist einzig und alleine die Fähigkeit Gottes, die niemals kopiert werden kann. Aufgrund dieser Interpretation erlauben die schiitischen Theologen auch die Portraits ihrer Imame. Die Malerei hat sich in der islamischen Kunst aber nicht nur auf Darstellungen von Objekten wie Mensch, Tier oder Pflanze beschränkt. Die Art und Weise der Schriftdar- 113 Vgl. hierzu etwa Vers 24,35. Einblicke in die islamische Kultur 113 stellung gehörte auch zu dieser Kunst. In vielen Epochen der islamischen Kunstgeschichte konzentrierte man sich auf arabische Kalligrafie, Baukunst und islamische Ornamentik. Bei der Kalligrafie hat man die Malerei von Lebewesen wie Vögel, Pflanzen, Tiere und Fische in verschiedenen Arten der Buchstaben realisiert. In Bauwesen und Ornamentik wurde versucht, die Vorstellung von der Unendlichkeit zu verwirklichen. Die Vorstellung von der Unendlichkeit im Denken der Araber hat mit der geografischen Lage ihrer Wohngebiete in der Wüste zu tun. Als Nomaden hatten sie damals keinen festen Wohnort, sie betrachteten die ganze Wüste als ihr Zuhause. Nirgends stieß ihr Bewegungsdrang auf eine Begrenzung. Ihr Denken war horizontal orientiert. Das Ende ihrer Sicht war der Horizont der unendlichen Wüste. Diese Vorstellung schlug sich in ihren Dichtungen und Reden nieder. Auch als die Araber mehr oder weniger sesshaft wurden und auf begrenzten Flächen Häuser errichteten, gaben sie diese Denkweise nicht auf. Das neue Wohnhaus hatte dann einen offenen Hof in der Mitte. Die Verbindung mit der Unendlichkeit wird jetzt mit Hilfe eines vertikalen Denkens hergestellt, nämlich als Verbindung zwischen dem Innenhof und dem Zelt des Himmels. „Im Vergleich zur Baukunst anderer Kulturkreise fallen bei allen muslimischen Bauten besonders die sehr klaren Formen auf: Quader, Zylinder, Kegel und Kuppel sind die bestimmenden Elemente. Sie entsprechen dem Bedürfnis nach bewusst und einfach zu erlebenden Innenräumen. Überhaupt scheinen muslimische Bauwerke alle von innen heraus konzipiert zu sein, denn die Außengestaltung spielt meist nur eine geringe Rolle. Viele Häuser, ja, sogar so typische muslimische Bauwerke wie Moscheen, Medresen, Hospitäler, Herbergen, und Markthallen haben zuweilen gar keine Fassaden, weil sie in den Verband mit anderen Häusern einbezogen sind. Nur die Portale weisen in solchen Fällen darauf hin, dass sich dahinter etwas besonders verbirgt. Die muslimische Architektur ordnet sich, wie alle muslimische Kunst, der Aufgabe unter, nicht das Menschenwerk hervorzuheben, also die festgefügten Mauern, Streben, Bögen und Kuppeln oder gar komplizierte und repräsentative Raumbeziehungen wie im europäischen Barock, sondern die gedachte Einbindung des Gebäudes in das Universum erlebbar zu machen. Das, was wir Ornament nennen, erscheint also auch in der muslimischen Architektur wegen seines symbolischen Gehaltes viel wichtiger als alle konstruktiven Elemente, welche nur Träger für die Botschaft des Unendlichen sind.“114 Kalligrafie betrachtet man als die schönste Form ein Wort darzustellen. Diese Art der Kunst wird bei den Muslimen besonders geehrt, wenn es um die Darstellung des Gotteswortes geht. Die Kalligrafie hat sich eigentlich in den früheren Zeiten der islamischen Religion entwickelt und auch schnell mit ihr verbreitet, obwohl es sich für viele Völker um die Darstellung fremder Buchstaben, nämlich arabischen, handelte. Bis zum heutigen Tag pflegen die Schriftkünstler 15 Schriftarten und malen damit die schönsten Bilder. In 114���������������������������������������������������������������������������������������������� Wöhrlin, T.: Zur islamischen Baukultur. In: Ball, H., Hassan, S. und Wöhrlin, T.: Haus des Islam, vom Kennen zum Verstehen, Teil 2, IRP Reihe Horizonte, 2001, S. 59-60. Der Islam in der Diskussion 114 vielen Fällen sieht man auch Buchstaben in Formen von Tieren oder Pflanzen, obwohl diese Art der Kunst, wie gesagt, unerwünscht ist. In den literarischen Bereichen, wie Dichtung und Geschichtsschreibung oder im Bereich der Naturwissenschaften legt die Religion keine Beschränkungen auf. Im Gegenteil, der Islam fordert seine Anhänger zum Streben nach Wissen auf. Der Islam betrachtet sich als Religion des Wissens, und der Koran weist in vielen Versen darauf hin, wie etwa in 39,9: […] Sprich: Sind etwa diejenigen, die wissen und diejenigen, die nicht wissen, gleich? […] (AK). Oder 35,28 […] Gott fürchten unter seinen Dienern eben die Gelehrten. […] (AK). Oder 58,11 […] so erhöht Gott auch diejenigen von euch, die glauben, und die, denen das Wissen zugekommen ist, um Rang. […] (AK). Was als Wissen gewertet wird, ist wiederum eine Frage der Interpretation dieser und anderer ähnlich lautender koranischer Texte. Während viele Muslime sich mit dem Wissen auf religiöser Ebene beschränken, sehen Andere das Verlangen nach allen Wissenschaften als eine religiöse Aufgabe an. Die Ergebnisse dieses Verlangens kann man an vielen Beispielen in der islamischen Geschichte nachvollziehen: Viele muslimische Denker und Philosophen, wie etwa Averroes (Ibn Rušd ), Avicenna (Ibn Sīnā), und arRazi, haben sich nicht nur mit der islamischen Theologie beschäftigt, sondern auch mit der Mathematik oder Medizin (siehe Kapitel: Die islamische Philosophie). Zusammenfassend kann die islamische Kultur wie folgt charakterisiert werden: • Die islamische Kultur ist eine Kultur, die ihre Basis und Denkrichtung in der islamischen Lehre findet. Sie bewegt sich auf dieser Basis und versucht Abweichungen, wenn möglich, zu vermeiden. • Obwohl die starke Stütze dieser Basis die islamische Religion ist, erscheinen bei allen Völkern, die den Islam übernommen haben, traditionelle Phänomene, die man mit religiösen Überzeugungen zu verbinden versucht. • Damit zeigt sich uns die islamische Kultur als ein facettenreiches Mosaikbild. • Zum Verständnis dieser Kultur ist es notwendig, die Faktoren, die diese Kultur in vielen Teilen der muslimischen Gesellschaften bilden, zu betrachten und zu analysieren. Einblicke in die islamische Kultur 115 In dieser Hinsicht ist die islamische Kultur ein Teil der Weltkultur, nicht nur die Kultur der Araber oder der Perser. Sie unterliegt auch geografisch keiner Beschränkung und ist mit den Kulturen und Traditionen vieler Völker und Nationen der Erde verbunden. Wenn man diese Verbindung versteht, so versteht man gleichzeitig, wie diese Kulturen sich ergänzen und gegenseitig bereichern. Es geschah immer auf einer Basis des wechselseitigen Gebens und Nehmens. Deshalb wird es • keinen Kampf der Kulturen geben. Wenn die Weltpolitik so weitergeführt wird wie bis jetzt, wird es allerdings tatsächlich zum Kampf kommen, aber nicht zum Kampf zwischen den Kulturen, sondern zum Kampf zwischen den unterschiedlichen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Interessen; • keine führende Kultur geben, denn Führen heißt Richtung-Weisen. Keine Kultur ist in der Lage, andere Kulturen so zu beeinflussen, dass sie bestimmen könnte, wie die eine oder die andere Kultur sich darstellen soll. 11 Die islamische Philosophie als Teil der Kultur 11.1 Islamische Philosophie Die islamische Philosophie ist Teil der islamischen Kultur und hat sich in Verbindung mit der Ausdehnung der islamischen Reiche in verschiedenen Gebieten der Erde entwickelt und dabei vom Kontakt mit Philosophien der verschiedenen Kulturen profitieren können. Bei dieser Entwicklung einer eigenen islamischen Philosophie benutzten die Muslime die arabische Sprache für die Übersetzung der philosophischen Quellen aus den lateinischen, griechischen und persischen Sprachen. Dies hatte zur Folge, dass die arabische Sprache in vielen nicht-arabischen Gebieten zur Kultursprache erklärt wurde. Die arabischen Christen, die Nestorianer, waren die bekanntesten unter den Arabern, die sich mit der Übersetzung philosophischer Quelltexte aus den europäischen Kulturen in das Arabische beschäftigten. Diese Übersetzungswelle erlebte ihre goldene Zeit während des Kalifats al-Ma‘mūns (813-833 n.Chr.). Al-Ma‘mūn hatte in Bagdad das „Bait al-Ḥikma“, das Haus der Weisheit, gegründet, in dem die Wissenschaftler ihre Übersetzungsarbeiten durchführten. Neben philosophischen Werken entstanden Texte und Übersetzungen aus den Bereichen Medizin, Astronomie, Mathematik und Chemie. Bekannt geworden sind Mediziner wie z.B. ar-Razi (gest. 925 n.Chr.) und Ibn Sīnā (980-1073 n.Chr.) oder Ibn an-Nafis, der bereits im 13. Jahrhundert den menschlichen Blutkreislauf untersuchte und beschrieb. Im Bereich der Mathematik gab es im 9. Jahrhundert den Algebra-Wissenschaftler alḪwārizmī, und im Bereich der Chemie im 8. Jahrhundert den Alchemisten Ibn Hayan. Die Muslime hatten sich so intensiv mit der philosophischen Schule des Aristoteles beschäftigt, dass die meisten seiner Werke am Ende des 9. Jahrhunderts auf Arabisch vorlagen. Auch die Diskussionen Platons über seine Philosophie wurden übersetzt und verbreitet. Obwohl Platon eigentlich der Lehrer von Aristoteles war, hat er die muslimischen Wissenschaftler nicht so beschäftigt wie sein Schüler. In den islamischen Gesellschaften waren nicht nur die Muslime mit der griechischen Philosophie beschäftigt, sondern auch die Nestorianer, die Kopten, die Sabäer und die Syrisch-Orthodoxen. Diese Beschäftigung der verschiedenen Religionen mit der Philosophie hatte eine spannende Beziehung zwischen Theologie und Philosophie zur Folge. Diese Spannung erreichte im 10. Jahrhundert ihren Höhepunkt mit der fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen Averroes und al-Ġazālī. Obwohl die islamische Lehre auf dem Gebiet des Glaubens keine Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe, Herkunft oder sozialer Stellung kennt, 118 Der Islam in der Diskussion wurde die arabisch-islamische Philosophie durch die platonische Aufteilung der Gesellschaft geprägt. Nicht selten war in der islamischen Literatur, wie etwa in der Zeit des Abbasidenreiches115, über die Unterscheidung zwischen den Schichten der allgemeinen Bevölkerung und den Schichten der Gebildeten oder der Weisen zu lesen. Die Dichter oder Schriftsteller, die Richter oder die Philosophen wurden von den Menschen geehrt und hatten auch damals eine Sonderstellung in der Gesellschaft bekommen. Trotz dieser Unterscheidung haben die Prinzipien des Glaubens, dass die Unterschiede zwischen den Menschen untereinander keinen negativen Einfluss auf ihre Beziehungen in der Gesellschaft haben dürfen, das Zusammenleben in der Gesellschaft in diesem Sine beeinflusst. Die islamische Philosophie hat sich hauptsächlich mit den Fragen der Beziehungen zwischen Mensch und Gott bzw. Mensch und Mensch beschäftigt. Was die Beziehung zwischen Mensch und Gott angeht, so sieht die islamische Philosophie keinen Bedarf an Vermittlung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer. Diese Theorie wird von den muslimischen Philosophen mit dem koranischen Vers in Sure 50,16 begründet. In diesem Vers steht: Wir haben doch den Menschen erschaffen und wissen, was ihm seine Seele einflüstert. Und wir sind ihm näher als die Halsschlagader. (AK). Damit wird die Beziehungsmöglichkeit zwischen Gott und seinen Geschöpfen direkt und unmittelbar dargestellt. Und der Mensch gehört eben zu diesen Geschöpfen. Was die zweite Beziehungsebene zwischen Mensch und Mensch angeht, so geht die islamische Philosophie davon aus, dass die islamische Lehre keine Zentralisierung der theologischen Befugnisse kennt. Dies hat dazu geführt, dass der Mensch in der Lage ist, selbst über die Ausübung seiner Frömmigkeit zu entscheiden und damit seine Beziehung zu anderen Menschen zu gestalten. Dies wird begründet mit dem koranischen Vers in Sure 49,13: Oh ihr Menschen, wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der angesehenste von euch bei Gott, das ist der Gottesfürchtigste von euch. Gott weiß Bescheid und hat Kenntnis von allem. (AK). Also jeder Mensch oder jede Gruppe von Menschen muss selbst wissen, wie man sich den anderen Menschen gegenüber verhält und welche Beziehungen man mit den anderen pflegt. 115 Nach der Herrschaftszeit der ersten vier Kalifen, die in der islamischen Geschichtsschreibung als die vier rechtgeleiteten Kalifen bezeichnet werden und die die islamische Gemeinschaft nach dem Tod des Propheten Mohammeds anführten und der darauf folgenden Herrschaftszeit der Umayyaden, gelangte durch eine Revolution der Stamm der Abbasiden an die Macht. Diese Periode abbasidischer Herrschaft begann im Jahre 750 n.Chr. und dauerte bis ins Jahr 945 n.Chr. an. Die islamische Philosophie als Teil der Kultur 119 Die theologischen Institutionen haben es vielen Menschen in den islamischen Gesellschaften ermöglicht, die Ausübung der Religion aufgrund des theologischen Textes unterschiedlich zu verstehen und zu interpretieren. Die zwei Hauptquellen der islamischen Religion, Koran und Sunna, sind infolgedessen Hauptthemen der Diskussionen und Interpretationen der Muslime geworden. Diese Diskussionen haben zur Ausprägung zweier philosophischer Schulen geführt: Die erste heißt „madrasat ahlu l-ḥadīṯ“, Schule des Textes. Diese Schule geht davon aus, dass die Texte des Korans und der Sunna verbindlich sind und nicht anderes als wortwörtlich verstanden werden dürfen. Die zweite Schule trägt den Namen „madrasat ahlu l-ra’y“, Schule der Interpretation. Sie geht davon aus, dass der Mensch bei der Umsetzung des Textinhaltes sein Denkvermögen einsetzen und den Text dann den Umständen entsprechend verstehen und umsetzen soll. Die Schule der Interpretation betrachtet neben Koran und Sunna noch eine weitere Quelle der islamischen Lehre, nämlich die Analogie, als Entscheidungshilfe bei theologischen Fragen. Wie oben erwähnt worden ist, haben sich in den islamischen Gesellschaften später fünf (eine schiitische und vier sunnitische) verschiedene Rechtsschulen entwickelt, die mehr oder weniger diese beiden philosophischen Schulen vertreten. Diese Schulen haben sich intensiv mit den folgenden Themen auseinandergesetzt: 1. 2. 3. 4. 5. Die Nachfolge des Propheten. Die Beziehung zwischen Staat und Religion. Die Frage der Sünde und des Sündigens. Die Frage des Zwanges oder der freien Entscheidung. Die Frage danach, was man unter dem Begriff Gott und dessen Darstellung mit menschlichen Eigenschaften versteht, wie z.B. Gotteshand oder Gottesauge verstanden werden, als Metaphern oder Beschreibungen realer Zustände und Eigenschaften. 6. Der koranische Text und seine Umsetzung und die Frage des Anlasses der Offenbarung, sowie die historische Bedeutung des Textes. 7. Scholastische Theologie und die unterschiedliche Vorgehensweise in vielen Bereichen des Lebens zwischen der Wahrnehmung und Durchführung der religiösen Gesetze und Verordnungen und der philosophischen Interpretationen aufgrund des Einsatzes der menschlichen Vernunft. Das beste Beispiel dafür ist die Interpretation des koranischen Verses in Sure 3,7, welcher in zwei verschiedenen Varianten gelesen wird. Die Theologen lesen ihn so: Um seine Deutung116 aber weiß niemand außer Gott. Diejenigen, die im Wissen fest gegründet sind, sagen: wir glauben; das eine und das andere ist von unserem Herren. 116 Gemeint ist der Koran. Der Islam in der Diskussion 120 Während die Philosophen diesen Vers wie folgt lesen: Um seine Deutung aber weiß niemand außer Gott und Diejenigen, die im Wissen fest gegründet sind, sagen wir glauben; das eine und das andere ist von unserem Herrn. (AK). Auf dieser Basis hat sich die Mystik im Islam im 12. Jahrhundert aufgrund des Pantheismus‘ (Einheit des Universums) weiter entwickelt117, wodurch der Sufismus als eine Philosophie der Ausübung der Religion und ihrer Vorschriften auf der Basis des menschlichen Verstandes entstand. Bevor wir diese Strömung in den islamischen Gesellschaften behandeln, wollen wir einen Blick auf die verschiedenen philosophischen Bewegungen werfen. Diese Denominationen haben die islamischen Gesellschaften mit ihren Ideen geprägt und teilweise stark beeinflusst. Die erste und bis heute auch bekannteste Bewegung ist die der al-Mu‘tazila. Diese philosophische Schule ist die größte in den islamischen Gesellschaften überhaupt.118 Es gibt zwei Theorien über die Entstehung der Mu‘taziliten. Die erste führt ihre Entstehung in die Zeit der Kamelschlacht zwischen dem vierten Kalifen, Ali ibn Abī Ṭālib, und seinen Gegnern im Jahre 656 n.Chr. zurück. Als Gründungsdatum wird aber auch das Jahr 657 n.Chr. genannt, in dem sich die Bewegung aus der Gruppe derjenigen Muslime formierte, die zwischen den Fronten Alis und seiner Gegner einen neutralen Standpunkt einnahm. Die zweite Theorie, die auch von den Mu‘tazilten selbst vertreten wird, führt die Entstehung in die Zeit zurück, in der Wasil bin Ata (gest. 748 n.Chr.), der Gründer dieser Gruppe, sich wegen Meinungsverschiedenheiten aus dem Kreis seines Lehrers Hassan al-Baṣrī (gest. 727 n.Chr.) zurückgezogen hatte. Die Mu‘taziliten organisierten ihre Gruppen unter gebildeten Menschen der Mittelschicht. Sie waren bekannt für ihren Widerstand gegen das Umayyadenreich in Damaskus (Syrien), aber später auch gegen die Abbasiden in Bagdad (Irak). Sie beteiligten sich folgerichtig an vielen Aufständen gegen die Abbasiden (z.B. im Jahre 762 n.Chr. gegen den abbasidischen Kalif al-Manṣūr). Aber auch unter der Herrschaft der Abbasiden, und zwar in der Zeit des Kalifen Hārūn ar-Rašīd (786-802 n.Chr.), erhielten die Mu‘taziliten große Unterstützung durch den Kalifen. Diese Unterstützung setzte sich auch in den Zeiten der folgenden drei Kalifen al-Mamʼūn, al-Mu‘taṣim und al-Wāṯiq (813-848 n.Chr.) fort. Für die Mu‘taziliten war es ein goldenes Zeitalter, in dem ihre geografisch verteilten Gruppen ihre Ideen in der Gesellschaft propagieren und verbreiten konnten. Ab 850 n.Chr., in der Herrschaftszeit des Kalifen al-Mutawakkil (848-861 n.Chr.), wurden die Mu‘taziliten stark bekämpft und verfolgt. Der wichtigste Grund dafür war 117 Siehe dazu die Briefe Ibn al-Arabis bei: Neyberg, Henrik Samuel (Hrsg): Kleinere Schriften des Ibn-Alarabi, Leiden 1919 (aus Saadiyef u. Sellum, S.316). 118 Sadīyyaf, ʼArṯūr; Salūm, Tawfīq (Arabisch): al Felsefa al Arabiya al islamiya (Die arabische islamische Philosophie), al-Farabi, Beirut 2000, S. 30. Die islamische Philosophie als Teil der Kultur 121 ihre Theorie zur Entstehung des Korans. Die Mu‘taziliten glauben, dass der Koran auch ein Geschöpf Gottes ist und nicht, wie es alle anderen Muslime glauben, dass Gott in der Ewigkeit existierte, noch bevor er alles in dieser Welt schuf.119 Nachdem die Mu‘taziliten ihre Aktivitäten aufgrund von Verfolgung und Unterdrückung für längere Zeit einschränken mussten, traten sie in der Zeit der Būiḥiyten zwischen 9451055 n.Chr. wieder in Erscheinung und waren noch bis ins 13. Jahrhundert aktiv. Nach der Herrschaft der Mongolen in den islamischen Gesellschaften mussten sie wiederum untertauchen, weil sie von den Mongolen verfolgt und bekämpft wurden. Die wichtigsten Zentren der Aktivitäten der Mu‘taziliten waren Bagdad und Basra im Irak. Die wichtigsten Prinzipien ihrer Philosophie kann man in folgenden Punkten zusammenfassen:120 11.2 Die Gottesgerechtigkeit (al-̔Adl) Die Gottesgerechtigkeit umfasst alle Rechte des Menschen im Diesseits und Jenseits. Darunter fallen das Recht auf Freiheit des Glaubens und auf Freiheit in der Ausübung der religiösen Pflichten, verbunden mit der daraus folgenden Belohnung und Bestrafung durch Gott. Die Mu‘taziliten vertraten die Meinung, dass Gott vollkommen gerecht sei und seinen Geschöpfen nie etwas Schlechtes antun würde. 11.3 Der Monotheismus (at-Tawhīd) Für die Mu‘taziliten ist Gott einzig in seiner Gottheit und seinen Eigenschaften zu sehen, genauso wie es im Koran in Sure 112 steht: Sprich: Er ist Gott, ein Einziger. Gott, der Undurchdringliche. Er hat nicht gezeugt, und er ist nicht gezeugt worden, und niemand ist ihm ebenbürtig. (AK). Gott darf also nicht mit menschlichen Individuen verglichen werden. 11.4 Das Versprechen (al-Wa‘d wa al-Wa‘īd) Dieses Prinzip bedeutet für die Mu‘taziliten, dass Gott seine Geschöpfe beobachtet und die Guten unter ihnen belohnt und die Schlechten bestraft. Nach den Kategorien „gut“ und „schlecht“ werden die Menschen nach ihren Taten im Diesseits eingeordnet. Diese Eigenschaft Gottes ist eine feste Tatsache für die Mu‘taziliten. Sie begründen dieses Prinzip mit dem koranischen Vers in Sure 5,9, in dem steht: 119 Saadiyef, Arthour u. Sellum, Taufiq (Arabisch): al-Falsafa al-̔arabiya al-ʼislamiya (Die arabische islamische Philosophie), al-Fārābī, Beirut 2000, S. 30. 120 Abū Zaīd, Naṣr Hāmid: Al-ʼitiǧāh al-̔aqlī fi at-tafsīr (Arabisch), Dar at-Tanwīr, Beirut, 1993. 122 Der Islam in der Diskussion Gott hat denen, die glauben und die guten Werke tun, versprochen: Bestimmt ist für sie Vergebung und großartiger Lohn.121 (AK). 11.5 Der Zwischenrang des Ungehorsams (al-Manzila bayna al-Manzilatayn) Den ungehorsamen Menschen betrachten die Mu‘taziliten nicht als Heiden. Nach der islamischen Lehre ist der Heide derjenige, der an vielen anderen Göttern neben Gott glaubt. Ein Mensch also, der eine polytheistische Position vertritt. Die Mu‘taziliten ordnen den Ungehorsamen zwischen den gläubigen und den heidnischen Menschen ein. Der ungehorsame Mensch für sie ist kein Heide solange er an den einzigen Gott glaubt, wie es im Koran gefordert wird. Sie gehen von dem koranischen Vers in Sure 4,116 aus, der lautet: Gott vergibt nicht, dass ihm (etwas) beigesellt wird, und er vergibt, was darunter liegt, wenn Er will. Und wer Gott (andere) beigesellt, der ist weit abgeirrt. (AK).122 11.6 Das Gute befördern und das Schlechte verhindern (al-’amr bi l-maʼrūf wa nahiy ʼani l-munkar) Die Mu‘taziliten selbst waren sich hinsichtlich der Durchführung dieses Prinzips uneins. Manche von ihnen erlaubten sogar den Einsatz von Gewalt, um dieses Prinzip zu erfüllen. Anderen dagegen bevorzugten friedliche Methoden. Dieses Prinzip der Friedlichkeit ist für die Mu‘taziliten durch den koranischen Vers in Sure 9,67 begründet: Die Heuchler und die Heuchlerinnen stammen voneinander. Sie gebieten das Verwerfliche und verbieten das Rechte und halten ihre Hände geschlossen. (AK).123 Aufgrund ihrer oben genannten Prinzipien waren die Mu‘taziliten in den islamischen Gesellschaften unter dem Namen „Ahlu l-’adl wa l-tawhīd“, die Leute der Gerechtigkeit und des Monotheismus, bekannt.124 Zu ihren Prinzipien gehört auch die Vorstellung, dass der Mensch für seine schlechten Taten allein verantwortlich sei. Gott dürfe für das Schlechte nicht verantwortlich gemacht werden, weil er es nicht kenne und es nicht zu seinen Eigenschaften zähle. Sie begründen diese Vorstellung mit dem koranischen Vers in Sure 4,79. In diesem Vers steht: Was dich an Gutem trifft, ist von Gott. Und was dich an Schlechtem trifft, ist von dir selbst. (AK). 121 122 123 124 Vgl. auch: 9,68, 31,9 und 35,5 (AK). Vgl. auch: 4,48 (AK). Vgl. auch 3,110 (AK). Abū Zaīd, Naṣr Hāmid: Al-ʼitiǧāh al-̔aqlī fi at-tafsīr (Arabisch), Dar at-Tanwīr, Beirut, 1993, S. 11. Die islamische Philosophie als Teil der Kultur 123 Die Gegner der Mu‘taziliten brachten sie deshalb mit dem Glauben Zarathustras in Verbindung, der darauf basierte, dass es zwei Götter gebe, einen für das Guten und einen für das Schlechte. Im Koran steht aber auch, dass das Gute und das Schlechte von Gott kommt: Sprich: Alles ist von Gott (AK).125 Die Vernunft und die Interpretation des Textes spielte bei den Mu‘taziliten zu jeder Zeit eine zentrale Rolle. Sie haben diese beiden Elemente sogar als eine Quelle, neben den anderen Quellen der Religion, verstanden. Ohne die Vernunft hat der Mensch keine Möglichkeit, Gott und seine Gesandten zu erkennen. Viele Historiker und Wissenschaftler wie z.B. Hussein Mruwa,126 betrachten die Zeit des 9. Jahrhunderts, in der die Mu‘taziliten ihre Ideen verbreiteten, als die goldene Zeit der islamischen Philosophie. 11.7 Aš‘ariten Die zweite philosophische Bewegung der islamischen Gesellschaften ist die Bewegung der Aš‘ariten (arab. al-ašarīya). Diese Bewegung war in der Zeit zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert aktiv.127 Sie ist nicht so bekannt und verbreitet wie die Mu‘taziliten. Die Aš‘ariten betrachten ihre Ideen als einen Kompromiss zwischen denen der Mu‘taziliten und denen ihrer Gegner. Zu ihren Ideen gehörte z.B. die Vorstellung von der Verantwortung des Menschen auch für Taten, die ihm selbst zugefügt werden. Es hängt dann von dem Menschen ab, wie er diese Taten umsetzt. Der Mensch sei, nach ihrer Meinung, in der Lage, sie in eine richtige oder in eine falsche Richtung zu lenken. Dadurch werde der Mensch belohnt oder bestraft. Wie die Mu‘taziliten lehnen die Aš‘ariten ebenfalls den Vergleich zwischen Mensch und Gott ab und betrachten die Existenz Gottes als einzig. Sie lehnen aber die Vorstellung der Mu‘taziliten ab, wonach der Mensch im Jenseits Gott sehen könne. Die koranischen Verse, auf die die Mu‘taziliten diese Vorstellung gründen, lauten: An jenem Tag gibt es strahlende Gesichter, die zu ihrem Herrn schauen. (AK) (75,22-23). 1254,78. 126 Mrūwa, Hussain: An-naz‘aāt al-mādiyah fi al-falsafah al-̔arabiya al-ʼislamiya (arab.), Dar alFarabi, Beirut, 1978,Bd. 1, S.631 ff. 127 Saadiyef, Arthour u. Sellum, Taufiq (Arabisch): al-Falsafa al-̔arabiya al-ʼislamiya (Die arabische islamische Philosophie), al-Fārābī, Beirut 2000, S.34. Der Islam in der Diskussion 124 Die Aš‘ariten schreiben diesen Versen jedoch lediglich symbolische Bedeutung zu, weil es in Vers 6,103 heißt: Die Blicke erreichen Ihn nicht. Er aber erreicht die Blicke. (AK). Die Hauptgebiete der Aktivitäten der Aš‘ariten bildeten der Irak, Syrien und Ägypten. Diese Meinung vertreten auch die Ḫāriǧiten, die während der Schlacht von Siffin zwischen Ali und Mu‘āwiya im Jahre 657 n.Chr. entstanden sind. Zu ihren Hauptideen gehört die Vorstellung vom gerechten Herrscher.128 Für sie waren nur die ersten zwei Kalifen nach dem Tod Mohammeds rechtmäßige Nachfolger des Propheten. Alle anderen danach lehnten sie ab und bekämpften sie, auch mit Gewalt, weil sie der Meinung waren, dass diese Kalifen ungerecht gewesen seien. Sie haben an keine Kompromisse geglaubt, sondern an die Gewalt, um ihre Ideen durchzuführen. Den Tod aufgrund dieser Theorie der Verwirklichung ihrer Ideen bewerteten sie als Märtyrertod und suchten ihn darum auch. Die Ablehnung eines ungerechten Kalifen wurde von vielen Menschen als revolutionäre Idee bewertet. Deshalb hatten die Ḫāriǧiten in den islamischen Gesellschaften großen Zulauf in der Gruppe einfacher, armer Menschen. Ebenfalls zu ihren Prinzipien gehörte die Verbindung von Glauben und Taten. Der Glaube sei nicht nur Lippenbekenntnis oder Herzglaube, sondern müsse auch nach außen durch Taten sichtbar werden. Es war für die Ḫāriǧiten nicht genug, dass man an Gott und seine Propheten glaubt, ohne die Vorschriften der Lehre wie Betten, Fasten, Steuern zahlen und Pilgern zu befolgen. Alle, die anderes lebten, waren in ihren Augen Heiden, auch wenn sie an Gott und seine Propheten glaubten. Die Ḫāriǧiten versuchten stets, ihre politischen und religiösen Pflichten parallel zu verwirklichen und waren damit hauptsächlich in Irak, Syrien und später in Nordafrika und im Jemen aktiv. 11.8 Murǧiʼiten Eine andere Gruppe ist die der Murǧiʼiten (arab. al-murǧiʼa). Diese Gruppe trug durch ihr Schaffen wesentlich zur Legitimation der Umayyaden-Dynastie in Syrien bei. Die Murǧiʼiten versuchten, die Interpretationen der religiösen Ideen so zu formulieren, dass sie zur Rechtfertigung der Unterdrückungspolitik der Umayyaden taugten, was ihnen von vielen Seiten Kritik eintrug, weil damit auch Unterdrücker als fromme Menschen charakterisiert wurden und es deshalb schwieriger wurde, etwas gegen eine solche Politik zu unternehmen. Für die Murǧiʼiten bedeutete der Glaube jedoch nur die Anerkennung Gottes, ohne diesen Glauben an die Existenz Gottes mit den Taten des Menschen zu verbinden. So spielte nach diesem Prinzip auch keine Rolle, welcher Art die Taten der Unterdrücker waren. Sie wurden zu den Gläubigen gerechnet, ungeachtet dessen, ob ihr Handeln gut oder schlecht war. Die Murǧiʼiten entwickelten eine ausgeprägte Form 128 Abū Zaīd, Naṣr Hāmid: Al-ʼitiǧāh al-̔aqlī fi at-tafsīr (Arabisch), Dar at-Tanwīr, Beirut, 1993, S.16. Die islamische Philosophie als Teil der Kultur 125 des Fatalismus, wonach die Macht der Umayyaden als eine von Gott vorgeschriebene Tatsache zu akzeptieren sei, gegen die nicht revoltiert werden dürfe. Ab dem 13. Jahrhundert wurde die islamische Philosophie sehr stark von den Ideen des Arztes und Philosophen Ibn Sīnā (980-1037 n.Chr.) beeinflusst. Dessen Philosophie beschäftigte sich hauptsächlich mit den Themen „al-aql aw an-naql“, Interpretieren oder Kopieren; also mit der Frage des Glaubens und der Vernunft. Und damit nahm der Streit zwischen den Philosophen auf der einen und den Theologen auf der anderen Seite seinen Anfang. Die muslimischen Philosophen setzten sich für den Gebrauch der Vernunft bei der Ausübung des Glaubens ein, also für einen interpretatorischen Zugriff auf die Quellen des Islam. Die Theologen bevorzugten unterdessen die Nachahmung der früheren Schriften und Entscheidungen. Die stärksten Gegner der Philosophen in den fünf Rechtsschulen waren die Hanbaliten, die Malikiten und die Schafi‘iten. Bei der Frage des Einsatzes der Vernunft und der Bevorzugung der Interpretation des Textes waren die Mu‘taziliten und die Asch‘ariten einig. Die harte Diskussionen zwischen dem Philosoph Ibn Rušd und dem Theologe al-Ġazālī, siehe unten, verdeutlichen diesen Streit. Die Philosophen gingen davon aus, dass die Interpretation der koranischen Verse dem Denkvermögen des menschlichen Gehirns entsprechen müsse. Sie haben sogar das Verstehen des Korans nur sich selbst zugestanden, da sie den koranischen Vers in Sure 3,7 so verstanden, dass die Philosophen damit gemeint seien.129 Die Philosophen haben sich außerdem intensiv mit der Frage des Zweifels beschäftigt. Um zu einem festen Glauben zu gelangen, müssten zuvor die Zweifelsfragen gestellt werden, die man aus Überzeugung zu beantworten versuchen solle. Nicht nachahmen, sondern selbst interpretieren, war ihre Parole. Diese Zweifelsfragen dürfen nicht auf ein bestimmtes Thema des Glaubens eingeschränkt sein. Sie umfassen die Fragen von der Existenz Gottes bis zur einzelnen Fragen bei der Durchführung der religiösen Pflichten. 11.9 Al-Kindi Einer der ersten islamischen Philosophen war al-Kindī (latinisiert Alkindus), der „Der Philosoph der Araber“ genannt wurde. Al-Kindī wurde in der Stadt Kufa im Irak Ende des 8. Jahrhunderts geboren und verfasste über 300 Schriften. Er behandelte Themen aus den Bereichen Medizin, Philosophie, Psychologie und Astronomie. Von ihm stammen auch sehr viele Übersetzungen philosophischer Schriften der Griechen ins Arabische, ganz besonders von Aristoteles. Al-Kindīs Philosophie hat sich mit den Elementen des Lebens beschäftigt. Er hat die „fünf Perlen des Lebens“ als Materie, Bild, Bewegung, Ort und Zeit dargestellt. Mit der Materie beschreibt er die Bestandsteile des Universums überhaupt, die immer in Be129 3,7 „Um seine Deutung aber weiß niemand außer Gott, Diejenigen, die im Wissen fest gegründet sind“ (AK). Damit meinen die Philosophen sich selbst. 126 Der Islam in der Diskussion wegung ist, und überall und in jeder Zeit in verschiedenen Formen zu finden ist. Immer aufs Neue musste er seine Gedanken gegenüber den orthodoxen Theologen verteidigen. In seinem Werk al-falsafah al-̔ūla, auf Deutsch, „Die erste Philosophie“ erklärte er mit vielen Argumenten die Notwendigkeit der Philosophie und definierte sie als die Wissenschaft der Echtheit der Dinge aufgrund der menschlichen Fähigkeit und Energie. Diese Gedanken haben ihn zu der Überzeugung geführt, dass die Wahrheit akzeptiert werden müsse, egal woher und von wem sie komme. Mit dieser Ansicht erklärt er die ewige Entwicklung der menschlichen Kenntnisse und den Reichtum der Wahrheiten, die die verschiedenen Generationen der verschiedenen Nationen in ihrer Geschichte gewonnen haben. Al-Kindī erklärte die Feindschaft der orthodoxen Theologen gegenüber der Philosophie so, dass die Theologen unehrlich seien, weil sie die Religion instrumentalisieren und mit ihr handeln würden wie mit einer Ware. 11.10 Abu Bakr ar-Rāzī Ein anderer Philosoph des 9. Jahrhunderts ist Abu Bakr ar-Rāzī, der 865 n.Chr. im Iran geboren wurde. Seine Lebensphilosophie geht von der Existenz Gottes aus, der die lebensnotwendigen Voraussetzungen für den Menschen geschaffen hatte, nämlich die Seele, das Universum, die Zeit und den Raum. Er lehnte jegliche Nachahmung ab und forderte wissenschaftliche Forschungen und Entdeckungen; so rief er zur Stärkung der mannigfachen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns und zu seiner ständigen Weiterentwicklung auf. Ar-Rāzī propagierte als Problemlösungshilfe das Prinzip des Mittelwegs. Bekannt gemacht, aber auch scharfe Kritik eingetragen, hat ihm seine Meinung über die göttlichen Botschaften und ihre Träger. Der Mensch sei durch sein Denkvermögen in der Lage, zwischen Gut und Böse, zwischen nützlich und schädlich und zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, weshalb er auch keine Hoheit brauche, die ihm alle diese Dinge zeigen müsse. Alle Menschen seien, seiner Meinung nach gleich und besäßen diese Fähigkeit des Denkens. Die Unterschiede würden durch die unterschiedlichen Methoden der Pflege des Denkvermögens hervorgerufen. Mit dieser Kritik wandte er sich an Menschen, die an die göttlichen Botschaften glaubten und fragte sie, woher sie wüssten, dass Gott bestimmte Nationen und Menschen bevorzuge und mit der Überbringung von Botschaften beauftragt habe. Und weiter: Warum wollte Gott, dass durch diese Botschaften seine geliebten Geschöpfe sich gegenseitig befeinden? Wenn alle diese Botschafter ihre Botschaften aus derselben Quelle bekommen haben, nämlich von Gott, warum sind sie so unterschiedlichen Inhalts? 11.11 Ibn ar-Rāwandī Einer der Philosophen des 10. Jahrhunderts, der bekannteste unter den Mu‘taziliten, war Ibn ar-Rāwandī, der später Atheist wurde, nachdem er die ganze prophetische Botschaft Die islamische Philosophie als Teil der Kultur 127 verleugnete und den Inhalt des Korans ablehnte. Um seine Ideen über den Atheismus zu verbreiten, hatte er mehrere Schriften gegen die Gedanken des Monotheismus und die göttlichen Botschaften und ihre Träger veröffentlicht. Obwohl er auch gegen seine früheren Freunde, die Mu‘taziliten, mehrere Schriften geschrieben hatte, in denen er ihre Vorstellung von der Welt kritisierte, blieb er Zeit seines Lebens ein mutiger Verteidiger der „madrasatu l-aqql“, der Schule des Denkvermögens. Der Gewinn von Wissen, erklärte er, hänge mit der ständigen Sammlung von Erfahrung durch das menschliche Gehirn zusammen und komme nicht durch die Propheten vom Himmel. Er vertrat die Meinung, dass alle Wissenschaften keinen göttlichen Ursprung hätten, wie es die Propheten behaupteten, sondern als Errungenschaften der Menschen und ihres Denkvermögens anzusehen seien. Die heiligen Schriften von Judentum, Christentum und Islam, griff er scharf an und stellte sie als Schriften voller Lügen und Widersprüche dar. 11.12 Brüder der Reinheit Das 10. Jahrhundert hatte durch die Gruppe „ʼiḫwān as-safā“, Brüder der Reinheit130, eine andere Dimension der philosophischen Entwicklung in den islamischen Gesellschaften erlebt. Diese Gruppe der Ismailiten, eine Abspaltung der schiitischen Konversion, wurde gegründet als Reaktion auf die Art und Weise, wie die Abbasiden die Ausübung der islamischen Lehre praktizierten. Die Brüder der Reinheit unterschieden zwischen dem äußeren und inneren Inhalt des koranischen Textes. Der äußere Inhalt war ihrer Meinung nach für das allgemeine Volk gedacht, während der innere nur von den Imamen der Ismailiten verstanden und interpretiert werden könne. Trotzdem, so meinten sie, sei die Kluft zwischen den normalen Menschen und den Imamen nicht sehr tief. Die Ismailiten, und darunter auch die Gruppe ʼiḫwān as-safā, betrachteten sich als Retter und Helfer der Muslime. Sie gingen davon aus, die Muslime vor dem blinden Glauben an das Äußere der Scharia und der Schriften zu retten. Und sie halfen den Menschen, ihre Seele so weit zu entwickeln, dass sie fähig werden konnte, die inneren Inhalte der Schriften zu verstehen. Zu diesem Zweck hat die Gruppe in ihren Schriften, rasaʼil ʼiḫwān as-safā, die auf Deutsch unter dem Titel Die Briefe der lauteren Brüder bekannt sind, verschiedene Themen behandelt. Mehrere Bände, verfasst als Briefe an die Menschen und heimlich unter ihnen verteilt, füllten sie mit Gedanken über Medizin, Mathematik, Philosophie, Soziologie, Astronomie und weitere Wissenschaften. In diesen Briefen erklärten sie wiederholt, dass die Scharia durch Unwissenheit und Lügen beschmutzt worden sei und nur mit Hilfe des philosophischen Denkens, welches die Weisheit beinhaltet, gereinigt werden könne. 130 In anderen übersetzten Quellen wird diese Gruppe auch als Gruppe der „lauteren Brüder“ bezeichnet. 128 Der Islam in der Diskussion 11.13 Ismaeliten Unter den Ismailiten waren zwei Hauptrichtungen vertreten: die gemäßigten und die radikalen. Während die Fatimiden als Vertreter der gemäßigten Richtung die ägyptische Stadt Kairo in Ägypten zur Hauptstadt ihrer Macht erklärten, gründeten die Vertreter der radikalen Richtung, die Kirmiten ihren Staat im östlichen Teil der arabischen Halbinsel (heute Jemen und Oman). Mit ihren Parolen und Aufrufen zur Gerechtigkeit ermutigten die Kirmiten die Armen und Unterdrückten der Abbasiden-Herrschaft, sich den Aufständen ihrer, im gesamten mittleren Osten verbreiteten Gruppe, anzuschließen. Vom Fatimiden- Staat in Ägypten (969-1171 n.Chr.) aus versuchten die Ismailiten, ihre Vorstellungen vom Islam in der gesamten islamischen Welt zu verbreiten. Im Allgemeinen kann man die Prinzipien und Ideen der Ismailiten als eine Mischung aus hellenistischer Philosophie und den orientalischen Vorstellungen von Gott und Welt bezeichnen. Aus dem Orient übernahmen sie die Vorstellung der Inkarnation der Seele. Vor dem Hintergrund von Platons Gedanken zur Entstehung der Welt bildeten sie darüber eine eigene Theorie aus, die die Entstehung des gesamten Universums und aller Materie als zeitlos verstand. 11.14 Al-Mišāʼiya Al-Mišāʼiya ist eine weitere, ebenfalls sehr wichtige philosophische Bewegung der islamischen Welt. Al-Mišāʼiya kann man als den Versuch vieler Philosophen definieren, zu Gemeinsamkeiten zwischen Philosophie und Theologie zu finden und die Zusammenhänge zwischen Glaube und Vernunft zu erklären. Gegründet wurde die Bewegung von Abū Naṣr Mohammad al-Fārābī (gest. 950 n.Chr. in Syrien). Er wurde von den muslimischen Philosophen „der zweite Lehrer“ nach Aristoteles genannt. Al-Fārābī hat sehr viele bedeutende Schriften verfasst. Die Schwerpunkte seiner Arbeit lagen auf der Interpretation der griechischen Schriften und dem Versuch, die platonischen und aristotelischen Vorstellungen, ganz besonders, was die Frage über Gott angeht, miteinander zu kombinieren. Seine Schriften über Ethik und Politik sind nach den Prinzipien Platons in seiner platonischen Republik formuliert. Al-Fārābī versucht darin, die Beziehung zwischen Theologie und Philosophie darzustellen. Seine Vorstellung vom Leben in einer Gesellschaft beschreibt er in seinem Buch al-Madīna al-fāḍila, die bevorzugte Stadt, in der die gerechte Verteilung der Güter nur unter der Herrschaft der Philosophen möglich sei. Die islamische Philosophie als Teil der Kultur 129 11.15 Ibn Sīnā Ibn Sīnā (Avicenna, 980-1037 n.Chr.) gilt als der größte Philosoph des arabischen Ostens.131 Seine Schriften über Medizin, Weisheit, Philosophie und Theologie verfasste er in arabischer und persischer Sprache. Mit den Vorstellungen, die al-Fārābī in seiner „bevorzugten Stadt“ vertritt, stimmte auch er überein. In seiner Philosophie über die göttlichen Botschaften und ihre Träger kommt er zu dem Schluss, dass die Menschen in ihrem Zusammenleben die Arbeitsteilung bräuchten. Diese wiederum benötige Verordnungen (Sunna) und Gerechtigkeit, denn ein Gemeinwesen könne nur funktionieren, wenn die Menschen in ihren Differenzen und unterschiedlichen Meinungen von der Gerechtigkeit nicht allein gelassen würden. Die Aufgabe der Propheten besteht seiner Meinung nach nur darin, den Menschen den Monotheismus und die Einzigartigkeit Gottes klar zu machen, darüber hinaus gebe es nichts für sie zu tun. Nach seinem Tod haben seine Schüler seine Lehreweiter entwickelt und vertieft. In vielen islamischen Gesellschaften und auch im lateinischen Westen schlossen sich viele Menschen dieser Lehre an. 11.16 Ibn Rušd Der bekannteste Vertreter der Al-Mišāʼiya-Philosophie war der spanisch-arabische Arzt und Philosoph Ibn Rušd (latinisiert: Averroes, der von 1126-1198 n.Chr. lebte). In seinen Schriften beschäftigt sich Ibn Rušd nicht nur mit Philosophie, sondern auch mit Medizin, dem islamischen Rechtssystem und mit den Naturwissenschaften. In Europa ist Ibn Rušd für seine Interpretationen der Schriften Aristoteles bekannt. Er hat fast alle Werke des griechischen Philosophen übersetzt und mit Kommentaren versehen. Außerdem beschäftigte er sich mit den Schriften Platons über Politik. Auch die Werke der muslimischen Philosophen vor ihm, wie etwa die Arbeiten al-Fārābīs und Ibn Sīnās, haben ihn sehr beeinflusst, dadurch, dass er sie zum Teil völlig neu bearbeitete. Die bekanntesten und interessantesten Werke von ihm waren – und sind es heute noch – die Diskussionen mit dem arabisch-muslimischen Philosophen und späteren Theologen alĠazālī (1058-1111 n.Chr.). Al-Ġazālī hatte in seinem Werk „Die Niederlage der Philosophie“ die Philosophen scharf attackiert und versucht, ihre Ideen und Vorstellungen von der Rolle der Religion im Leben zunichte und darüber hinaus lächerlich zu machen.132 Ibn Rušd konterte mit seinem Werk „Die Niederlage der Niederlage“133, indem er die Beziehungen zwischen Philosophie und Theologie mit wissenschaftlichen und praktischen Argumenten verteidigte. Ibn Rušd veröffentlichte noch mehrere Schriften dieser Art und galt zu seiner Zeit als der wichtigste Vertreter seiner philosophischen Richtung. Er 131 Störung, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Fischer, 1999, S.277. 132 Al-Ġazālī, Abū Hāmid: Tahāfut al-Falāsifa (Arabisch), Dar al-Ma‘ārif, Kairo, 7. Auflage, 1972. 133 Ibn Rušd, Mohammed b. Ahmed: Tahāfut at- Tahāfut (Arabisch), Al-Maktaba al-‘Aṣriya, Beirut, 2000. 130 Der Islam in der Diskussion wollte das Thema über den Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft so populär machen, dass jeder Mensch davon überzeugt werden konnte. Von den bekannteren Al-Mišāʼiya-Philosophen in Andalusien sei an dieser Stelle noch Ibn Bāǧǧa (latinisiert Avempace, gest. 1138 n.Chr.) genannt. Seine Arbeit galt den Theorien und Ansätzen des Aristoteles und al-Fārābīs. Er hinterließ viele philosophische Werke, in denen er soziologische und psychologische Themen behandelte. Die bekanntesten Werke von ihm sind: risalat al-Wadā‘ (der Abschiedsbrief), ittisāl al-‚aql bi-l-insān (die Verbindung des Denkvermögens mit dem Mensch) und kitab annafs (das Buch der Seele). Ein weiterer bekannter Vertreter dieser Philosophie (Al-Mišāʼiya) war der in Spanien geborene und später in Nordafrika lebende Dichter und Astronom Ibn Ṭufaīl. Sein bekanntes philosophisches Werk, das heute noch sehr viele Leser findet, ist die Geschichte von Haīy ibn Yaqzān. Diese Geschichte erzählt von der Entstehung eines Menschen aus Lehm, mit dem Namen Haīy b. Yaqzān. Er lebt allein auf einer sehr weiten und sehr leeren Insel. Ibn Ṭufaīl erzählt nun, wie dieser Mensch aus eigener Kraft naturwissenschaftliche und metaphysische Kenntnisse gewinnt und durch diese schließlich zur Einheit mit Gott gelangt. Am Ende erzählt die Geschichte, wie Haīy b. Yaqzān dann von der Einheit von Theologie und Philosophie überzeugt war. 11.17 Sufismus Innerhalb der islamischen Philosophie hat sich eine Bewegung entwickelt, die bis heute ein Phänomen in den islamischen Gesellschaften darstellt. Diese Bewegung ist der Sufismus, also die islamische Mystik. In Persien und in der Türkei nennt man diese Mystiker Derwische. Derwisch bedeutet im Allgemeinen: ein Mensch, der in Armut und unter sehr einfachen Umständen lebt. Wie wir sehen werden, haben viele der muslimischen Sufis so ein Leben gehabt und leben zum großen Teil auch heute noch auf diese Weise. Sufismus bedeutet auch: nicht zu besitzen, um von nichts besessen zu sein. Über die Herkunft der Bezeichnung Sufismus gibt es verschiedene Theorien. Die eine besagt, das Wort leite sich aus dem arabischen Wort „ṣūf“ (Wolle) her, weil die Menschen dieser Gruppe nur wollene Kleidung trugen. Eine andere Theorie geht davon aus, der Name stamme aus dem ebenfalls arabischen Wort „safa“ und bedeutet die Reinheit, womit die Reinheit der Seele gemeint sei. Diese sehr frühe Bewegung der islamischen Geschichte hat sich aus den Reihen der frommen Muslime im 7. Jahrhundert als Protest gegen die sozialen Unterschiede in den islamischen Gesellschaften entwickelt und umfasste später mehrere Schulen und Richtungen.134 134 As-Sayid Ǧāsim, Azīz: Mutaṣawifat Baġdād (Arabisch), Mu ̔assat ar-Risalah, Paris, 1994. Die islamische Philosophie als Teil der Kultur 131 Die Hauptprinzipien dieser Bewegung sind: • Vollkommener Rückzug aus der materiellen Welt. • Suche nach der Wahrheit durch die Entdeckungen der inneren Kenntnisse. • Die Erkenntnis der Wahrheit führt zur Einheit mit Gott. Als diese Bewegung sich sehr stark in den islamischen Gesellschaften verbreitete, haben die Anhänger der verschiedenen Gruppen sich zu einer größeren Gruppe vereint und eine „Ṭarīqa“, d.h., ihren eigenen Pfad oder Weg gebildet. Die Ṭarīqa trug daraufhin dann den Namen ihres Gründers. Es gibt heute überall in den islamischen Gesellschaften verschiedene Gruppen, die sich als Ṭarīqa bezeichnen und unter dem Namen ihrer jeweiligen Gründer operieren, wie z.B. die Gruppe an-Naqšbandiya, die in der Türkei bekannt ist oder ar-Rifaiy, im Irak. Genauso wie bei den früheren Gefährten des Propheten Mohammed, wie Abu al-Darda (gest. 652 n.Chr.), Abu Ther Algifari (gest. 652 n.Chr.), Ammar bin Yasir (gest. 657 n. Chr.) oder Anderen, die sich zu Gegnern der ungerechten Sozialpolitik des dritten Kalifen Uthman erklärten, und auf der Front der frommen protestierenden Muslime standen, haben sich auch später im 9. und 10. Jahrhundert und vor allem in Basra, Kufa, Bagdad (Irak) und in Ägypten Sufi-Größen für die Gerechtigkeit eingesetzt und sich gegen die Sozialpolitik der politischen Machthaber in den islamischen Gesellschaften gestellt. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Sufis ist Rābi‘a al-̔Adawiyya (gest. 801 n.Chr. in Basra, Irak). Die bekannteste Geschichte von ihr erzählt, wie sie in den Straßen von Basra herumlief mit einem Wassereimer in einer Hand und einer Fackel in der anderen. Als sie gefragt wurde, warum sie das tue, antwortete sie: Ich will Feuer ans Paradies legen und Wasser in die Hölle gießen, damit diese beiden Schleier verschwinden und es deutlich wird, wer Gott aus Liebe und nicht aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbetet.135 Rābi‘a al-̔Adawiyya war eine Dichterin und Philosophin. Ihre Dichtungen hat sie fast gänzlich der Liebe zu Gott gewidmet. Das taten im Übrigen die meisten Dichter des Sufismus. In der islamischen Literatur wurde Rābi‘a al-̔Adawiyya später mit dem Beinamen „Märtyrerin der Göttlichen Liebe“ bekannt. Unter den männlichen Sufi-Größen war Hussein Mansur al-Halaǧ (858-922 n.Chr.) in Bagdad der bekannteste Vertreter. Er wird auch „der größte Märtyrer der Sufis“ genannt, weil er auf eine sehr brutale Art und Weise in Bagdad im Jahre 922 n.Chr. gefoltert und umgebracht wurde. Der Hauptgrund dafür war seine Vorstellung von der Vereinigung mit Gott, die ihn dazu brachte in den Märkten Bagdads zu schreien: „Ich bin die Wahrheit.“ Die absolute Wahrheit für die Muslime ist Gott selbst und keines seiner Geschöpfe. Al-Halaǧ hatte aber seine Aussage „Ich bin die Wahrheit“ so erklärt, dass seine Anwesenheit ein Teil der göttlichen Existenz sei, deshalb stecke in ihm die göttliche Wahrheit. Diese Erklärung wurde natürlich von den Machthabern und den orthodoxen Muslimen nicht akzeptiert. 135 As-Sayid Ǧāsim, Azīz: Mutaṣawifat Baġdād (Arabisch), Mu ̔assat ar-Risalah, Paris, 1994. 132 Der Islam in der Diskussion Diese Vorstellung von der Vereinigung mit Gott wurde später in der islamischen Literatur als die radikalste dargestellt. Die gemäßigte Vorstellung dieser Art wurde dann den anderen Philosophen der Sufis zugeschrieben. Diese sieht eine solche Vereinigung als eine geistliche, seelische und nicht als eine existenzielle Vereinigung. Zu dieser SufiGruppe gehörte u.a. Abu Hamid al-Ġazālī (1058-1111 n.Chr.). Al-Ġazālī zu beurteilen ist nicht einfach. Er selbst schrieb, er veröffentliche einen Teil seiner Ideen für die allgemeine Bevölkerung, den anderen aber behalte er sich und der Elite vor. Er hat sich in mehreren Epochen seines Lebens zwischen Theologie und Philosophie bewegt und keine endgültige Entscheidung getroffen. Der Streit zwischen ihm und Ibn Rušd (siehe oben) gehört zu einer Epoche seines Lebens, in der er sich für die Theologie und gegen die Philosophie entschieden hatte. Eine andere philosophische Richtung wurde in den islamischen Gesellschaften durch Al Šihābu d-Dīn as-Suhrawardī verbreitet. As-Suhrawardī wurde 1153 n.Chr. in Iran geboren und starb 1191 n.Chr. in Syrien. Nach seinem Studium in Asfahan, lebte er in Anatolien und dann in Syrien, wo er in Aleppo für König aẓ-Ẓāhir, den Sohn Saladins, als Berater arbeitete. In seiner Philosophie betrachtete as-Suhrawardī das Licht als Ursprung des gesamten Universums und als erste Quelle des Wissens. Das Licht, so erklärte er, sei die Wahrheit, die man nicht definieren könne. Durch das Licht könne man aber über alle anderen Dinge Wissen gewinnen und sie dann definieren. Aus dieser Schule hat sich eine Philosophie entwickelt, die das gesamte Universum als die einzige existierende Realität im Leben betrachtet. Auch die Existenz Gottes ist mit der Existenz dieses Universums verbunden. Der bekannteste Vertreter dieser Schule ist Ibn al-̔Arabī (geb.1165 in Andalusien, gest.1240 n.Chr. in Damaskus). Ibn al-̔Arabī hat viele Schriften hinterlassen, die wichtigsten sind seine Tagebücher aus den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens. Diese Tagebücher gelten als wichtige Quelle des Sufismus. Seine Ideen wurden dann später von vielen bekannten muslimischen Sufis, wie z.B. von Ǧalāl ad-Dīn ar-Rūmī vertreten und weiter verbreitet. Die wichtigsten Ideen Ibn al-̔Arabīs sind: • Die Einheit des Universums, wobei er die Existenz aller Teile des Universums nur in Verbindung miteinander sieht, auch die Existenz Gottes. • Die Schöpfung ist für ihn eine ständige Umwandlung von einer Situation zur anderen. Die Welt hat keinen zeitlichen Anfang und wird auch kein Ende haben. Die Umwandlung geschah nach al-̔Arabī zunächst bei dem Metall, dann bei den Pflanzen, und dann bei den Tieren und als letztes kam der Mensch. Er hat den letzten Umwandlungsstand einer Situation als Anfang einer neuen Situation gesehen. So war der letzte Entwicklungsstand des Metalls in Form von Trüffeln der Anfang der Pflanzen, der letzte Entwicklungsstand der Pflanzen in Form einer Palme der Anfang der Tiere und der letzte Entwicklungsstand der Tiere in Form eines Affen der Anfang des Menschen. Das bedeutet Folgendes: die Umwandlung Die islamische Philosophie als Teil der Kultur 133 der Elemente des Universums von den einzelnen in mehrere, von der absoluten Existenz zur spürbaren Existenz und von dem Unbekannten zum Bekannten. • Der vollkommene Mensch: Vollkommen wird hier von Ibn al-̔Arabī nicht im moralischen Sinne verstanden, sondern im anthropologischen. Für ihn ist der Mensch die Wahrheit der Wahrheiten, die vollkommene Wahrheit. Im wissenschaftlichen Sinne gilt für ihn das gewonnene Wissen als die Basis der Existenz dieser Wahrheit. Und im kosmopolitischen Sinne so, dass der Mensch als Symbol für das ganze vollkommene Universum steht. • Die statischen Synonyme des Universums: Das bedeutet, dass es für alle Bestandteile des Universums Synonyme sowohl in der metaphysischen als auch in der physischen Welt gibt. Diese Synonyme stellen die Basis der Schöpfung dar. Kein Geschöpf ist, nach dieser Theorie, aus dem Nichts gekommen. Aufgrund der ersten Annahme nämlich der Einheit des Universums, glaubte Ibn alA ̔ rabī an die Einheit aller Religionen. Nach seiner Meinung sei die Gottheit bei den verschiedenen Glaubensrichtungen nichts anderes als Reflexion des absoluten Gottes. Deshalb dürfe der vollkommene Mensch nicht an die eine Reflexion glauben und die andere ablehnen. Er müsse in jeder dieser Reflexionen Gott sehen, weil Gott sich in jedem seiner Geschöpfe wiederfindet. Auch wenn der Mensch zu einem Baum oder einem Stein oder einem Tier oder einem Stern oder auch einem Menschen bete, so betet er zu einer Erscheinung Gottes. Man bete zum einen einzigen Gott, in einer seiner Erscheinungen, weil Gott überall zu finden sei, da im koranischen Vers in Sure 2,115 steht: Gottes ist der Osten und der Westen. Wohin ihr euch auch wenden mögt, dort ist das Antlitz Gottes. Gott umfasst und weiß alles. (AK). Auch damit hängt für Al Arabi der persönliche Glauben zusammen. Jeder Mensch darf seinen eigenen Glauben haben. Die Wege zu Gott, meinte Ibn Arabi, seien so zahlreich wie die Zahl der gesamten Menschheit. Diese Wege unterscheiden sich voneinander. Es gibt kurze und lange Wege, sie führen aber alle gerade zu Gott. Der vollkommene Mensch kenne seinen Weg zu Gott, wie es im Koran in der Sure 3,3-4 steht: Und Er hat die Tora und das Evangelium herabgesandt. Zuvor als Rechtleitung für die Menschen, und Er hat die Unterscheidungsnormen Herabgesandt. (AK). Der bereits im Zusammenhang mit Ibn al-̔Arabī erwähnte Ǧalāl ad-Dīn ar-Rūmī (12001273 n.Chr.)136, genannt „Maulana“, unser Schutzbefohlener, stammte aus Persien, lebte und lehrte aber in Konya, einer Stadt in der heutigen Türkei. Er gilt als einer der größten Philosophen der islamischen Welt. Ar-Rūmī war der Philosoph der Liebe. Seine wunderschönen Liebesgedichte haben ihn in der gesamten islamischen Welt bekannt gemacht. 136 Schimmel, Annemarie: Die Zeichen Gottes, C.H. Beck, 1995, S. 11ff. 134 Der Islam in der Diskussion Er gründete im 13. Jahrhundert den Mevlevi-Orden. Dieser Sufi-Orden trägt heute noch den Namen „Orden der tanzenden Derwische“ und ist in Europa der bekannteste SufiOrden. Die spezielle Art der Tanzbewegungen ist eine Gebetsart, in der der Derwisch die Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellt. Die Sufis drehen sich mit dem gesamten Körper und mit horizontal nach rechts und nach links ausgestreckten Händen bei höchster Konzentration, um einen fixierten Punkt auf der Tanzfläche, sodass die Handunterfläche der rechten Hand in die Richtung des Himmels zeigt, während die Handunterfläche der linken Hand zum Boden der Tanzfläche weist. Damit verbindet der Derwisch den Himmel mit der Erde durch den Menschen, der bei dieser Verbindung einen Höhepunkt der Spiritualität erreichen kann. 1924 n.Chr. wurde der Mevlevi-Orden in der Türkei unter Kemal Atatürk verboten. Trotzdem hatte er dort eine große Zahl von Sympathisanten. Heute aber stellen die Tanzdarbietungen der Derwische eine wundervolle Seite der islamischen Kultur dar. Die Philosophie überhaupt, und nicht nur die islamische Philosophie, wird von den Islamisten als eine eigenständige Wissenschaft abgelehnt. Sie versuchen, die Menschen davon fernzuhalten, weil man im philosophischen Denken viele Widersprüche ihrer Lehre entdecken, und damit ihre Behauptungen über den Glauben als Ideologie entlarven kann. In vielen Ländern, in denen islamistische Bewegungen Einfluss auf die Gestaltung der schulischen Lehrpläne nehmen können, wird das Fach Philosophie gestrichen oder nicht angeboten. 12 Unser Gott und euer Gott ist einer Vorstellungen von einer unbekannten höheren Gewalt haben die Menschheit seit ihrer Erschaffung begleitet.137 Viele Völker haben nicht nur an eine höhere Gewalt geglaubt, sondern an mehrere. Es gab Zeiten, in denen jede Stadt ihre eigene Gottheit hatte. Dadurch war das Phänomen von mehreren Gottheiten auf kleinem Gebiet sehr verbreitet. Dabei hat auch eine große Rolle gespielt, dass keine Stadt versuchte, anderen Städten ihre Gottheit aufzuzwingen. Nur im Fall eines Krieges war es möglich, dass der Sieger die Gottheit der Besiegten vernichtete und an deren Stelle seine eigene einsetzte. Auf diese Art und Weise entwickelte sich die Vorstellung von stärkeren und schwächeren Gottheiten. Manche Völker ließen ihre Gottheit nach einem Sieg gegen ein anders Volk, die Gottheit des besiegten Volkes wieder zum Leben erwecken, um sie als Dienerin der starken und siegreichen Gottheit zu präsentieren. Mit diesen und anderen Maßnahmen, z.B., dass den Gottheiten magische Kräfte zugeschrieben wurden und dabei unbegrenzte Gewalt besitzen, gewann die starke Gottheit neue Eigenschaften hinzu. Sie wurde berühmter als die anderen und schufen und dadurch wurde ihnen mehr Respekt entgegengebracht nicht nur von ihrem Volk, sondern auch von den benachbarten Völkern. Gleichzeitig versuchten die politischen Herrscher Eigenschaften ihrer Gottheiten auf sich selbst zu übertragen. Wenn wir heute diese Gedanken und Vorstellungen von einer unsichtbaren, aber starken und gewaltigen Gottheit Religion nennen, so muss man sich mit der Entwicklung der verschiedenen Gesellschaften auf der Erde beschäftigen. Denn in jeder Gesellschaft hat sich eine Religion je nach der Lebenssituation dieser Gesellschaft entwickelt. Das religiöse Phänomen ist daher ein soziales Phänomen, welches von den heutigen Interpretationen als Reaktion auf die Verhältnisse der damaligen Gesellschaft verstanden und dargestellt wird. Der soziale Charakter des religiösen Phänomens hat viele Menschen in den verschiedenen Gesellschaften für die Religion gewonnen, weil man sich dadurch eine Verbesserung der herrschenden, ungerechten sozialen Verhältnisse erhoffte. Auf der arabischen Halbinsel, dem Entstehungsort des Islam, waren diese Phänomene auch vor dem Islam schon bekannt. Der Islam zielte darauf ab diese Situation zu verändern und zu einer einzigen Gottheit, zum Glauben an den einen Gott, also zum Monotheismus, aufzurufen. Aber auch in späteren Zeiten des Islam haben sich die muslimischen Theologen und Philosophen über ihre Vorstellungen von Gott gestritten. Der Sufismus hat diesen Streit noch heftiger gemacht, indem er nicht nur die Gottheit alleine betrachtet, sondern sie nur in Verbindung mit der Verschmelzung zwischen Mensch und Gott in einer bestimmten Phase des Lebens verstanden hatte. Der Gedanke der Gottheit auf der arabischen Halbinsel hat sich eigentlich aus dem arabischen Begriff „al-ʼaluhia“ entwickelt. Dieser Begriff bedeutet „die Gottheit“ oder „das Göttliche“. Wenn man diesen Begriff auf die damaligen sozialen Verhältnisse des Lebens bei den Menschen bezieht, so findet man eine große Verbreitung dieser Idee 137 Der Titel des Kapitels ist ein Koranzitat und findet sich in: 29,46 (AK). 136 Der Islam in der Diskussion der Gottheit: Überall in der Gesellschaft konnte jeder Stamm, jede Sippe, ja sogar jede Familie eine Gottheit haben, die als das heiligste Wesen betrachtet wurde, welches immer im Zentrum des Lebens der Gesellschaft, aber auch dem der einzelnen Personen stand. Diese Gottheiten waren nicht auf ein Geschlecht fixiert. Die verschiedenen Gottheiten waren, nach der arabischen Grammatik, männlichen und weiblichen Geschlechtes. Man hat aber feststellen können, dass die Sumerer und die Babylonier den Begriff „die Herrin“ für eine Gottheit bevorzugten. Für diese Völker lagen die Stärke und Macht dieser Hoheit, der Herrin, in ihren mütterlichen Eigenschaften wie Zärtlichkeit, Zuneigung und Liebe. Deshalb gab es bei diesen Völkern mehrere Herrinnen als Symbole der göttlichen Hoheit. So gab es z.B. die Große Herrin, die mehr Macht als die anderen besaß. Oder die Herrin der Stadt oder die Herrin der Berge oder die Herrin der Heilung usw. Im alten Syrien z.B. gab es neben dem Gott Baal, die Herrin Astarte. Im alten Babylonien, bei den Sumerern und bei den Kanaanitern wurden die Göttinnen als Symbole für Mutter, Schwester, Tochter und Geliebte verstanden, wodurch man mit diesen Symbolen Liebe, Gnade, Fruchtbarkeit und Geborgenheit verband. Die Verwendung des Begriffes Herrin war für die Völker des alten Syriens viel sympathischer als der Begriff „Herr“, eben wegen der oben genannten Eigenschaften. Deshalb findet man in jeder Stadt und in jedem Dorf eine oder mehrere Herrinnen, die die Gottheit darstellen. Die Häuser oder Orte, die als Wohnorte der Gottheit galten, wurden nach der Verbreitung des Christentums in diesen Gebieten zu Kirchen umgewandelt. Aus diesem Grund finden wir kaum einen Ort, in dem es keine „kanist as-Sayida“, Kirche der Herrin, gibt. Dieses Phänomen zeigt sich sehr schön in den Bergregionen des Libanons, wo in jedem Dorf eine „kanisat as-Sayida“ zu sehen ist. Der Name der Kirche wird mit dem Namen des Ortes und der Herrin zusammengesetzt. So heißt z.B. Die Kirche im Ort Hasroun „die Kirche der Hasroun-Herrin“. Diese Namen verloren allerdings allmählich an Bedeutung, nachdem man die Bezeichnung „as-Sayida“ mit dem Namen Maria verband. Diese Art der Namensgebung für die Gottheit verbreitete sich später auf der arabischen Halbinsel. Die Beduinen, also die Bewohner der arabischen Halbinsel, haben ihren Gottheiten weibliche Namen gegeben. Am bekanntesten waren die Göttinnen Lat, Manat und Uzza. Die Araber betrachteten die drei als Töchter des großen Gottes. Über die Juden und Christen war den Arabern zwar schon der Gott Abrahams bekannt, er war aber für sie ein Gott in der Ferne, mit dem sie nicht viel und nicht direkt zu tun hatten. Wichtiger als dieser Gott waren für sie ihre drei Gottheiten, die sie jeden Tag sehen und berühren, für die sie auch beten und von denen sie auch etwas erbitten konnten.138 Die bekannteste dieser Göttinnen war die Gottheit Lat, deren Name später von den Arabern der arabischen Halbinsel zu Aaliha weiterentwickelt wurde. Dieser Begriff war dann das Zeichen aller Gottheiten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dies be138 Vers 53,19-20: „Habt ihr Lat und Uzza gesehen. Und auch Manat, diese andere, die dritte?“ (AK). Unser Gott und euer Gott ist einer 137 deutet, dass die geschlechtlichen Kategorien der Gottheiten keine Rolle für deren Verehrung spielten. Die Antwort auf die Frage, wie es zum Begriff „ʼilah“ gekommen ist, bleibt schwierig. Man kann lediglich von verschiedenen Theorien sprechen. Die eine begründet diese Entwicklung mit der Tendenz der arabischen bzw. aramäischen Zunge, die langen Vokale innerhalb des Wortes auszudehnen und die Endungen zu kürzen. Die andere Theorie führt diese Veränderung auf den langen „a“-Laut der arabischen Sprache zurück. Dies bedeutet, dass die Buchstaben vor diesem „a“ im Wort hell und lang ausgesprochen werden müssen. Als der Islam auf der arabischen Halbinsel im Jahre 610 n.Chr. entstand, wollten Mohammed und seine ersten Anhänger das schon vorhandene, aber noch schwache Phänomen des abrahamithischen Gottes stärken, indem man aus„ʼilah“, „al-ʼilah“, machte. „Al“ ist der Artikel der arabischen Sprache, mit dem man die Bestimmtheit eines Begriffes darstellen kann. Durch das Hinzufügen des Artikels wurde gezeigt, dass nur vom Gott Abrahams die Rede ist, wenn man überhaupt von Gott spricht. Es geht um den Gott, der sich durch die neue Botschaft Mohammeds erneut offenbarte, um die früheren Botschaften von Adam, Noah, Mose und Jesus zu vollenden. Wenn man das Wort „ʼilah“ nach arabischem Schreibgebrauch mit dem arabischen Artikel „al“ zusammenschreibt, so entsteht der Begriff ALLAH. Dieser Begriff ist der arabische Name Gottes, welcher von allen Muslimen in der Welt übernommen worden ist und auch von arabischen Christen verwendet wird. Dieser Name bedeutet aber nicht anderes als Gott der sechs wichtigsten Propheten im Islam: Adam, Noah, Abraham, Moses, Jesus und Mohammad. In einer patriarchalischen Gesellschaft, wie sie auf der arabischen Halbinsel herrschte, musste Gott männliche Eigenschaften haben, wie stark, mächtig, groß usw., weil diese Eigenschaften Symbole des Überlebens und des Respekts darstellten. Diese Eigenschaften wurden nur den Männern zugeschrieben. Deshalb durfte Gott nichts anderes als männlich sein. Man wollte aber nicht nur einen strengen, harten Gott haben, und schrieb ihm deshalb auch noch andere Eigenschaften zu, wie z.B. Barmherzigkeit, Gnade oder Liebe und Vergebung. Dieses Problem der Bestimmung des göttlichen Geschlechtes beschäftigte viele muslimische Theologen und Philologen. Der Sprachwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid schreibt darüber Folgendes: „Das Problem beginnt ja bereits mit dem Personalpronomen, mit dem wir über das Göttliche sprechen– meist lautet es „Er“. Zwangsläufig verwenden wir eine geschlechterdifferenzierte Sprache, als ob Gott einem bestimmten Geschlecht zugehört. Dabei ist es nur unsere Sprache, die es so erscheinen lässt. Wir merken es erst, wenn wir es uns einmal bewusst machen: Gott lässt sich nicht zutreffend als ein Er bezeichnen, genauso wenig wie als eine Sie oder ein Es. Wir versuchen hier, etwas viel Komplexeres 138 Der Islam in der Diskussion mit unserer Sprache zu erfassen, und alle Begriffe bleiben notwendig ungenügend. Und wieder gelangen wir zu der Einsicht: Wir brauchen beide unserer Vermögen, die Vorstellungskraft und das rationale Denken“139 Als der Koran, das heilige Buch der Muslime, in der Zeit zwischen 610 n.Chr. und 632 n.Chr. offenbart wurde, hat man den Namen Gottes, Allah, mit verschiedenen Attributen kennengelernt. Diese Attribute wurden vom Koran selbst als die schönsten Namen Gottes definiert, wie es beispielsweise in 7,180 steht: Gott gehören die schönsten Namen. So ruft ihn damit an und lasst die stehen, die über seine Namen abwegig denken. (AK).140 Man hat insgesamt 99 Attribute Gottes im koranischen Text gefunden und sie für das tägliche Leben der Muslime in verschiedenen Situationen verwendet.141 Keine muslimische Gruppe hat sich so mit diesen Eigenschaften Gottes beschäftigt wie die islamischen Mystiker. Nach ihrer Auffassung kann nur der Mensch allein sein Verhältnis zu Gott regeln, indem er ihn liebt. Sie haben in diesen Eigenschaften Gottes mehrere Wege zu Gott gesehen, die jeder Mensch, der Gott liebt, finden könne. Deshalb brauche man keine Institutionen oder Organisationen, die dem Menschen diesen Weg zeigen. Der bekannte Mystiker Ibn al-̔Arabī schrieb: „Ich folge der Religion der Liebe, wohin immer ihre Reittiere ziehen.“142 Wenn man alle 99 Eigenschaften oder Namen Gottes im Islam analysieren möchte, so kann man sie in folgenden Gruppen unterteilen: Gruppe der Liebe Gottes zu allen seinen Kreaturen: Der Liebevolle, der voller Geduld, voller Verzeihung. Gruppe der Einheit und Absolutheit Gottes: Stifter der Sicherheit, der alles fest in der Hand hat. Gruppe der schöpferischen Tätigkeit Gottes– Schöpfer, Erschaffer. Gruppe der Macht und Souveränität Gottes: Der, der Macht verleiht, der Mächtige. Gruppe, die Gott als sittliche Norm und als Richter darstellt: Der Richter, der Gerechte. Gruppe, die sich mit seiner Strenge und Strafe beschäftigt: Der, der niedrig macht, der erniedrigt. Gruppe, die seine Barmherzigkeit und Gnade offenbart: Der Erbarmer, der Barmherzige. 139 Abu Zaid, Nasr Hamid und Sezgin, Hilal: Mohammed und die Zeichen Gottes, Freiburg 2008, S. 96. 140 Vgl. auch:17,110, 20,8 und 59,24 (AK). 141 Ball, Hannes; Hassan, Sadik; Schwendemann, Wilhelm und Wöhrlin, Traugott: Haus des Islam, Calwer 2008, S. 53-54. 142 Schimmel, Annemarie: Gärten der Erkenntnis, Eugen Dietrich, 1985. Unser Gott und euer Gott ist einer 139 Sehr viele dieser Attribute sind auch menschliche Eigenschaften. Und hier werden wir uns mit vielen Fragen beschäftigen müssen: Sind diese Eigenschaften eigentlich göttliche, die der Mensch von Ihm bekommen hat? Oder hat der Mensch diese Eigenschaften selbst für Gott erfunden? Kann man göttliche Eigenschaften auf die Menschen übertragen oder umgekehrt? Vielleicht können wir durch den Vergleich eines christlichen und eines muslimischen Textes, die einige dieser Eigenschaften beinhalten, der Beantwortung dieser Fragen einen Schritt näherkommen. Die Texte sind: das Vater Unser des Christentums und die Eröffnungssure des Korans. Die heute sowohl von evangelischen als auch katholischen Christen gebetete ökumenische deutsche Fassung des Vater Unsers lautet: Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Die Eröffnungssure des Korans lautet in ihren Versen 1-7: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Lob sei Gott, dem Herrn der Welten; dem Erbarmer, dem Barmherzigen, der Verfügungsgewalt besitzt über den Tag des Gerichtes! Dir dienen wir, und Dich bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, die Du begnadet hast, die nicht dem Zorn verfallen und nicht irregehen. (AK). In beiden Texten werden Wünsche der Menschen geäußert, deren Erfüllung man sich durch die Nähe zu Gott erhofft. Um diese Nähe zu erreichen, versucht der Mensch, bestimmte sanfte Türen zu Gott zu öffnen. Der Mensch hat eine bestimmte Ausdrucksweise ausgewählt, um sein Ziel zu erreichen. Und genau hier bestimmen Sprache und 140 Der Islam in der Diskussion Formulierung die Art der Ausdrucksweise, mit der man die Nähe zu Gott erreichen möchte. Diese Art der Ausdrucksweise hat also mit der Realität der göttlichen Eigenschaften nichts zu tun. Sie ist eine Formulierung, die der Mensch ändern und dabei immer noch dasselbe Ziel verfolgen kann. Die Formulierungen der beiden Texte verdeutlichen diese Ausdrucksweise, wenn wir etwa die Begriffe „die göttliche Kraft“ oder „die Gottheit im Himmel“, „die gnädige Gottheit“ usw. verwenden. Die islamische Theologie geht davon aus, dass diese Eigenschaften Gottes und ihre Formulierungen schon im Koran verankert sind und Gott selbst sich diese Attribute gegeben hat. Mit Gottes Hilfe aber kann der Mensch einen Teil dieser Attribute übernehmen und sich auch darin wiederfinden. Wenn wir nämlich sagen: Dieser Mensch ist barmherzig oder gnädig, so heißt das nicht, dass dieser Mensch die ganze Barmherzigkeit oder Gnade Gottes besitzt, sondern nur einen Bruchteil davon. Aus diesem Grund lehnt die islamische Theologie jede Art des Vergleichs zwischen Mensch und Gott ab. Bei der Beschreibung göttlicher Eigenschaften, die von den Menschen übernommen worden sind, verwendet man im Islam unterschiedliche Formulierungen für denselben Begriff. Wenn man z.B. über den Inhalt der Liebe Gottes und den Inhalt der Liebe bei den Menschen spricht, so kann man die Werte dieses Begriffes unterschiedlich betrachten, weil diese Werte unterschiedliche Inhalte haben. Der Begriff „Liebe“ bei Gott unterscheidet sich grundlegend von der menschlichen Liebe. Bei diesem Thema kommen wir auf eine der wichtigsten Differenzen zwischen Christentum und Islam zurück, nämlich die Bezeichnung „Vater“ für Gott und „Gottessohn“ für Jesus. Ich spreche hier ganz bewusst nicht von der Trinität, weil ich glaube, dass kein Problem beim Begriff des Heiligen Geist besteht, da er in den beiden Religionen vorhanden ist. Die Bezeichnung Gottes als „Vater“ kann im Islam nur metaphorisch verstanden werden. Jede andere Bedeutung kommt im Islam einer Gotteslästerung gleich. Wie schon erwähnt, lehnt der Islam jeden Vergleich zwischen Mensch und Gott ab, sodass Gott keine leiblichen Eigenschaften, wie der Mensch haben kann. Deshalb stellt die väterliche Eigenschaft Gottes eine Beschreibung dar, die alle Menschen als Kinder Gottes versteht. Zum Schluss ist festzustellen, dass die göttlichen Attribute oder Namen, in welcher Sprache auch immer, nur symbolischen Wert haben können, die sich je nach Art der Anwendung unterscheiden. Die Verwendung und die jeweilige Formulierung sind nicht mit einem bestimmten Geschlecht verbunden, da alle diese Attribute Gottes geschlechtsneutral sind. Es geht um die Darstellung der Inhalte bestimmter Symbole, wofür wir, die Menschen, unsere eigene Vorstellung in der Sprache, die wir ausgewählt haben, zum Ausdruck bringen wollten. Gleich welche Sprache wir benutzen, der Inhalt dieser Symbole bleibt unverändert, was für alle Religionen gilt, die monotheistisch orientiert sind, also Judentum, Christentum und Islam. 13 Integration oder Assimilation? 13.1 Einleitung Über die etwa vier Millionen in Deutschland lebenden Muslime143, mit ihren verschiedenen Nationalitäten und verschiedenen Status, wird immer wieder sehr viel sowohl von den Befürwortern als auch von den Gegnern der Anwesenheit dieser Muslime in Deutschland und in den verschiedenen Medien diskutiert. Eine Frage, die ganz besonders von den Gegnern sehr oft in den Medien gestellt wird, lautet: Passen diese „Ausländer“ mit ihren Sitten, Gebräuchen und ihrer Religion überhaupt zur deutschen Gesellschaft mit ihrer vorwiegend christlichen Tradition? Viele dieser Muslime haben das Gefühl, dass sie ein Teil dieser Gesellschaft sind, obwohl sie eine andere Kultur und andere Lebensform haben. Und deshalb wollen viele von ihnen dieses Gefühl, zu dieser Gesellschaft zugehörig zu sein in ihrem täglichen Leben, realisieren. Dies bedeutet: Sie wollen sich in dieser Gesellschaft integrieren, ohne ihre eigene Werte und Kultur zu verlieren. Natürlich versuchen die radikalen Muslime oder die Islamisten unter ihnen sich in vielen Fällen gegen diese Bestrebung quer zu stellen. Die Islamisten versuchen, die Integration als Assimilation zu definieren und verbreiten damit Angst und Schrecken unter diesen Menschen, die oftmals nicht ausreichend gebildet sind, um zwischen den beiden Begriffen unterscheiden zu können.144 Wie kann man auf solch ein Verhalten reagieren? Die Integrationspolitik der BRD beschäftigt sich mit allen in Deutschland lebenden Menschen, die selbst oder deren Eltern bzw. Großeltern aus dem Ausland stammen und für lange Zeit in Deutschland bleiben (wollen). Diese Menschen teilen sich in die Gruppen145 • • • • AussiedlerInnen GastarbeiterInnen AsylbwerberInnen andere ZuwandererInnen Die Gruppen der Aussiedler und der Zuwanderer sind nicht Gegenstand unserer Untersuchung, weil für sie, und ganz besonders für die Aussiedler, sogenannte Eingliederungsmaßnahmen entwickelt wurden, mit Hilfe derer sie in die deutsche Gesellschaft integriert werden sollen. Maier schreibt zu diesem Problem auf Welt Online: „Vor dem Hintergrund der Debatte über mangelnde Integrationsbereitschaft von Ausländern hat die Bundesregierung die bisherigen Eingliederungsmaßnahmen in 143 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Integrationsportal, vom 09.06.2010. 144 Wie z.B. Die Reden des islamistischen Hasspredigers Pierre Vogel. 145 Siehe dazu auch: Reißlandt, Carolin: Migration und Integration in Deutschland- eine Einführung/ Bundeszentrale für politische Bildung bpb, vom 27. Juli. 2005. 142 Der Islam in der Diskussion einem Programm gebündelt. Die vom Bundesamt für Migration erarbeitete Bestandsaufnahme wurde vom Kabinett gebilligt. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sprach von einem „Beitrag zur Sachlichkeit in der öffentlichen Debatte um Integration“. Ziel des Programms ist es, die unterschiedlichen Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen zusammenzufassen und zu systematisieren.“146 Wir wollen uns hier mit der auf die Gruppen der Asylanten und sog. „Gastarbeiter“ ausgerichteten Integrationspolitik der BRD beschäftigen. Manche Menschen aus diesen beiden Gruppen bleiben allerdings von den Maßnahmen der Integrationspolitik ausgeschlossen, wie z.B. die meisten abgelehnten Asylbewerber, oder Asylbewerber, über deren Anträge auch nach langer Wartezeit noch keine Klarheit besteht, weil ihr Herkunftsland noch nicht eindeutig festgestellt werden konnte. 13.2 Die Gruppe der sog. „Gastarbeiter“ Die erste Generation ausländischer Arbeitskräfte kam zu Zeiten des beginnenden Wirtschaftswunders Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts ins Land, angeworben durch die deutsche Wirtschaftspolitik147. Deren Hauptziele waren • die weitere Stärkung des Wirtschaftswachstums, • die Entlastung des Arbeitsmarktes, • die Vermeidung inflationärer Lohnsteigerungen. Es wurden Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern aus Jugoslawien, Italien, Griechenland und der Türkei geschlossen. Über die sozialen oder politischen Konsequenzen dieser Politik wurde damals nicht nachgedacht. Allerdings hat man wohl stark damit gerechnet, dass die Gastarbeiter irgendwann in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Manche, ganz besonders die türkischen Arbeiter, hatten das auch vor. Tatsache ist aber, dass sich in Bezug auf eine Rückkehr in die Heimatländer weder die Wünsche der deutschen Wirtschaftspolitik erfüllten, noch die Vorstellungen der türkischen Arbeitnehmer verwirklichen ließen. Die türkischen Arbeitnehmer nehmen unter den Gastarbeitern insgesamt eine Sonderstellung ein. Anders als etwa Italiener und Griechen, die, auch aufgrund der späteren EWG-/ bzw. EG Beziehungen, bessere und lockerere Arbeitsbeziehungen mit der deutschen Wirtschaft bzw. zur deutschen Gesellschaft entwickelten, zogen sich ihre türkischen KollegInnen der ersten Generation immer stärker zurück, um ihr eigenes Leben, quasi ein Leben in der Diaspora, zu führen. Ihr Alltag bestand aus der täglichen Arbeit, sehr oft auch mit Überstunden, Rückkehr in die meist überbelegten Wohnunterkünfte einfachsten Standards, Abendessen mit oder ohne gesellschaftlichem Zusammensein, Schlafen, frühes Aufstehen für die Arbeit am nächsten 146 Welt Online, vom 08.09.2010. 147 Reißlandt, Carolin: Migration und Integration in Deutschland- eine Einführung/ Bundeszentrale für politische Bildung bpb, vom 27. Juli. 2005. Integration oder Assimilation? 143 Tag. Und so ad Infinitum, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr – ohne einen anderen Gedanken zu haben, als, so bald wie möglich, viel Geld zu sparen, und dann nach Anatolien zur Familie zurückzukehren, in der Heimat ein Haus zu bauen und vom dann noch übrigen Geld dort zu leben. Von der deutschen Umgebung grenzten sich die türkischen Arbeitnehmer der ersten Generation komplett ab. Mit ihrer Lebensplanung brauchten sie keinen Kontakt zur deutschen Gesellschaft, denn am Arbeitsort wurde, da die meisten KollegInnen Landsleute waren, fast ausschließlich türkisch gesprochen. Für Unternehmungen am Feierabend fehlten Zeit und Kraft, und so blieb man auch nach der Arbeit unter sich. Die Betriebe interessierten sich nicht für die Freizeitbeschäftigungen ihrer MitarbeiterInnen. Nachdem man später immer öfter mit dem Gedanken spielte, den Aufenthalt in Deutschland zu verlängern, und den Zuzug der restlichen Familie plante, hat sich dieses Bestreben mit den Jahren immer weiter verstärkt. So versuchte man im Laufe der Zeit, sich einen Heimatersatz in der Diaspora zu schaffen. Es ergab sich dann eine neue Situation, in der man an der Realisierung dieser Gedankenspiele arbeitete. Als Reaktion auf die Ölkrise im Jahr 1973 sprach die BRD einen Anwerbestopp aus. Die deutsche Regierung wollte damit zwar auch die Zahl der türkischen ArbeitnehmerInnen reduzieren, deren Rückkehr in die Heimat standen jedoch mehrere Faktoren entgegen, darunter die damalige schlechte wirtschaftliche Lage in der Türkei, und die diversen internationale Abkommen, die das Recht von Wanderarbeitern auf Nachzug ihrer Familien festschreiben, wie z.B. Art.9 der europäischen Sozialcharta: Art.9.: „Jedermann hat das Recht auf geeignete Möglichkeiten der Berufsberatung, die ihm helfen soll, einen Beruf zu wählen, der seiner persönlichen Eignung und seinen Interessen entspricht.“ Die allmählich unter den türkischen Bürgern in der Türkei entstandene Vorstellung vom Traumland Deutschland, die besonders von jenen gehegt wurde, die bereits Verwandte in Deutschland hatten, führte dazu, dass diese Verwandten in vielen Fällen den Arbeitnehmern in Deutschland von einer Rückkehr in die Türkei abrieten. Und so hat sich schließlich die erste Generation der türkischen Arbeitnehmer in Deutschland etabliert. Aber auch die Entscheidung, in Deutschland zu bleiben und später einige Familienmitglieder nachzuholen, hat die Lebensweise der türkischen Arbeitnehmer der ersten Generation nicht verändert, im Gegenteil. Die Abgrenzung von der deutschen Gesellschaft nahm zu, da man auf Kontakte und Beziehungen mit der deutschen Bevölkerung gänzlich verzichten konnte. Man hatte nun von Landsleuten geführte Läden, 144 Der Islam in der Diskussion Cafés und Teestuben und Reisebüros, außerdem Moscheen und Gebetsstätten und vieles mehr. Man konnte auch ganz normal und ohne Störungen die religiösen und familiären Feste feiern. In den Arbeiterhochburgen Deutschlands hat sich neben der deutschen eine zweite Gesellschaft, eine türkische, entwickelt. An dieser Entwicklung war die deutsche Politik nicht reif. Durch die Nachzugsanträge wurde zwar deutlich, dass die türkischen Arbeitnehmer in Deutschland bleiben wollten und auch konnten, es wurde aber wenig unternommen, um diese Menschen in die deutsche Gesellschaft einzugliedern. Die Integration wurde lange Zeit vollständig vernachlässigt148. Nach der Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Unionsparteien im Jahre 1982 diskutierte man über die Verminderung der Zahl der türkischen Mitbürger. Aber, abgesehen vom 1983 verabschiedeten Rückkehrförderungsgesetz, welches ohne große Wirkung blieb, gab es keine nennenswerten Vorstöße. Die deutsche Politik reagierte erst, als es zu rechtsradikalen Übergriffen kam, wie die Brandstiftungen auf Asylbewerberheime in Mölln (1992) und Solingen (1993) sowie die Erfolge von rechtsradikalen Parteien. Ganz besonders in der kommunalen Politik in manchen Bundesländern. Man sah sich gezwungen, etwas zu unternehmen, um die neuen Spannungen in der Gesellschaft zu entschärfen. Die deutsche Regierung erarbeitete einige Vorschläge in Richtung Integration, darunter: 1. Erleichterung der Einbürgerung, 2. doppelte Staatsbürgerschaft, 3. Einbindung der ausländischen und einheimischen Organisationen in die Integrationsmaßnahmen wie Deutschunterricht für Ausländer. Für diejenigen türkischen Arbeitnehmer, die man als erste Generation bezeichnet und die mittlerweile das Rentenalter erreicht hatten, kamen diese Maßnahmen viel zu spät. Diese Gruppe wird von den Deutschen aufgrund ihrer Zurückhaltung von Anfang an und aufgrund ihres abgegrenzten Lebens in der Diaspora, aber auch wegen ihrer mangelhaften Deutschkenntnisse, als die unbekannteste Gruppe unter den ImmigrantInnen in Deutschland empfunden. Tarek Sen schrieb im Debattenmagazin vom März 2005 einen Artikel mit dem Titel Am Ende doch mit leeren Händen?, in dem er auch die Probleme der älteren Türken in Deutschland behandelt hat. Er versuchte diese Situation mit folgender Darstellung zu erklären: „Die Situation für ältere Türken hier in der Bundesrepublik stellt sich indessen relativ problematisch dar. Einen großen Teil ihres Lebens haben diese Menschen in der Bundesrepublik schwer gearbeitet und relativ wenig erreicht. Ihr Lebensziel, eine Rückkehr in die Türkei in Wohlstand und Ansehen, ließ sich häufig nicht realisieren. Hier in der Bundesrepublik haben sie es unter Umständen zu einem bescheidenen Wohlstand ge148 Zeit Online: Fehlende Integration kommt teuer, vom 22.01.2008. Integration oder Assimilation? 145 bracht, leiden aber unter vielfachen Einschränkungen. Dabei häufen sich die Probleme im gesundheitlichen, finanziellen und familiären Bereich. Die türkischen Rentner sind mit großen Hoffnungen in die Bundesrepublik gekommen und stehen am Ende doch mit leeren Händen da. Spätestens beim Ausscheiden aus dem Arbeitsleben gehen die letzten sozialen Kontakte zu Deutschen verloren. Generationskonflikte, finanzielle Probleme und eine zerstörte Gesundheit kennzeichnen nicht selten ihren Lebensabend.“149 Als zweite Generation bezeichnet man die Kinder der angeworbenen ausländischen Arbeitnehmer, die meistens in der Türkei geboren wurden und mit der Kultur ihres Heimatlands stark verbunden sind. Diese Generation hat aber eine bessere Beziehung zur deutschen Gesellschaft entwickelt als die erste Generation und konnte daher ein Leben in Deutschland führen, das sowohl durch deutsche als auch durch türkische Einflüsse geprägt wurde: „Die Zukunft der zweiten und dritten Generation der eingewanderten Türken liegt in Deutschland. Der Grad gesellschaftlicher Integration stellt sich allerdings für die erste und die zweite Generation unterschiedlich dar. Für die erste Generation, die sich jetzt dem Rentenalter nähert, gilt: Trotz all ihrer Bemühungen hat sie, im Wesentlichen bedingt durch fehlende Deutschkenntnisse und eine starke Verbundenheit mit dem Heimatland, ihre Anpassungsschwierigkeiten nicht überwinden können.“150 Die Angehörigen der dritten Generation wurden zum größten Teil in Deutschland geboren. Sie wuchsen in der deutschen Kultur auf und sind mir ihr vertraut, die Sprache macht ihnen keine Schwierigkeiten. Sie verspüren das Fremdsein in der deutschen Gesellschaft am meisten. Diese Generation sitzt sozusagen zwischen zwei Stühlen. Zuhause wird man täglich mit der türkischen Lebensweise konfrontiert, außerhalb des Hauses, in der Schule oder unter Freunden, beschäftigt man sich jeden Tag mit anderen Lebenswerten und -vorstellungen. Alle diese drei Gruppen mit ihren unterschiedlichen Beziehungen zur deutschen Gesellschaft und unterschiedlichen Deutschkenntnissen haben einen gemeinsamen Status bei den deutschen Behörden, sie sind „die Ausländer aus der Türkei“. Das Fehlen von Maßnahmen, die geeignet wären, diesen nun schon lange Zeit in Deutschland lebenden Menschen zur Integration in die deutsche Gesellschaft zu verhelfen, hat nach und nach zu sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen geführt. Diese Maßnahmen sollen in Verbindung mit der zweiten Gruppe, die ebenfalls unter der verfehlten Integrationspolitik der BRD leidet, nämlich die Gruppe der Asylanten, behandelt werden. 149 Republik: das Debattenmagazin, vom März 2005. 150 Republik: das Debattenmagazin, vom März 2005. 146 Der Islam in der Diskussion 13.3 Die Gruppe der Asylanten: Um in Deutschland Asylrecht zu erlangen, muss eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt sein Verfolgung aus politischen Gründen, Verfolgung aus religiösen Gründen, Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe. Nach Art. 16a151 des deutschen Grundgesetzes muss für einen Asylbewerber bzw. eine Asylbewerberin eine ernsthafte Gefahr, ausgehend von der Regierung des Heimatlandes, bestehen, um in Deutschland als Asylsuchende anerkannt zu werden. Dass dieser Artikel des Grundgesetzes auch Part des öffentlichen Diskurses ist, verdeutlicht etwa folgender Auszug aus der Berichterstattung der Wochenzeitschrift „Spiegel“: „Die Frage, wer asylberechtigt ist, ist in Art. 16a Grundgesetz geregelt und wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entsprechend entschieden. Um als asylberechtigt anerkannt zu werden, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Die antragstellende Person muss Verfolgung erlitten haben bzw. ihr muss Gewalt oder 151 Artikel 16a (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden. (3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. (4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen. (5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muss, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen. Integration oder Assimilation? 147 Freiheitsentzug mit hoher Wahrscheinlichkeit im Herkunftsland bei Rückreise drohen. Ehegatten und minderjährige Kinder von Asylberechtigten erhalten in der Regel ebenfalls Asyl (Familienasyl). Sogenannte „Asylerhebliche Merkmale“ sind zudem nach dem Wortlaut der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und politische Überzeugung (GFKFlüchtlinge). Allgemeine Notsituationen – wie Armut, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder Arbeitslosigkeit – sind damit als Gründe für eine Asylgewährung ausgeschlossen.“152 Seit den 1980er Jahren haben auch viele Menschen, die in schwierigen finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnissen leben, vom deutschen Asyl- bzw. Sozialleistungsgesetz Gebrauch gemacht. Im Jahr 1992 wurden in Deutschland 438.000 Asylanträge verzeichnet:153 Jahr Zahl der Asylanträge 1990 193.063 1991 256.112 1992 438.191 1993 322.599 1994 127.210 1995 127.937 1996 116.367 1997 104.353 1998 98.644 1999 95.113 2000 78.564 2001 88.278 2002 71.124 2003 50.563 2004 35.607 2005 28.914 2006 21.029 2007 19.164 2008 22.085 2009 27.649 2010 41.332 152 Spiegelonline / Politik, vom 06.Juli 2011 153 WIKIPEDIA / Die freie Enzyklopädie, vom 22.06.2011 Der Islam in der Diskussion 148 Nach der Verschärfung des deutschen Asylrechts und dem vereinbarten Asylkompromiss im Dezember 1992, Stichwort Drittstaatenregelung,154 wurden die Anhörungen der Asylbewerber oft recht oberflächlich durchgeführt, da die Entscheidung schon nach der Frage des Fluchtweges getroffen und der Asylantrag abgelehnt wurde. Die Ablehnungsquote betrug danach in den letzten 10 Jahren über 97%.155 Diejenigen Asylbewerber, deren Gesuch nach §16a des deutschen Grundgesetzes nicht anerkannt wurde, wurden entweder nach der Bestätigung der Ablehnung vom Verwaltungsgericht abgeschoben, oder sie wurden nach §51 und 53 des Ausländergesetzes geduldet und durften noch in Deutschland bleiben, weil die politischen Verhältnisse in ihren Heimatländern eventuell eine Gefahr für sie darstellten. Einige Auszüge aus dem betreffenden Gesetz verdeutlichen diese Umstände: AuslG § 51 Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter (1) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen einer politischen Überzeugung bedroht ist. AuslG § 53 Abschiebungshindernisse (1) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter unterworfen zu werden. (2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, wenn dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Todesstrafe besteht. In diesen Fällen finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung. (3) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, kann der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nicht in diesen Staat abgeschoben werden. 154 Diese Regelung sieht keine Notwendigkeit für einen Asylantrag in Deutschland, wenn die Asylsuchende Personen den deutschen Boden über ein Land betreten haben, in dem man auch einen Asylantrag stellen kann. 155 Siehe: Tabelle 9 des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Asyl in Zahlen, 15. Auflage über: Entscheidungen und Entscheidungsquoten seit 1997 in Jahreszeiträumen (Erst- und Folgeanträge). Integration oder Assimilation? 149 (4) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 686) ergibt, daß die Abschiebung unzulässig ist. (5) Die allgemeine Gefahr, daß einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können, und, soweit sich aus den Absätzen 1 bis 4 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen. (6) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat kann abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 54 berücksichtigt. Außerdem wurden in vielen Fällen diejenigen Asylbewerber in Deutschland geduldet, deren Herkunftsland nicht eindeutig festzustellen war. Die meisten geduldeten Asylbewerber müssen in Asylheimen wohnen und von Sozialhilfe leben, weil sie nicht arbeiten dürfen. Die Versuche der Asylbehörden, die Nationalität dieser Leute festzustellen, liefen oft ins Leere, da die Botschaften vieler Länder nicht mit den deutschen Behörden zusammenarbeiteten. Der Status dieser abgelehnten, aber geduldeten Asylbewerber, die seit langer Zeit in Deutschland leben, sollte geklärt werden. Eventuell sollten sie ins Integrationsprogramm aufgenommen werden. Sowohl die Gruppe der zuvor behandelten türkischen Arbeitnehmer als auch die Gruppen der Asylbewerber stammen hauptsächlich aus den arabischen oder islamischen Gesellschaften. Sie sind keine EU-Bürger, leben aber zum Teil seit langer Zeit in einem EULand, nämlich Deutschland, aber eben als Ausländer. Es fragt sich nun, ob es möglich sein kann, diese Ausländer in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, und, wenn ja, was in dieser Richtung unternommen werden kann. Mitte Juli 2007 hat nach langer Vorbereitung und mit vielen Schwierigkeiten der Integrationsgipfel in Berlin getagt: „Zuletzt waren es nur drei der türkischen Verbände, die dem Gipfel fernblieben. Als Grund wurde von ihnen angegeben, die in dem Gesetz unter anderem verankerte Neuregelung des Ehegattennachzuges sei diskriminierend, da sie nur für den Nachzug aus bestimmten Ländern (u.a. der Türkei) Deutschkenntnisse fordere. Laut ARD-Morgenmagazin (12. Juli 2007) seien die nicht teilnehmenden türkischen Verbände jedoch grundsätzlich bereit, an ähnlichen Treffen in Zukunft wieder mitzuwirken. Die Bundesregierung bekräftigte, dass die nicht teilnehmenden Verbände zu Folgetreffen wieder eingeladen würden. 150 Der Islam in der Diskussion Deutsche Politiker kritisierten die boykottierenden Verbände, da der Integrationsgipfel schließlich keine dritte Gesetzgebungskammer sei und sie sich an deutsche Gesetze halten müssen. Angela Merkel stellte klar, man stelle der Bundesregierung keine Ultimaten. Bisweilen war aber auch Verständnis für die Haltung der Verbände zu vernehmen: Renate Künast äußerte, Integration fände eben „nicht ein-, zweimal im Kanzleramt statt, sondern jeden Tag mitten in dieser Gesellschaft.“ Der zweite Deutsche Integrationsgipfel verabschiedete einen „Nationalen Integrationsplan“ mit insgesamt mehr als 400 Selbstverpflichtungen. Merkel beurteilte das Treffen und die Vorstellung des gemeinsamen Integrationsplans als „Meilenstein“ der Integrationspolitik. Der dritte Integrationsgipfel soll im Herbst 2008 stattfinden.“156 Vor diesem Gipfel hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Deutschland aufgefordert, die Beschäftigungschancen von Ausländern deutlich zu verbessern. Die Arbeitslosenquote von Migranten liegt stets höher als die der Deutschen, und zwar unabhängig vom Bildungsgrad. Bei den Akademikern liegt sie mit 12,5% sogar fast dreimal höher. Als Ursache dafür nannte die OECD u.a. die Diskriminierung. So müssen Menschen mit ausländisch klingendem Namen drei- bis viermal so viele Bewerbungen schreiben als ihre Mitbewerber mit „normalem“ Namen, bis sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen würden.157 Der Integrationsgipfel hat, trotz des Boykottes von mehreren türkischen Organisationen, in Berlin getagt und mehrere Probleme der Integration behandelt. Nach den Medienberichten bündelt der nationale Integrationsplan die Initiativen von Bund, Ländern, Kommunen, Wirtschaft und Verbänden, mit deren Hilfe die Eingliederung der 15 Millionen Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund verbessert werden soll.158 Welche Hindernisse stehen nun einer Integration im Wege? Wie können sie beseitigt werden, damit die Eingliederung der Ausländer im Allgemeinen und der Araber und Muslime im Besonderen zu erleichtern? Zunächst muss man davon ausgehen, dass es um eine Eingliederung bzw. Integration und keine Assimilation der in Deutschland lebenden Ausländer geht. Es geht um Maßnahmen, die das friedliche Zusammenleben in der deutschen Gesellschaft erleichtern und ermöglichen sollen. Von diesen Maßnahmen könnten die folgenden Bereiche angesprochen werden: Bildungssektor: Das Erlernen der deutschen Sprache ist der wichtigste Faktor und erste Voraussetzung für den Zugang zum Bildungssektor und muss daher als Maßnahme gefördert werden, die die Integration erleichtern kann. (Sprachkurse, Verbesserung des Schulsystems, Verbesserung der Einrichtungen für Kinder, Beratungseinrichtungen für die Verbesserung der Beziehung Schule/Eltern, zusätzliche Programme für die Analphabeten usw.). 156 WIKIPEDIA / Die freie Enzyklopädie, vom 28.10.2010. 157 Süddeutsche Zeitung, 12.07.2007. 158 Badische Zeitung, 13.07.2007. Integration oder Assimilation? 151 Kultureller Bereich: Es ist ein Zeichen des dynamischen Lebens einer Gesellschaft, wenn diese Gesellschaft fähig ist, die Vielfalt ihrer Kulturen in Harmonie zu bringen und die Unterschiede dieser Kulturen nicht als Verfremdung, sondern als Bereicherung zu betrachten. Die unterschiedlichen Kulturen in der Gesellschaft sollen sich nur ergänzen, und keine dieser Kulturen soll eine führende Rolle für die anderen spielen. In diese Richtung sollen die Bemühungen der Integration laufen, wenn alle Beteiligten in diesem Prozess dem Faktor „Kultur“ eine wichtige Rolle beimessen wollen. Sozialer Bereich: Integration soll bei der Familie, der kleinsten Einheit der Gesellschaft, beginnen. Dieser Bereich kann sich dann in Richtung Straße, Gemeinde, Stadtteile, Stadt, Gemeinwesen usw. vergrößern. Spezifische Programme sollen für jede Situation erarbeitet und vorbereitet werden. Solche Programme dürfen nicht von Oben diktiert werden, sondern müssen von den Betroffenen selbst erarbeitet werden. Um diesen Schritt zu ermöglichen, können die verschiedenen Aktivitäten in der Gesellschaft wie Sport, Feste, Veranstaltungen verschiedenster Art verwendet werden. Die Verwirklichung dieser Ideen kann nicht nur die Aufgabe des Staates sein. Der Staat kann dabei zwar mit seinen größeren Möglichkeiten sowohl im finanziellen als auch im organisatorischen Bereich sehr viel Hilfe leisten, aber die Beseitigung der Integrationshindernisse müssen auch von der Wirtschaft, von den ausländischen und einheimischen Verbänden, von allen religiösen Organisationen und Gemeinden in der Gesellschaft sowie von den Medien geleistet werden. Was die Medien angeht, so muss man hier einige Gedanken erwähnen. Die Medien könnten allein schon dadurch zur Beseitigung der Integrationshindernisse beitragen, wenn sie hier auf einen Teil ihres journalistischen „Prinzips“ „only bad news are good news“ verzichten würden. Es ist klar, dass manche Medien die spannenden und auch zum Teil furchterregenden Ereignisse so schnell wie möglich verbreiten wollen, um hohe Verkaufszahlen ihrer Zeitungen oder hohe Sendequoten zu erreichen. Dabei scheint ihnen jedoch nicht immer klar zu sein, welche Spannungen in der Gesellschaft sie damit verursachen. Wenn Zeitungen, die von Millionen Bürgern gelesen werden, über Mord, Totschlag, Diebstahl berichten, mit gleichzeitigem Hinweis auf die Beteiligung von Ausländern, wenn sie über ausländische „Räuberbanden“ und „Sozialschmarotzer“, „Asylbetrug“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ schreiben, so schaffen sie damit den Nährboden für ein Klima der Angst vor einer Islamisierung der deutschen Gesellschaft. Man kann daher von diesen Leserkonsumenten keine große Bereitschaft zur Unterstützung von Integrationsideen oder Integrationsprogrammen erwarten. Dies kann auch dazu führen, dass die radikalen politischen und religiösen Organisationen der Islamisten und ihre Hassprediger diese Berichte für die Verbreitung ihrer Hassideen ausnutzen.159 159 In Welt online erschien am 28.10.2010 folgende Notiz: „Radikale Muslime sollen in Deutschland ein gefährliches Netzwerk gebildet haben. Darin würden junge Menschen zu gewaltbereiten Gotteskrieger herangezogen. Das Netzwerk stehe in Kontakt zu islamistischen Terroristen.“ 152 Der Islam in der Diskussion Natürlich sind Presse- und Meinungsfreiheit unantastbare Rechte und gehören einfach zur Demokratie. Es wird hier aber keine Pressezensur oder Kontrolle über die Meinungsäußerung verlangt, sondern eine Medienarbeit nach dem Verantwortungsprinzip und nicht nur nach dem Gewinnprinzip. Was die Integrationshindernisse bzw. Integrationsmöglichkeiten angeht, so soll man hier gerecht und ehrlich sein und einige Worte an die betroffenen Ausländer richten, ganz besonders an die arabischen und muslimischen Ausländer in Deutschland. Wenn man davon ausgeht, dass die Integration keine Einbahnstraße ist, so muss man sich als in Deutschland lebender Ausländer überlegen, welchen Beitrag man selbst in diese Richtung leisten kann. Es gibt viele sichtbare und häufig in Erscheinung tretende Phänomene im Leben der arabischen und muslimischen Ausländer in Deutschland, die man auch als Integrationshindernisse betrachten kann und die ebenfalls beseitigt werden müssen. Einige Beispiele davon: Viele arabische und muslimische Bürger und Familien isolieren sich selbst und distanzieren sich absichtlich von der deutschen Gesellschaft. Sie begründen diese Haltung mit fehlenden Gemeinsamkeiten oder mit Verständigungsproblemen. Es gibt wenige Ausländer oder ausländische Organisationen, die dauerhafte und ernst gemeinte Kontakte mit der deutschen Gesellschaft organisieren und gemeinsame Aktivitäten mit ihren normalen Mitgliedern, also nicht nur Treffen auf höheren Ebenen, verwirklichen. Als Beispiel dafür kann man die Aktivitäten im schulischen Bereich nennen. Es gibt sehr wenige ausländische Eltern, die sich für die Zusammenarbeit mit den Schulen ihrer Kinder einsetzen. Elternabende werden kaum besucht, Schullandheime werden boykottiert, Probleme beim Sport- und Biologieunterricht usw., um einige Beispiele dieses Distanzierungsbestrebens seitens mancher ausländischer Familien zu nennen. Viele arabische und muslimische Bürger in Deutschland klagen über die Missachtung durch deutsche Bürger in ihrer Umgebung, am Arbeitsplatz oder an anderen Orten des gesellschaftlichen Zusammenseins. Dabei missachten sie sich selbst auch untereinander. Man hört sehr viel über die Missachtung der Kurden durch Araber oder Türken. Umgekehrt hört man aber auch, dass viele Kurden die Araber oder die Türken, und nicht ihre Regierungen, als ihre „Unterdrücker“ bezeichnen. Viele Muslime grenzen andere Muslime aus, weil sie einer anderen islamischen Konfession angehören.160 In vielen Fällen wird die islamische Religion als Grund der Distanz genannt. Die islamische Religion wird aber bewusst von vielen Muslimen instrumentalisiert, um die beabsichtigte Haltung gegen die Integration in die deutsche Gesellschaft zu erreichen. In vielen Moscheen und bei vielen religiösen Veranstaltungen werden die Deutschen und das ganze System im Westen beschimpft und von den Hasspredigern als Heiden bezeichnet. Die deutsche Gesellschaft, ihr System, ihre Sitten und Gebräuche werden, wie alle anderen westlichen Gesellschaften, als anti-islamisch dargestellt. Die Deutschen 160 Aus: Der Tagesspiegel: Bericht, vom 01.11.2007: „Kämpfe im Nordirak – Krawalle in Berlin: Der Konflikt zwischen Kurden und Türken ist bereits in Deutschland angekommen. Experten rechnen bei einer Verschärfung auch hierzulande mit zunehmenden Auseinandersetzungen. Am kommenden Wochenende sind weitere Demonstrationen angemeldet.“ Integration oder Assimilation? 153 werden von vielen muslimischen Fanatikern „Schweinefresser“ genannt. Man spricht oft von der Verschwörung des Westens und der Deutschen gegen den Islam und ruft innerhalb der Gesellschaft, in der man lebt und von der man Unterstützung für sich und seine Familie in allen Bereichen des Lebens bekommt, zur Zerstörung dieser Gesellschaft auf, wie es Metin Kaplan, der sogenannte Kalif von Köln, jahrelang in seinem Asylland Deutschland getan hat161. Es gibt heute noch viele islamistische Hassprediger in Deutschland, die nach der Methode von Kaplan arbeiten und viele muslimische Menschen mit solchen gesellschaftsfeindlichen und integrationshemmenden Methoden beeinflussen. Jeder Muslim in Deutschland weiß ganz genau, dass er seine Religion in Deutschland in voller Freiheit ausüben darf. Diese Freiheit wird in vielen Fällen von manchen Muslimen so verstanden, dass die gesamte Gesellschaft das religiöse Leben der Muslime ohne Kritik akzeptieren müsse. Die Muslime in Deutschland müssen wissen, dass sie nicht in einer muslimischen Gesellschaft leben. In einer Gesellschaft, der die islamische Religion fremd ist, versteht man manches Verhalten der Muslime nicht. Deshalb sollten die Muslime nicht jede Kritik als einen feindlichen Akt gegen ihre Religion und deren Anhänger überhaupt verstehen, und mit entsprechenden feindlichen Reaktionen reagieren. Wenn man wirklich von seiner Religion überzeugt ist, dann sollte man den Dialog mit diesen Menschen suchen, um Vorurteile zu beseitigen und die friedlichen Beziehungen zwischen den Menschen in dieser Gesellschaft zu ermöglichen. Der Koran ist voller Verse, die die Muslime auffordern, Gespräche mit den Anderen, ganz besonders mit den Leuten des Buches, durchzuführen, wie an vielen andern Stellen dieses Buches erwähnt wurde. Es gibt auch viele Muslime in Deutschland, die nicht einsehen wollen, dass diese Gesellschaft eine andere Geschichte und auch ganz andere Entwicklung durchgemacht hat, als sie es von ihrem Heimatland kennen. Es ist daher nicht sinnvoll, in dieser Gesellschaft leben zu wollen, ohne Verständnis für das Leben der Menschen hier zu erbringen. Man muss sein eigenes Privatleben so gestalten, wie man es für richtig hält, und niemand wird dagegen sein, solange man die Freiheit der Anderen auf ihr Privatleben in ihrer Gesellschaft akzeptiert und respektiert. Man sollte nicht nur etwas von der Gesellschaft erwarten, sondern auch selbst etwas für die Gesellschaft, in der man lebt und weiter leben möchte, tun. In diesem Zusammenhang ist der Appell sowohl an die Deutschen als auch an die Ausländer in der Gesellschaft zu richten, die Diskussion über den Kampf der Kulturen zu beenden, und die damit verbundene Theorie, die von der Notwendigkeit des Vorhandenseins eines Feindes in jeder Phase der Geschichte ausgeht, zu widerlegen. Keine Kultur der heutigen Zivilisation kann die anderen Kulturen leiten oder bekämpfen, um zu ver161 Auf die deutsche Verfassung geben die Kalifatsstaatler nichts; sie haben eine eigene mit 15 Artikeln. Regel sieben etwa sagt, dass „es keine Einigung mit dem Ungläubigen und seinem Regime gibt. Man macht keine Zugeständnisse.“ Zwar verbietet Regel vier „Gewalt und terroristische Handlungen“ in der „Verkündungsperiode.“ Die wird aber praktischerweise schon in den neunziger Jahren für beendet erklärt, und es gilt nur noch Regel fünf: aufpassen, dass man „nicht erwischt wird.“ 154 Der Islam in der Diskussion nichten. Die Kulturen können nur miteinander konkurrieren und sich ergänzen und gegenseitig bereichern. Wenn man so eine Gesellschaft schaffen kann, so kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Radikalen sowohl im religiösen als auch im politischen Bereich keine Chancen mehr haben werden, diese Gesellschaft mit ihren Hassideen zu beeinflussen. 14 Schlussbetrachtung Man fragt sich manchmal, ganz besonders die Nichtmuslime, was für eine Religion haben eigentlich die Islamisten? Was für einen Glauben vertreten sie? Diese und noch viele andere Fragen über diese Tendenz in der islamischen Religion, die sich meistens durch Terror und Gewalt präsentiert, führen uns zu den Gedanken über die Beziehung zwischen Glaube und Vernunft. Wenn man vom Glauben im theologischen Sinne spricht, so meint man im Allgemeinen den Glauben an eine Gottheit oder mehrere Gottheiten. Hier ist zwischen zwei Ebenen der Gotteserkenntnis unterscheiden: Die erste wäre das, was der Mensch selbst, ohne Verbindung mit Erkenntnisquellen, erkennen kann. In dieser Situation glaubt man an die Existenz eines oder mehrerer Götter, aber auch an Gottheiten, die man sehen, aber nicht in jedem Fall anfassen kann. Diese spielen bei der Ausübung der Spiritualität des Menschen eine große Rolle. Als Beispiel dafür kann man die religiöse Landschaft bei allen Völkern nennen, die von Anfang an im Mond, in der Sonne oder in den Sternen ihren Gott oder ihre Götter gesehen haben. Auf der arabischen Halbinsel vor dem Islam haben die Araber ihre Götterfiguren aus Datteln, Lehm oder Steinen selber gemacht und zu ihnen gebetet. Diese Götterfiguren waren für die Menschen immer spürbar. Die zweite Ebene betrifft das, was der Mensch durch Erkenntnisquellen als Offenbarungen oder Erleuchtungen in schriftlicher oder mündlicher Form durch bestimmte Botschafter, Propheten oder Reformatoren empfangen kann. Die Kenntnisse dieser Art beschäftigen sich mit einem oder mehreren Göttern, Gottheiten oder einer Kraft, die in einer metaphysischen Form existiert. An diese Existenz müssen die Menschen glauben und sie anbeten, wenn sie ihre Spiritualität ausüben. Was den Islam angeht, so definieren die muslimischen Theologen den Islam als die Religion des Wissens. Dieses Wissen bedeutet die Erkenntnisse über Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde und von allem, was dazwischen liegt. Aus dieser Kenntnis verbindet der Muslim seine Spiritualität mit zwei Elementen, nämlich mit dem Glauben an Gott, den Schöpfer, und seiner zweifelsfreien Existenz, und mit dem Wissen über die Fähigkeiten, die dieser Gott besitzt. Das Wissen ist wiederum die Basis der Vernunft, die sich durch das menschliche Handeln zeigt. So kann man davon ausgehen und sagen, dass der Islam nicht nur die Religion der Hingabe an den Willen Gottes ist, sondern auch eine Religion, die ihre Anhänger auffordert, Wissen zu erlangen und es bei der Ausübung der religiösen Handlungen einzusetzen. Im Koran steht in der Sure 96,1-5: Lies im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen erschaffen hat aus einem Embryo. Lies. Dein Herr ist der Edelmütigste, der durch das Schreibrohr gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste. (AK). 156 Der Islam in der Diskussion Diese Sure betrachten die muslimischen Theologen und Historiker als die erste Sure der Offenbarung, die Mohammed in der Höhle von Hira bei Mekka empfing. Die Muslime messen ihr als Anfang der göttlichen Offenbarung große Bedeutung bei, denn sie meinen, dass die ersten Selbstauskünfte ihrer Religion sich mit Begriffen wie Lesen, Schreiben, Wissen und Lehren befasst haben. Der Islam stützt sich also auf Wissen, welches man durch Lernen erlangen kann. Ohne dieses Wissen kann man den wahren Gott nicht erkennen. Der Koran stellt in Vers 39,9 fest, dass die Wissenden bei Gott besser eingestuft sind als die Unwissenden: Sprich: Sind etwa diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen, gleich162 Die Verbindung das Wissen mit dem Glauben führt zur Überzeugung von Gott und seiner Schöpfung, die man mit verständlichen Argumenten begründen kann. Deshalb richtet sich der Koran an die Menschen, die „Verstand haben.“ Mit diesem Satz, „für Leute, die Verstand haben“, enden viele Verse des koranischen Textes. Die Einheit zwischen dem Wissen und dem Glauben, die der muslimische Mensch aus dem Koran und der Sunna gewinnen kann, sind die wichtigsten Faktoren, die die Orientierung im Leben eines muslimischen Menschen beeinflussen können. Damit diese Einheit gut funktionieren kann, verlangt sie von dem muslimischen Mensch, sein Denkvermögen einzusetzen. Die islamische Lehre geht davon aus, dass Gott dem Mensch sein Denkvermögen gegeben hat. Gleichzeitig hat Gott ihm mehrere Wege und Möglichkeiten gezeigt. Aber das Verhalten des Menschen in verschiedenen Situationen seines Lebens kommt von dem Mensch alleine. Dieses Verhalten ist ein Resultat des Wissens, welches der Mensch besitzt. Gott hat für die Menschen verschiedene Möglichkeiten gegeben, was wir zum Beispiel essen, trinken oder anziehen können. Wie wir diese Möglichkeiten verwenden, richtet sich nach unseren Kenntnissen über diese Möglichkeiten. Wir essen und trinken dann von dem, was uns aufgrund unseres Wissens überzeugen kann, dass es für uns richtig ist. Und das nennt man vernünftig. Und genau so geht es mit der Religion. Aber nicht nur mit der islamischen, sondern auch mit allen anderen Religionen. Manche Anhänger der Religionen haben sich nicht die Mühe gemacht, sich über ihre Religion genug zu informieren, dass sie die Lehre richtig verstehen und danach handeln. Die Geschichte des Christentums zum Beispiel zeigt uns, wie viele Grausamkeiten und Verbrechen im Namen dieser Religion begangen wurden. Dennoch kann keiner heute behaupten, dass diese Taten mit der Botschaft Jesu Christi zu tun haben. Es war eine politische Instrumentalisierung des Christentums. Und beim Islam ging und geht es heute noch genauso. Diejenigen Islamisten, die mit ihrer Religion so unvernünftig umgehen und sie für ihre politischen oder auch wirtschaftlichen Ziele instrumentalisieren, wissen nicht viel von ihr. Ihre Handlungen, Einsatz von mit Gewalt, Mord, Bedrohungen und Unterdrückung von anderen Muslimen und Nichtmuslimen, die nicht auf ihrer Linie stehen, zeigen ihre Armut an Wissen und die Unfähigkeit, ihr Denkvermögen einzusetzen. Dies zeigt auch, dass sie wegen dieser Armut an Wissen keine vernünftigen Argumente haben, um ihre Ideen weiter zu verbreiten. Sie befinden 162 Vgl. auch 35,28 und 58,11 (AK). Schlussbetrachtung 157 sich in einer Situation, aus der sie sich mit vernünftigen Mitteln nicht befreien können. Und so muss man den Terror, der heute im Namen der islamischen Religion ausgeübt wird, verstehen und analysieren. Mit anderen Worten kann man sagen, dass die unvernünftige Art und Weise der Ausübung der Religion zur Missachtung des Glaubens führt. 15 Literatur Abd ar-Râziq, Ali: Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft : Übersetzung und Kommentar des Werkes von Hans-Georg Ebert; Assem Hefny, Frankfurt am Main; Berlin; Bern; Wien [u.a.]: Lang, 2010. Abū Zaīd, Naṣr Hāmid: Islam und Politik, Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt Main: dipaVerlag, 1992. Abū Zaīd, Naṣr Hāmid und Sezgin, Hilal: Mohammed und die Zeichen Gottes, Freiburg: Herder Verlag, 2008. Abū Zaīd, Naṣr Hāmid: Al-ʼitiǧāh al-̔aqlī fi at-tafsīr (Arabisch), Dar at-Tanwīr, Beirut, 1993. Al-ʼAmin, Scharif Yahīya: Lexikon der islamischen Gruppen (arabisch). Dar al-ʼAḍwā‘, Beirut 1986. Al-Banna, Jamal: Al-Islam dīn wa umma wa laysa dīn wa dawla (arabisch), Dar al-Fikr al-Islami, Kairo 2003. Al-Ġazālī, Abū Hāmid: Tahāfut al-Falāsifa (Arabisch), Dar al-Ma‘ārif, Kairo, 7. Auflage, 1972. 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