Zeitgenössisches islamisches Denken. Eine kritische Studie des Ansatzes von Asghar Ali Engineer (Indien 1939-2013) Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. vorgelegt von Fatmatüzzehra Sagir aus Sivas Wintersemester 2014/2015 Erstgutachterin: Prof. Dr. Johanna Pink Zweitgutachter: Junior-Professor Dr. Tim Epkenhans Vorsitzender des Promotionsausschusses der Gemeinsamen Kommission der Philologischen, Philosophischen und Wirtschaftsund Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander Datum der Fachprüfung im Promotionsfach: 06.07.2015 2 Inhalt i. Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen ii. Formale Anmerkungen iii. Anmerkungen zur verwendeten Terminologie 8 9 11 Abschnitt I 1. Einleitung 1.1 Einführung in die Thematik 13 1.2 Forschungsstand 18 1.3 Leitfragen und Leitthesen der Arbeit 25 1.4 Quellenlage 27 1.5 Methodische und theoretische Grundlagen der Arbeit 30 1.6 Anmerkungen zur verwendeten Terminologie 32 1.7 Aufbau der Arbeit 41 2. Kontextanalyse 42 2.1 Muslime in Indien seit 1947 42 2.1.1 Die Teilung: Ein Blick zurück 47 2.1.2 Nach 1947: Prekäre Situation 51 2.1.3 Die Loyalitätsfrage 51 2.1.4 Exkurs: Das Kastenwesen in der indischen Gesellschaft 56 3 2.2 Biographische Notizen zu Asghar Ali Engineer 60 2.2.1 Religiöser Hintergrund 60 2.2.2 Die Dawoodi Bohras und ihre religionshistorische Genese 61 2.2.3 Die ismailitische Mission und die Entstehung der Dawoodi Bohras 63 2.2.4 Die Bohras in der Gegenwart 65 2.2.5 Der Da’i 67 2.2.6 Religiöse Praxis 70 2.2.7 Besteuerung 71 2.2.8 Bekleidung 73 2.2.9 Weibliche Beschneidung 73 2.2.10 Die Reformbewegung Progressive Dawoodi Bohras 75 2.2.11 Die Organisation 76 2.2.12 Die Kritik der PDB 77 2.2.13 Die Kritiker: Fallbeispiele 78 2.3 Asghar Ali Engineer: Biographie im Überblick 80 2.3.1 Die Autobiographie 82 2.3.2 Kindheit und Jugend 83 2.3.3 Schlüsselerlebnis Qadambosi – Verweigerung der sajda 88 2.3.4 Studienjahre: Kritische Reflektion im Auftrieb 89 2.3.5 Bombay: Arbeitsleben und Aktivismus 91 2.3.6 Kritik am Da’i und Exklusion 93 2.3.7 Das CSSS und die PDB 96 4 Abschnitt I I 1. Einführung in die Analyse des Textkorpus 99 1.1 Autor und Text 99 1.1.1 Themen 103 1.1.2 Adressaten 105 1.1.3 Textgattung 107 1.1.4 Aufbau der Texte 111 1.1.5 Textelemente 113 1.1.6 Leitsätze 116 1.2 Die Rolle und die Bedeutung des Koran bei Engineer 119 1.2.1 Hermeneutische Techniken 122 1.2.2 Kategorisierung der Koranverse bei Engineer 123 1.2.3 Die Kritik: Subjektivität und Selektivität 124 1.2.4 Kontextuelle und normative Verse: Engineers Replik 129 1.2.5 Wer spricht für den Islam? 135 1.2.6 Die spirituelle Dimension 138 1.3 Stereotype 139 1.3.1 Exkurs: Anerkennung 140 1.3.2 Was ist ein Stereotyp? 142 1.3.3 Korrektur von Stereotypen 144 1.3.4 Stereotype, auf die Engineer reagiert 147 1.3.5 Reaktionen Engineers auf die Stereotype 151 5 2. Analyse der Themenkomplexe 153 2.1 Themenkomplex Zusammenleben mit Anderen 153 2.1.1 Kufr – „the greatest of all sins“ 153 2.1.2 Sind Hindus ahl al-kitāb? 159 2.1.3 Die Rolle der Sufis in Engineers Texten 160 2.2 Themenkomplex Geschlechterdifferenz 2.2.1 „Why this negative attitude towards women?“ 170 170 2.2.2 Kann eine Frau das gemischtgeschlechtliche gemeinsame rituelle Gebet leiten? 171 2.2.3 Kritik an Qaradawi als Vertreter der etablierten muslimischen Gelehrsamkeit 175 2.2.4 Gewalt gegen Frauen: Vers 4:34 und das Wort ḍaraba 181 2.3 Reiseberichte: Wissenstransfer und innerreligiöse Kritik 190 2.3.1 Reise nach Afghanistan 190 2.3.2 Die Reise 190 2.3.3 Frauen und Drogen 193 2.3.4 Drogen und ulama 194 2.4 Themenkomplex Säkularismus 196 2.4.1 „Is Islam compatible with secularism?“ 196 2.4.2 Religion und Politik 199 2.4.3 Islam und Demokratie 200 2.4.4 Exkurs: Säkularismus in Indien 202 2.5 Themenkomplex Religion 211 6 Abschnitt I I I 1. Schluss 215 1.1 Der, Die, Das Andere … im zeitgenössischen islamischen Denken 215 1.2 Engineers exegetische Koranlektüre: Anschluss an den universellen Menschenrechtsdiskurs? 222 1.3 Subjektivität und Selektivität bei der Koranlektüre- und exegese 226 1.4 Infantile Theologie?: Implizit und explizit normative Zugänge zum Forschungsobjekt Islam 235 2. Fazit 244 3. Ausblick 249 4. Bibliographie 251 7 i. Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen AJSS = Asian Journal of Social Science BJP = Bharata Janata Party Congress = Congress Party CSSS, csss = Centre for the Study of Secularism and Society EI² = Encyclopaedia of Islam, New Edition FAZ = Frankfurter Allgemeine Zeitung IIS, iis = Institute of Islamic Studies JOAS = Journal of the American Oriental Society JQS = Journal of Qur’anic Studies JRAI = Journal of the Royal Anthropological Institute MAS = Modern Asian Studies PDB = Progressive Dawoodi Bohras RSS = Rashtriya Swayamsevak Sangh TOI = Times of India 8 ii. Formale Anmerkungen 1. Ich folge in der Transkription islamwissenschaftlicher Termini den Vorgaben des International Journal of Middle East Studies (IJMES). 2. Im deutschen Sprachgebrauch standardisierte Begriffe belasse ich als solche, wie etwa Kalif. 3. Bei persischen Begriffen oder Wörtern aus dem Urdu oder Hindi übernehme ich die Schreibweise aus der englischsprachigen Literatur, wie etwa mullaji sahib. 4. Den arabischen Artikel al schreibe ich immer klein, wie etwa bei al-Mansur, außer am Satzanfang. 5. Bei arabischen Bezeichnungen von Gruppen verwende ich sowohl die arabische Bezeichnung, als auch die ins Deutsche übertragene Bezeichnung, wie etwa Ismailiyya als auch Ismailiten. 6. Eigennamen transkribiere ich nicht. 7. Ich schreibe durchgehend Heilige Texte groß, um so die selbstreferentielle Konnotation durch die Gläubigen auszudrücken, da die Bezeichnung heilig die ihre ist. 8. Zitate von Engineer übernehme ich aus dem englischen Original ohne Korrektur von Orthographie oder Zeichensetzung, Ausnahmen hiervon dienen der Vermeidung von Missverständnissen. 9. Alle Zitate werden im Englischen wiedergegeben. Eine Übersetzung erfolgt in der Regel nicht. Dies gilt ebenso für die verwendete Sekundärliteratur. 10. Koranverse übersetze ich, sofern nicht anders vermerkt, in Anlehnung an die Übersetzung Rudi Parets1 selbst. 1 Paret: Koran. 1971. 9 11. Ich verzichte aus ästhetischen und stilistischen Gründen auf das „Durchgendern“ der deutschen Sprache. Überall dort, wo die grammatikalisch maskuline Form gewählt wird, sind Frauen, Männer und alle anderen Geschlechter gleichermaßen eingeschlossen. 10 iii. Anmerkungen zur verwendeten Terminologie Von Asghar Ali Engineer verwendete englische Termini, wie communalism, communal riots, communal harmony, bleiben unübersetzt um missverständliche Konnotationen zu vermeiden. Communalism darf nicht mit Kommunalismus übersetzt werden: Communalism ”signifies a politics of belonging that does not emphasize the nation in all its diversity, but the homogenous, religious community.” 2 Gemäß dieser Definition von van der Veer kann es communalism auch innerhalb einer Religionsgemeinschaft geben, beispielsweise unter den Muslimen zwischen Schiiten und Sunniten. Engineer hat sich mit communalism3 und den damit verbundenen Unruhen und blutigen Auseinandersetzungen (communal riots) seit den frühen 1960er Jahren beschäftigt.4 Sein Engagement für communal harmony als Gegenentwurf zu communalism ist signifikant für seine soziale Arbeit und die Auseinandersetzung mit dem Islam in der Gegenwart. Die Bedeutung seines Einsatzes wurde mit zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen herausgestellt. 2004 ehrte man ihn mit dem Alternativen Friedensnobelpreis.5 Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen verdeutlichen die Bedeutung dieses Engagements. Daher wird er häufig auch als activist oder social activist bezeichnet. Dem Konzept des communalism steht in Indien der nationalism bzw. secular nationalism oder secularism gegenüber. Alle drei Konzepte wollen einen 2 van der Veer: Communalism. In: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, 2286-8. 3 Zur Erforschung von communalism hat Brass, Paul R. mit zahlreichen Arbeiten einen wichtigen Beitrag geleistet, siehe weiterführend beispielsweise: Brass: Ethnicity and Nationalism. 1991; Brass (Ed.): Riots and Pogroms. 1996. 4 Ein Werksverzeichnis findet sich auf der Website des CSSS. Vgl. Bibliographie dieser Arbeit. 5 Zusammen mit dem hinduistischen Aktivisten Swami Agnivesh. Siehe www.rightlivelihood.org/asghar-ali-engineer.html . 11 Gegenentwurf zu communalism darstellen, der in einer heterogenen und multireligiösen Gesellschaft wie Indien als die zentrale Bedrohung für die nationale Einheit und den gesellschaftlichen Frieden gesehen werden kann. Während der Terminus nationalism, zur Zeit der Teilung Indiens und in der darauf folgenden Periode, positiv im Sinne eines Widerstandes gegen die Kolonialherrschaft der Briten sowie gegen die Teilung des indischen Subkontinents verstanden wurde, ist zu beobachten, dass die häufige Führung des Begriffs in Zusammenhang mit Hindunationalism6 diese Konnotation zunehmend in den Hintergrund drängt. Darüber hinaus verwendet Engineer in der Auseinandersetzung mit dem Islam und den Muslimen Termini wie orthodox, liberal, ulama-caste, ulama, dissident, reformist. Termini wie dissident, reformist und liberal verwendet Enginer selbstreferentiell.7 Die von ihm verwendeten Begriffe schreibe ich klein und kursiv. 6 Siehe hierzu weiterführend die Arbeiten von Julia Eckert, aufgeführt in der Bibliographie dieser Arbeit. 7 Die Begrenztheit bestimmter Termini zum Ausdruck von hochgradig komplexen Vorgängen, Zuständen und Prozessen ist mir durchaus bewusst, wie zum Beispiel bei den Begriffen säkular/Säkularismus. Begriffe wie konservativ, orthodox oder streng religiös sind unzureichende Bezeichnungen für recht diffuse Phänomene, die einem stetigen Wandel und Prozess unterliegen. Sie sind abhängig von ihren geographischen, historischen und vielen weiteren Kontexten. Dichotomien verwende ich auf pragmatischer Ebene, um Gegensätzlichkeiten aufzuzeigen. Ich verwende diese Begriffe nicht als substantiell eigene Kategorien oder Termini wie orthodox oder reformerisch nicht als normative Kategorien. Darüber hinausgehend gebrauche ich die Termini, die Engineer als indischer Muslim verwendet, wie z.B. orthodox oder reform oder etwa imperialistic powers, nicht, um seine Konzepte unkritisch zu übernehmen, sondern, um aufzuzeigen, mit welchen Begrifflichkeiten er arbeitet. 12 I 1. Einleitung 1.1 Einführung in die Thematik Das zeitgenössische islamische Denken befindet sich in der Gegenwart in einem bedeutsamen Wandlungsprozess. Häufig kommt die Frage nach Religion in der modernen Gegenwart mit Fragen des Zusammenlebens verschiedener Gruppen in einer Gesellschaft daher. Torpediert Religion in pluralistischen Gesellschaften die Akzeptanz und den konstruktiven Umgang mit Diversität? Kriegerische Auseinandersetzungen und weltweite Migrationsprozesse haben die Weltregionen in Unruhe versetzt und Bewegung in altbewährte Strukturen gebracht. Der islamistische Terror hat einen traurigen Höhepunkt erreicht, greift weit aus und bis hinein in wirtschaftlich stabile und befriedete Gesellschaften, in denen Muslime zur Minderheit gehören. Diese Entwicklung verschafft dem Aufstieg und der Popularität radikaler Ideen eine ganz eigene Dynamik, wie zuletzt die Ergebnisse der Europa-Wahlen zeigten. Rechtskonservative und rechtspopulistische Parteien mit ihrer exklusivistischen und simplifizierenden Rhetorik sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ein Phänomen, das weltweit zu beobachten ist, wie beispielsweise die Wahl des rechtskonservativen Narendra Modi zu Indiens Premierminister oder das Erstarken der christlichen Rechten in den USA zeigt. Das für das Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften schädliche Kolportieren und die Zirkulation negativer Stereotype über den Anderen, sind populär und in aller Munde. Muslimische Intellektuelle und Gelehrte reagieren bisweilen hilflos auf diese durch das Entgegenhalten positiver Stereotype a la der Islam ist nicht eine Religion der Gewalt, sondern des Friedens. Nicht nur religiöse, sondern auch ethnische oder andere Minderheiten leben in heterogenen 13 Gesellschaften und stellen sie weltweit vor die Herausforderung, mit dieser Diversität konstruktiv umzugehen, und so einen gesellschaftlichen Frieden zu schaffen. Der 2014 verstorbene Begründer der Cultural Studies, Stuart Hall, brachte diese Komplexität in der zentralen Frage unter: How to live with difference? Die Fähigkeit mit der Diversität, also mit der Verschiedenheit oder dem Anderssein des Selbst und der Anderen umgehen und (zusammen) leben zu können, sei die entscheidende Fähigkeit des 21. Jahrhunderts. Welche Rolle spielen religiöse Akteure und Religion in diesen Diskursen? Die emotionale Heftigkeit mit der gegenwärtig vor allem über den Islam debattiert wird, zeigt, wie präsent Fragen zur „Klärung“ des Verhältnisses von Tradition und Moderne sind, denn in dem Diskurs um den Islam verhandeln moderne säkulare Gesellschaften neben vielem anderem auch ihr Verhältnis zu Religion in der Gegenwart. Darüber hinausgehend wird dabei auf eine ebenso dringliche Frage nach Antworten gesucht. Wie können wir mit unserer Verschiedenheit zusammen in Frieden leben? Die Fokussierung auf das negative Image von Religion im Allgemeinen und dem Islam im Besonderen, macht nicht nur die öffentliche Wahrnehmung, sondern auch die Wissenschaft (in muslimischen wie nichtmuslimischen Kontexten) häufig blind für die Menschen, die eine eigene Form von Frömmigkeit und Religiosität leben, sei es im Kontext institutionalisierter Religion oder sei es außerhalb jeglicher Form von etablierter Religion. Für jede Region dieser Welt, für jede Gesellschaft stellt sich die Frage nach der Relevanz von Religion anders. Soziographische Studien zeigen, dass Religion in Deutschland im Gegensatz zu den USA im öffentlichen und privaten Leben einen 14 Bedeutungsverlust erlitten hat.8 In den Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und des Nahen Ostens hingegen bietet sich ein anderes Bild, das bei genauerem Hinsehen sicher verschiedene Facetten zeigen dürfte. Wie verorten Menschen, für die ihre Religion noch Aussagekraft hat, diese in der modernen Gegenwart? Welchen Beitrag leistet Religion bei der Beantwortung der Frage, wie mit Verschiedenheit zu leben sei? Diese Auseinandersetzung stelle ich am Beispiel des indischen Reformdenkers Asghar Ali Engineer und seinen Texten zum Koran in den Mittelpunkt dieser Studie. Indien Freilich stellen sich diese Fragen ebenso in außereuropäischen Gesellschaften, allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen. Die pluralistische Demokratie Indien räumte der Religion schon bei der Gründung des Staates 1947 einen Sonderstatus ein. In einer religiös und kulturell heterogenen Gesellschaft, wie es die indische ist, sollte keine der Religionen bevorzugt werden. Die Herausforderung an die Verfassungsautoren war es, diese Heterogenität zu wahren und gleichzeitig einen Rahmen der Einheit zu schaffen, der den neu gegründeten Staat vor dem Zerfall bewahren würde. So ist Indien bis heute eine religiös, sprachlich und kulturell pluralistische Gesellschaft, in jener Weltregion, die global als jene mit der höchsten religiösen Vielfalt gilt.9 Im Jahr 2010 gehörten von 6,9 Milliarden Menschen ca. 5,8 Milliarden einer Religionsgemeinschaft an. Hindus, Buddhisten und Muslime stellen im asiatisch-pazifischen Raum jeweils die georegional stärksten Anhängerschaften ihrer Religion.10 8 Vgl. Utsch: Religion in der modernen Gesellschaft. Bertelsmann Stiftung. Ohne Datumsangabe.; sowie Bertelsmann Stiftung (Ed.): Religionsmonitor 2013. 9 Vgl. Pewforum: Global Religious Diversity. 2012. 10 Vgl. Pewforum: Global Religious Landscape. 2014. 15 Auf dem indischen Subkontinent lebt, zusammen mit Hindus, Christen und anderen Religionsgemeinschaften, die drittgrößte muslimische Population nach Indonesien und Pakistan. Die indische Verfassung berücksichtigt diese pluralistische Struktur durch ihre säkulare Ausrichtung und fungiert so als Garant der vielbeschworenen Einheit. Dieser Säkularismus ist naturgemäß in einem fragilen Gefüge wie der indischen Gesellschaft immer wieder durch verschiedene Faktoren gefährdet, unter anderem durch religiös begründeten Exklusivismus, sei es nun Hindu-Nationalismus oder islamischer Fundamentalismus. Für die vorliegende Studie habe ich einen muslimischen Denker gewählt, der sich gegen beide Seiten abgrenzen muss. Der Reformdenker Der 1939 geborene indische Reformdenker Asghar Ali Engineer,11 dessen Texte ich in den Mittelpunkt dieser Studie stelle, wuchs in einer Bohra-Gemeinde auf, die der Siebener Schia/Ismailiyya zuzuordnen ist. Die religiöse Ausbildung in den klassischen Bereichen der islamischen Theologie erhielt er von seinem Vater, dem Geistlichen Qurban Hussain. Als weltliche Ausbildung wählte er den Beruf des Ingenieurs. Er beobachtete bereits als junger Mann, wie der Klerus die einfachen Gläubigen durch ein vielschichtiges Abgabesystem kontrollierte. Seiner späteren Kritik an diesen Umständen folgte der Ausschluss aus der Gemeinde. Sein sozialpolitisches Engagement, welches er auch aus seinem Glauben heraus begründet, konzentriert sich, vor allem nach den anti-muslimischen Ausschreitungen von Bombay 1993 und Gujarat 2002, auf die Schaffung eines gesellschaftlichen Friedens. Daher sind seine Texte besonders geeignet für diese Studie. 11 Leider verstarb Asghar Ali Engineer vor der Fertigstellung dieses Manuskripts im Mai 2013 an den Folgen einer Sepsis. 16 Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die Haltung Engineers zum Hinduismus. Er lehnt, mit Bezug auf den Koran, die in der klassischen islamischen Theologie vorherrschende Meinung ab, Hinduismus sei Polytheismus, demzufolge seien Hindus keine Dialogpartner. 12 Die vorliegende Studie zeigt den Erkenntnisweg Engineers am Beispiel seiner exegetischen Arbeit auf und zeichnet seine Entwicklung vom Anhänger etablierter religiöser Gelehrsamkeit zum religiösen Kritiker und linksintellektuellen Reformdenker nach. 12 Beispielsweise hier: On Kufr, Jihad. 2006. Soweit nicht anders vermerkt, stammen die für diese Arbeit verwendeten Texte von Engineer von seinen Websites, siehe Bibliographie. Der oben genannte Text gehört zum Analysekorpus der vorliegenden Studie. Eine Übersicht der analysierten Texte findet sich in der Bibliographie. 17 1.2 Forschungsstand Der in der islambezogenen Forschung der Gegenwart verwendete Begriff Reform, engl. reform, (arab. tajdīd und iṣlāh ) versucht ein Phänomen in der islamischen Welt zu erfassen, das die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Relevanz von Religion und Tradition in der modernen Gegenwart abbildet. Wenn in der Fachliteratur von Reformislam gesprochen wird, dann bezeichnet dies historisch meist die Bewegung ausgehend vom Ende des 19. Jahrhunderts und Beginn des 20. Jahrhunderts. Jüngere Arbeiten beschäftigen sich ebenso mit Denkern des späten 20. Jahrhunderts.13 Progressive Denker, liberale Muslime, neue Denker, Reformdenker: So und ähnlich lauten die Versuche der Fachliteratur, um das Phänomen dieser „neuen“ Formen des religiösen Denkens in Begriffe zu kleiden.14 Die verschiedenen Begriffe, mit denen die Forschung hantiert, weisen darauf hin, dass das Phänomen schwer einzugrenzen ist. Zu berücksichtigen ist jeweils der historische, soziale, politische und geographische Kontext, in dem solch ein Phänomen auftritt. Dies wird in der bisherigen Forschung vernachlässigt.15 Unter den Reformdenkern finden sich auffallend häufig Intellektuelle, darunter Philologen, Philosophen, Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler. Aus der klassischen traditionellen Gelehrsamkeit des Islam finden sich wenige, die 13 Einen umfassenden Überblick über die jüngste Geschichte des Reformislam gibt Nafi: Rise of Islamic Reformist Thought. 2004. In: Taji-Farouki/Nafi (Eds.): Islamic Thought. 2004. 28-61. Kurzman versucht eine Übersicht der Vertreter des Reformislam: Liberal Islam. In: Middle East Review of International Affairs. 1999. 14 Beispielsweise Kamrava, Mehran (Ed.): New Voices of Islam. 2006; Troll: Progressives Denken. In: Stimmen der Zeit. 2006/3. 176-186; Armajani, Jon: Dynamic Islam. 2004; Benzine, Rachid: Les nouveaux penseurs. 2004; Taji-Farouki: Modern Muslim Intellectuals. 2004; Taji-Farouki/Nafi (Eds.): Islamic Thought. 2004. 15 Häufig werde so getan, so Osella/Osella als ob „reformism and traditionalism“ substanzielle Kategorien seien. Dagegen sei es sinnvoll, den Islam als diskursive Tradition zu verstehen. Vgl. Osella/Osella: Islamic Reformism, 250. Von mir paraphrasierend aus dem Englischen wiedergegeben. Die Autoren beziehen sich hierbei auf Asad und Zaman. 18 sich als Reformdenker profiliert haben, wie etwa der Iraner Mohamed Mojtahed Shabestari. Da viele der Reformdenker Kriterien aufweisen wie beispielsweise Individualisierung der Religiosität, Abkehr von institutioneller Religiosität, eigenständige Interpretation der Heiligen Texte sowie die Bejahung des Säkularismus, deuten dies einige Wissenschaftler als „Protestantisierung des Islam“ (zum Beispiel Georg Stauth),16 was durchaus diskussionswürdig ist. Phänomenologisch betrachtet ist die Kritik an der eigenen Religion und Lebenswelt keine protestantische Besonderheit. Die islamische Ideengeschichte kennt durchaus die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Quellen. Die starke Betonung des individuellen, subjektiven Zugangs zu diesen ohne Mittler, ist zwar ein elementares Moment des protestantischen Denkens, aber mehr noch des modernen Menschen. Dass sich Muslime, die keine dogmatische Instanz kennen, die ihnen eine Deutung vorschreiben würde, ihre Quellen ebenfalls selbst deuten wollen, kann also nicht lapidar unter „Protestantisierung“ abgetan werden. Der strenge Monotheismus des Islam dürfte ihre individuelle Herangehensweise an die Koranlektüre noch verstärken. Dies macht bereits die erste Durchsicht von Engineers Arbeiten deutlich, was in dieser Arbeit noch zu zeigen sein wird. Moderne Zugänge zu Heiligen Texten bei einer subjektiven, individualisierten Religiosität, ziehen textkritische und literaturkritische Methoden heran. Phänomenologisch gesprochen kann zweifelsohne festgehalten werden, dass sich Muslime zur Moderne verhalten, ebenso wie andere Menschen. Wie sie das tun, an welchem Punkt sie dabei sind und auf welche Weise sie sich mit ihren Heiligen 16 Diese Argumentation konnte sich allerdings offenbar in der Forschungsliteratur nicht überzeugend durchsetzen. Stauth: Protestantisierung des Islam. 2006. Reinhard Schulze setzt sich mit den Begriffen säkular und Protestantisierung auseinander. Vgl. Schulze: Dritte Unterscheidung. In: Dietrich/Lienemann (Eds.): Religionen. 2010. 147-205. 19 Quellen auseinandersetzen, sind Fragen, die einer ganz eigenen Auseinandersetzung bedürfen. Sing weist auf die Komplexität von Loyalitäten und Identitäten hin, die von der Forschung oft auf „enge spezifische Kontexte zur Kategorisierung und Abgrenzung einer Position benutzt (also etwa: moderner „sunnitischer“ Denker)“ werden.17 Dieses Kategorisierungsproblem trifft auch im Falle des muslimischen Inders Asghar Ali Engineer zu. Mein Forschungsinteresse richtete sich auf die Koraninterpretation, die Engineer häufig konträr zu der gängigen etablierten Lesart praktizierte. Schnell stellte sich heraus, dass Engineer, trotz seiner fundierten theologischen Ausbildung, in gewisser Weise als Laie „Reformtheologie“ betrieb, aber dass er sich gleichzeitig auch als Sozialaktivist in der Gesellschaft engagierte. Außerdem wurde deutlich, dass Engineer kein klassischer Vertreter der sogenannten progressiven Muslime war. Viele dieser Muslime sind meist in westlichen Ländern ausgebildet worden oder haben dort wichtige Phasen ihrer Ausbildung absolviert, leben dort und entstammen häufig der gebildeten Oberschicht. Die wenigsten können in ihren Ursprungsländern arbeiten, da ihnen Repressalien durch die etablierte Geistlichkeit, religiöse Institutionen oder den Staat drohen. Darüber hinaus sind sie einem westlichen Publikum meist nicht durch ihre Arbeit, sondern durch einen Skandal um ihre Person bekannt wie z.B. der ägyptische Literaturprofessor Nasr Hamid Abu Zaid, der aus Ägypten floh, da man ihn für einen Apostaten erklärte.18 Engineer hingegen lebte in seinem Heimatland. Er war zwar 17 Sing: Progressiver Islam, 37. Der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (1943-2010) lebte nach seiner Flucht aus Ägypten in Leiden/Niederlande. Zu Leben und Werk sind zahlreiche Arbeiten erschienen, beispielsweise Abu Zaid/Kermani: Leben mit dem Islam. 1999. 18 20 durch seine ideologischen Gegner bedroht, aber durch den säkularen indischen Staat19 und das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt. Die meisten muslimischen Reformdenker stammen aus undemokratischen Staatswesen. Asghar Ali Engineer aber lebte und arbeitete in Indien, welches multireligiös, multiethnisch, multilingual ist. Phänomene der Vormoderne und der Moderne treffen hier unsanft aufeinander. Indien weist viele Kriterien eines sogenannten Entwicklungslandes, auf wie z.B. große soziale Disparitäten, agrarkulturelle Strukturen, ebenso wie die eines modernen Industriestaates wie z.B. starkes wirtschaftliches Wachstum, demokratisches Staatswesen. Engineer ist also nicht nur von ideologischen, sondern auch systemischen Widersprüchen umgeben. Ebenso wie Engineer setzen sich andere Reformdenker mit Missständen in der Gesellschaft und im innerreligiösen Diskurs auseinander. Gleichzeitig stellen sie sich der Herausforderung, in der modernen Gegenwart ihre Tradition neu zu deuten. Die islambezogene Forschung hat sich allerdings vornehmlich mit Denkern aus der Kernregion des Islam, d.h. den arabischsprachigen Ländern, befasst.20 In einem vergleichsweise geringeren Maß finden sich ebenfalls Arbeiten zu muslimischen Denkern aus nichtarabischsprachigen Ländern wie dem Iran (z.B. Sorush und Shabestari),21 Indonesien (z.B. Nurcholis 19 Zum Säkularismus in Indien vgl. Kap. Themenkomplex Säkularismus. In den vergangenen Jahren ist eine Fülle an Sammelbänden mit Porträts solcher Denker entstanden, die sehr unterschiedliche Schwerpunkte bei ihrer Darstellung setzen, beispielsweise: Amirpur/Ammann (Eds.): Islam am Wendepunkt. 2006; Ammann/Göle (Eds.): Islam in Sicht. 2004; Taji-Farouki: Modern Muslim Intellectuals. 2004; Boullata: Contemporary Arab Thought. 1990; Kurzmann: Liberal Islam. 1998. 21 Zu Abdolkarim Soroush (1945- ) beispielsweise Amirpur: Entpolitisierung des Islam. 2003; Zu Mohammad Mojtahed Shabestari (1936- ) findet sich, soweit ich es überblicken kann, bis heute kein einführendes Werk. Allerdings finden sich einzelne Artikel in Sammelbänden, sowie das von mir geführte umfassende Interview aus dem Jahr 2008, das einschlägig zitiert wird und weitreichend im Internet zirkuliert, da sich Shabestari in diesem ausführlichen Gespräch zu zentralen Themen seiner Arbeit, wie Demokratie und Hermeneutik, äußert. Das Interview erschien in qantara, dem OnlineMagazin der Deutschen Welle. Es wurde in zwei Teilen veröffentlicht und in mehrere Sprachen übersetzt. Sagir/Shabestari: Der Islam ist eine Religion, kein politisches Programm. (Teil 1, sowie Teil 2 Plädoyer für eine säkulare Hermeneutik. Juli 2008. 20 21 Majid),22 oder Pakistan (z.B. Fazlur Rahman).23 Zwar liegen zu frühen indischen Reformdenkern wie z.B. Sayyid Ahmad Khan24 oder Abul Kalam Azad25 Arbeiten vor, aber Indien wird dabei eher vernachlässigt. In den vergangenen Jahren haben sich ebenfalls Reformdenker in Südafrika etablieren können, wie beispielsweise der Theologe Farid Esack.26 Die Kritik dieser südafrikanischen und südasiatischen Denker richtet sich sowohl gegen die globale Dominanz der arabischen Orthodoxie als auch gegen die lokalen sozialen und politischen Bedingungen. Nicht selten kommt sie mit einer postkolonialen Kritik und social activism einher. Viele Reformdenker arbeiten meist in der westlichen Welt, da sie im eigenen Land von staatlicher und/oder gesellschaftlicher Repression bedroht sind. Darunter befinden sich solche ohne theologische Ausbildung (z.B. der Ingenieur Mohammed Shahrour aus Syrien), die diese im Selbststudium erwarben, als auch solche mit einer klassischen, fundierten Ausbildung in altehrwürdigen Lehreinrichtungen islamischer Gelehrsamkeit (z.B. der iranische Theologe Mohammed Mojtahed Shabestari und die Theologen der „Ankaraner Schule“). Schwerpunktmäßig bleibt die jüngere Forschung dennoch thematisch auf den politischen Islam fokussiert, der zunächst in Ägypten mit den Muslimbrüdern wahrgenommen wurde und sich dann mit globaler Wirkung in der islamischen Revolution 1979 im Iran entfaltete. Mit den Ereignissen vom 11. September 2001 richtete sich die Forschung gänzlich auf die Terrorismusforschung oder diente, wie 22 Nurcholish Madjid (1939-2005). Indonesischer Reformdenker, Theologe und Politiker. Fazlur Rahman (1919-1988), Theologe, ausgebildet an der theologischen Hochschule der Deoband, geboren im damaligen Britisch Indien. Rahman lebte und lehrte in den USA und gilt als einer der einflussreichsten muslimischen Denker des 20. Jahrhunderts. 24 Sir Syed Ahmad Khan (1817-1898), indischer muslimischer Reformdenker, spielte in der indischen Unabhängigkeitsbewegung eine entscheidende Rolle und führte die sogenannte Aligarh-Movement an. Die Bewegung hatte vornehmlich zum Ziel, den muslimischen Indern den Zugang zu moderner Bildung zu ermöglichen. So gründete Sir Syed Ahmed Khan die Aligarh-Universität nach den britischen Vorbildern Oxford und Cambridge. Siehe weiterführend Troll: Sayyid Ahmad Khan. 1978. 25 Abul Kalam Azad (1888-1958) muslimischer Intellektueller, aktiv in der Unabhängigkeitsbewegung, nach der Unabhängigkeit Indiens Erziehungsminister. Siehe weiterführend beispielsweise Douglas: Abul Kalam Azad. 1993. 26 Vgl. Esack: Koran, Liberation and Pluralism. 1997 sowie Safi (Ed.): Progressive Muslims. 2003. 23 22 Osella/Osella zugespitzt, aber dennoch treffend bemerken, zur Identifikation von „good and bad Muslims“.27 Mit dem deutlichen Erstarken des islamistischen Terrors, ist das Erkenntnisinteresse der Öffentlichkeit und Politik an extremen Deutungsformen des Koran und des Islam enorm. Der Einsatz von moderner Technologie und medialer Ästhetik bei der Propaganda und Rekrutierung für den islamistischen, bewaffneten Kampf, wie es derzeit durch die IS global erfolgreich praktiziert wird, schafft eine größtmögliche Irritation. Diese folgt aus der Vertrautheit der medialen Stilmittel, mit denen die Extremisten operieren, wie etwa dem Einsatz von in der Jugendkultur populären Videoportalen, Musikclips oder der Dramaturgie von Videospielen, die mit menschenverachtenden Inhalten mit Bezug auf eine religiöse Legitimation durch den Islam und Koran gefüllt werden. Dies sendet Schockwellen durch alle Weltregionen. Angesichts dieser drastischen und zu Teilen auch existenziell relevanten Herausforderungen ist es nur nachvollziehbar, dass sich die Forschung mit diesen extremen Formen auseinandersetzt. Daher ist es umso bedauerlicher, dass die Stimmen derer Muslime, die sich als Reformdenker profiliert haben und mit ihrer Lesart des Koran zum friedlichen Zusammenleben verschiedener Gruppen einen Beitrag leisten möchten, durch das martialische Säbelgerassel der Extremisten übertönt werden und durch die angstgeprägte Berichterstattung ungehört bleiben (bei gleichzeitiger unablässiger Forderung an Muslime, sich vom Extremismus „abzugrenzen“). Mit bedauerlichen Folgen nicht nur für die Muslime selbst, sondern auch für den Dialog mit den Anderen. In Anlehnung an Stuart Halls Feststellung, dass sich die Kernkompetenz des 21. Jahrhunderts um die Fähigkeit mit Diversität zu leben, organisiert, habe ich einen 27 Osella/Osella: Islamic Reformism, 247-9. 23 Reformdenker gewählt, dessen Auseinandersetzung mit seiner Religion, ihren Heiligen Texten und dieser Kernfrage für ihn im Vordergrund steht. 24 1.3 Leitfragen und Leitthesen der Arbeit Das Anliegen dieser Reformdenker kann zusammengefasst werden als Bemühen, Tradition und/oder Religion in der modernen pluralistischen Gegenwart neu zu denken, das heißt, mit neuen Inhalten zu füllen, oder neue Definitionen zu finden, die tradierte religiöse Vorstellungen, Interpretationen und Praktiken in der Gegenwart weiterleben lassen. Sie suchen nach neuen Interpretationszugängen zum Koran. Er ist ihnen ihr wichtigster „Gefährte“, ihre wichtigstes Argument in der Auseinandersetzung mit und der Abgrenzung von der orthodoxen islamischen Gelehrsamkeit. Die tradierten Lesarten und Deutungen des Heiligen Textes lehnen sie für die entscheidenden Fragen politischer, sozialer und religiöser Art als einengend und „unkoranisch“ ab. Nichts weniger als eine Reformierung des islamischen Denkens in der modernen Gegenwart fordern und streben sie an. Ebenso wie Nichtmuslime reagieren sie auf den übergeordneten Referenzrahmen Moderne. Sie denken über neue Staatsformen nach, über Säkularismus, über Diversität und darüber, welche Rolle Religion für sie und Andere in der modernen Gegenwart einnimmt. Die wesentliche Rolle, die der Koran dabei spielt, führt mich zu zentralen Fragen meiner Analyse: Wird der Koran gelesen, um ihn als Heiligen Text zu begreifen, oder sollen mit dem Koran innerweltliche Sinnzusammenhänge verstanden oder gestiftet werden?28 Welches Ziel hat also die Lektüre und Exegese des Koran? Wozu soll sie führen? Mit seiner Koranlektüre und –exegese wünscht Engineer die Korrektur von Stereotypen. Was aber ist seine Motivation, die eigene individuelle Religiosität zu popularisieren? Befindet sich ein Reformdenker, wenn er sich von etablierter Religiosität abwendet, in einem Anerkennungsvakuum?29 28 Der Soziologe Niklas Luhmann hat sich systemtheoretisch mit diesem Komplex von „Immanenz“ und „Transzendenz“ befasst, vgl. Luhmann: Gesellschaftsstruktur. 1989. 29 Vgl. Kap. Stereotype. 25 Wie Engineer sich mit etablierten Gelehrtenmeinungen auseinandersetzt, mache ich am Beispiel seiner Reaktion auf den ägyptischen Gelehrten Yusuf alQaradawi30 sowie seines Besuches in Afghanistan deutlich.31 Engineer schreibt keinen klassischen Korankommentar. Ihm und anderen Reformdenkern wird die subjektive und selektive Lektüre und Exegese des Koran vorgeworfen. Diesem Vorwurf gehe ich nach.32 In diesem Zusammenhang gebe ich auch den Anmerkungen von Suha Taji Farouqi im Schlusskapitel Raum und beleuchte ihre Forderung nach „Grenzen der Reform“33 kritisch.34 Eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Wissenschaftler und ihrer Beziehung zu „ihrem“ Forschungsobjekt Islam führe ich exemplarisch an Textbeispielen ausgewählter Islam-Forscher (Wielandt, Tillschneider).35 Dies halte ich besonders im Hinblick auf die Eröffnung von neuen Forschungs- und Diskursfeldern sowie die hierfür notwendigen Erschließungsmethoden abseits tradierter Islamforschung vor allem im Hinblick auf die systematische Untersuchung und Bewertung von neuen Zugängen zum Koran für unerlässlich. Die Studie sucht also Antworten auf diese Leitfragen: 1. Welchen Beitrag leisten Muslime auf die Frage, wie mit Diversität umgegangen werden soll? 2. Was bedeuten Subjektivität und Selektivität in der Koranlektüre und exegese? 3. Wie betrachtet die islambezogene Forschung diese Phänomene? 30 Vgl. Kap. Themenkomplex Geschlechterdifferenz und Themenkomplex Säkularismus. Vgl. Kap. Reiseberichte. 32 Vgl. Kap. Die Rolle und die Bedeutung des Koran bei Engineer. 33 Vgl. Taji-Farouki: Introdutction. in: dies. (Ed.): Modern Muslim Intellectuals, 16 ff. 34 Vgl. Kap. Schluss und Kap. Fazit. 35 Vgl. Kap. Schluss und Kap. Fazit. 31 26 1.4 Quellenlage Zu dem muslimischen indischen Reformdenker und Sozialaktivisten Asghar Ali Engineer finden sich kaum einführende, grundlegende wissenschaftliche Arbeiten und Studien, obwohl Engineer einen umfangreichen Textkorpus vorzuweisen hat und diese Schriften über das Internet weitreichend Anklang finden. Auch findet Engineer sehr häufig Erwähnung in Arbeiten zum Thema „interreligiöser Dialog“ oder konkret zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen Indiens. Vielen Menschen war er als Friedens- und Sozialaktivist bekannt, der sich für communal harmony einsetzte, so dass sich die Darstellung und seine Rezeption auf diesen Aspekt seiner Arbeit und seines Engagements konzentrieren. Da sich Engineer ebenso als muslimischer Reformdenker profiliert hat und sich seine Texte mit dem Koran in der modernen Gegenwart befassen, bietet sich hier eine Untersuchung im Zusammenhang mit den obigen Fragestellungen an. Der Koran ist übergeordneter Referenzrahmen und gewissermaßen Quelle seiner Kritik. Asghar Ali Engineer war ein vielseitiger Denker und Aktivist, der zu einer großen Zahl an unterschiedlichen Themen regelmäßig schrieb und seine Texte publizierte; seien es solche Texte der innerislamischen Kritik, und Texte, gegen die innerindischen Umstände oder solche, in denen er sich zum globalen Islamdiskurs äußerte. Ein wichtiger Aspekt, der leider viel zu wenig Beachtung in der vorliegenden Arbeit erhalten konnte, aber unbedingt eine tiefergehende Studie wert wäre, ist Engineers Bezug zum Sozialismus und zu Karl Marx. Dazu liegen von Engineer zwei Monographien in Urdu vor.36 Besonders im Zusammenhang mit einer globalen 36 Diese sind vergriffen. Engineer stellte mir freundlicherweise aus seinem Privatbestand die Werke zur Verfügung. Unter seinen Online-Artikeln war nur ein Text zum Thema Sozialismus zu finden. Vgl. Engineer: Is Islam Compatible with Socialism? 2011. Eine Übersicht der in dieser Arbeit verwendeten Texte von Engineer findet sich in der Bibliographie. Die Texte sind, soweit nicht anders 27 Ideengeschichte bietet es sich an, neben anderen muslimischen Denkern, die eine Affinität zu sozialistischen oder marxistischen Ideen entwickelten,37 auch solche aus Indien einzubeziehen, versteht sich doch Indien als Socialist Republic. Zu Engineers engsten Freunden und Weggefährten gehörten führende indische linke Intellektuelle und Schriftsteller wie Kaifi Azmi oder Jan Nizar Akhtar.38 Ebenso ist eine Studie seiner praktischen Arbeit in seinem Centre for the Study of Secularism and Society (CSSS) in Mumbai lohnenswert, der eine Feldforschung zugrunde gelegt werden sollte. Besonders die Sozialarbeit mit muslimischen Frauen in den Mumbaier Slums durch geschulte Mitarbeiterinnen des CSSS, ist eine nähere Untersuchung wert. Engineer und seine Mitarbeiter betreiben Aufklärungsarbeit für verschiedene Segmente, Gruppen und Multiplikatoren der indischen Gesellschaft, von unterprivilegierte Musliminnen in den Slums von Mumbai, über Polizisten, die eine maßgeblich Rolle bei gewalttätigen communal riots zwischen Hindus und Muslimen spielen bis hin zu NGO-Multiplikatoren zum Thema Aids-Aufklärung.39 Zu erwähnen sind auch die Feldstudien, die das CSSS in Auftrag gab, so etwa 2002 nach den anti-muslimischen, gewalttätigen Übergriffen im westindischen Bundesstaat Gujarat, bei denen bis zu 1000 Muslime starben oder die jährlichen vermerkt, auf den Websites von Engineer zu finden, diese sind als Hinweis auf die jeweilige Website mit iis oder csss markiert. 37 Beispielsweise weiterführend zu schiitischen Gelehrten aus dem Libanon und ihrem Kontakt zu sozialistischen Ideen vgl. Younes: Verwirrungen der Zöglinge Najafs. In: Etudes Asiatiques. 2012. 38 Informationen zu den Weggefährten siehe Kapitel Biographische Notizen. Auf Engineers Wunsch wurde er auf demselben Friedhof in direkter Nähe zu diesen Freunden beerdigt. Der sunnitische Friedhof im Stadtteil Juhu in Mumbai sollte ihm als letzte Ruhestätte dienen, da ihm, bedingt durch seinen Ausschluss aus der Bohra-Gemeinde, eine Beerdigung auf dem Gemeindefriedhof verwehrt werden würde, wie es zuvor im Falle seiner Mutter geschehen war. Erst nach Insistieren der Familie, die sich bereits von Engineer als „Dissidenten“ abgewandt hatte, genehmigte die Bohra-Führung die Beerdigung der Mutter. Dies berichtete der Sohn Irfan Engineer in einer E-Mail kurz nach dem Tod Engineers. 39 Schätzungen zufolge lebten 2011 ca. 2.08 Millionen an HIV erkrankte Menschen in Indien. Zahlen hier: www.ndtv.com/article/india/world-aids-day-india-records-sharp-drop-in-number-of-cases299730. Weitere Daten liefert das indische Gesundheitsministerium, das mit einer eigenen HIV/AIDS-Website (der National Aids Control Organisation) aufwartet. 28 communalism reports, die Engineer selber verfasst, bei der er die Unruhen und gewalttätigen Übergriffe dokumentiert.40 In dieser Arbeit rücke ich jene Texte Engineers in den Vordergrund meiner Forschung, in denen er sich zu grundlegenden Fragen des Islam, beziehungsweise zu Fragen an den Islam in der Gegenwart äußert. Da die Beschaffung kritischer Schriften der Gegner Engineers sich sehr schwierig gestaltete, kann keine umfassende Analyse dieser Kritik im Rahmen dieser Dissertation durchgeführt werden. Die von Engineer gesammelten Schriften seiner Kritiker wurden laut Aussage Engineers bei einem Überfall von Gegnern auf seine Wohn- und Büroräume im Jahr 2000 vollständig vernichtet, ebenso frühere eigene Schriften, die noch in Urdu erschienen waren.41 40 Aufgeführt auf Engineers Website www.csssl-islam.com. Meine Versuche, diese Texte sowie Artikel von Engineer aus den 1960er und 1970er Jahren aufzufinden, blieben erfolglos. 41 29 1.5 Methodische und theoretische Grundlagen der Arbeit Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sind die Texte von Engineer, die er online veröffentlicht hat. Zur systematischen Bearbeitung dieses Materials und um die Validität meiner ersten Beobachtungen und Annahmen zu überprüfen und zu gewährleisten, ist meine Vorgehensweise an Ansätzen der klassischen und qualitativen Inhaltsanalyse nach Phillip Mayring42 orientiert. Diese Methode diente ursprünglich zur Untersuchung von Inhalten massenmedialer Aussagen.43 Ich habe stichprobenartig Texte von Engineer zur näheren Analyse herangezogen, die ich für relevant und aussagekräftig zur Bearbeitung der Forschungsfragen halte. Während des Studiums der Texte konnte ich bereits durch Häufigkeitsanalysen feststellen, welche Themen, Sätze und Wörter sich wiederholen, welche Konzepte demnach seinen Textaussagen zugrunde liegen und welche Themenkomplexe dominieren. So stehen im Zentrum meiner Untersuchung Themen, die im Islamdiskurs eine gewichtige Rolle spielen. Daher arbeite ich konkret am Text, da der Text das Kommunikationsmittel für Engineer ist. Der Textbegriff ist in unterschiedlichen Disziplinen und wissenschaftlichen Schulen verschieden definiert worden. Diese spielen für die vorliegende Studie eine untergeordnete Rolle. Für meine Arbeit definiere ich Text als die von Engineer selbst schriftlich fixierten eigenen Aussagen. Ausgangspunkt ist meine These, dass Engineer auf Stereotype über den Islam und die Muslime reagiert. Statt eine bestimmte Lesart oder einen bestimmten Autor hervorzuheben und Engineers Ansatz mit diesen zu vergleichen, greife ich die Stereotype, das heißt, die 42 43 Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. 2010. [11. Aufl.]. Zur Vorgehensweise siehe folgendes Kapitel zur Einführung in die Textanalyse. 30 Anlässe auf, die Engineers Reaktion verursachen. Welche Techniken setzt er dabei ein, welche Argumentation? Um Antworten auf diese und andere Fragen zu finden, habe ich nach der Bestimmung von Analysekriterien ausgewählte Texte von Engineer schwerpunktmäßig zu Themenkomplexen zusammengefasst und diese systematisch analysiert. Im Mittelpunkt stehen die Themenkomplexe: Zusammenleben mit den Anderen, Geschlechterverhältnis und Säkularismus. Stets eingebunden in diese stehen die Themenkomplexe Koran und Religion. Um aufzuzeigen, wie Engineer sich mit der innerislamischen Meinungsvielfalt auseinandersetzt, habe ich einen Reisebericht über Afghanistan im Sommer 2011 exemplarisch zur Analyse gewählt. Die genannten Themenkomplexe geben die global virulent und polarisierend diskutierten Schwerpunkte des Islamdiskurses und im weiteren Sinn des Diversitätsund Menschenrechtsdiskurses wieder. Die Häufigkeit der Behandlung der Themen spielte bei der Auswahl der Texte ebenso eine Rolle wie ihre thematische Relevanz für diese Diskurse und auch für den wissenschaftlichen Diskurs. Zum besseren Verständnis des geographischen, gesellschaftspolitischen und biographischen Hintergrunds Engineers habe ich ethnologische Instrumentarien verwendet, wie beispielsweise die Teilnehmende Beobachtung, die ich bei zwei Aufenthalten mit Unterstützung des DAAD in Mumbai durchgeführt habe. 44 Die Ergebnisse dienten mir zur Kontextualisierung von Engineer als Autor und Aktivist. Für meine Überlegungen zum Thema Stereotype ziehe ich unterstützend Literatur aus der Sozialpsychologie heran. Methodische Ansätze und Theorien aus der Sozial- und Kulturanthropologie waren mir für die vorliegende Arbeit ebenso wegweisend wie solche aus der (Religions-)Soziologie und (Sozial-)Philosophie. Diese erläutere und diskutiere ich an entsprechender Stelle. 44 Die Aufenthalte dauerten 2007 drei Wochen und 2008 acht Wochen. 31 1.6 Anmerkungen zur verwendeten Terminologie a. Die Relevanz von Religion in der Gegenwart Die vorliegende Arbeit strebt auf der Metaebene nach Erkenntnis über die Relevanz von Religion in der Gegenwart, nicht ohne die übergeordnete Leitfrage nach muslimischen Beiträgen zur Diversität aus den Augen zu verlieren. Wozu (noch) Religion in einer säkularisierten Welt? fragt sie zugespitzt, wohlwissend, dass „säkular“ oder „säkularisiert“ eine ganz eigene Komplexität an Deutungen und Bedeutungen aufwirft. Diese Frage wird in der theoretischen Betrachtung und Diskussion um Religion in Bezug auf den Islam kaum gestellt. Die theoretischen Arbeiten und Überlegungen in Soziologie, Politikwissenschaft oder Kulturwissenschaft gehen in der Regel von einem christlichen Kontext aus. Zwar erwähnen manche Autoren nichtchristliche Religionen, gehen aber bei ihrer Theoriebildung von lebensweltlichen Erfahrungen in christlich geprägten Ländern und Gesellschaften aus. Das gilt weitgehend für alle Themenbereiche aus dem Feld der Moderne. 45 Die Religionswissenschaft bezieht sich auf einen im protestantischen Milieu geformten und durch Max Weber eingeführten Religionsbegriff.46 Der Islam wird in der Forschung oft diachronisch betrachtet und, soweit ich es überblicken kann, ohne Theorieansätze in Bezug auf die Frage nach dem Wesen von Religion behandelt. Wie definieren islamische Theologen, Philosophen, 45 Wie beispielsweise bei Weyel/Gräb: Religionen in der modernen Lebenswelt. 2006. Darin besonders Teil 2 (Theoretische Aspekte). 46 Zum Religionsbegriff vgl. Weyel/Gräb (Eds.): Religionen in der modernen Lebenswelt, 13-26. Darin besonders Teil 2 (Theoretische Aspekte) sowie Vorwort. Definition von Religion unter Diskussion von Luckmann (Die unsichtbare Religion), Drews (Religion, das unentdeckte Land), Barth (Religion in der Moderne) sowie vgl. darin Hölschers umstrittene Definition: „Religion ist alles, was man dafür hält“, 16 f sowie Luhmann (Religion in der Gesellschaft) ab 194 ff. Für einen substantialistischen (essentialistischen) Ansatz vgl. Pollack: Was ist Religion? 1995. Der Religionswissenschaftler Volkhard Krech betrachtet Religion aus kommunikationstheoretischer Perspektive, indem er kommunikationsorientierte Ansätze der allgemeinen Soziologie wie die von Luhmann und Habermas diskutiert. In Bezug auf den Islam siehe Waardenburg: Muslims as Actors. 2007. 32 Intellektuelle in Geschichte und Gegenwart Religion und wie gewichten sie sie? Diesen Fragen auch auf theoretischer Ebene nachzugehen, ohne den Islam in die „Peripherie“ zu verbannen, während sich die „echte“ Theoriearbeit durch das „Zentrum“ (die europäisch und westlich verstandene Moderne) geleistet wird, ist eine wünschenswerte Perspektive, nicht nur für die Zukunft der Islamwissenschaft. Die Islamwissenschaft hat sich dem Islam als Forschungsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven und auf verschiedenen Wegen genähert. Edward Saids Orientalism hat 1978 einen Paradigmenwechsel für die Erforschung (nicht nur) des Islam eingeleitet. In der Islamwissenschaft, so zeigen jüngere Arbeiten auf, dominierte der substantialistische oder essentialistische Blick auf das Forschungsobjekt Islam/Muslime.47 Diesen Aspekt greife ich an späterer Stelle im Schlusskapitel exemplarisch auf und diskutiere ihn kritisch. Der Frage nach Bedeutung und Relevanz von Religion sind Vertreter verschiedener Disziplinen nachgegangen.48 Wurde in Europa und in der eurozentrierten Forschung49 mit der Säkularisierungsthese bis in die 1960er Jahre, unter Bezug auf Max Webers Theorem von der „Entzauberung der Welt“50 bisher behauptet, Religion habe im Zuge der Modernisierung einen Verlust an Bedeutung 47 Vgl. beispielsweise Jung: Orientalists. 2011 und Schulze: Islamwissenschaft. In: Graf/Voigt: Religionen deuten. 2010. 81-202. 48 In der Soziologie und Anthropologie wurde der Versuch unternommen, den Religionsbegriff zu klären. Soweit ich es überblicken kann, hat die Islamwissenschaft einen solchen Versuch nicht unternommen, ausgenommen Jacques Waardenburg, dies ist allerdings wohl eher seiner Qualifikation als Religionswissenschaftler geschuldet. Waardenburg: Religionen. 1986. Weiterführend beispielsweise Cantwell-Smith: Meaning and End. 1978 [1962], der dafür plädiert, dass der Begriff Religion als wissenschaftliche Kategorie abgeschafft wird, da er in der europäischen Religionsgeschichte zu viele Bedeutungen erhalten habe. Eine profunde Darstellung der Begriffsfindung liefern unter anderem Heil: Was ist Religion? 2010 und Schlieter: Was ist Religion? 2010. 49 Arbeiten zum Religionsbegriff in außereuropäischen Gesellschaften, in solchen ohne christlichen Bezug oder solchen ohne Bezug auf monotheistische Religionen, finden sich, soweit ich es überblicken kann, kaum. Ebenso gehen die, auch in dieser Arbeit diskutierten Theoretiker weitgehend von einem europäischen/westlichen Kontext aus. Zur Problematik vgl. Schlieter: Was ist Religion? 247-68. 50 Diesen Begriff prägte er 1919 in Wissenschaft als Beruf. 33 für Individuum und Gesellschaft erlitten, so drängt sich in den vergangenen Jahren ein neues Bild auf. Dieses Bild ist widersprüchlich und facettenreich. 51 Bereits 1967 hatte der Soziologe Thomas Luckmann der Säkularisierungsthese -zu deren Vertretern in Deutschland beispielsweise die Soziologen Ulrich Oevermann und Detlef Pollack gehören -52 seine These von der „unsichtbaren Religion“ entgegen gesetzt.53 Luckmann spricht von der in den privaten Raum, also ins „Unsichtbare“ zurückgezogenen Religion, wo sie durchaus eine Funktion und Relevanz für die Individuen habe. Der funktionale Religionsbegriff, den der französische Soziologe Emile Durkheim prägte, ist Luckmanns These vorangesetzt. Durkheim war ein Verfechter der Idee der Individualisierung, auch der Individualisierung der Religiosität, die er unter dem Begriff „culte de l’individue“ zusammenfasste. 54 Luckmanns These führte zu einem Paradigmenwechsel in der Soziologie, mit großem Einfluss auf die Religionssoziologie. b. Was ist Religion? Die Definition des Religionsbegriffes in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen ist dynamisch und äußert sich eher in Annäherungen als dass es einen eindeutigen Begriff geben könnte, da es sich um ein diffuses, dynamisches 51 Der Soziologe Zygmunt Baumann sieht dies als ein entscheidendes Kriterium der Moderne und hat diese Argumentation in zahlreichen Werken ausgeführt, beispielsweise Baumann: Liquid Life. 2005. 52 Der Soziologe Peter L. Berger gehörte zunächst ebenfalls zu den Vertretern, distanzierte sich aber später von ihr. Dies legte er unter anderem hier dar: Berger: Zwang zur Häresie.1980. Ebenso distanzierten sich andere Wissenschaftler oder differenzierten die Bedeutung der Religion in der modernen Gegenwart, beispielsweise der Philosoph Jürgen Habermas, der den umstrittenen Begriff des Postsäkularismus, genauer: post-säkulare Gesellschaft prägte, der die Rückkehr der Religion meint. Der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf warf die These von der „Wiederkehr der Götter“ auf: Graf: Wiederkehr der Götter. 2007. Zuletzt sorgte der kanadische Soziologe Charles Taylor, der im Gegensatz zu Habermas von einem secular age spricht, mit seinen Ansichten zur Bedeutung und Relevanz von Religion für Aufsehen. Taylor, Ch.: Secular Age. 2007. Ihm wurde ein westlich-zentrierter Blick vorgeworfen, der stark aus einem christlichen Selbstverständnis spreche. Die Debatte gibt folgender Sammelband prägnant wieder Warner et al.: Varieties. 2010. 53 Luckmann: Unsichtbare Religion. 1991. [1967]. 54 Durkheim: Formen des religiösen Lebens. 2007 [1912]. 34 Phänomen an sich handelt55 Dennoch können in den theoretischen Ansätzen zwei übergeordnete Richtungen ausgemacht werden. Die substantialistische Theorie, sowie die funktionalistische Theorie. Verfechter substantialistischer Theorien versuchen Religion mit dem Wesen von Religion zu bestimmen, das heißt, dass das zu Definierende selbst, also Glaubensinhalte zur Definition herangezogen werden (beispielsweise Mircae Eliade, Rudolf Ott). Dahingegen versuchen funktionalistische Theorien der Frage nachzugehen, welche Funktion Religion für Mensch und Gesellschaft hat (Beispielsweise Emile Durkheim, Bronislaw Malinowski, Thomas Luckmann).56 Der Islam- und Religionswissenschaftler Jacques Waardenburg entwirft einen dritten Ansatz, um zwischen diesen beiden Theorieansätzen zu vermitteln und spricht von „vorläufigen Religionsbegriff“.57 „Orientierungssystem“, der es dem Dieser Menschen definiert ermögliche, einem Religion als innerweltliche Sinnzusammenhänge durch einen „sinngebenden“ Referenzrahmen zu erfassen:58 „Wir begreifen Religion auf abstrakter Ebene vor allem als Orientierung, Religionen als eine Art Orientierungssysteme. Ein Orientierungssystem ermöglicht es dem Menschen, sich im Leben und in der Welt innerhalb und mittels eines sinngebenden Rahmens zurechtzufinden, zu ‚orientieren‘ (…). Religionen sind jedoch Orientierungssysteme besonderer Art. Zum einen umfassen sie (…) ganz spezifische Elemente, etwa die Vorstellung, dass es geistige Wesen gibt (…), und besondere Erfahrungen und Verhaltensweisen, die sich auf religiöse Kräfte und Zusammenhänge beziehen, die dem Leben und der Welt zugrunde liegen sollen. Dazu kommen für absolut gültig gehaltene Normen und Werte (…) bestimmte jenseitige, unbedingt, ja absolut geltende Bezugspunkte, die sinngebend wirken. Religiöse Orientierungssysteme wirken aber nur dann, wenn ihre Sinngebung auch tatsächlich als objektiv, absolut geltend und somit evident hingenommen wird.“ 59 55 Joachim Heil gibt einen profunden Überblick über die verschiedenen Ansätze in der Wissenschaft. Vgl. Heil: Was ist Religion? 2010. 56 Überlegungen zu diesen beiden theoretischen Strömungen siehe Heil: Was ist Religion, 7-10. Für eine Kritik vor allem am substantialistischen Ansatz siehe Berger: Second Thoughts. 1974. 57 Waardenburg: Religionen, 34. 58 An dieser Definition orientiere ich mich, wenn ich Engineers Religionsverständnis analysiere. Siehe Kapitel zum Themenkomplex Religion. 59 Waardenburg: Religionen, 34 f. 35 c. Was ist religiöse Reform? Bei der Klärung dieser Frage orientiere ich mich für die vorliegende Studie an Waardenburg, der religiöse Reform wie folgt definiert: „ (…) the conscious, mostly peaceful transformation of a given religion, reconsidering its truth to be affirmed in the community, or its norms to be applied in behaviour, both of which are to improve the human situation in society. Reform in religion has intimate links with critical needs in the society concerned.” 60 Dass ein dynamischer Prozess wie „Reform” zwangsläufig zu Problemen bei der Definition führt, ist auch Waardenburg klar: „ In studying religious reforms and reform movements we should avoid using stereotypes like “liberal”, “revivalist”, “fundamentalist”, or “radical”. These terms do not render any services to a serious study of the variety in social radiation and interaction (…)”61 Dieser Meinung schließe ich mich zwar grundsätzlich an, allerdings bleibt die Frage bestehen, wie und welche Termini verwendet werden sollen, die als Ordnungsund Prozessbegriffe komplexe Phänomene annähernd erfassen können. In der Studie von Religion und religiösen Akteuren bleibt das Dilemma bestehen, recht diffuse Phänomene äußerst präzise widergeben zu müssen. Engineer dienen der Koran und seine Interpretation als Quelle der Normenfindung und Erklärung innerweltlicher Sinnzusammenhänge. Dazu stellt Waardenburg weiter fest: “A religious reform addresses an existing religious tradition.”62 Reform bedeute auch, die Heiligen Texte unter Heranziehung der Vernunft und Logik zu interpretieren und mit der eigenen Lebenswelt zu korrelieren. 63 Diesen 60 Waardenburg: Muslims as Actors, 377. Waardenburg: Muslims as Actors, 378. 62 Waardenburg: Muslims as Actors, 377. 63 Vgl. Waardenburg: Muslims as Actors, 379. 61 36 Aspekt der Vernunft in Einklang mit dem Glauben (faith and reason) betont Engineer an zahlreichen Stellen in seinen Texten. Engineer rekurriert auf die Tradition der Koranexegese und modifiziert diese Tradition für sich in seinem lebens- und glaubensweltlichen Kontext neu. Waardenburg sieht in diesem Prozess auch Gefahren, wie etwa: „It may bring about the transformation of a religion, but can also end in its ideologization.”64 Eine Beobachtung, die sicher auf solche Denker wie etwa Qutb, Maudoodi oder gar Muhammad ibn Abdalwahhab zutrifft, deren Rezeption die oben genannte „ideologization“ zur Folge hatte, wie sie sich beispielsweise in der Bewegung der Muslim Bruderschaft, Tablighi Jamaat oder im Wahabismus realisiert. Ideologisierungen können aber genauso mit Interpretationen und Neudefinitionen des Islam einhergehen, die man gemeinhin als „liberal“ bezeichnen würde, im Gegensatz zu den oben genannten, die man „radikal“ nennt. Diese Ideologisierung ist eine genaue Betrachtung aus der Perspektive verschiedener Disziplinen wert, soll aber an dieser Stelle aus Gründen der Stringenz ausgeklammert werden. Für meine Betrachtung habe ich einen Vertreter der Reformdenker gewählt, der versucht, dem Islam eine neue Bedeutung in einer modernen pluralistischen Welt in Abgrenzung zu etablierten Deutungen zu geben, indem er sich nicht von modernen Gütern wie Pluralismus oder Säkularismus abgrenzt, sondern eine Verschränkung seiner eigenen Lebenswelt mit den Heiligen Texten sucht. So hebt er den oft konstruierten, scheinbaren Widerspruch SäkularismusIslam auf, da er diesem durch den Heiligen Text eine eigene Färbung und Sinngebung verschafft, so dass er ihn und andere Güter der Moderne innerhalb 64 Waardenburg: Muslims as Actors, 378. 37 seines Referenzrahmens verorten und ihm Ordnungsfunktion zuweisen kann. Hierfür stellt er sich in deutliche Abgrenzung zu etablierten muslimischen Erklärungen. Dass diese Versuche der religiösen Reform kein neuzeitliches Phänomene für den Islam sind, beweist ein Blick in die islamische Ideengeschichte. Da es keine dogmatisch bindende weltliche, institutionelle Autorität gibt, die den Zugang zum Heiligen Text und die Auseinandersetzung mit ihm regeln oder sanktionieren könnte, bietet sich der Korantext für jene an, die sich von den etablierten Deutungen befreien und gleichzeitig mit ihrem Glauben verbunden sein möchten. Der wesentliche Aspekt des Glaubens bei der Betrachtung muslimischer Reformdenker oder Religionsintellektueller, hat in der islamwissenschaftlichen, anthropologischen, allgemein soziologischen oder religionssoziologischen Forschung wenig Beachtung gefunden. Das mag an der Natur der Sache liegen. Wie soll ein Forscher Glaube oder einen Gläubigen erfassen können? „Wie jede andere Bewusstseinseinstellung kann Religion immer von innen und außen beobachtet werden. Das Bild, das sich ein frommer Mensch von seinem Glauben macht, ist niemals in die analytischen Deutungssysteme restlos interpretierbar, die gelehrte Religionsexperten von außen entwickeln.“65 Andere innere und äußere Beschränkungen, die sich die einzelnen Disziplinen auferlegt haben, spielen ebenfalls eine Rolle. Dennoch soll dieser Aspekt hier Erwähnung finden, denn er ist ein entscheidendes Motivationsmoment in der Wahrnehmung und Herangehensweise Engineers. Dass er gläubig ist, nimmt einen bedeutenden Raum für sein Islam-, Welt-, Menschen- und Gottesbild ein. Zwar begegnet er dem Koran auf dem ersten Blick zunächst auf rein funktionale Weise. Er wählt Verse aus, die ihm inhaltlich und im Aufbau logisch erscheinen und die sein Argument und sein individuelles Religionsverständnisuntermauern. An dieser Stelle 65 Graf: Wiederkehr, 10. 38 wird der Vorwurf der selektiven Auswahl von Koranversen laut (Sikand et al), der auch anderen Religionsintellektuellen gemacht wird66 Legt man dieser Auswahl, die von ihm selbst genannten Leitprinzipien 67 als Grundschema der Bewertung zugrunde, so ergibt sich ein differenziertes Bild. Bedingt durch seinen Glauben an diese Leitprinzipien, muss er folglich solche Verse heranziehen, die seine subjektive religiöse Überzeugung betonen, bestätigen oder stärken. Die Wahl erfolgt, so lautet ein Ergebnis dieser Studie, relevanzorientiert in der Sache und prinzipienorientiert (normativ) im Grundsatz. d. Reformdenker als „Religionsintellektuelle“ Der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf prägte den Begriff Religionsintellektuelle,68 den „Intellektuellenreligiosität“ 69 er in Anlehnung an Max Webers entwarf. Zwar gibt es Argumentationen Grafs, die kritisch zu betrachten sind, etwa wenn er behauptet, Religionsintellektuelle sähen in der Religion „die alles entscheidende Potenz der Kultur“,70 allerdings ist vieles aus seiner Definition des Religionsintellektuellen in hohem Maße bei Engineer anzutreffen, wie etwa diese: „Religionsintellektuelle bedienen sich der überkommenen religiösen Sinnstoffe, um Protest zu erheben, Zeichen zu geben, Partei zu ergreifen. (…) Sie nehmen die symbolischen Ressourcen, die Bilder, die Zeichen, Erlösungsmetaphern und Heilsgeschichten der bestimmenden Glaubensüberlieferungen für ganz harte Gegenwartskritik in Anspruch (…).“71 66 Auf diesen Aspekt und diese Kritik gehe ich im folgenden Kapitel sowie im Schlussteil ein. Wie etwa Barmherzigkeit. Im Folgenden mehr, siehe Kapitel Einführung in die Analyse des Textkorpus. 68 Graf: Propheten moderner Art? 2010. Zwar bezog sich Graf zunächst auf evangelische Religionsintellektuelle, aber wendete den Begriff später auch auf Muslime an, wie beispielsweise auf den Islamwissenschaftler Navid Kermani in seinem FAZ-Kommentar zum Streit um die Verleihung des Hessischen Kulturpreises an Kermani. Vgl. Graf: Kant hat dasselbe wie Kermani gelehrt. In: FAZ, 21.09.2009. 69 Graf: Propheten, 3. Fußnote 7. Seitenzahlen Online-Version des Artikels. Vgl. Bibliographie. 70 Graf: Propheten, 3. 71 Graf: Propheten, 3. 67 39 Engineer kann, was zu zeigen sein wird, als Religionsintellektueller bezeichnet werden. Graf stellt darüberhinausgehend fest, dass Religionsintellektuelle recht frei mit den Traditionen verschiedener Religionen und anderen Ideen umgehen und diese „frei kombinieren“.72 Auch diese Beobachtung trifft auf Engineers eklektischen Umgang mit Quellen und Referenzen zu, die vom britischen Sozialphilosophen, Mathematiker und Logiker Bertrand Russell73 über Karl Marx und Noam Chomsky bis zum Propheten Muhammad reichen. Diese Vorgehensweise charakterisiert Graf als „glaubensschöpferisch“,74 denn obwohl die Religionsintellektuellen keine neue Religion schaffen wollten, so „agieren sie doch insoweit als Künder neuer Religion, als sie im öffentlichen Glaubensdiskurs für ihre individuelle Gottessicht kämpfen und aus ihrer individuellen Glaubensgewissheit normative, handlungsleitende Verbindlichkeiten für alle abzuleiten versuchen.“75 Eine Feststellung, zu der ich in meiner Studie zu Engineers Texten ebenfalls gelangte. Zwar propagiert Engineer seine eigene Interpretation und Lesart des Islam nicht als die einzig gültige, dennoch wird deutlich, dass er sie für wahr hält und dass es für ihn auch solche gibt, die er als unislamic oder unqur‘anic bezeichnet. 72 Graf: Propheten, 4. Bertrand Russell (1872-1970), war ein überzeugter Pazifist und Vertreter des Humanismus. Für seine Schriften, in denen er sich unter anderem mit der Meinungsfreiheit auseinandersetzte, erhielt er 1950 den Nobel-Preis für Literatur. Einer seiner Essays trägt den Titel What I Believe (1925). Engineer verfasste anlässlich seines eigenen 60. Geburtstages eine Art Grundsatzpapier mit derselben Überschrift. Ob dies nun ein Zufall war, konnte ich nicht aufklären, vgl. Engineer: What I Believe. Ohne Datumsangabe. 74 Graf: Propheten, 4. 75 Graf: Propheten, 4. 73 40 1.7 Aufbau der Arbeit Die Arbeit fügt sich aus drei Teilen zusammen. Der erste Teil (Einleitung) besteht aus einer Einführung und Kontextanalyse, die für das Verständnis der Studie unabdingliche Hintergrundinformationen, beispielsweise zu Muslimen in Indien oder biographische Notizen zu Engineer, liefert. Der zweite Teil (Hauptteil) umfasst die Analyse des Textmaterials, deren Ergebnisse schließlich im dritten Teil (Schluss und Fazit) gemäß der Fragestellung diskutiert, eingeordnet und weiterführend verortet werden. 41 2. Kontextanalyse 2.1 Muslime in Indien seit 1947 Zum Zeitpunkt der Überarbeitung des Manuskripts dieser Arbeit tobte 2014 in Indien der Präsidentschafts-Wahlkampf. Gute Aussichten auf den Posten des mächtigsten Mannes des Subkontinents hatte der Vorsitzende der rechtskonservativen BJP, Narendra Modi.76 Als damaliger Ministerpräsident Gujarats wird Modi für das Massaker in diesem Bundesstaat an über 1000 Muslimen im Jahr 2002 verantwortlich gemacht. Tagelang ließ er einen Hindu-Mob in muslimischen Vierteln wüten. Obwohl ihm eine offizielle Untersuchung keine Schuld nachweisen konnte, sehen in ihm viele Inder den Hauptverantwortlichen. Modi ist ein ehemaliges Mitglied der radikalen, gewaltbereiten Hindu-Organisation RSS. Seine Kandidatur für die Präsidentschaft spaltet das Land tief. Viele befürchten bei seiner aussichtsreichen Wahl zum Premierminister Unruhen und Gewaltakte zwischen den Religionsgemeinschaften. Modis Rhetorik richtet sich vornehmlich gegen die muslimische Minderheit. Etwa 140 Millionen Muslime leben in Indien, sie machen ca. 14% der Gesamtbevölkerung aus und sind damit die größte religiöse Minderheit.77 Auch in Indien werden Konflikte, die zwischen Religionsgruppen entstehen, häufig unter Rückgriff auf historische Argumente geführt.78 Die Erinnerung an historische Ereignisse und ihr Narrativ 76 Modi wurde 2014 zum Ministerpräsidenten gewählt. Zahlreiche Autoren haben zu einzelnen Aspekten der indischen Gesellschaft im Allgemeinen und der indischen Muslime im Besonderen gearbeitet und diese detaillierter, als es hier geschehen kann beschrieben. Zur Sozialgeschichte der indischen Muslime siehe die Werke von Ahmad, I., die zwar in den 1970er und 80er Jahren entstanden, aber eine der wenigen Studien sind, die es zum Sozialleben der indischen Muslime gibt. Zu muslimischen Studierenden in Kerala siehe weiterführend die ethnologische Studie von Riedel: Orient und Okzident. 2014; zum Konsumverhalten der indischen Mittelschicht und den Folgen für die Gesellschaft siehe: Jafflerot/van der Veer (Eds.): Middle Class Consumption. 2008. 78 Siehe weiterführende Studien unter Berücksichtigung gegenwärtiger Konflikte in Indien, in denen historische Ereignisse eine entscheidende Rolle in der Argumentation spielen. Dabei ist besonders die vergleichende Studie des Historikers Carsten Wieland zu erwähnen, da sie die „Ethnisierung“ von Religion in Indien, Pakistan und Bosnien nachvollziehbar belegt: Wieland: Nationalstaat. 2000; 77 42 spielen für das Verhältnis zwischen der muslimischen Minderheit und der hinduistischen Mehrheit eine signifikante Rolle. Hierbei steht die Teilung des indischen Subkontinents 1947 in einen souveränen indischen und einen pakistanischen Staat sowie die daraus folgenden Konsequenzen für die indische Gesellschaft, darin insbesondere für die Muslime,79 im Vordergrund. Muslime seien keine genuinen Inder, sie verhielten sich nicht loyal zu Indien, ihre Heimat sei Pakistan, sind die populärsten Annahmen, die im Land kursieren und in allen Milieus und Kasten anzutreffen sind. Gewaltexzesse und die routiniert wiederkehrende Aufforderung, die Muslime sollen doch „zurück nach Pakistan“ gehen, sind zwei extreme Formen, die diese aggressive Haltung zum Ausdruck bringen, wie zum Beispiel während des Wahlkampfs 2014 durch einen führenden Politiker der BJP, Giriraj Singh: „In den Tagen, die kommen, wird für sie in Indien kein Platz mehr sein. Sie finden ihren Platz in Pakistan“.80 Als Gegenentwurf zu dieser Haltung (communalism) findet sich in Gesellschaft und Politik die Einstellung, die Diversität des Landes als historisch verwurzelte Bereicherung anzunehmen. Nur eine säkulare Weltsicht und politische sowie spezifisch zu Gewalt und Konflikt in der Gegenwart die Arbeiten von Julia Eckert unter besonderer Berücksichtigung des Hindu-Nationalismus (Siehe Bibliographie dieser Arbeit) und Paul Brass mit dem Schwerpunkt communalism (Regionaler Schwerpunkt der westindische Bundesstaat Gujarat); Das, V.: Mirrors of Violence.1990. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der indischen Historiographie verweise ich auf die Werke in der Reihe der New Cambridge History of India; sowie Thapar/Mukhia/Chandra: Writing of Indian History. 1969. Mit der Rolle des (westlichen) Wissenschaftlers bei der Geschichtsschreibung über Indien befasst sich zum Beispiel Metcalf, B.: Contestations, 193-216. 79 Wenn in dieser Arbeit von den Hindus und den Muslimen gesprochen wird, so versteht es sich von selbst, dass diese und weitere verallgemeinernde Bezeichnungen gewiss nicht der Pluralität und Diversität von Millionen Menschen gerecht werden können. Sie werden ebensowenig die regionalen, sprachlichen, konfessionellen, religiösen, ökonomischen, sozialen und unzähligen anderen Unterschiede erfassen können. Ich verwende diese Verallgemeinerung hier, im Bewusstsein um diese Komplexität, gänzlich pragmatisch. Zu beinahe allen Aussagen und Beobachtungen zu Hindus, Muslimen und zu Indien im Besonderen, kann es ebenso Aussagen und Beobachtungen geben, die diese in Frage stellen und die dennoch zutreffend sind. 80 Singh, Girirah zit. in: Hein: Ein bisschen Heroin für jede Stimme. In: FAZ. 29.04.2014. Der Politiker distanzierte sich zwar später von dieser Aussage, dennoch soll sie hier dazu dienen, diese Meinung aufzuzeigen, die auch Referenzen in der Popkultur hinterlassen hat, wie zahlreiche HindiFilme zeigen. Weiterführend siehe: Sagir: Wo der Khan nicht regiert. In: Südasien. 2008. 43 Führung könne dies gewährleisten, darauf weist Priyanka Gandhi, die Urenkelin des ersten Präsidenten Indiens, Jawaharlal Nehru, hin: „Wollen Sie ein Land des Buddha, eines von Mahatma Gandhi, wo Hindus, Muslime, Sikhs und Christen zusammenleben, oder ein Land, wo einer den anderen bekämpft? In dem die eine gesellschaftliche Gruppe vorankommt, während die andere zurückbleibt, und mit Kasten und Religionen ein Keil zwischen uns getrieben wird?“81 Diese beiden Aussagen sollen ausreichen, um an dieser Stelle zwei sehr populäre Positionen in der Auseinandersetzung um das Zusammenleben von Mehrheit und Minderheiten in Indien zu verdeutlichen. Die Positionen scheinen unverrückbar und tauchen, häufig unter Heranziehung historischer Referenzen, immer wieder während heftig geführter Debatten um diesen Themenkomplex auf.82 Muslime in Indien befinden sich in einer besonderen Situation. Sie waren und sind immer in der Minderheit geblieben, auch zu Zeiten, als der Subkontinent zu großen Teilen von muslimischen Herrschern geführt wurde.83 Wechselnde muslimische Herrscher wie die Ghaznaviden, die Ghuriden, das Sultanat von Delhi sowie die Bekanntesten, die Moguln ab 1526, sicherten die Präsenz von Muslimen in 81 Gandhi, Priyanka zit. in: Hein: Ein bisschen Heroin für jede Stimme. In: FAZ. 29.04.2014. Beispielsweise Anfang des Jahres 2013, nachdem einer der Top-Filmstars des Landes, Shah Rukh Khan, sich in einem Magazinbeitrag darüber beklagte, dass er als indischer Muslim immer wieder sowohl in Indien als auch im westlichen Ausland unter Generalverdacht gerate. Der Blogger und Journalist Sanjay Kumar bezeichnete dies als „Prisoner of Islamic Identity“, denn Khan bekam von unerwünschter Seite Schützenhilfe, aus Pakistan, er solle „nach Hause kommen“. Vgl. Kumar, S.: Shah Rukh Khan’s Fear. In: The Express Tribune Blogs. 03.02.2013. Dies bestätigte die Position, Muslime seien keine „richtigen Inder“. Khan war in der Loyalitätsfalle, die Kumar als „Prisoner of Islamic Identity“ bezeichnet. Zuvor war Khans Haus in Mumbai von Mitgliedern der RSS immer wieder belagert und seine Familie bedroht worden. Diese Vorfälle sind bemerkenswert und aufschlussreich in Bezug auf den Umgang mit Muslimen in Indien, da radikale Kräfte ungehindert auch über alle religiösen und ökonomischen Milieus populäre Personen des öffentlichen Lebens bedrohen können. Khan gilt als Identifikationsfigur weltweit für viele Muslime, vor allem der Muslime in nichtmuslimischen Ländern. Vgl. Sagir: Wo der Khan nicht regiert. In: Südasien. 2008; sowie die Dokumentation The Inner and Outer World of Shah Rukh Khan von der britischen Filmemacherin Nasreen Munni Kabir. 2005. 83 Die Präsenz des Islam in Indien lässt sich bis in seine Frühzeit zurückverfolgen. Zur Geschichte des Islam in Südasien siehe weiterführend mit dem Fokus auf die Frühzeit bis zum Mittelalter unter Berücksichtigung einer Weltgeschichte Wink: The Making. 1990. Einen Gesamtüberblick liefert Malik: Islam in South Asia. 2008. Unter den arabischen Reiseberichten stammt der wohl bekannteste von Ibn-Battuta, Muhammad Ibn-Abdallah: Rihlat Ibn-Battuta. Siehe auch Conermann: Beschreibung Indiens in der „Rihla“. 1993. 82 44 Indien. Ab 1591 wird Indien von britischen Händlern bereist und ab 1600 etabliert sich die East India Trade Company (später nur East India Company)84 mit Erlaubnis von Elizabeth I. Ab 1700, mit dem Sieg des Marathen-Führers Shivaji85, wird die Vormacht der Moguln zunehmend bedroht und zurückgedrängt. Neben lokalen Herrschern sind es die Briten, die die Machtposition der Moguln schwächen. Ihre Herrschaft endet 1858 mit der Machtübernahme durch die Britische Krone (British Raj). Der letzte Mogulherrscher Bahadur Shah I. wird 1857 infolge der SoldatenRebellion, des Sepoy-Aufstandes86 (auch als Indian Mutiny bekannt)87 durch die Briten in Delhi interniert.88 Dieser Aufstand gegen die East India Company89 erfasst ganz Indien, die Kolonialmacht bekämpft ihn zunächst brutal, weiß die Rebellion aber schließlich nicht mehr zu bändigen. Die britische Krone greift ein und übernimmt die Herrschaft, die mit der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung von Pakistan und Indien als zwei unabhängige Staaten 1947 (Teilung) und 1948 (Staatsgründungen) ein Ende nimmt.90 Infolge der Teilung, die auch die Region Punjab betrifft, kommt es zu einem Exodus auf beiden Seiten des nun geteilten 84 Die East India Company fungierte ab 1612 als Außenstelle des britischen Empire. Dieses Wirtschaftsunternehmen beherrschte bis Mitte des 19. Jahrhunderts (1858) den gesamten Subkontinent militärisch, politisch und ökonomisch. 85 Shivaji gilt besonders für den Hindu-Nationalismus als Symbolfigur. Unter dem populistischen Hindu-nationalistischen Bürgermeister von Bombay (heute: Mumbai), Balraj Thackeray, wurde in den frühen 1990er Jahren der Flughafen, ein zentraler Regionalbahnhof sowie Straßennamen nach diesem Herrscher umbenannt; wie auch die Stadt selbst den Namen Mumbai, in Anlehnung an die in dieser Stadt verehrte Hindu-Göttin Mumbadevi, erhielt. Die britischen Kolonialherren sowie die muslimischen Moguln (und damit in der Logik der Hindu-Nationalisten auch die muslimischen Inder heute) werden im Hindu-nationalistischen Narrativ als Eindringlinge charakterisiert. Folglich kann eine kausale Argumentationslinie hergestellt werden, die muslimische Inder nicht als „echte Inder“ deklariert. 86 Gelegentlich in der Literatur auch Sipahi - oder Sepahi-Aufstand. (pers. Sepahi, dt. Soldat). 87 Der Sepoy-Aufstand von 1857, auch als Indian Mutiny bezeichnet, markiert einen Wendepunkt in der Kolonialgeschichte der britischen Herrschaft. Knapp neunzig Jahre sollte es dauern bis dieses Kapitel abgeschlossen sein würde. Bis dahin brachten immer wieder aufflammende Bestrebungen für ein Selbstbestimmungsrecht neue Gruppen und Personen hervor. Zu den wichtigsten Gruppen und Bewegungen siehe Jones: Socio-Religious, 210 ff. 88 Zu diesem Zeitpunkt beschränkte sich die Macht des letzten Mogulen lediglich noch auf die Stadt Delhi. 89 Zu Aufstieg und Fall der East India Company siehe Bayly, C.: Indian Society, 106 ff. 90 Weiterführend zur vorkolonialen Gesellschaft, zur Kolonialisierung sowie zum Fall der British Raj siehe Bayly, C.: Indian Society. 1988. Das Bild Indiens bei den Europäern, vor allem bei den Briten mit besonderem Fokus auf die Wissenschaft, dargestellt und diskutiert bei Metcalf, T.: Ideologies of the Raj. 2008. 45 Subkontinents. Muslime aus Indien (Unabhängigkeit am 15. August 1947) wandern aus nach Pakistan (Unabhängigkeit am 14. August 1947) und Hindus bzw. Nichtmuslime aus Pakistan wandern nach Indien aus. Es kommt zu pogromartigen Übergriffen auf beiden Seiten. Familien werden dabei zerrissen. Die materiellen und persönlichen Verluste sind immens. Diese Erfahrungen haben sich bei Muslimen, Hindus und Sikhs, die mehrheitlich im Punjab verwurzelt sind, tief eingebrannt und wurden über Generationen als historisches Narrativ in der persönlichen Geschichte weitergetragen. Das diese Erfahrungen konstituierende kollektive Gedächtnis, wird im Vorfeld von gewaltsamen Konfrontationen fast automatisch abgerufen. Den Muslimen wird dabei die Schuld an der Teilung zugewiesen und ihre Loyalität zu Indien in Frage gestellt. So spaltet die Erinnerung an die Teilung auch heute noch den indischen Subkontinent. Die Erinnerung an die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus klingen in den gegenwärtigen Debatten um das Zusammenleben der beiden Religionsgemeinschaften nach. Das Verhältnis zum Nachbarland Pakistan, welches aus der Teilung als eigenständiger Staat hervorging, bleibt angespannt. Seit ihrer Gründung führten beide Staaten mehrere Kriege gegeneinander. Der Konflikt um die Region Kaschmir bleibt bis heute, über sechzig Jahre nach der Teilung, ungelöst. 46 2.1.1 Die Teilung: Ein Blick zurück Bis zur Teilung 1947 dauerte ein beinahe fünfzig Jahre andauernder Kampf um Macht, Hegemonie und Interessenwahrung durch die Eliten des Subkontinents an.91 Wer würde die Nachfolge der Kolonialmacht antreten? Mit dem Ende des Kolonialismus entstanden neue Machtkonstellationen, doch zuvor bestand ein Machtvakuum, das die hinduistischen wie muslimischen Eliten füllen wollten. Die zu Kolonialzeiten unter den Briten erworbenen oder verfestigten Privilegien wurden verteidigt. Dabei ging es um Privilegien auf der Verwaltungsebene, um Landbesitz und die Partizipation an lukrativen Märkten. Ab 1937 zeichnete sich ab, dass die Briten den Subkontinent in die Unabhängigkeit entlassen würden, auch wenn das zu diesem Zeitpunkt noch nicht offiziell formuliert wurde.92 Doch wie kam es zu dieser Teilung einer ehemaligen britischen Kolonie in zwei Staaten und nach religiöser Zugehörigkeit? 93 Muhammad Jinnah, Gründer des Staates Pakistan, pochte auf einen eigenen Staat für die Muslime, weil „Muslim“ 91 Diese Auseinandersetzung um die Macht führten die Eliten unter sich. Die vornehmlich von Agrarwirtschaft lebende Mehrheit wurde weder einbezogen, noch erfuhr sie zunächst von den Unabhängigkeitsbestrebungen. Die Massen wurden in diesem Machtgezerre erst spät, aber dennoch effektiv mobilisiert. Siehe weiterführend bei Metcalf, B.: Contestations. 2004; Wieland: Nationalstaat. 2000; Hardy: Muslims of British Raj.1972. 92 Der Widerstand gegen die britische Kolonialmacht hatte bereits zu ersten „nationalistischen“ Unabhängigkeitsbestrebungen geführt (beispielsweise 1857 Indian Mutiny genannt auch SepoyAufstand). 93 „Daß sich in einem Gebiet von der Größe des indo-pakistanischen Subkontinents die verschiedensten Schattierungen des im Grunde einfachen Islams finden, ist natürlich.“ Es bestünden Spannungen zwischen jenen, die aus ihrer früheren Hindu-Kultur und der sie umgebenden Kultur beeinflusst seien und jenen, die den reinen Islam der arabischen Halbinsel favorisierten. „Diese Spannung scheint charakteristisch für den indischen Islam zu sein (...): Mystische Volksfrömmigkeit steht gegen puritanische Reform (...). Die Teilung des indischen Subkontinents 1947 ist im Grunde eine Folge dieser seit Jahrhunderten anhaltenden Spannungen, die nun, in einer Zeit des wachsenden Nationalismus artikuliert wurden und Gestalt annahmen.“ So schrieb die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel noch 1983, vgl. Schimmel: Islam im indischen Subkontinent, 3-4. Diese Aussage ist aus heutiger Sicht mit deutlicher Distanz und Kritik zu betrachten. Sie geht davon aus, dass es homogene muslimische Gruppen gebe, hier die Puritaner, dort die Mystiker. Und diese innermuslimischen Spannungen hätten nicht zuletzt zur Teilung geführt (diese behauptete Dichotomie betont Schimmel an diversen Stellen des oben aufgeführten Bandes, beispielsweise auf Seite 137). Die Teilung mündete aber in zwei Staaten für zwei „Nationen“ (Muslime/Pakistan, Hindus/Indien) und nicht in eine Teilung zwischen den Muslimen in Puritaner und Mystiker. 47 nicht nur eine religiöse, sondern mehr und mehr eine ethnische Bedeutung annahm.94 Jinnah wollte „a State for Muslims rather than an Islamic State. “ 95 Jinnah, in Oxford ausgebildet und vom britischen Liberalismus beeinflusst, war ein säkularer Muslim.96 Obwohl Jinnah zunächst nicht die Unterstützung der muslimischen Mehrheit hatte, wurde er von den Briten, die die Verhandlungen führten, als Repräsentant ausgewählt.97 Außer den Briten, vertreten durch Lord Mountbatten, verhandelten98 die Congress-Partei (Nehru) und die Muslim League (Jinnah). Wieland weist darauf hin, dass „Alle drei Hauptakteure – Nehru, Gandhi und Jinnah – (...) jedoch durch ihre Sturheit oder durch Provokationen mögliche Durchbrüche [verhinderten].“99 Zur Verhärtung der unversöhnlichen Positionen der Verhandlungspartner führten Debatten um Sprache (die Etablierung von Englisch und Hindi wurde durch die britische Kolonialmacht favorisiert), die Frage um Landbesitz, sowie das Schlachtverbot für Kühe durch die britische Kolonialverwaltung. 100 Die muslimischen Eliten sahen sich zunehmend in der Defensive.101 Zunächst favorisierte Jinnah einen muslimischen Staat innerhalb einer indischen Föderation. Da Nehru aber signalisierte, dass man sich nach der Unabhängigkeit nicht an diese Verabredung halten würde, willigte Jinnah ein und der 94 Weiterführend siehe Wieland: Nationalstaat. 2000. Wink: Islam, Politics, 28. 96 Wieland problematisiert die Legendenbildung in Pakistan, die ihn als „besten Muslim“ idealisiere. Vgl. Wieland: Nationalstaat, 324 ff. Jinnahs Familie war multireligiös. Zwar gibt es divergierende Meinungen zu seinem Verhältnis zum Islam, es kann aber festgehalten werden, dass für Jinnah Religion im Zuge seiner politischen Arbeit keine wichtige Rolle spielte und für ihn persönlich erst zum Ende seines Lebens von Bedeutung war. Vgl. Wieland: Nationalstaat, 284 ff. 97 Vgl. Wieland: Nationalstaat, 313, 316, 320. 98 Wieland: Nationalstaat, 311 f weist auf die instabile Lage Großbritanniens zu dieser Zeit hin. Innenpolitisch fand ein Wechsel zu einer Labour-Regierung statt, die anti-kolonial eingestellt war. Zudem war Großbritannien durch den 2. Weltkrieg geschwächt. Wieland nennt zusätzlich zur politischen Ebene, Konflikte und Animositäten auf persönlicher Ebene zwischen den drei Verhandlungsparteien als den Verhandlungsprozess prägende Faktoren. Vgl. Wieland: Nationalstaat, 312. 99 Wieland: Nationalstaat, 317. 100 Obwohl die Muslime Kühe nach Landestradition nur selten schlachteten, sondern eher Schafe oder Ziegen, wurde die Frage der Kuhschlachtung zu einer „Frage der Ehre“ gemacht. 101 1900 wurde die Urdu Defense Association, 1903 die Muhammedan Political Association und 1906 die Muslim League gegründet, die später unter Jinnah in die Teilung des Subkontinents einwilligen sollte. 95 48 britische Vizekönig Lord Mountbatten stimmte der Teilung des Punjab und Bengalens zu.102 Die Zwei-Nationen-Lösung (auch: Two-Nation-Theory), die von Jinnah ab 1940 propagiert wurde, setzte sich durch.103 Jinnah konnte die muslimischen Eliten sowie auch einige Geistliche der islamischen Universität Aligarh davon überzeugen, dass sie in einem Hindu-Mehrheitsstaat benachteiligt werden würden. Er nutzte die Emotionen eines muslimischen Bewusstseins, welches bereits 1919 Ausdruck in der Khilafat-Bewegung104 gefunden hatte. Diese Bewegung forderte den Schutz und Erhalt des osmanischen Sultan und Kalifen, als gemeinsame muslimische Identifikationsfigur im Widerstand gegen die britische Imperialmacht. Mit dem Ende des Osmanischen Reiches 1923 und der Abschaffung des letzten muslimischen Kalifats brauchte nun dieses Bewusstsein ein neues Organ. Jinnah erkannte dies und verstand es, diese Emotionen geschickt für seine politisches Engagement einzubinden. Die Zwei-Nationen-Theorie behauptet, Hindus und Muslime seien zwei unterschiedliche Ethnien,105 mit unterschiedlichen Kulturen, ja sogar die Sprachen seien unterschiedlich. Urdu sei die Sprache der indischen Muslime und Hindi die Sprache der Hindus. Allerdings traf dies lediglich auf einen kleinen Teil der gesamtindischen Bevölkerung zu. Jede Region hat(te) oder besser: beheimatet(e) eine Fülle an Regionalsprachen. Die Grenzziehung der indischen Bundesstaaten erfolgte weitgehend über Sprachgrenzen. Muslime im südlichen Tamil Nadu sprechen Tamilisch, während 102 Vgl. Malik: Islam in Südasien. In: Noth: Islamische Orient, 505 ff. Die Briten machten die Zwei-Nationen-Lösung zur Bedingung für die Teilung und damit für den Wunsch Jinnahs nach einem eigenen Staat. Vgl. Wink: Islam, Politics, 28. 104 Obwohl er selbst die Khilafat-Bewegung nicht befürwortete. Zur Khilafat-Bewegung und ihrer politischen Instrumentalisierung siehe Wieland: Nationalstaat, 189 ff. 105 Zu Definitionen und Konzepte zu Nation und Ethnie siehe Wieland: Nationalstaat, 25-62. 103 49 Muslime im nördlichen Lucknow Urdu sprechen.106 Es darf die Vermutung angestellt werden, dass Jinnah für diese Zwei-Nationen-Theorie mehr aus strategischen Motiven denn aus Überzeugung warb. Wieland gibt einen Dialog zwischen Jinnah und dem britischen Vizekönig Lord Mountbatten wieder, der mit der Abwicklung der ehemaligen Kolonie beauftragt war und die Verhandlungen über ihre Zukunft führte. Der Disput entstand infolge des Teilungsplans, den Mountbatten den Verhandlungsparteien vorgelegt hatte. Dieser sah vor, dass der Punjab und Bengalen geteilt werden sollten, wogegen sich Jinnah wehrte. In diesem Dialog steckt ein Argument, dass heute in Diskussionen, die rund um Religionszugehörigkeit und Identität geführt werden, eine wichtige Rolle einnimmt. Zunächst ist man ein Inder („he is an Indian before all else“), dann folgt die regionale Zugehörigkeit und zuletzt die religiöse („A man is only a Punjabi or Bengali before he is a Hindu or Moslem“). Mountbatten sieht dieses Argument als ein Argument für die „Indian unity“, sowie es heute all jene tun, die die indische Einheit beschwören, wie beispielsweise auch Engineer. Jinnah allerdings widerspricht sich und kommt trotz seiner eigenen zutreffenden Beschreibung zu einem gänzlich widersprüchlichen Ergebnis. Man kann nur vermuten, dass hier Religion und Ethnie synonym verstanden wurden. Die Weichen für die Zwei-Nationen-Lösung wurden 1945 auf der SimlaKonferenz gestellt, auf der auch der oben genannte Dialog protokolliert wurde. 107 Die Behauptung, Muslime und Hindus seien zwei verschiedene Völker, wurde von Gandhi und Nehru ebenso verwendet wie von Jinnah: „Sie [Islam und Hinduismus, Anmerkung FS] sind keine Religionen im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sind tatsächlich verschiedene und unterschiedliche Sozialordnungen … Niemals kann sich daraus eine gemeinsame Nationalität 106 Zur Sprachpolitik in Indien vgl. Wieland: Nationalstaat, 195 ff; Malik: Islam in South Asia, 282 ff. Ob Urdu die Sprache der Muslime sei, und zwar ausschließlich die der Muslime, ist heute unter muslimischen Intellektuellen in Indien heftig umstritten, siehe weiterführend Sagir/Akhtar: Wem und wohin gehört Urdu? In: Literaturnachrichten. 2006. 107 Der Dialog, der in den Sitzungsprotokollen erfasst ist, ist nachzulesen bei Collins/Lapierre: Mitternacht, 104 f, zitiert bei Wieland: Nationalstaat, 318. 50 entwickeln. Es gibt nicht eine indische Nation. Die Hindus und Muslime gehören zu zwei verschiedenen religiösen Philosophien, sozialen Bräuchen, Literaturen. Weder heiraten sie untereinander noch essen sie miteinander und gehören wirklich zu zwei verschiedenen Zivilisationen, die sich hauptsächlich auf einander widersprechende Ideen und Konzepte gründen … (…).“108 Metcalf, B. weist darauf hin, dass sie in Pakistan immer noch Gültigkeit habe.109 Sie spricht von einer britischen Institutionalisierung einer „nation of communities“110 durch Zensus und Ethnographie, sowie einer besonderen Betonung der Religion.111 Obwohl die indische Verfassung eine andere Sprache spricht, hat sich diese Behauptung in das emotionale Gewand weiter Teile der indischen Gesellschaft festgesetzt.112 2.1.2 Nach 1947: Prekäre Situation 2.1.3 Die Loyalitätsfrage Die Muslime in Indien sehen sich heute einem „Loyalitätsdünkel“ ausgesetzt. Sie befinden sich immer wieder in der Situation, ihre bedingungslose Loyalität zu Indien beweisen zu müssen. Jede Auseinandersetzung mit Pakistan, auch kriegerischer Art, gilt als Bewährungsprobe für das multireligiöse Gefüge des Landes. Das Erstarken des internationalen islamistischen Terrors seit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 hat diesen Konflikt noch angefeuert. Das Misstrauen gegen muslimische Inder scheint seitdem größer geworden zu sein.113 108 Jinnah zitiert bei Schimmel: Islam im indischen Subkontinent, 132. Die ebenso bekannte und vielzitierte Aussage des indischen Reformdenkers Abul Kalam Azad, die als Gegenentwurf zur ZweiNationen-Theorie gelesen wird und auf den Engineer als Vorbild referiert, findet sich ebenfalls bei Schimmel: Islam im indischen Subkontinent, 132 f. 109 Vgl. Metcalf, B.: Contestations, 180. 110 Metcalf, B.: Contestations, 196. 111 Vgl. Metcalf, B.: Contestations, 196. 112 Die tendenziöse Geschichtsschreibung und die Auseinandersetzung um diese diskutieren z.B. Metcalf, B: Contestations, vor allem 180 ff und 194 ff; Malik: South Asia. 2008; Thapar in zahlreichen Werken. 113 Bei einem Interview, das ich mit den für die Stadt Mumbai charakteristischen Dhabawallahs führte, die einen weltweit einzigartigen Menüservice für Bedienstete anbieten, stellte der Betriebsmanager klar, dass „wir keine Muslime einstellen, da wir Angst vor Terroranschlägen haben“. 51 Dieser Konflikt hat vor allem in die Popkultur, vornehmlich in das HindiMainstream-Kino (Bollywood) Eingang gefunden, auch wenn muslimische Inder das Hindi-Kino maßgeblich geprägt haben und in dieser Industrie bis heute deutlich präsent sind. Zahlreiche Filme thematisieren diesen Konflikt und seine Folgen für Individuum und Gesellschaft. In dem Film Rang de Basanti sagt der muslimische Protagonist: „Menschen wie wir werden in diesem Land nie akzeptiert werden.“114 Film hat in Indien eine eminente Rolle in der Vermittlung von Wissen, Information und Werten, da die Analphabetenrate recht hoch ist und in der Kultur des Landes die Narration von Geschichten, Erzählungen, historischen und religiösen Legenden und Epen einen hohen Stellenwert einnimmt. Die mangelhafte Akzeptanz durch die Mehrheit mag durchaus von großen Teilen der indischen Muslime wahrgenommen werden, dennoch existiert ein hohes Identifikationsgefühl mit Indien. Sicher darf der soziale, milieuspezifische Hintergrund bei der Betrachtung dieser Thematik nicht außer Acht gelassen werden. Die Mehrheit der indischen Muslime gehört zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen. Sie ist geplagt von Armut, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Analphabetismus. Dies belegt der im Auftrag der indischen Regierung unter Vorsitz des Richters Rajinder Sachar erstellte Sachar-Report 2007, der auf die verheerende Situation Die Dhabawallahs sind meist des Lesens und Schreibens nicht mächtige Arbeiter, die die Mittagessen der Büroangestellten bei deren Ehefrauen abholen, mit dem Zug das Essen in das Zentrum von Mumbai transportieren und dieses von dort nach einem ausgeklügelten Chiffriersystem an die Bediensteten verteilen. Dieser Service existiert beinahe 100 Jahre. Das Misstrauen gegen indische Muslime entlädt sich häufig bei gesellschaftlich relevanten Ereignissen, wie beispielsweise bei der Auktion von Kricket-Spielern. Da der muslimische Schauspieler Shah Rukh Khan kritisierte, dass man für die indische Liga keine pakistanischen Spieler eingekauft habe, geriet er erneut ins Visier des radikalen Arms der Hindu-Nationalisten. Mitglieder der RSS belagerten sein Haus in Mumbai und drohten, es anzuzünden. Ein weiterer schwelender Konflikt betrifft den Wohnungsmarkt in Mumbai. Seit einigen Jahren mehren sich die Nachrichten darüber, dass selbst kaufkräftigen muslimischen Indern der Kauf oder die Anmietung von Immobilien erschwert werde, besonders in sogenannten gated communities, also bewachten Wohnanlagen. An die Öffentlichkeit gelangten diese Informationen, da Filmstars von dieser Politik betroffen waren, selbst solche wie Shabana Azmi, die eine Weile Mitglied des indischen Parlaments war und nun als UN-Botschafterin aktiv ist. Beispielsweise Bericht hier: Tehsin: No Muslims Please! In: The Hindu. 03.06.2012. 114 Mehra: Rang de Basanti. 2006. 52 dieser größten Minderheit aufmerksam macht. In dem Bericht wird unter anderem deutlich gemacht, dass Muslime in Gefängnissen überrepräsentiert, aber bei den Sicherheitskräften und auf Regierungsebene unterrepräsentiert seien. Für die indischen Muslime und zum Teil auch Sikhs und Hindus, die aus dem ehemaligen Punjab stammen, das heute zu Pakistan gehört, stellt sich der Konflikt persönlich bis heute als unlösbar dar. Viele haben Familienmitglieder in Pakistan. Gleichzeitig gilt aber als unumstößlich die Identität als Inder. Dabei wird vor allem die multireligiöse Zusammensetzung der indischen Gesellschaft betont. Der säkulare indische Staat gilt hier als Garant für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die indische sowie die pakistanische Geschichtsschreibung spielen eine wesentliche Rolle für die heutige Wahrnehmung des historischen Konflikts und damit folglich auch für die Wahrnehmung des Anderen in der Gegenwart. Lange Zeit war die Geschichtsschreibung von einseitigen Darstellungen geprägt. Bis heute gibt es nur wenige Ausnahmen unter indischen und pakistanischen Historikern, die sich an einer differenzierten Darstellung der historischen Ereignisse interessiert zeigen. 115 Die Historikerin Romila Thapar hat bereits 1960 auf die fatalen Folgen für die indische Gesellschaft hingewiesen,116 die eine Geschichtsschreibung haben kann, 115 Leider finden sich auch in deutschsprachigen Nachschlagewerken bisweilen irritierende oder unkritische Einlassungen zu Muslimen in Indien: Vgl. beispielsweise Ahmed, Munir D.: Der Islam in ausgewählten Staaten. Indien. In: Ende/Steinbach (Eds.): Islam in der Gegenwart. 2005. 319-36. Beispiel aus dem Text: „Grundsätzlich sind die Muslime der Auffassung, daß die Sharia sich auf alle Lebensbereiche erstreckt und daß es ein Bestreben eines jeden Muslims sein sollte, sein Leben nach der Sharia zu gestalten. Für die indischen Muslime ist das, was in Pakistan im Zuge der Einführung der Sharia geschehen ist, wichtig und nachahmenswert. Sie können davon nur träumen, weil die indische Verfassung ihnen den Weg versperrt.“ Ebd. 323. Leider findet sich dieser Artikel auch nach der Aktualisierung und Überarbeitung noch in dem oben genannten Band, welcher von der Bundeszentrale für politische Bildung vertrieben wird. 116 Dass diese Narrative weiterhin Wirkungskraft entfalten können, zeigt folgendes Ereignis: Als der Regisseur Ashutosh Gowariker 2008 in seinem Film Jodha Akbar die Beziehung zwischen dem Mogulherrscher Akbar und einer Hinduprinzessin (Jodha) positiv darstellte, brannten schon vor der Filmpremiere viele Kinos. Allein in fünf Bundesstaaten wurde der Film verboten. Es kam zu blutigen Ausschreitungen vor allem durch Hindu-Nationalisten. Der Regisseur musste seinen Film in TVShows verteidigen. Und er blieb standhaft, was ungewöhnlich für Bollywood ist. Seine Kollegen waren weniger wagemutig, es dauerte Wochen bevor sich die Filmgilde hinter ihn stellte. Was war geschehen? Gowariker hatte die Beziehung und Ehe zwischen Akbar und Jodha positiv dargestellt. Er machte deutlich, dass die damaligen Hindu-Herrscher, die Rajputen, durchaus entgegen der gängigen 53 die die These zweier gänzlich unterschiedlicher Völker favorisiert.117 Diese besagt unter anderem, Indien habe in einem goldenen Zeitalter gelebt, angeführt vom Hinduismus, erst die muslimischen Invasoren hätten dieser Blütezeit ein Ende bereitet. Barbara Metcalf stellt die Hintergründe für dieses Narrativ dar.118 Sie verweist auf die Mitwirkung der britischen kolonialen Geschichtsschreibung, die der Behauptung diene, die britische Herrschaft sei etabliert worden, um die Hindus von der muslimischen Unterdrückung zu befreien und um sich als antagonistisch zu den Muslimen, die als rückständig dargestellt würden, in Szene zu setzen und so ihre Anwesenheit auf dem Subkontinent zu legitimieren. 119 Diese Lesart historischer Ereignisse, abhängig davon, ob sie durch einen Muslim oder Hindu rezipiert werden, wird genutzt um zu belegen, wer dazu gehört und wer nicht. Diese Lesart setzt, gemäß Metcalf, B., den gesunden Menschenverstand außer Kraft und hebelt regulative Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus, „Arguments from history have been taken to transcend other sources of morality and even institutions as basic to civil life as courts.“120 Sie diene mehr und mehr dazu, auch Aktionen zu legitimieren,121 wie beispielsweise Moscheen zu zerstören, von denen man annimmt, sie seien auf (durch muslimische Herrscher) zerstörten Tempeln aufgebaut worden. Das bekannteste Beispiel ist der Fall der Schleifung einer historischen Moscheeanlage in der nordindischen Stadt Ayodhya im Jahr 1992, infolge derer es zu massiven blutigen Ausschreitungen vor allem in Bombay gegen populären Geschichtswahrnehmung nicht nur Kontakt mit den muslimischen Herrschern hatten, sondern mit ihnen paktierten und ihre Herrschaft anerkannten. Sie machten dies vor allem durch eine ausgeklügelte Heiratspolitik. So konnten sie ihre eigene Macht und ihr Territorium sichern. Diese Darstellung widerspricht dem Mythos vom stetigen Widerstand der Hindu-Herrscher gegen die muslimischen Invasoren und stört hindu-nationalistische Kreise in der Propagierung dieses Narrativs empfindlich. Auch in Kreisen von Intellektuellen, Autoren, Journalisten und Künstlern gab es, zwar nicht im Übermaß, Missfallen bezüglich der Darstellung, wie ich in persönlichen Begegnungen erfahren konnte. 117 Siehe Thapar: Communalism. 1969. 118 Vgl. Metcalf, B.: Contestations, 194 ff. 119 Vgl. Metcalf, B.: Contestations, 196. 120 Metcalf, B.: Contestations, 194. 121 Vgl. Metcalf, B.: Contestations, 194. 54 Muslime kam. Ayodhya kann als Wendepunkt im Aufkommen des HinduNationalismus bezeichnet werden.122 Metcalf, B. weist darauf hin, dass im öffentlichen Diskurs in Indien zunehmen historische „Belege“ herangezogen würden, „to define the nature of India’s People and draw the boundaries of citizenship.“123 Britische Stereotypisierung von Muslimen und Hindus sowie die Polarisierung der Religionsgemeinschaften als zwei Völker dienten bei den Auseinandersetzungen um die Teilhabe an der Macht nach dem Ende der britischen Herrschaft als Legitimationshilfen, sie wurden von Muslimen und Hindus argumentativ eingesetzt, um ein historisch gewachsenes und damit auch legitimes Anrecht auf eigene Territorien zu propagieren.124 Seit der Teilung 1947 werden bis heute diese Stereotype und Polarisierungen verwendet, um die jeweilige Andersartigkeit des Anderen zu untermauern. Dies dient dazu, auf die Unlösbarkeit des Konflikts zu verweisen und damit auf die Unmöglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens hinzuweisen. Die Aufforderung zur Assimilation oder Auswanderung folgt in dieser Kausalität umgehend. 125 122 Siehe weiterführend Gopal: Anatomy of a Confrontation. 1991. Metcalf, B.: Contestations, 193. 124 Vgl. Metcalf, B.: Contestations, 195 f. 125 Indischen Muslimen wird die Auswanderung oder die Assimilation, oft nach nationalen oder internationalen Krisen, angetragen, in denen Muslime involviert sind oder mit denen sie assoziiert werden. Beispielsweise 2008 islamistische Anschläge auf das Taj-Hotel in Mumbai, kriegerische Auseinandersetzungen mit Pakistan, internationaler Terror wie z.B. der 11. September oder auch popkulturelle Ereignisse. 123 55 2.1.4 Exkurs: Das Kastenwesen in der indischen Gesellschaft Indien sei eine reine Kastengesellschaft, ist eine Aussage, die sich nicht nur in populärwissenschaftlichen Abhandlungen über den Subkontinent findet, sondern auch in wissenschaftliche Texte Eingang gefunden hat. Dabei wird auf die diskriminierende Struktur des Kastenwesens hingewiesen, die eine Grenze zwischen oberkastigen und niederkastigen Hindus zieht. Zum Kastenwesen in Indien liegt eine reiche Literatur vor. Anthropologische und historische Studien beleuchten diesen immer noch immanenten sozialen Faktor. Die Historikerin Susan Bayly diskutiert die wichtigsten akademischen Argumente, Theorien, Definitionen und Studien dazu. Dabei geht sie auf den Vorwurf ein, das Kastenwesen sei eine koloniale Erfindung. Sie weist darauf hin, dass Kaste auch schon vor der britischen Kolonialherrschaft eine entscheidende Rolle im Alltagsleben der Hindus gespielt habe.126 Kaste sei eine „dynamic and multidimensional reality of Indian life.”127 Der indische muslimische Theologe Masood Alam Falahi zeigt in seiner Studie, die einzige dieser Art, auf, mit welchen Argumenten islamische Rechtsgelehrte das Kastenwesen für die indischen Muslime legitimieren. Muslime arabischen Ursprungs seien anderen Muslimen überlegen (genannt shaykh oder sayyed) bis hin zu Regeln der Eheschließung. Falahi kritisiert die Rechtsgelehrten für die Aufnahme eines muslimischen Kastenwesens in das islamische Recht. Das Kastenwesen unter den Muslimen sei nicht nur unter Einfluss der Hindus etabliert worden, sondern durch eine Mehrheit der Rechtsgelehrten. 128 Bayly, S. zeigt auf, 126 Vgl. Bayly, S.: Caste, Society, 3 f. Bayly, S.: Caste, Society, 6. 128 Vgl. Falahi, M.A.: Caste and Social Hierarchy among Indian Muslims. Interview mit Sikand. 2008. Siehe auch den Blog des Autors: http://masood-alam-falahi.blogspot.com/, facebook-Seite: Problem of Casteism in Kashmir and in India. http://www.facebook.com/note.php?note_id=76825106105. Die Arbeit dieses indischen Theologen ist in Urdu erschienen: Hindustan Main Chhoot Chhaat Aur Musalman (engl. Muslims and Untouchabilitiy in India). 2007. Auszüge in englischer Übersetzung (von Sikand) finden sich u.a. auf dieser Seite: www.countercurrents.org/falahi041110.htm . 127 56 dass die zahlreichen wissenschaftlichen Ansätze, Kaste in der indischen Gesellschaft zu erklären und ihre historischen Hintergründe darzulegen, darauf hinwiesen, dass dieses Thema ebenso komplex sei, wie die Gesellschaft in der Kaste wirke.129 Bei dem Versuch, Kaste und deren Bedeutung bei den indischen Muslimen zu erklären, fällt auf, dass Kaste gelegentlich mit Ethnie gleichgesetzt wird. Bayly, S. weist darauf hin, dass dies und auch die historischen Ereignisse rund um die Teilung und Unabhängigkeit Indiens, im historischen Narrativ des 19./20. Jahrhunderts eingebettet werden sollten. Rassentheorien und rassenideologische Elemente seien außerordentlich populär gewesen, so dass Wissenschaftler in dieser Zeit ebenfalls von diesen beeinflusst waren, oder ihre Erklärungen in diese theoretischen Schemata pressen wollten.130 Rasse und Nation wurden zu ideologischen Referenzrahmen. So ist sicher auch zu verstehen, warum Hindus und Muslime als Ethnien kategorisiert wurden, zunächst durch die britische Kolonialverwaltung und dann von Vertretern beider Gruppen selbst. Kaste ist selbstverständlich keine Erfindung der britischen Kolonialmacht. Unter Mogulherrschern sei das Kastenwesen gefördert worden, um die Loyalität der Hindu-Eliten zu sichern.131 Durch die Kodifizierung des Kastenwesens durch die britische Kolonialverwaltung wird tatsächlich ein „Kastenwesen“ manifestiert. Durch die Kodifizierung religiöser Texte, ebenfalls durch die Briten vorangetrieben, die zur Legitimierung von Kaste herangezogen werden, wird ein religiöser Referenzrahmen bestimmt, der nur wenig durchlässig ist. Für die Gegenwart gilt, dass Kaste immer noch eine wichtige Rolle spielt. 129 Vgl. Bayly, S.: Caste, Society, 365 f. Vgl. Bayly, S.: Caste, Society, 374 f. 131 Vgl. Bayly, S.: Caste, Society, 370 f. 130 57 Sie ist ein entscheidendes Kriterium in politischen, religiösen und sozialen Diskussionen.132 Dabei wird die Dynamik deutlich, die für alle anderen sensiblen Themen und Konzepte in der indischen Gesellschaft gültig ist, je nach Interessenlage wird Kaste, positiv oder negativ besetzt, in diesen Diskursen eingesetzt.133 Muslime haben sich mit religiöser Legitimation durch die Rechtsgelehrten ein am hinduistischen Kastenwesen orientiertes System geschaffen,134 dessen Praxis sich nach geographischen Regionen unterscheidet. Obwohl die Muslime darauf verweisen, dass der Islam selbst das Kastenwesen ablehnt und Egalitarismus in der Gesellschaft fordert. Hierzu wird auf Koranverse und Hadithe des Propheten Muhammad verwiesen, so existieren ein Bewusstsein und eine Sensibilität für Kasten genauso wie bei allen anderen Gruppen in der indischen Gesellschaft.135 Bei der Wahl des Ehepartners, selbst unter Angehörigen der Oberschicht in urbanen Regionen, die sich als säkular bezeichnen, existiert dieses Bewusstsein ebenso wie bei christlichen Indern. Dies muss nicht immer zwangsläufig zur 132 Beispiel BBC Interview mit dem indischen Schauspieler Javed Jaffrey, anlässlich des Alchemy Festival London 2011: Sufi Music and Poetry: „In India, wherever you look to the dargahs of, whether it is Chishti or Nizammuddin Auliya or Khusrau, these are people who are being rated and being respected by all castes and communities [Hervorhebung FS]. People go there and pay their respects, whether it is Hindu, Christian or Muslim. So it brings people together.” BBC Radio Asian Network News, 16.04.2011 (Transkript FS, Sendung online zeitlich begrenzt, nicht als Podcast zum Download verfügbar, mittlerweile nicht mehr abrufbar). Der Sprecher geht dabei offenbar selbstverständlich davon aus, dass ihn auch die Briten südasiatischen Ursprungs verstehen werden und über das selbe Bewusstsein bezüglich „caste and community“ verfügen, über das er offensichtlich als indischer Muslim auch verfügt. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie weit dieses „Kastenbewusstsein“ wirkt, nämlich bis in die südasiatische Diaspora hinein. Gleichzeitig betont der Sprecher die Einheit der Inder unter Anerkennung dieser sozialen Realität. Dies ist ein Beispiel für einen populären Argumentationsaufbau, den Engineer ebenso einsetzt. Unter Rückgriff auf historische Charaktere, wie die der hier aufgeführten Sufi-Persönlichkeiten, wird an eine gemeinsame historisch verwurzelte Tradition (hier: Heiligenverehrung) appelliert, die sich über alle Grenzen von Kaste und Religion hinwegsetzt. Dies referiert auf eine tatsächliche Alltagspraxis in Indien. 133 Das Kastenwesen ist bei der Partnerwahl und Eheschließung für die meisten Menschen in Indien relevant. Wenn sich Frauen oder Männer über diese Kastengrenzen hinwegsetzen, dann resultieren daraus Konflikte, die lebensbedrohliche Ausmaße für die Betroffenen annehmen können (Dies gilt auch häufig für interreligiöse Beziehungen). Die Organisation Love Commandos hat Häuser eingerichtet, in denen Paare, die aus verschiedenen Kasten stammen, in Sicherheit für eine Weile leben können. Inwieweit die Häufigkeit der Konflikte milieuspezifisch verteilt sind, ist mir nicht bekannt. Website der Hilfsorganisation http://lovecommandos.org/. Bericht beispielsweise hier: Anand, A.: The ‘Love Commandos‘. In: BBC News. 05.06.2012. 134 Also nach Reinheitsvorstellungen sowie Herkunft. 135 Dies unterstützt meine Beobachtungen bei Angehörigen verschiedener religiöser und sozialer Gruppen während meiner Feldstudien in Mumbai. 58 Anerkennung und sozialen Praxis der durch die Kaste vorgegebenen Grenzen und Regeln führen, wie interreligiöse, interkonfessionelle Ehen insbesondere unter Künstlern zeigen,136 aber der Verhaltens- und Wertekodex ist jedem Inder vertraut. Sehr häufig wird die Beziehung zwischen Frauen und Männern aus verschiedenen Kasten und Religionsgemeinschaften zum Anlass genommen, communal riots auszulösen. Eine Reihe von gewalttätigen Ausbrüchen, bei denen nicht selten die Betroffenen getötet werden, ist traurige Realität des indischen Alltags. Offenbar wird das Ideal über secular couples bei den Stars propagiert, ohne dass dies als praktizierbares Modell für den Einzelnen identifiziert wird. Diesem Zusammenhang einmal nachzugehen, wäre ein wünschenswertes Forschungsprojekt. 136 Unter dem Titel The Hottest Secular Couple [sic!] brachte die Klatsch- und Tratschsendung des indischen Fernsehsenders ndtv eine Porträtreihe von bekannten Bollywood-Schauspielerpaaren, die interreligiös oder interkonfessionell liiert waren. Die Clips zu den meist Hindu-Muslim-Paaren finden sich auf Youtube, beispielsweise hier: www.youtube.com/watch?v=hnUBOWGARVI (In Hindi und Englisch). 59 2.2 Biographische Notizen zu Asghar Ali Engineer 2.2.1 Religiöser Hintergrund Asghar Ali Engineer entstammt der ismailitisch-schiitischen137 Gemeinschaft der Dawoodi-Bohras. Die Bohras beziehen sich in ihrer Abstammung und religiösen Tradition auf die (ismailitischen) Fatimiden (909-1171). 138 Dieses Kapitel soll in seiner Kürze ausreichen, Einblick in den religiösen Hintergrund Engineers zu erhalten.139 Anschließend widme ich mich der BohraReformbewegung Progressive Dawoodi Bohras (kurz: PDB), die von Engineer seit 1983 angeführt wurde und schließlich, in einem gesonderten Abschnitt, der Biographie Engineers. 137 Vgl. EI²: Ismailiyya, 198-206. Vgl. EI²: Fatimids, 850-62. 139 Engineer bezeichnete sich in persönlichen Gesprächen mir gegenüber als Muslim ohne Zugehörigkeit zu einer Rechtsschule. Seine Kindheit und Jugend in einer Bohra-Gemeinde und als Sohn eines Bohra-Geistlichen ist für das tiefere Verständnis seiner Persönlichkeit und seines Engagements als Reformdenker und Sozialaktivist jedoch unerlässlich. Dennoch möchte ich ihn nicht auf diesen religiösen und kulturellen Kontext reduzieren, oder sein Engagement ausschließlich aus dieser Prägung hervorgehend und in einem monokausalen Zusammenhang sehen. Ich möchte hier nicht soweit gehen und seine ismailitische Prägung als ausschlaggebend für seine innerreligiöse und gesellschaftliche Kritik verstehen. Die Ereignisse und Erfahrungen, die er in dieser Gemeinschaft mit dieser spezifischen religiösen Praxis erfuhr, sind jedoch entscheidend für seine Entwicklung und daher relevant für das Verständnis seiner Persönlichkeit und seines Denkens. 138 60 2.2.2 Die Dawoodi Bohras140 und ihre religionshistorische Genese Schia141 ist die Abkürzung für shī‘at ‘āli, Partei Alis. Damit sind die historischen Anhänger des vierten Kalifen Ali gemeint. Diese waren davon überzeugt, dass der Prophet Muhammad seinen Schwiegersohn Ali als rechtmäßigen Nachfolger - die Schiiten verwenden den Begriff imām - für die Gemeindeführung der muslimischen Umma designiert habe. Nach schiitischer Vorstellung sei diese Designation dem Propheten zuvor durch göttliche Eingebung mitgeteilt worden. Diese Überzeugung begründen sie durch Koranverse und Hadith und besonders durch den Hinweis auf ein historisches Ereignis bei Ghadir Khumm.142 Dieses Ereignis gilt unter den Schiiten als maßgeblicher Beleg, der Alis Designation als die einzig Rechtmäßige durch den Propheten Muhammad begründet.143 Die Schia sieht dies als Beweis für die 140 Zu den Bohras gibt es, abgesehen einmal von der ethnographischen Studie von Blank (2001), keine aktuelle umfassende und einführende Arbeit. Zur Reformbewegung der PDB findet sich bisher gar keine Studie. Ich stütze mich in meiner Darstellung der Bohras maßgeblich auf die folgenden Werke: Blank: Mullahs. 2001, Daftary (Ed.): Modern History. 2011, Daftary: Ismailis. 1994, Halm: Schia. 1988 sowie auf Einträge in der EI². Blank weist auf das Schattendasein der Bohraforschung hin, nicht ohne zu bemerken, dass dies unter anderem der geschlossenen Gesellschaftsstruktur der Bohras geschuldet sei. Ohne die Erlaubnis des Da’is, des Gemeindeführers, erhält niemand Zugang zu den Texten, die in Bohra-Bibliotheken lagern. Vgl. Blank: Mullahs, 7. Daftary und Halm beklagten dies ebenfalls zuvor in ihren Arbeiten. Die Ismailiyya-Forschung gewann ab den 1930er Jahren durch die Arbeiten von Wladimir Ivanow maßgeblich an Fahrt. Ivanow erhielt als Europäer Zugang zu diesen Texten und übersetzte Standardwerke wie das Rechtslehrwerk Kitāb al-rushd wa l-hidāya. (Ivanow, Wladimir: A Guide to Ismaili Literature. London 1933). Vgl. Halm: Schia 242. Vgl. Blank: Mullahs, 14 und 302-7. Zum Forschungsstand über die Ismailiyya siehe Daftary: Isma’ilis, 1-31. Zum Begriff vgl. EI²: Bohra, 1254 f. Ich verwende die Begriffe Bohra und Dawoodi-Bohra, soweit nicht anders vermerkt, identisch, so wie es durch die indischen Bohras selbst und in der von mir herangezogenen Literatur gängig verwendet wird. Zwar gibt es auch Bohras, die nicht zur DawoodiBohra gehören, z.B. die Sulaymani Bohras oder sunnitische Bohras, aber diese Gruppen sind für diese Arbeit insignifikant. Zu weiteren Bohra-Gruppen siehe Daftary: Ismailis, 256-324, Halm: Schia, 23343 und Qutbuddin, T.: Brief Note. In: Daftary (Ed.): Modern History. 2011. 355-8. 141 Vgl. EI²: Shia, 420-4. 142 Vgl. EI²: Ghadir Khumm, 993 f. Das Ereignis bei Ghadir Khumm: Auf dem Rückweg von seiner letzten Pilgerreise in seinem Todesjahr 632 soll der Prophet an dem Teich (arab. ghādir) Khumm zwischen Mekka und Medina Rast gemacht haben. Dort habe er zu den anderen Pilgern gesprochen, die ihn begleiteten. Er soll Alis Hand genommen und gesagt haben: Man kuntu mawlāhu fa ’Ālī mawlāhu. „Jeder, dessen Patron ich bin, der hat auch Ali als Patron.“ Zitiert bei Halm: Schia, 10. 143 Vgl. Daftary: Ismailis, 37. Zum Terminus mahdī, der Rechtgeleitete, im Gegensatz zu den Fehlgeleiteten, vgl. Halm: Schia, 22 ff. 61 Designation Alis durch den Propheten.144 Für die Bohra ist dieses Ereignis heute Bestandteil eines Initiationsritus für die jungen Bohras, die mit Eintritt in das 15. Lebensjahr ein Gelöbnis (Mithaq von arab. mīthāq) leisten und ihrem Da’i mutlaq (kurz: Da’i)145 gegenüber den absoluten Gehorsam geloben. Im Laufe ihrer Geschichte hat die Schia immer wieder Schismen erlebt, in der Regel ausgelöst durch die strittige Frage der Nachfolge, neue Schia-Gemeinschaften, respektive neue Imamats-Lehren waren die Folge . Die wichtigste Gruppe nach den Zwölfer-Schiiten ist die Ismailiyya, zu der die Bohras zählen. Die Bezeichnung Ismailiyya/Ismailiten lässt sich vermutlich auf die Nachfolgekrise nach dem Tod des Imam Djafar as-Sadiq im Jahr 765 zurückführen, der zwischen der Anhängerschaft seiner beiden Söhne entstanden war. Dieses, für die Schia entscheidende Schisma bringt die zwei großen Strömungen der Schia hervor: Die Zwölfer-Schia und die Ismailiyya.146 Die Ismailitien erlebten ihrerseits wiederum viele „Autoritätskrisen“.147 Weitere Abspaltungen Schismen waren Ergebnisse von Streitigkeiten um die Nachfolge und rechtmäßige Autorität des Imam. Die Bohras, sehen sich in ihrem Selbstverständnis als die letzten Nachfahren der Fatimiden. Es besteht folglich eine hohe Identifikation mit der Tradition und Vergangenheit der Fatimiden, die sich beispielsweise in der Wahl der Moscheearchitektur oder der Farbe Weiß als 144 Halm bemerkt, dass sunnitische Quellen das Ereignis anders deuten: „Der Prophet habe mit diesen Worten lediglich die angeschlagene Autorität wegen seiner Strenge unbeliebten ‘Ali befestigen wollen.“ Vgl. Halm: Schia, 10 sowie Fußnote 15 mit Hinweis auf Belegstellen zur sunnitischen Interpretation. 145 Von arab. dā’ī, derjenige, der die „Mission“ arab. da’wa leitet, der „Rufer“, arab. muṭlaq, dt. in etwa absolut. 146 Diese Krise führte dazu, dass sich die Anhänger in weitere Lager spalteten. Da diese für diese Arbeit keine Rolle spielen, verweise ich auf weiterführende Literatur zu diesem Thema, vor allem Daftary: Ismailis. 1994. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass innerhalb der Ismailiyya zwei große Gruppen entstanden sind, die auch heute noch wirken. Die Nizaris sind die heutigen Anhänger des Agha Khan, während die Mustal’is oder auch Tayyibiten genannt, die Bohras sind. Vgl. Daftary: Ismailis, 94 f. 147 Halm: Schia, 194. 62 Dresscode für die Bohras äußert. Weiß galt als die Farbe der Fatimiden für die Kleidung der Männer.148 2.2.3 Die ismailitische Mission und die Entstehung der Dawoodi Bohras Der Beginn der ismailitischen Mission (arab. da’wa) Mitte des 9. Jahrhunderts wird von den Ismailiten auf einen Mann namens Abdallah zurückgeführt. Nachdem dieser mit seiner Mission im Umfeld seiner persischen Heimat gescheitert war, floh er ins syrische Salamya und warb dort erfolgreich Anhänger. Ein Enkel Abdallahs schickt 881 zwei Werber in den Jemen, die beide von der Zwölfer-Schia enttäuscht waren und sich der Siebener-Schia (Ismailiyya) zugewandt hatten.149 Im Jemen konnten beide erfolgreich Anhänger werben.150 1067 konnte ein jemenitischer Da’i im westindischen Gujarat Gehör unter Kaufleuten und Handwerkern finden.151 Diese bekannten sich infolge eines durch Nachfolgestreitigkeiten ausgelösten Schisma 1094 mehrheitlich zur Gruppe der Musta‘li Tayyibiten. Auf diese berufen sich die heutigen Dawoodi Bohras. 152 148 Vgl. Qutbuddin, S.: History of Dau’di Bohra, in: Daftary (Ed.): Modern History, 307. So bezeichnete sich der verstorbene Da’i Sayyidna Burhanuddin als „Fatimid Da’i“. 1965, gleich nach seiner Ernennung zum Da’i, rückte er das historische Bewusstsein über das Erbe der Fatimiden in den Mittelpunkt indem er nach Kairo reiste, das der Hauptsitz der Fatimiden war. Hier ließ er die Fatimiden-Moschee des Imam al-Hakim, die Jami al-Anwar aus dem 10. Jahrhundert von Grund auf restaurieren. Mit der Wiedereröffnung der Moschee gründete er auch eine Bohra-Gemeinschaft von Studenten in Kairo, die dort zum Studium an die Al-Azhar Universität gingen (1980). Was den „neofatimidischen“ (Qutbuddin, S.) Stil in der Architektur angeht, so übernahm man mehr und mehr Ornamentik und Stil der ägyptischen Fatimiden, indem für Sakralbauten Marmor und Blattgold verwendet wurde, wogegen der indische Stil der Steinbauten zunehmend zurückgedrängt wurde. Vgl. Qutbuddin, S.: History of Da’udi Bohra, in Daftary (Ed.): Modern History, 307. 149 Vgl. Halm: Schia, 199. 150 883 reiste einer der beiden Werber zu Missionszwecken in den Sind (im heutigen Pakistan). In Pakistan leben heute viele Ismailiten der Nazariyya-Ausprägungen, bekannt als Anhänger des Agha Khan oder auch unter dem Namen Khojas, während sich in Karachi außerdem eine große DawoodiBohra-Gemeinde befindet. 151 Das sind die Bohras (Gujarati: Händler). 152 1094 stirbt der ismailitische Imam-Kalif al-Mustansir. Daraufhin wird sein Sohn Musta’li als Fatimidenkalif auf den Thron erhoben. Anhänger der Musta’liyya sahen es als erwiesen an, dass er der rechtmäßige Nachfolger sei, während Anhänger der Nizariyya, darauf beharrten, dass der ältere Sohn Nizar als Nachfolger ernannt worden sei. Vgl. Blank: Mullahs, 33 ff. 63 Mustal‘is Sohn al-Amir folgt seinem Vater 1101 auf den Thron und wird 1130 durch Nizaris ermordet. Sein Sohn at-Tayyib, der gleich bei seiner Geburt als Nachfolger bestimmt worden war, ist zu diesem Zeitpunkt lediglich acht Monate alt.153 Ein Cousin des ermordeten Kalifen besteigt daraufhin den Thron. Seine Nachfolgeansprüche führen zu einer Spaltung der Musta‘liyya, in die Gruppen Hafiziyya und Tayyibiyya.154 Auf diesen at-Tayyib berufen sich die Tayyibiden sowie ihre Nachfahren die Dawoodi-Bohras (daher nennen sie sich Must‘ali Tayyibiden).155 Sie sind davon überzeugt, dass mit dem 21. Imam (at-Tayyib) die nachfolgenden Imame im Verborgenen bleiben. Die letzten Fatimiden wurden in Jemen nur von einigen lokalen Herrschern anerkannt, daher unterstützte die jemenitische Herrscherin as-Sayyida in Opposition zu der von ihr verhassten fatimidischen Führung in Kairo, die Tayyibiden.156 Sie designierte einen Da’i, der at-Tayyib als den 21. Imam anerkannte. Dieser sollte in Abwesenheit des Imam die Gemeinde führen und erhielt den Titel Da’i mutlaq und damit die vollständige Autoritätsübertragung.157 Seitdem gilt das Prinzip des Da’i mutlaq, der in „Vertretung“ und im Sinne des verborgenen Imam die Gemeinde führt. Mit dem Tod des 26. Da’i 1591 ging ein Streit um seine Nachfolge einher und spaltete erneut die Gemeinde. Die indische Gemeinde ernannte Dawood Ibn Qutubshah Burhanuddin zum Da’i während die jemenitische Gemeinde Sulayman al- 153 Halm: Schia, 234. Vgl. Daftary: Ismailis, 256. 155 Vgl. Halm: Schia, 234. Ausführlich zum historischen Hintergrund der Bohras siehe Blank: Mullahs, 13-52, sowie zu Ritus und religiöser Praxis 53-110, siehe auch Daftary: Ismailis, 256-324 und zur Lerntradition, Lehre und Organisation des Soziallebens siehe Qutbuddin, T.: Da’udi Bohra. In: Daftary (Ed.): Modern History, 331-51. 156 Vgl. Halm: Schia, 234. 157 Vgl. Daftary: Ismailis, 285. 154 64 Hindi zum Da’i wählte.158 Die indischen Bohras nannten sich infolgedessen Dawoodi Bohras, während die jemenitischen sich als Sulaymanis159 bezeichneten.160 Die Spaltung war wohl politisch motiviert, denn Sulaymanis und Dawoodis sind nahezu identisch, Glaube und Doktrin betreffend. Die indische Gemeinde machte sich mit diesem Schritt von der jemenitischen unabhängig. Sie konnte, nachdem ihr Führer bei dem herrschenden Mogul-Herrscher eine Gewährleistung für den Schutz der Gemeinde erhielt, nun unabhängig existieren. 2.2.4 Die Bohras in der Gegenwart Neben den in Indien lebenden Dawoodi-Bohras finden sich, vornehmlich durch Arbeitsmigration, auch Gemeinden außerhalb Indiens, unter anderem in Ostafrika,161 Kanada, Europa und dem Nahen Osten. Das Wort Bohra entstammt der indischen Sprache Gujarati, die im nordwestlichen indischen Bundesstaat Gujarat gesprochen wird, dort wo traditionell die meisten Bohras leben. Gujarati ist auch die Lingua franca der Dawoodi-Bohras. Das Gujarati-Wort vohora162 bedeutet Händler. Ein Großteil der Hindus, die zum Islam konvertierten, gehörte vermutlich der gleichnamigen Kaste der Händler an. Über ihre Anzahl gibt es keine genauen und 158 Vgl. Halm: Schia, 237. Zu den Sulaymanis siehe Daftary: Ismailis, 318-23. 160 Bis heute leben im Jemen Sulaymanis. Der Titel des Da’i wird hier wie auch in Indien innerhalb einer Familie vererbt. Vgl. Halm: Schia, 237. Der Streit um die Nachfolge des letzten Da’i (verstorben 2014) ist bereits voll entfacht. Ein Halbbruder und ein Sohn beanspruchen für sich die legitime Nachfolge. 161 Gemeinden in Ostafrika hat es bereits im frühen 19. Jahrhundert gegeben. Diese Händler wurden durch den Sultan Sayyid Said von Oman und Sansibar eingeladen nach Sansibar zu kommen, da der Sultan unter dem britischen Schutz den Handel gewährleisten und sich zunutze machen wollte. Durch die Kolonialherrschaft der Deutschen und Briten in Ost-Afrika wurde der Zuzug von indischen Bohras in ostafrikanische Territorien weiter angekurbelt, da die Kolonialverwaltung dringend der Kenntnisse der Händler bedurfte. Nahezu alle Bohras in Ost-Afrika gehören heute zu den Dawoodi-Bohras. Vgl. Daftary: Ismailis, 314 f. 162 Das Gujarati-Verb vohorvun bedeutet Handel betreiben. Siehe ausführliche Diskussion zur Ethymologie bei Qutbuddin, T: Da‘udi Bohra. Fußnote 1, in: Daftary (Ed.): Modern History, 348. 159 65 zuverlässigen Zahlen. Man schätzt die Bohras auf ca. 500.000 bis 1 Million. 163 Die Bohras bezeichnen sich selbst als Faitimid-Musta‘li-Tayyibi Dawoodi-Bohras. Diese Bezeichnung weist auf ihren in diesem Kapitel bereits dargestellten religionshistorischen Hintergrund hin, auf den sie rekurrieren. Die Bohras gelten als verschlossene Gemeinschaft. In den vergangenen Jahren seien vermehrt Tendenzen zu beobachten gewesen, die eine widerwillig betriebene Öffnung ins Werk setzten164 und eher apolitisch. Wie auch die anderen indischen Muslime, setzen sie ihre Stimme auf politische Parteien, die ihnen Schutz und Sicherheit gewähren können. Traditionell erfüllt diese Rolle die Congress Partei, doch lokale Loyalitäten spielen zunehmend eine große Rolle, so dass es auch muslimische Abgeordnete und Unterstützer der eher nationalistisch bis rechtsnationalistisch ausgerichteten BJP gibt. Die Politik der BJP ist stark antimuslimisch geprägt. Die Bohra-Führung konnte unter britischer Herrschaft durch die britische Verwaltung geschützt leben und Handel betreiben. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich Bombay (heute: Mumbai) zunehmend zur Handelsmetropole, so dass der 51. Da’i (1915-1965) den Hauptsitz von Surat nach Bombay verlegte. Heute 163 Blank diskutiert dieses Problem unter Heranziehung von Datenmaterial, das bis zur britischen Volkszählung 1901 zurückreicht. Dabei problematisiert er die unterschiedlichen Angaben von der Bohra-Führung und der Führung der PDB Reformbewegung. Vgl. Blank: Mullahs, 13 f, siehe ebd. Fußnoten 2 und 3. 164 Zur religiösen Praxis und zu Ritualen siehe Qutbuddin, T.: Da‘udi Bohra, in: Daftary (Ed.): Modern History, 345 ff; Vgl. ebd: Traditionell heiraten Bohras nur untereinander. Eine interkonfessionelle oder interreligiöse Eheschließung ist nicht vorgesehen. Der traditionelle Dresscode soll ebenfalls eingehalten werden. Weiße Kurta-Pajamas (in Indien verbreitete lange Hemden und passende Hosen) und weiße in Goldfarbe bestickte Kopfbedeckungen für Männer, sowie eine zweiteilige Bekleidung (Rock und großes Kopftuch, das über die Schultern und Brust reicht) für Frauen. Es würden auch Ehen mit Nicht-Bohra Muslimen (d.h. Sunniten) zugelassen sowie nichttraditionelle Kleidung gelegentlich geduldet. 66 pflegt die Bohra-Führung gute Kontakte zu politischen Führern, darunter auch zu Rajendra Modi.165 2.2.5 Der Da’i Für das Verständnis von Engineers Entwicklung, die mit innerreligiöser Kritik begann, ist die Rolle des Da’i innerhalb der Bohra-Gemeinschaft signifikant. Engineer kritisierte die Machtposition des Da‘i eindringlich. Sie ist entscheidend für seinen Bruch mit der Gemeinde. Im Zentrum ihres Glaubens steht für die Bohra die Überzeugung der Existenz des Imam als spiritueller Führer, der zu allen Zeiten existiere, göttlich, unfehlbar und frei von Sünde sei.166 Er wird als Mittler zwischen Gott und den Menschen gesehen. In der Abwesenheit des Imam richtet sich diese Überzeugung auf seinen Stellvertreter, den Da’i. Die Glaubensdoktrin der DawoodiBohras besteht in ihrem Kern folglich aus der Anerkennung der absoluten Autorität des Da’i und aus dem absoluten Gehorsam ihm gegenüber. Dieser ist der Führer der ismailitischen Mission (arab. da’wa) und damit auch der Gemeinde. Darüber hinausgehend vertritt er nach Bohra-Vorstellungen den verborgenen Imam, der als ohne Sünde und als unfehlbar gilt, was auf seinen Repräsentanten übertragen wird. Das bedeutet, dass ohne die Erlaubnis des Da‘i keine weltlichen und religiösen Belange der Gemeinde und ihrer Mitglieder geregelt und entschieden werden sollen. Er wird gemäß ismailitischer Tradition per Designation benannt. In der Praxis geht das Amt des Da’i traditionell vom Vater zum Sohn über. Der Da‘i wird innerhalb der indischen Bohra mit Sayyedna oder Mullaji Sahib (indische 165 Amtierender Ministerpräsident Indiens, der während seiner Amtszeit als Ministerpräsident des Bundesstaates dafür verantwortlich gemacht wird, die Gewaltexzesse gegen Muslime in Gujarat nicht aufgehalten zu haben. 166 Ausführlich und detailliert zur religiösen Doktrin und zum Weltbild siehe Daftary: Ismailis, 291-7. 67 Respektsbezeugung) angeredet und tituliert.167 Die Gemeindemitglieder legen ab dem 15. Lebensjahr alljährlich ein Glaubensbekenntnis ab, in dem sie ihren Gehorsam gegenüber Imam und Da’i beteuern. Das Ritual findet am schiitischen Feiertag zum Gedenken an das Ereignis bei Ghadir Khumm statt.168 Nach Bohra Vorstellungen ist der 21. Imam im Verborgenen (arab. satr), so dass die designierten Da’i an seiner Stelle die Gemeinde führen sollen, bis eines Tages der Imam aus der Verborgenheit wieder heraustritt oder der letzte Imam erscheint und das Ende der Welt ankündigt.169 Blank schreibt dazu, wohl eher ironisch, dennoch sehr anschaulich: “The period of satr continues to the present day, with the line of imams continuing (Bohra doctrine holds) from father to son, through the descendants of Imam Tayyib. (…) The present imam, like all those since Tayyib’s time, lives anonymously in the world, utterly unknown to those around him, periodically in contact with the faithful through his da’i al-mutlaq. Bohras know neither his name, nor his age, nor anything about him whatsoever- he may be an Internet entrepeneur or an honest street vendor selling vegetables from a handcart, and the faithful may walk past his glittering office building or ramshackle stall without ever realizing it – but they consider his presence in the world absolutely essential for the perpetuation of mankind.”170 Der Da’i ist also derjenige, der zu Gott und dem Imam „ruft“ und mit absoluten Vollmachten ausgestattet ist.171 Der Imam und damit in seiner Abwesenheit der Da’i repräsentieren nicht nur die Da’wa 172, sondern sie sind nach Bohra-Vorstellungen die Da’wa.173 Folglich gehört der Glaube an die Autorität des Imam mit dem Glauben an die Autorität des Da’i zusammen. Nur wer diese Doktrin 167 In dieser Arbeit wird der 2014 verstorbene 52. Da’i Burhanuddin durchgehend als Da’i bezeichnet. Englischsprachige Fachliteratur sowie Zeitschriftenartikel und Interneteinträge verwenden das Wort Sayyedna. 168 Dieses Gelöbnis wird von der Reformbewegung kritisiert. Genauer Wortlaut bei Engineer: Bohras, 157 ff inkl. Diskussion; siehe zum Glaubensbekenntnis auch Daftary: Ismailis, 317. 169 Vgl. Qutbuddin, T.: Da’udi Bohra, in: Daftary (Ed.): Modern History, 333 f. 170 Blank: Mullahs, 36. 171 Vgl. Qutbuddin, T.: Da’udi Bohra, in: Daftary (Ed.): Modern History, 333. 172 Heute bezeichnet der Begriff da’wa sowohl die Bohra-Gemeinde als auch ihre Lehre. Eine Mission wie zur Frühzeit der Ismailiyya, in der da’wa für Mission verwendet wurde, findet nicht statt. 173 Vgl. Qutbuddin, T.: Da’udi Bohra, in: Daftary (Ed.): Modern History, 334. 68 anerkennt, kann zur Bohra-Gemeinschaft gehören. Im Falle der Verweigerung oder Anzweiflung dieser Doktrin sind Sanktionen vorgesehen. Diese sind: 1. Salam bandh: Grußverweigerung, der Gläubige kann nun nicht mehr die Hand des Da’i küssen und damit seinen Segen erhalten. 2. Barat: Ausschluss von allen geschäftlichen und sozialen Beziehungen. Das ist die faktische „excommunication“174 aus der Gemeinschaft der Gläubigen. So kann ein Gläubiger fortan zum Beispiel zwar religiöse Stätten besuchen, ist aber vom Aufenthalt der Bohra-Gästehäuser, die er unentgeltlich nutzen kann, ausgeschlossen. Falls ganze Gemeinden exkommuniziert werden, was vor allem in den 1970er Jahren vorkam, werden diese durch Abzug der Geistlichen und dem Verbot für diese, kultische Handlungen für die Gemeinde auszuführen, d.h. bei Hochzeit, Geburt, Tod und ähnlichen Ereignissen Riten zu praktizieren, bestraft.175 Daher kann bei Zweifel und Ablehnung dieser Doktrin, die in Teilen durch die Reformbewegung geschieht, durch den Da’i der Ausschluss aus der Gemeinde und die juristisch gültige Exkommunikation beschlossen werden Barat bedeutet für einen Bohra, die immer noch mehrheitlich Händler sind, nicht nur das gesellschaftliche sondern auch das ökonomische Desaster.176 174 Die Bohra und Engineer verwenden die Termini excommunicated und excommunication, der im indischen Recht der korrekte juristische Terminus für einen formalen Ausschluss aus der Gemeinde ist. Ich übernehme ihn hier aus dem Englischen, wenngleich mir klar ist, dass der Begriff in der deutschen Übersetzung anders vorbelastet ist (katholisch). Es bietet sich hier keine andere begriffliche Alternative, die meines Erachtens die drastische Vorgehensweise und die Folgen für die Betroffenen angemessen wiedergeben würde. 175 Vgl. Blank: Mullahs: passim. 176 So überrascht es nicht, dass der Anführer der PDB der Industrielle Noman Contractor war, der diesen Ausschluss zumindest finanziell verkraften konnte. Die finanzielle Abhängigkeit von der Gemeinde und damit auch der Bohra-Führung lässt, so liegt die Vermutung nahe, Kritik nur selten laut werden. 69 Die Entscheidungsgewalt des Da’i umfasst auch persönliche Belange der Gemeindemitglieder wie etwa Heirat und Beerdigung, die nicht ohne seine Erlaubnis durchgeführt werden dürfen. Er bestimmt und verfügt über eingenommene Spendengelder ebenso wie über vermögenssteuerliche Abgaben. Er verwaltet den mobilen und immobilen Besitz der Gemeinde. Der Da’i besetzt gemäß der BohraHierarchie in der Gemeindeorganisation alle gehobenen Positionen mit nahen männlichen Verwandten (Brüder, Cousins, Onkel etc.).177 2.2.6 Religiöse Praxis Für jede Bohra-Gemeinschaft, die mindestens 50 Familien umfasst, wird ein religiöser Gemeindeleiter, ein Geistlicher (arab. āmil), entsandt, der die Gemeinschaft in allen religiösen Belangen führt. Auf Wunsch des Da’i kann der āmil immer wieder an verschiedene Orte versetzt werden. In der Bohra-Hierarchie ist er Teil des Unterbaus.178 Die Bohras erkennen neben den fünf Säulen des Islam zwei weitere an:179 1. Tahara: Reinheit, rituelle Reinheit. 2. Walaya: Gehorsam gegenüber dem Imam und seinem Stellvertreter. Das rituelle Gebet wird von fünfmal auf dreimal zusammengezogen. Die Bohra folgen dem fatimidischen Mondkalender, der fixiert ist, und fasten immer 30 Tage an Ramadan.180 Weitere Charakteristika sind: 1. das bereits erwähnte Gelöbnis (Mithaq). 177 Zur Hierarchie und Organisation siehe Daftary: Ismailis, 315 f. Engineers Vater arbeitete als solch ein āmil. 179 Zur religiösen Hierarchie und Praxis siehe Daftary: Ismailis, 316 f. 180 Vgl. Qutbuddin, T.: Da’udi Bohra, in: Daftary (Ed.): Modern History, 337 und Daftary: Ismailis, 318. 178 70 2. Der Da’i ist die absolute Autorität in allen Fragen der Bohra-Lehre sowie bei der Zulassung zum Studium an der Bohra-Akademie in Surat, der Sayfiyya, bedarf seiner Erlaubnis.181 Auch Zugang zu den Bohra-Bibliotheken wird ausschließlich mit der Erlaubnis des Da’i gewährt.182 3. In der Liturgie ist keine Hutba vorgesehen, da dies dem Imam vorbehalten, dieser aber verborgen sei. So findet sich auch keine Minbar in der Moschee. Die sozio-religiöse Praxis bezüglich der Rituale beispielsweise zu Geburt, Heirat und Tod hat einen ausgeprägten indo-islamischen Charakter.183 Prägnant ist, dass für alle diese Handlungen zuvor die Erlaubnis des Da’i eingeholt werden muss. Blank beschreibt dies gar für den Fall der Familienplanung: „The life of an observant Bohra is guided and shaped by the pronouncements of the Syedna even before the moment of conception. A couple wishing to have children will often seek the advice and blessing of the da’i, either in person or (with ever increasing frequency) by fax or e-mail. (...) During the time they are trying to conceive, the couple may make a gift of money or food to a fakir once a month. (…) A couple experiencing fertility problems may even ask the da’i to suggest a day and time to attempt conception. In such a case Syedna would consult astrological charts and provide an answer as specific as 9:48 P.M. on the fifth the day of the month of Rajab.”184 2.2.7 Besteuerung Blank listet acht Steuerarten auf, die zum Teil verpflichtend und zum Teil zwar freiwillig sind, aber dennoch erwartet werden. Sie werden durch die BohraFührung eingezogen und verwaltet. Diese sind: 181 Eine Recherche auf der Website der Bohra Akademie ergibt, dass Einblick in die Curricula nur mit persönlicher ID-Anmeldung möglich sind. 182 Einzelne, meist exkommunizierte Bohras, haben ihre Bibliotheken der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt, wie zum Beispiel Faizallah al-Hamdani, der mit seiner ganzen Familie exkommuniziert wurde, da er die absolute Autorität des Da’i anzweifelte. Vgl. Halm: Schia, 242. 183 Vgl. ausführlich dazu Blank: Mullahs, 54 ff, der beginnend bei der Empfängnis des Kindes bis zum Tod eines Bohra, die wichtigsten Riten und Traditionen beschreibt. Siehe auch knapper dargestellt im Überblick bei Qutbuddin, T: Da’udi Bohra, in: Daftary (Ed.): Modern History, 333 ff. Daftary weist darauf hin, dass die Bohras in vielen Ritualen ihre Hindu-Traditionen bewahrt haben: Vgl. Daftary: Ismailis, 317. 184 Blank: Mullahs, 54. 71 1. Zakat: Diese, auch für andere Muslime gültige, Vermögensabgabe (2,5% des Vermögens) wird durch die Bohra-Führung unter dem Da’i eingezogen und verwaltet. 2. Sila-Fitra: ist eine kombinierte Abgabe von einem Pflichtteil und einem freiwilligen Teil. 3. Sabil: Diese Abgabe wird pro Haushalt eingezogen und für gemeinnützige Zwecke innerhalb der Gemeinde genutzt. 4. Haqq un-nafs: Freiwillige Abgabe, die beim Begräbnis eines Verwandten entrichtet wird. 5. Nikah: Bei der Schließung einer Ehe wird eine Abgabe an den Geistlichen, der die Zeremonie leitet, geleistet. 6. Salam e-Syedna: Abgabe zur Respektbezeugung an den Da’i zum Beispiel, wenn ein Gläubiger ein Bittgebet durch den Da’i erhalten hat. 7. Nazar al-Maqam: Abgabe an den verborgenen Imam 8. Khums: Vermögensabgabe185 Es gibt keine Angaben über die Höhe der Einkünfte der Bohra-Führung, diese sind auch den Anhängern nicht bekannt.186 Diese Steuern und Abgabeforderungen sind ein weiterer Kritikpunkt der PDB, die diese Besteuerung als persönliche Bereicherung des Da’i und damit als Ausbeutung der Anhänger sehen. 185 Auflistung nach Blank: Mullahs, 198-201. Über die Höhe der Abgaben habe ich keine Informationen. 186 Vgl. Blank, Mullahs: 201. 72 2.2.8 Bekleidung Der 52. Da’i Burhanuddin hat zwischen 1970 und 1980 die strenge Befolgung der Kleidungsvorschriften angeordnet.187 So berichtet Blank, dass vor diesem Erlass die Bohra-Frauen sich in ihrer Kleidung nicht von ihren Hindu-Nachbarinnen unterschieden.188 Demnach besteht die Kleidung für Bohra-Männer aus drei Teilen in der Farbe weiß: eine weite Hose und ein langes, bis zu den Knien reichendes Hemd sowie eine Kopfbedeckung, die an eine Kappe erinnert. Die Kleidung für die religiöse Führung fällt pompöser aus, beispielsweise Turban statt einer einfachen Kappe. Ein Bart ist nicht obligatorisch, aber erwünscht. Für die Frauen gilt die Körperbedeckung, bestehend aus einem langen Rock und einem dreieckigen, an ein Nonnen-Habit erinnerndes Kopftuch, das weit über Brust und Schultern reicht; beides wird gerne in schillernden Farben getragen. 2.2.9 Weibliche Beschneidung Männliche Bohra werden gemäß muslimischer Tradition beschnitten. Die Volkszählung von 1911 in Bombay habe ergeben, dass weibliche Beschneidung unter den Bohra praktiziert würde. Blank weist darauf hin, dass die Authentizität dieser Information, aufgrund der hohen Tabuisierung des Themas, unklar bleibe. Er selbst habe widersprüchliche Aussagen zu dieser Praxis erhalten.189 187 Vgl. Blank: Mullahs, 186. In den Kreisen der PDB kleideten sich die Frauen weiterhin in Saris und anderen von der BohraFührung als für Hindu-Frauen typisch erachteten Kleidungsstücken. Vgl. Blank: Mullahs, 189, mit Hinweis auf Pressefotos, auf denen diese Frauen zu sehen sind. Bei Blank finden sich Fotos von Bohras vor 1980 und solche nach 1980, die den Unterschied deutlich machen. Vgl. Blank: Mullahs, Anhang Kapitel 5, ab Seite 156 ohne Seitenzahlen. 189 Vgl. Blank, Mullahs: 57. 188 73 In Indien sind die Dawoodi Bohra die einzige Gemeinschaft, aus der Berichte über weibliche Beschneidung bekannt sind.190 Diese Berichte sind von betroffenen Frauen in der Anonymität des Internets veröffentlicht worden. Frauen der PDB Gemeinschaft in Ontario/Kanada haben eine Kampagne gestartet, um andere Bohra, auch Anhänger des Da’i, für diese Problematik zu sensibilisieren.191 Mittlerweile hat, zum Jahresende 2011, vermutlich eine einzelne Frau unter dem Namen Tasleema eine Online-Petition gegen die weibliche Beschneidung auf der Website www.change.com gestartet, für die sie auch über einen Twitter-Account wirbt. Zwar sind bisher nur ca. 1.600 Unterschriften192 eingegangen, aber die Petition193 hat weltweit Interesse in den Medien geweckt, besonders in den indischen Medien.194 Es gab keine Reaktion des Da’i auf die Petition. In einem Bericht eines Agence-France Presse Journalisten für das Online-Magazin canada.com wird die Aussage des Pressesprechers des Da’i auf Anfrage von AFP wie folgt zitiert: „When contacted by AFP, Burhanuddin’s spokesman, Qureshi Raghib, ruled out any change and said he had no interest in talking about the issue. “I have heard about the online campaign but Bohra women should understand that our religion advocates the procedure and they should follow it without any argument,” he said.”195 Engineer hat sich zur weiblichen Beschneidung in oben genanntem Artikel wie folgt geäußert: 190 Bereits 1992 veröffentlichte das US National Library of Medicine unter dem Titel „All for Izzat“ einen medizinischen Fachartikel, der sich mit der Praxis unter den Bohras beschäftigt. US National Library of Medicine: All for Izzat. 1992. 191 Über den Ursprung dieser Praxis vermag ich an dieser Stelle nur zu spekulieren, da mir keine Quellen vorliegen, die genaue Auskunft darüber vermitteln. Ob die Praxis über die Kontakte zur ostafrikanischen Küste, wo die weibliche Beschneidung praktiziert wird, nach Indien gelangt ist, also von dort, wo sich Bohras aus Handelszwecken niederließen und die Beziehungen über den Seeweg zwischen beiden Regionen vor allem im 19. Jahrhundert rege waren, konnte ich nicht klären. 192 Stand 2013. 193 www.change.org/petitions/h-h-dr-syedna-stop-female-circumcision-ladkiyon-par-khatna. 194 Vorallem der Artikel in einem der führenden indischen Magazine, Outlook India, unter dem Titel: The Yin, Wounded, hat große Resonanz erfahren. Vgl. Dasgupta: The Yin. 2011. 195 Nair: Female Circumcision. 2012. 74 „Female circumcision is clearly a violation of human rights, the Indian government refuses to recognize it as a crime because the practice has full-fledged religious backing,“ he said. (…) “I prevented my wife from getting our daughters circumcised but in many cases even fathers are not aware of the pain their daughters experience,” he says.”196 Ein möglicherweise von einer Bohra-Frau geführter Blog, er ist mit der Website der PDB verlinkt, dokumentiert Fälle in der Bohra-Community.197 Die Presse berichtete von Bohra-Frauen, die, nachdem sie von der Petition und von Berichten betroffener Frauen erfahren hatten, zumindest das Thema innerhalb der Familie zur Diskussion stellten oder sich gegen die Beschneidung ihrer Töchter entschieden. 2.2.10 Die Reformbewegung Progressive Dawoodi Bohras Die umfassenden Machtkompetenzen des Da’i haben immer wieder Kritiker aus den eigenen Reihen auf den Plan gerufen. Gegenüber den Anhängern des amtierenden Da’i Burhanuddin198 hat sich ab Mitte der 1970er Jahre die PDB Gegenbewegung als Organisation formiert. Unter den ca. 1. Million Bohras weltweit befinden sich schätzungsweise 25.000 Gläubige, die sich gegen die Bohra-Führung des 52. Da’i Burhanuddin stellen. Diese Gruppe bezeichnet sich als Progressive Dawoodi Bohras (kurz: PDB) an dessen Spitze seit den 1980er Jahren Engineer steht. Zur Reformbewegung der PDB findet sich kaum Literatur.199 Ich beziehe mich in meiner Darstellung daher bis auf wenige Ausnahmen 200 weitgehend auf die 196 Nair: Female Circumcision. 2012. http://breakthesilencespeakthetruth.wordpress.com/. Als Initialzündung, diesen Blog zu eröffnen, gibt die Autorin die Lektüre eines offenen Briefes an die senegalesische Frauenhilfsorganisation gegen weibliche Beschneidung TOSTAN an: www.tostan.org/ . 198 Während der Überarbeitung dieser Arbeit verstorben (1915-2014). 199 Blank räumt der Bewegung ein Kapitel ein. Siehe Blank: Mullahs, 229-257. 200 Blank: Mullahs. 2001 und Daftary: Ismailis. 1994 sowie Sikand, der diverse Artikel geschrieben und Interviews mit PDB geführt hat. Da Engineer selbst Teil der Auseinandersetzung ist, ziehe ich 197 75 Selbstdarstellung der PDB auf ihrer Website dawoodi-bohras.com. Seitens der Anhänger des Da’i finden sich hin und wieder in der Anonymität von Internetforen Attacken gegen die PDB, offizielle Stellungnahmen seitens der Bohra-Führung sind mir nicht bekannt. Die PDB dokumentieren diskriminierende Erfahrungen von betroffenen Bohras, die sie auf ihrer Website publizieren.201 Sie sammeln akribisch Belege, die ihre Hauptkritik an der Machtfülle des Da’i untermauern sollen.202 2.2.11 Die Organisation Die PDB haben sich aus einem Zusammenschluss von verschiedenen Kritikern und Reformern formiert. Ihre Anfänge hatte die Bewegung bereits im 20. Jahrhundert, als kritische Bohras Reformen im Bildungswesen forderten und damit die Übernahme eines säkularen Bildungssystems für die Bohras wünschten. Doch nachdem der 51. Da’i Taher Saifuddin ab 1915 seine Macht konsolidierte und gar die Grundstücke und Immobilien der Gemeinde kontrollierte, forderten die Kritiker soziale Reformen.203 Alle Texte der PDB, die die Geschichte der Bewegung wiedergeben, weisen ausnahmslos darauf hin, dass die Da’i bis zum 51. Da’i ihrem Amt angemessen gewaltet hätten und erst der 51. Da’i seine Macht ausgedehnt habe. Sein Sohn Burhanuddin, der ihm 1965 als 52. Da’i nach seinem Tod folgte, habe die Ausweitung seiner Macht weiter vorangetrieben, die Gemeinde mit Steuerforderungen drangsaliert und ausgebeutet. seine Arbeiten in Bezug auf Bohras und die PDB eher als Primärquelle denn Sekundärquelle heran; wobei die Abgrenzung in diesem Fall nicht vollständig zu klären ist. 201 Zahlreiche Fallbeispiele unter „Your story“ hier : dawoodi-bohras.com/reform_issues/your_story/ . 202 Auf ihrer Website bieten sie auch ein Diskussionsforum an. Über das Internet sind die Reformgemeinden weltweit vernetzt (zum Beispiel Gemeinden in Ontario/Canada, Gemeinden in Großbritannien). 203 Vgl. Daftary: Ismailis, 313. 76 1973 kam es schließlich zur endgültigen Spaltung der Gemeinde. Anlass war ein Aufstand von Bohras in der Stadt Udaipur. Dort ansässige Bohras hatten für die lokalen Wahlen Kandidaten aufstellen lassen und verschiedene soziale Einrichtungen und Kooperativen, darunter eine Schule und eine Bank, gegründet, ohne zuvor die Erlaubnis des Da’i einzuholen. Daraufhin sandte dieser seinen Bruder als nächsthöhere Instanz, der die Gemeindemitglieder aufforderte, diese Einrichtungen wieder zu schließen, da sie unrechtmäßig seien. Aus der folgenden offenen Rebellion ging die organisierte PDB hervor. Der Begriff progressive geht auf den Begründer der PDB zurück, dem 1983 verstorbenen Industriellen Noman Lukmanjee Contractor, der ab Mitte der 60er Jahre massive Kritik am Führungsstil des Da’i geäußert hatte. Das erste Treffen der Organisation fand 1977 in der Bohra-Hochburg Udaipur statt, in der es, wie oben beschrieben, 1973 zu Unruhen gekommen war. 2.2.12 Die Kritik der PDB Zwar gibt die PDB in ihrer Selbstdarstellung an, dass es ihr nicht um den Da’i selbst ginge, aber ihre Kritik richtet sich gegen die Kerndoktrin der Dawoodi-Bohras, nämlich den absoluten Gehorsam gegenüber dem Da’i. Die Kritik der PDB zielt in diesem Zusammenhang auf das Mithaq ab, dessen Inhalt sie in weiten Teilen als menschenverachtend und verfassungswidrig betrachtet. So bemüht sie sich um die Wiederaufnahme des Verfahrens zur Einführung des Gesetzes zum Schutz vor Exkommunikation, welches in den 1950er Jahren durch den Bombay High Court kassiert wurde. Ihre Forderungen bedeuten faktisch eine Modifikation dieser Glaubensdoktrin und damit eine Schwächung der bisherigen Stellung des Da’i. Dieser bekämpfe die Reformer sowie Bestrebungen innerhalb der Gemeinde in diese Richtung durch die Mittel der Exkommunikation und der sozialen Ächtung. 77 Die Anhänger der PDB werfen dem Da’i vor, dass er sich selbst als „gottgleich“ betrachte. Sie kritisieren: 1. die Praxis der Barat, also der Exkommunikation von Gemeindemitgliedern 2. die Veruntreuung von Gemeindegeldern und den Anspruch der BohraFührung, über sämtliche finanzielle, mobile wie immobile Güter der Gemeinde zu verfügen 3. mit den oben genannten Punkten im Zusammenhang stehend die Machtfülle des Da’i und seiner Großfamilie 4. die uneingeschränkte Befugnis des Da’i, alle weltlichen und religiösen Belange der Gemeinde zu bestimmen und Entscheidungen bis ins Privatleben der Gemeindemitglieder von seiner Zustimmung abhängig zu machen, wie z.B. Heirat oder Begräbnis und dies durch ein Gelöbnis (Mithaq) spirituell dem Gläubigen aufzuzwingen; die Rechtmäßigkeit des Inhaltes des Mithaq wird angezweifelt. 2.2.13 Die Kritiker: Fallbeispiele Die PDB hat ihre Arbeit durch Nutzung der Medien populär gemacht. Auf ihrer Website finden sich Videoclips mit prominenten Personen der Reformbewegung, die von ihren Erfahrungen berichten, darunter auch ein Clip mit Engineer sowie der vielbeachtete Fall der Bankmanagerin Zehra Cyclewala.204 Cyclewala wehrte sich seit 1998 immer wieder erfolgreich auf juristischem Wege gegen Drangsalierungen durch die Bohra-Führung, die sie zwingen wollte, ihren Posten als Bankmanagerin in einer Bank aufzugeben, die von Bohras ohne die Erlaubnis des Da’i gegründet worden war. Der Fall Cyclewala ist auch unter den 204 Siehe dawoodi-bohras.com/reform_issues/multimedia dort der erste Clip. Hier sind auch Interviews mit Engineer in Urdu als Podcast gepostet. 78 PDB außergewöhnlich, da sie als einzige Frau an die Öffentlichkeit ging und sich an indische Gerichte wandte. Sie gilt als einzige weibliche Führungsperson der Reformbewegung. Die 51-jährige Cyclewala musste für ihre Kritik die Folgen ihres Ausschlusses tragen: Soziale Isolation, Anfeindungen, Morddrohungen. 205 Bereits in früheren Jahren, noch unter britischer Herrschaft, ließen einzelne Mitglieder ihrer Kritik Taten folgen. Sie reichten Klagen an indischen Gerichtshöfen ein, um die Machtfülle des Da‘i zu beschränken. Die bekanntesten Fälle, auf die sich die heutige Reformbewegung beruft, sind der Chandabhai Gulla Case (Bombay 1917-22), in der der Da’i dazu verpflichtet werden sollte, Auskunft über die Einkunft und Verwendung von Spendengeldern zu erteilen, sowie der Burhanpur Durgah Case (1931), der den Da’i dazu zwingen sollte, sein Recht auf Exkommunikation einzuschränken. Beide Fälle gingen zu Ungunsten der Kläger aus. 1949 entschied das Parlament von Bombay mit dem Prevention of Excommunication Act, dass der Da’i sein Recht auf Exkommunikation einschränken sollte. 1958 konnte der Da’i erfolgreich das Gesetz unter Berufung auf die Artikel 25 und 26 der indischen Verfassung anfechten, die jeder Glaubensgemeinschaft die Souveränität bei der Regelung innerer Angelegenheiten zuerkennt. 1961 urteilte der Bombay High Court, dass das Gesetz verfassungswidrig sei und kassierte es.206 Reformisten führten das auf die guten Beziehungen der Da’iFührung zur Congress-Partei zurück, die auf die Bohra-Führung als Stimmengarant setzen konnte.207 Die Reformisten streben an, dass dieses Gesetz unter Berufung auf die Menschenrechte und die indische Verfassung wieder eingeführt wird. 205 Vgl. Sikand: Woman’s Battle. 2011. Siehe auch (Ohne Autorenangabe): Cyclewala Stages Dharna. In: Indian Express. 20.11.1998. 206 Vgl. Halm: Schia, 239 f. 207 Vgl. Halm: Schia, 240. 79 Die Exkommunikations-Klagen, die von den Betroffenen geführt wurden, gingen alle letztendlich zu Ungunsten der Kläger aus. 208 Die Gerichte sahen und sehen - es sind noch Klagen anhängig - die Exkommunikation als rechtmäßig an, da die Anerkennung der absoluten Autorität des Da’i eine Glaubensdoktrin der betroffenen Glaubensgemeinschaft sei.209 2.3 Asghar Ali Engineer: Biographie im Überblick Für die Darstellung der Biographie Engineers liegt mir in diesem Kapitel lediglich eine Quelle vor: Der Autor selbst. Zwar finden sich vereinzelt Porträts,210 aber zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Arbeit lag kein umfassendes Werk zu Leben und Wirken des Autors vor. Diese Arbeit soll einen Beitrag leisten, diese Lücke zu schließen. Dabei konzentriere ich mich auf einen wesentlichen Aspekt in Engineers Wirken: auf seine Texte. Seine sozialaktivistischen Tätigkeiten und sein Engagement für die communal harmony werden hier zwar thematisiert und skizziert, müssten aber in einem zukünftigen Forschungsprojekt mit der nötigen Tiefe dargestellt werden. Engineer stellte mir während der Entstehungsphase dieser Arbeit großzügig die ersten Kapitel seiner Autobiographie vor ihrer Veröffentlichung zur Verfügung. In zahlreichen persönlichen Gesprächen konnte ich ebenfalls vieles über seine Biographie erfahren. Zeitzeugen oder 208 Weggefährten aufzufinden, gar Vgl. zu diesem Punkt vor allem Fußnote 28 bei Qutbuddin, S.: History of the Da’udi Bohra, in: Daftary (Ed.): Modern History, 315 f, die die wichtigsten Fälle mit den Aktenzeichen der Gerichtsurteile aufführt. 209 Wie sich die PDB und die Bohra-Führung in Zukunft begegnen wird, war zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Manuskriptes unklar. Beide Führungsfiguren, Engineer für die PDB und der Da’i für die Bohra-Führung, waren innerhalb eines Jahres gestorben. Die Nachfolgestreitigkeiten für das Amt des Da’i sind ungelöst. Eine neue Führungskraft der PDB wurde noch nicht verkündet. Man darf davon ausgehen, dass das Verhältnis unverändert bleibt. 210 Zum Beispiel von Sikand, der ihn als „Befreiungstheologen“ bezeichnet. Die Verwendung dieses Begriffs für Engineer ist aber meines Erachtens aufgrund seiner religionsgeschichtlich in einer anderen Tradition verorteten Genese kritisch zu diskutieren. 80 Familienmitglieder211 zu befragen oder Mitglieder der Bohra-Gemeinde hätte den Rahmen dieser Arbeit überstiegen. Ich habe unter Berücksichtigung der Situation Engineers, der als dissident und kāfir212 von seiner Heimatgemeinde bezeichnet und damit ausgeschlossen wurde, keine Versuche unternommen, Kontakt zur BohraGemeinde aufzunehmen und dort nach ihm zu fragen. Dies wäre vermutlich ein müßiges Unterfangen geworden und sicher riskant für die Befragten gewesen, da Abtrünnige mit sozialer Ächtung gestraft und Gemeindemitglieder, die mit diesen in irgendeiner Weise sympathisieren (sei es durch bloße Kontaktaufnahme) ebenfalls dieser Strafe ausgesetzt sind. Als europäische Forscherin wäre es für mich schwer gewesen, Zugang zu einer geschlossenen Gemeinschaft wie die der Bohras Zugang zu erhalten. Besonders, wenn bekannt geworden wäre, dass im Zentrum meiner Arbeit eine führende Figur der Bohra-Reformbewegung PDB steht.213 Ich konnte während meines Forschungsaufenthaltes 2008 in Bombay einen sunnitischen Imam interviewen, der fürchten musste, dass er aufgrund seiner kollegialen Kontakte zu Engineer, man arbeitete zusammen in sozialen Projekten innerhalb der muslimischen Slums, der Kritik seiner Gemeinde ausgesetzt sein würde.214 211 Familienmitglieder haben nach Angaben Engineers alle Kontakte zu ihm in den 1970er Jahren aufgrund seiner Kritik am Da’i abgebrochen. Vgl. Engineer: Living Faith, 44 f. Engineer folgt nicht mehr dem traditionellen Bohra-Kleidungscode, sein Sohn ist mit einer hinduistischen Inderin verheiratet. 212 Die Bohra-Führung hat nie offiziell oder schriftlich dazu Stellung genommen. Engineer berichtete mir, dass er als kāfir beschimpft worden sei. Ein als Fatwa getarntes Pamphlet mit diffamierendem Inhalt kann online als pdf-Datei heruntergeladen werden. Es erschien in der pakistanischen Zeitschrift Mag Weekly, Vol. 21, No. 15, 8-14. April 2000 unter dem Titel Guilty of Heresy und wurde auf diversen Websites und Foren gepostet. Mit einem Kommentar von Dr. Qazi Shaikh Abbas Borhany, der direkt und indirekt zur Beseitigung Engineers auffordert. 213 Blank bemerkt, dass er sichergestellt habe, alle seine Forschungsarbeiten in der Bohra-Gemeinde abgeschlossen zu haben, bevor er sich mit Engineer zu Gesprächen traf: „Relations between the dawat (Bohra-Gemeinde ohne die Reformer, Anm. FS) and dissidents are so bad that I delayed interviewing Engineer until well after I had established my bona fides with the orthodox camp.” Blank: Mullahs, 233. 214 Das Gespräch durfte ich leider nicht aufzeichnen. 81 2.3.1 Die Autobiographie Am 20. Juli 2011 fand die Buchpräsentation der Autobiographie „A Living Faith. My quest for peace, harmony and social change“ in New Delhi statt. Der indische Vizepräsident Shri Hamid Ansari hielt die Laudatio auf Asghar Ali Engineer, in der er Engineer mit dem Philosophen Spinoza verglich. 215 An dem anschließenden Podiumsgespräch beteiligte sich der Vorsitzende Richter am Delhi High Court, Rajinder Sachar.216 Anwesend war ebenfalls der hinduistische Aktivist Swami Agnivesh, mit dem sich Engineer den Alternativen Friedensnobelpreis teilt, den sie beide 2004 für ihr Engagement zur Befriedung der Gesellschaft erhielten.217 Die Autobiographie ist in dem schlichten, klar verständlichen Englisch geschrieben, das den Stil Engineers ausmacht. Das Inhaltsverzeichnis gliedert die Autobiographie wie folgt: In Teil 1 „My Life, My Struggle” beschreibt Engineer Kindheit, Jugend, seinen schulischen Werdegang, Studium sowie die Anfänge der Bohra Reformbewegung (S. 3-107). Teil 2 befasst sich unter dem Titel „Beyond Boundaries: My Travels Abroad“ mit Engineers Reisen und Begegnungen rund um die Welt (S. 111-333), beginnend mit dem Vereinigten Königreich. Besuche in der Schweiz, Österreich und Deutschland nehmen ebenfalls Raum ein. Australien ist die letzte Station. Dieses Kapitel gliedert Engineer nach Kontinenten und geographischen Regionen. 215 Vgl. Bericht auf der Website des CSSS. Engineer zählt Spinoza, Kant, Wittgenstein, Husserl und viele weitere zu jenen Philosophen, die ihn maßgeblich beeinflusst haben. Vgl. Engineer: Living Faith, 34. 216 Namensgeber und Vorsitzender der Untersuchungskommission des heftig diskutierten SacharReports über die gesellschaftliche Benachteiligung der indischen Muslime. Der Sachar-Report kam 2006 zu dem Schluss, dass die soziale Situation und der gesellschaftliche Status indischer Muslime noch weit hinter den sogenannten scheduled castes und scheduled tribes rangieren. Also weit hinter den niederkastigen Indern und den indigenen Stämmen. Alle Kommissionsberichte und Empfehlungen des Sachar-Kommittees sind als pdf-Dateien auf der Webseite der indischen Regierung, Ministry of Minority Affairs, erhältlich: http://minorityaffairs.gov.in/sachar. 217 Vgl. www.rightlivelihood.org/asghar-ali-engineer.html . 82 In Teil 3, „The Journey So Far...“, resümiert Engineer sein bisheriges Leben und Wirken (S. 337-345). Im Folgenden werde ich die wichtigsten Stationen in Engineers Biographie skizzieren. Dabei richte ich den Fokus auf prägende Ereignisse, die für das Gesamtverständnis von Engineers Werk und Wirken wichtig sind. 2.3.2 Kindheit und Jugend Asghar Ali Engineer wurde 1939 in der Nähe von Udaipur218 im Bundesstaat Rajasthan, im Nordwesten Indiens, in eine Familie von Bohra-Geistlichen geboren. Er wuchs in behüteten Verhältnissen auf.219 Seine frühe Kindheit und Jugend waren prägend für seinen späteren Weg als Reformdenker. Als Sohn eines schiitischen Bohra-Geistlichen war ihm der Umgang mit Wissen und Büchern vertraut. Bei der Teilung Indiens und der damit verbundenen Unabhängigkeit Indiens 1947 ist Engineer acht Jahre alt. In seinen Memoiren erinnert er sich an die Unruhen (communal riots), die nach der Ermordung Mahatma Gandhis das gesamte Land erschütterten. Gandhi sollte am Tag seiner Ermordung die Kleinstadt Wardha besuchen, in der Engineers Vater mit seiner Familie zu dieser Zeit als BohraGeistlicher tätig war. Engineer besuchte die Grundschule und wartete mit den anderen Schülern und ihren Lehrern auf den berühmten Besuch, als die Nachricht von der Ermordung Gandhis im Radio bekannt gegeben wurde. In weiten Teilen Indiens kam es zu Übergriffen oder Unruhen,220 allerdings nicht in Wardha. Dies 218 Traditionell leben hier sehr viele Bohras, von hier stammt auch die jüngste Reformbewegung (PDB), der Engineer angehört. 219 Die Familie der Mutter beschäftigte sich mit Agrarwirtschaft, was für die Bohras ein eher untypisches Beschäftigungsfeld ist, da die meisten traditionell im Handel tätig sind. Bei Besuchen dieser Großeltern kann Engineer ein anderes Umfeld und eine andere Tätigkeit als die der eigenen Eltern, vor allem des Vaters, kennen lernen. Vgl. Engineer: Living Faith, 4. 220 Vgl. Engineer: Living Faith, 5. 83 sind die ersten Erinnerungen an communal riots, die Engineer und viele andere Inder ein Leben lang als Alltagsrealität begleiten. In der Autobiographie nehmen Beobachtungen vom Zusammenleben zwischen Hindus und Muslimen einen wichtigen Raum ein, die Engineer oft als widersprüchlich empfand.221 Beispielsweise berichtet Engineer von der Freundschaft seines Vaters und des örtlichen Brahmanenpriesters. Man habe zwar nie miteinander Essen und Trinken geteilt, aber immer eine freundliche Kommunikation gepflegt. 222 Aufgrund der Tätigkeit des Vaters zieht die Familie häufig um. Engineer verbringt schließlich den Großteil seiner Kindheit und Jugend in Dewas, einer dörflichen Gegend bei Indore im nordwestlichen Bundesstaat Madhya Pradesh. Hier leben schiitische Bohras, sunnitische Muslime sowie Hindus zusammen. Die Bohras gehören zu den eher wohlhabenden Bewohnern des Ortes. Asghar Ali Engineer besucht die örtliche Schule, in der die Kinder von Muslimen und Hindus gemeinsam unterrichtet werden. Zwar habe er nie das Gefühl gehabt, dass die Lehrer einen Zwist zwischen diesen Gruppen forcierten, aber die Schüler selbst teilten sich dennoch in Lager. Engineer erinnert sich, dass die muslimischen Schüler von den Hindu-Schülern gelegentlich als „Pro-Pakistan“ bezeichnet wurden.223 Dabei beobachtete der junge Asghar Ali, wie es zu Streitigkeiten aufgrund unterschiedlicher Kastenzugehörigkeiten bei den Hindu- 221 Besonders die Kapitel eins bis drei sind reich an Beispielen von Begegnungen mit Menschen aus verschiedenen religiösen Traditionen und sozialen Schichten. Vgl. Engineer: Living Faith, 3-107. 222 Die Erinnerung an dieses freundschaftliche Verhältnis ist wichtig für Engineer, da er sich vorallem um das friedliche Zusammenleben von Hindus und Muslimen bemüht. Einige seiner Artikel, die in dieser Arbeit analysiert werden, beschäftigen sich mit der Frage, ob Hindus aus theologischer Perspektive als Polytheisten betrachtet werden können oder als ahl al-kitāb. Vgl. Analyse des Themenkomplexes Zusammenleben. 223 Eine Bezeichnung, die den „Loyalitätsdünkel“ in der indischen Gesellschaft gegenüber den indischen Muslimen treffend zum Ausdruck bringt und auch heute noch diskreditierend verwendet wird. Beispielsweise konnte man nach den Attentaten 2008 in Mumbai in Indien hören, wie Muslime aufgefordert wurden „Geht doch zurück nach Pakistan“. Das Wörtchen „zurück“ fasst hier einen gesamten Geschichtsdiskurs zusammen, der davon ausgeht, dass indische Muslime keine Inder seien, weil Muslime Invasoren Indiens gewesen seien. Dies ist beispielsweise immer wieder auf Internetforen und Online-Leserseiten von Tageszeitungen wie der TOI nachzulesen. 84 Schülern und zu Rivalitäten unter den sunnitischen und schiitischen Schülern kam. Manche sunnitischen Mitschüler betraten das Haus der Familie Engineers nicht, wenn sie ihn morgens zur Schule abholten. Diese frühen Erfahrungen im Zusammenleben Angehöriger verschiedener religiöser Traditionen sind prägend für Engineers Leben. Er widmet sich später als Erwachsener sowohl dem Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften als auch der innerreligiösen Kritik. In beiden Bereichen sind es prägende Begegnungen und Erlebnisse, die ihn zur Reflektion von gesellschaftlichen und religiösen Themen inspirieren. Gleichzeitig ist er vom Geist der Zeit beeinflusst. Wie auch andernorts in der Welt sind die 1960er Jahre eine Zeit, in der sozialistische Ideen unter Intellektuellen und Künstlern Popularität genießen. So liebäugelt auch Engineer mit den Ideen Karl Marx‘, aber auch andere westliche Philosophen wie beispielsweise Bertrand Russell und Urdu-Literatur, hier insbesondere die Sufi-Dichtung, wecken sein Interesse. Entgegen der BohraTradition, den Sohn in die Bildungseinrichtung der Bohra-Geistlichen in Surat zu geben, lehrt der Vater seinen Sohn die klassisch islamischen theologischen Disziplinen wie Arabisch, Tafsir und Hadith selbst.224 Sein Vater habe nicht gewollt, so Engineer, dass der Sohn in seine Fußstapfen tritt und ebenfalls Geistlicher wird und ihn stets ermahnt, einen weltlichen Beruf zu erlernen, um unabhängig und frei vom Da’i leben zu können, von dem die Bohra-Geistlichen abhängig sind.225 Tief beeindruckt war Engineer von seinen Lehrern in der Schule. Sein UrduLehrer brachte ihn in Berührung mit der Urdu- und Sufi- Dichtung. Ein Gedicht 224 Damit folgte er der Familientradition. Die Familie brachte zahlreiche Gelehrte hervor. Der Vater selbst hat diese Einrichtung ebenfalls nicht besucht. Vgl. Engineer: Living Faith, 3. 225 Vgl. Engineer: Living Faith, 13 f. 85 Muhammad Iqbals226 beeinflusste ihn so sehr, dass er mit einem islamischen Sozialismus liebäugelte. Doch zunächst blieb dies nur eine vage Vorstellung. Karl Marx reizte ihn ebenfalls, doch der „Atheismus“ darin habe ihn zunächst abgeschreckt. Später sollte er sich noch einmal intensiv mit Marx auseinandersetzen und anfreunden, sowie eine Monographie über Marx in Urdu verfassen:227 „I was determined to read these books [Marx und Engels, FS] and then find arguments to refute Marxism in the light of Islam. (…) These books influenced me profoundly and instead of finding arguments to refute it, I was won over by Marxist doctrines as I found them so close to Islamic values. Later, I also found that Islamic thinkers like Dr. Mohammed Iqbal, Maulana Hasrat Mohani228 and Mualana Ubaidullah Sindhi229 also accepted Marxist doctrines and preached them.230 (…) although I remained a believer, I too was converted to Marxism.”231 [Fußnoten und Hervorhebung FS] Engineer beschreibt sich in seiner frühen Jugend noch als sehr „orthodox“.232 Er spürt die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. Während innerhalb der 226 Iqbal, Mohammed: Khizr-e Rah. Zahlreiche Audiofassungen online, z.B.: http://www.youtube.com/watch?v=cxQewX-dJsM. Iqbal beschäftigt sich in diesem Gedicht mit der Situation der Muslime. Sir Muhammad Iqbal (1877 - 1938), Dichter und Philosoph, gilt als einer der einflussreichsten muslimischen Dichter und Philosophen des 20. Jahrhunderts. In Pakistan wird er als geistiger Gründervater angesehen und verehrt. Für Engineer gilt er als Inspiration für seine Auseinandersetzung mit Karl Marx. Iqbal bezeichnet Marx als den „Mann mit dem Buch“; Das beeindruckt Engineer. Er erwähnt es an mehreren Stellen in seiner Autobiographie, z.B. Vgl. Engineer: Living Faith: 11, 21. Siehe weiterführend zu Iqbal: Schimmel: Prophetischer Poet und Philosoph. 1989. 227 Leider lag zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Arbeit noch keine Übersetzung in die englische Sprache vor. Titel siehe Bibliographie. 228 (1875-1951), Dichter, Journalist, Aktivist in der indischen Unabhängigkeitsbewegung, Gründungsmitglied der Communist Party India. 229 (1872-1944), islamischer Theologe und politischer Aktivist in der indischen Unabhängigkeitsbewegung, wurde in eine Sikh-Familie geboren, konvertierte zum Islam, gehörte der Schule der Deobandis und einer pan-islamistischen Bewegung an. Weiterführende siehe: Ansari, S.: Sufi Saints. 1992. Darul Uloom Deoband, islamische Hochschule sunnitischer Ausrichtung, gegründet 1866. Die Hochschule hat zahlreiche Fatwas zum Thema Frau erlassen, die kontrovers diskutiert wurden, da sie die Bewegungsfreiheit der Frau stark einzuschränken wünschten, unter anderem bei politischen Wahlen oder ihr das Arbeiten verbieten wollte. Beispielsweise hier: http://timesofindia.indiatimes.com/india/Deoband-fatwa-Its-illegal-for-women-to-work-supportfamily/articleshow/5919153.cms?referral=PM. Zur Rolle der Deobandi-Schule während der indischen Unabhängigkeitsbemühungen siehe weiterführend Metcalf, B.: Islamic Revival. 182. Zuletzt wurde ein Fatwa bekannt, dass das Fotografieren als unislamisch bezeichnet. 230 Engineer: Living Faith, 20. 231 Engineer: Living Faith, 21. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Verwendung des Verbs “(to) convert” (dt. konvertieren), welches gewöhnlich in Bezug auf religiöse Konversionen verwendet wird. Es bleibt unklar, ob der Autor hier damit kokettiert, dass Marxismus auch als qua-religiöse Idee verstanden wurde oder werden könnte. 232 Engineer: Living Faith, 16. 86 Bohra-Gemeinde die Sunniten für abtrünnig gehalten wurden (und vice versa)233, erlebte es Engineer in der Schule anders. Er las Literatur von Sunniten (z.B. Iqbal). Der Islam, mit dem ihm sein Urdu-Lehrer bekannt machte, war ein anderer als in der Darstellung der Bohra-Gemeinde.234 Diese Widersprüche verwirrten den jungen Mann. Diese Verwirrung wurde gesteigert, als ihm der örtliche Postbote, ein Hindu, in einem Gespräch sagte, er halte alle Wege zu Gott für richtig und wahr und es gäbe viele Wege zu Gott. Der junge Asghar Ali aber war davon überzeugt, dass nur der Islam die einzige Wahrheit sei. Einige Zeit später las er Werke des Mystikers Mir Dard,235 der die Kernaussage des Postboten zu unterstreichen schien. In Dewas beginnt Engineer die ersten Reden zu schreiben und auf religiösen Veranstaltungen und in der Gemeinde vorzutragen. Er schreibt für die Schülerzeitung und ist sehr an Urdu-Literatur interessiert. Einer seiner Lehrer ist Sozialist und beeindruckt den jungen Mann nachhaltig. Nach seinem Schulabschluss rieten einige Freunde Engineer zu einem Theologiestudium an der Aligarh Muslim University,236 aber ein befreundeter Arzt weckte Zweifel an diesem Vorhaben, da er vermittelte, dass Engineer mit solch einem Abschluss keine Anstellung erhalten und diskriminiert werden würde. 233 Abgesehen einmal von den theologischen Differenzen und Begründungen für den „Irrglauben“ der Anderen, kursierten im Volksmund viele Vorurteile und Schauergeschichten über die jeweils andere Konfession. Beispielsweise berichtet Engineer, man glaubte Schiiten würden Sunniten töten und ihr Blut über den Reis sprenkeln und diesen dann verspeisen. Vgl. Engineer: Living Faith, 10. 234 „He inspired us to be a good Muslim but never to be orthodox“. Dieser Urdu Lehrer, Shama Saheb, wird von Engineer häufig erwähnt. Er unterrichtete gegen den Widerstand vieler Muslime ehrenamtlich auch die Mädchen in dem Ort. Engineer beschreibt ihn als einen aufgeklärten, gläubigen Muslim, dessen Haltung ihn faszinierte und verwirrte. 235 Khwaja Mir Dard (1721-1785), Urdu-Dichter, Mystiker in der Tradition des Naqshbandi Mujaddidi Ordens. 236 1875 gegründet durch den muslimischen Reformer und Politiker Sir Syed Ahmad Khan (18171898), der nach der gescheiterten indischen Rebellion gegen die britische Herrschaft 1857 die sogenannte Aligarh-Movement anführte. Die Bewegung hatte vornehmlich zum Ziel, den muslimischen Indern den Zugang zu moderner Bildung zu ermöglichen. So gründete Sir Syed Ahmed Khan diese Universität nach den britischen Vorbildern Oxford und Cambridge zunächst unter dem Namen Muhammedan Anglo-Oriental College in der Stadt Aligarh in der Nähe von Delhi. Die Universität führt seit 1920 den Namen Aligarh Muslim University und hat das Studienangebot einer Volluniversität mit 30.000 Studierenden. Siehe www.amu.ac.in/. 87 Zwar bestand Engineer die Aufnahmeprüfung mit hervorragenden Ergebnissen, doch sollte ein Ereignis sein zukünftiges Verhältnis zu den Bohras, der Hierarchie und ihren Autoritäten grundlegend und für immer verändern, so dass er sich gegen ein Studium an der Aligarh Muslim University entschied. 2.3.3 Schlüsselerlebnis: Qadambosi – Verweigerung der sajda 1956 nahm Engineers Vater seinen 17-jährigen Sohn mit nach Bombay zu einer Zeremonie, bei der sich die Bohras vor dem Da’i niederwerfen, zum qadambosi, dem „Füßeküssen“. In Engineers Schilderungen drängen sich Massen von Menschen auf engstem Raum, um sich vor ihm niederwerfen (arab. sajda) zu können.237 Aber der junge Engineer verweigerte sich, denn „In Islam, sajda is to be performed only before Allah“.238 Engineer berichtet, dass er dennoch mit Gewalt von den Angestellten des Da’i zu Boden gerissen („’Shaitan, you are refusing to bow down before our Maula (spiritual master)!’“)239und zur Niederwerfung gezwungen worden sei. Aus diesem Grund, so sagte ihm sein Vater nach dem Besuch, damit sein Sohn kein „Sklave“ des Da’i werde, solle er einen weltlichen Beruf erlernen. 240 So studierte Engineer in Indore Ingenieurswesen und arbeitete zwanzig Jahre als Bauingenieur für die Stadtverwaltung Bombay. Während seiner Studienjahre in Indore lernte Engineer Menschen aus verschiedenen Kasten und Religionen kennen. Doch in seiner Freizeit besuchte und leitete er die Bohra-Jugendorganisation Bohra Students Union. Engineer bemerkt in 237 Vgl. Engineer: Living Faith, 14 f. Engineer: Living Faith, 14. 239 Engineer: Living Faith, 14. 240 Vgl. Engineer: Living Faith, 14. 238 88 seiner Biographie, dass man unter sich blieb. Weder andere Muslime noch Andersgläubige wurden zum Beitritt animiert.241 2.3.4 Studienjahre: Kritische Reflektion im Auftrieb In seinen Studienjahren beginnt bei dem jungen Asghar Ali ein politisches und gesellschaftspolitisches Bewusstsein zu erwachen, welches in stringenter Verbindung mit der Entstehung seines kritischen Blicks auf religiöses Denken steht. Initiale, verknüpfende Bedeutung hatten dabei die communal riots, die blutigen Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen (sowie gewalttätige Übergriffe auf Christen) kaum 15 Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens. Die heftigsten communal riots nach 1947, die Engineer bewusst wahrnimmt, finden 1961 in Jabalpur242 statt. Zu dieser Zeit studiert Engineer noch, er ist weiterhin in der Bohra-Jugendorganisation aktiv. Ein Kommilitone macht ihm das Leben durch seine kritischen Anmerkungen zum Islam schwer. Engineer beschreibt dies als eine wichtige Erfahrung, die ihn gezwungen habe, seinen Glauben neu zu reflektieren. Beide Studenten diskutierten auch über den Marxismus, so dass Engineer sich als Ferienlektüre „Das Kapital“ vornimmt.243 Diesem Kapitel, der Spätphase seiner Studentenzeit, hat Engineer die Überschrift „From Conformism to Tolerance“ gegeben, da er hier den Wandel bzw. Beginn seines (kritischen) Denkens 241 Vgl. Engineer: Living Faith, 17. Stadt im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh, 1962 erlebte die Stadt die heftigsten Hindu-Muslim Unruhen seit der Unabhängigkeit, der Konflikt begann zunächst als Konkurrenzkampf zwischen zwei örtlichen Herstellern der indischen Bedi Zigarette, der eine Muslim, der andere Hindu. Schließlich kam es zur Eskalation nachdem sich die Tochter des Hindus und der Sohn des Muslims verliebten. Die Hindu-Presse soll dies als Vergewaltigung eines Hindu-Mädchens durch einen Muslim dargestellt haben, so dass gewalttätige Unruhen ausbrachen. Nehru sei erschüttert gewesen, über das Ausmaß der Grausamkeit und Gewalt, so dass er im Anschluss dieser Gewaltexzesse das National Integration Council zur Befriedung der beiden Gemeinschaften anrief. Vgl. Engineer: Muslim Views of Hindus. In Waardenburg (Ed.): Muslim Perceptions, 264. 243 Vgl. Engineer: Living Faith, 19-21; Hier auch ausführlich zu seinen Ansichten zum Marxismus. 242 89 markiert sieht: „(...) the turning point of my orthodox religious views. I was known in my circle as mulla or maulana for my conservative religious views.“244 Zu dieser Zeit fiel dem jungen Studenten das Buch Man-o-Yazdan (dt. Ich und Gott) des Dichters Niyaz Fatehpuri245 in die Hand, das zu jener Zeit aufgrund seiner innerreligiösen Kritik vor allem in konservativen Gelehrtenkreisen, die den Autor in die Ecke des Atheismus stellen wollten, heftig umstritten war. Umso mehr wurde es in literarischen Zirkeln gefeiert. Die Episode hierzu gibt Aufschluss über Engineers kritische Reflektion seines eigenen Denkens. Zunächst habe er sich gar nicht getraut, dieses Buch zu lesen, da er fürchtete, dass es sein Denken kompromittieren könnte, doch dann siegte offenbar die Neugier. Engineer nimmt es erneut in die Hand, um eine Kritik zu schreiben. Offenbar kann sich der junge Mann auf das Buch so einlassen, dass er aus der Lektüre herausgeht und feststellt: „I soon discovered that he was not an atheist. He asked questions very provocatively about traditional beliefs and for that reason conservative ‘ulama denounced him as an unbeliever. In fact this book left a deep impact on my mind and I began to revise my traditional views about religion. A new intellectual vision had opened up before me.”246 Im Sommer 1958 begleitete Engineer seinen Vater auf einer Reise nach Lucknow. Dort traf er Niyaz Fatehpuri persönlich, über den Engineer schreibt: „ (…) influenced me as far as religious thinking was concerned“.247 Nach seinem Studienabschluss zieht Engineer 1963 zu seinem Bruder nach Bombay und arbeitet dort als Bauingenieur für die Stadtverwaltung. Hatten die Ereignisse von 1961 in Jabalpur ihn bereits dazu veranlasst, sich ausführlich mit dem 244 Engineer: Living Faith, 19. Niyaz Muhammad Niyaz Fatehpuri (1882-1966), Schriftsteller, Dichter und Begründer der führenden Zeitschrift Nigar für Urdu-Literatur. 246 Engineer: Living Faith, 19. 247 Engineer: Living Faith, 21. 245 90 communalism zu beschäftigen, so sollte in Bombay sein Engagement noch zunehmen. 2.3.5 Bombay: Arbeitsleben und Aktivismus In Bombay fand Engineer Kontakt zu Journalisten, Schriftstellern, Dichtern und Schauspielern, die sich als linksorientiert betrachteten und sich gegen den in Indien immer stärker werdenden communalism engagierten. Bereits in dieser Zeit, in der es noch kein indisches Fernsehen gab, sondern nur das All India Radio, nutzte Engineer die Medien und Kontakte zu Personen aus der Medienwelt, um seine Ideen weiten Bevölkerungsteilen zu eröffnen. Mit namhaften linksintellektuellen muslimischen Poeten der Zeit wie Jan Nizar Akhtar248 oder Kaifi Azmi249 oder den führenden Schauspielern des HindiKino wie Dilip Kumar250 oder Balraj Sahni251 führt er enge freundschaftliche 248 Jan Nizar Akhtar (1914-1976), war ein profilierter muslimischer indischer Dichter, dessen Familie zahlreiche namhafte Dichter und sunnitische Gelehrte hervorbrachte. Jan Niszar Akhtar arbeitete auch für das Hindi-Mainstream-Kino Bollywood, wie auch sein Sohn Javed Akhtar (Siehe Sagir: Interview mit Javed Akthar: Wem und wohin gehört Urdu? In: LiteraturNachrichten. 2006.). Engineer verband mit dem Linksintellektuellen eine enge Freundschaft. 249 Kaifi Azmi (1919-2002) war einer der bekanntesten indischen muslimischen Dichter und stammte aus einer religiösen Familie. Seine religiöse Ausbildung in einer Madrasa brach er ab. Er wurde Mitglied der Communist Party India. Azmi gehörte zu einem Kreis von Urdu-Literaten, die die UrduDichtung in den Hindi-Film einführten und etablierten und sie so auch einem Publikum zugänglich machte, zu dem auch Analphabeten gehörten. Azmi schrieb das Drehbuch zu dem Film Garam Hawa (dt. in etwa: Heiße Atmosphäre), der sich mit der Teilung Indiens beschäftigt, vgl. Fußnote zu Balraj Sahni. Seine Tochter ist die Arthaus-Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin Shabana Azmi, die einige Zeit zum Governing Bord des CSSS gehörte und mit Javed Akhtar verheiratet ist. 250 Bürgerlich Muhammad Yusuf Khan, 1922 geboren in der Region von Peshawar (im heutigen Pakistan). Muslimischer indischer Schauspieler und gefeierter Star in der Hochzeit des indischen Films (vor Bollywood) in den frühen 1950er und 1960er Jahren. Bekannt für seine Darstellung des Moguln-Herrschers Akbar in dem Epos Mughal-e Azam (1960). Er engagierte sich für den Dialog zwischen Pakistan und Indien und sprach offen über seine muslimische Herkunft und Identität. Kumar geriet in das Visier des Hindu-nationalistischen BJP-Führers und Bürgermeisters von Bombay, Bal Thackeray. Dieser forderte ihn während kriegerischer Auseinandersetzungen 1999 im Zuge des Kaschmir-Konflikts eine ihm verliehene pakistanische Ehrenmedaille zurück zu geben. Kumar lehnte ab. Er lebt heute in Mumbai. 251 (1913-1973) Journalist, Aktivist und Schauspieler. Geboren in Rawalpindi (im heutigen Pakistan) in eine Sikh-Familie. Sahni arbeitete eine Weile als Hindi- und Englisch-Lehrer, schließlich begleitete er 1938 Mahatma Gandhi für ein Jahr während seiner Arbeit und war tätig als Korrespondent für die BBC in London. Balraj Sahnis bekanntester und letzter Film war Garam Hawa (dt. in etwa: Heiße Atmosphäre). Darin verkörpert er einen muslimischen Inder, der sich während der Teilung des indischen Subkontinents weigert, Indien zu verlassen und nach Pakistan auszuwandern. Sahni war überzeugter Marxist, Gründungsmitglied der Communist Party India sowie ihrem Jugendflügel. 91 Beziehungen und organisiert öffentliche Veranstaltungen, um die Bevölkerung für ein harmonisches Zusammenleben zu sensibilisieren. 252 Nach schweren Unruhen in Bhiwandi253 im Jahre 1970 besuchte er den Vorort mit dem Filmstar Balraj Sahni, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Angesichts der Zerstörungen und zahlreichen Toten kehrten die Männer erschüttert zurück. In den 1970er Jahren engagiert sich Engineer für die Befriedung der Gesellschaft einerseits; andererseits kann er nun, nach dem Tod des Vaters, seine Kritik an der Bohra-Führung auch publik machen. Der Ausschluss aus der Gemeinde folgt. 1981 lässt sich Engineer zunächst für zwei Jahre von seiner Tätigkeit als Bauingenieur befreien, um dann 1983 frühzeitig aus dem Dienst auszuscheiden. Korruption und hoher Leistungsdruck hatten ihn desillusioniert. Ab diesem Zeitpunkt widmet er sich nun ganz seiner sozialaktivistischen Tätigkeit. 1981 hatte er bereits das CSSS gegründet, welches er bis zu seinem Tod leitete.254 252 Diese Künstler (Dichter wie Schauspieler, aber vor allem die Dichter) setzen sich in ihrer Kunst mit der Situation der Muslime in Indien auseinander, mit den communal Konflikten sowie der Situation der sozial schwachen Bevölkerung. Die Dichtung sowie die Filme haben in diesem Zusammenhang einen appellativen Charakter. 253 Vorort von Thane, 20 km von Mumbai entfernt. Hier kam es ab 1970 immer wieder zu blutigen Unruhen zwischen Hindus und Muslimen. Die schwersten Unruhen wurden 1970 durch gewaltorientierte hindu-nationalistische Organisationen wie der Shiv Sena oder der RSS angefacht, die eine Hindu-Prozession durch ein mehrheitlich muslimisches Viertel an einer Moschee vorbeiführten. Eine Untersuchung der Ereignisse im Auftrag der indischen Regierung brachte die fatale Rolle der Polizeikräfte zutage. Weiterführend siehe Robinson, R.: Tremors of Violence. 2005. 254 Siehe Klas, Gerhard: Terror kennt keine Religion. SWR2 Radiobeitrag zur Arbeit von Engineer und dem CSSS mit Schwerpunkt auf den Hindu-Muslim-Konflikten sowie die damit verbundene soziale und gesellschaftliche Situation von Muslimen. Manuskript: www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen//id=5458578/property=download/nid=660374/1k2yjsm/swr2-wissen-20091120.pdf. 92 2.3.6 Kritik am Da’i und Exklusion Asghar Ali Engineer wurde 1973 durch den Da’i „exkommuniziert“, wenngleich, wie bereits erwähnt, es keine schriftliche Erklärung dazu gab. Allerdings wurde die Praxis des barat auf Engineer angewandt. Er gilt als Apostat. Ein offizielles schriftliches Fatwa oder ähnliches existiert laut Engineer nicht und auch meine Recherchen führten zu keinem anderen Ergebnis. Der Beschluss des Da’i sei aber in der Gemeinde publik gemacht worden.255 Die anschließende Praxis des barat setzt die Exkommunikation um. Engineer hatte sich 1973 zu den Udaipur Aufständen dort ansässiger Bohras in einem Zeitungsartikel in der TOI positiv geäußert und an Kritik an der BohraFührung nicht gespart. Was war geschehen? 1973 war es zur offenen Rebellion gekommen, nachdem ansässige Bohras durch den Da’i gezwungen worden waren, ihre Kandidatur für die Gemeinderatswahlen zurückzuziehen. Der Da’i stellte eigene Kandidaten auf, die die Wahl verloren. Darüber hinaus hatten Bohras, ohne zuvor die Erlaubnis des Da’i einzuholen, soziale Einrichtungen gegründet, darunter auch eine Schule und eine Bankkooperative. Dies verstößt gegen die bestehende BohraDoktrin, die für solche Handlungen das Einholen der Erlaubnis des Da’i voraussetzt. Folgerichtig wurden die Bohras aufgefordert, die Einrichtungen zu schließen. Dies provozierte den offenen Widerstand, den die Betroffenen mit dem Ausschluss aus der Gemeinde bezahlen mussten. Das bedeutete, dass sie aus den BohraMoscheen und selbst aus den Friedhöfen ausgeschlossen waren.256 So durften sie im Todesfall ihre Toten nicht auf dem Bohra-Friedhof beerdigen.257 255 Persönliches Gespräch. Engineer berichtet, dass unter Polizeiaufsicht den PDB ein kleiner, mit Gittern geschützter Abschnitt zur Verfügung gestellt wurde. 257 Siehe Fallbeispiel Zehra Cyclewala, die berichtet, dass die Bohra-Führung ihr das Begräbnis ihrer Mutter auf dem Bohra-Friedhof verweigert habe. Hindus und sunnitische Muslime solidarisierten sich mit ihr und boten ihr eine Begräbnisstätte auf dem sunnitischen Friedhof an. Sie lehnte ab und setzte das Begräbnis auf dem Bohra-Friedhof durch. Vgl. Sikand: A Woman’s Battle. 2011. 256 93 Die Folgen seines Artikels, in dem er mit protestierenden Bohras sympathisiert, beschreibt er in seiner Biographie so: „These news [Bericht über die Ereignisse] appeared in the Times of India (Bombay edition) and I was much disturbed by it. So, I wrote to the newspaper in support of these struggling Bohras of Udaipur, and subsequently wrote an article in the same paper. As soon as my article appeared, hell seemed to have been let loose against me. Zoe Ansari (...), who was close to the Syedna’s [der Da’i] brother (...)- conveyed to me that the Syedna’s establishment was very angry with me and they would not let me live now.“258 [Anmerkungen FS] Die Anhänger des Da’i umlagerten das Gebäude der TOI in Bombay und forderten den verantwortlichen Redakteur auf, den Artikel zurückzunehmen und sich zu entschuldigen. Der Redakteur knickte ein.259 Engineers Familie brach infolge der barat-Praxis alle Kontakte zu ihm ab. Für das Verhalten seiner Verwandten (und der Bohras, die mehrheitlich Händler sind) findet er bittere Worte: „My relatives telephoned me and asked me to apologise, otherwise they would break off all relations with me. I maintained that there was no question of apologising as I had not done anything wrong. I was against exploitation in the name of religion and not against religion per se. I was fighting against exploitation and restrictions on freedom of expression which is both my Islamic as well as constitutional right260. But my relatives could hardly appreciate these arguments. For traders, freedom means nothing; what matters is that they should be able to carry on with their trade peacefully. They prefer to buy their way to peace rather than fight for any principle, much less the principle of freedom. They were aware of the exploitation and admitted that in exchange for a little bit of money they could buy the peace they yearned for.”261 [Hervorhebung und Fußnote FS] Da sich Engineer weigerte, Abstand von der Reformbewegung zu nehmen und sich bei der Führung, das heißt, bei dem Da’i zu entschuldigen, wandten sich die 258 Engineer: Living Faith, 44. Vgl. Engineer: Living Faith, 44. 260 Es ist signifikant, dass Engineer hier sowohl von seinem religiösen als auch seinem verfassungsmäßigen Recht spricht. Dies indiziert, dass er sowohl zu einem religiösen als auch einem säkularen und politischen Referenzrahmen referriert. 261 Engineer: Living Faith, 44. 259 94 Verwandten und andere Gemeindemitglieder von ihm ab: „No one from my family ever met me thereafter.“262 Doch nicht nur Engineer traf die soziale Ächtung besonders hart sondern auch seine Mutter, die er als sehr kontaktfreudig und voll integriert in der BohraGemeinde charakterisiert. Wie viele andere von der Exkommunikation Betroffene berichtet auch Engineer, dass seine Mutter vor einem unlösbaren Dilemma stand, was für beide den enormen emotionalen und sozialen Druck verstärkte. Hier der Sohn, dort ihre Verwandten und ihre soziale und spirituelle Gemeinde, der sie sich verbunden fühlte. Die Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes seit 1967 in Engineers Haushalt lebte, wurde zunächst aufgefordert, zu dem Sohn alle Kontakte abzubrechen. Sie sollte, um dies zu gewährleisten, einen Vorhang im Haus aufziehen und hinter diesem Vorhang leben, was die Mutter auch tat. Bohra-Frauen sollten mehrmals am Tag kontrollieren, ob sie sich an diese Vorschrift hielt. Dies war im Alltag für Mutter und Sohn praktisch unmöglich, so mietete Engineer der Mutter eine eigene Wohnung. Das aber war für die Familie eine finanzielle Belastung. Nach einiger Zeit aber war Engineer in der Lage, ihr ein Haus in einem Bombayer Vorort zu kaufen, so dass sie dort alleine leben konnte. Die Kontakte zum Sohn fanden nur heimlich statt. Dennoch hatte die Mutter in der Gemeinde für immer den Makel, mit einem Dissidenten verwandt zu sein: “She would then come to my office and weep before my colleagues and wail that I had ruined her life.”263 Engineer müssen diese Situationen sehr zugesetzt haben: „[I] felt that one day I might end up in a mental asylum.”264 Dennoch beugte sich Engineer nicht dem Druck und führte sein Engagement weiter. 262 Engineer: Living Faith, 45. Engineer: Living Faith, 45 f. 264 Engineer: Living Faith, 46. 263 95 2.3.7 Das CSSS und die PDB Zwischen 1973 und 1983 schreibt Engineer, hält Vorträge und muss mit der neuen Situation als „Exkommunizierter“ zurechtkommen. Er macht die Sache der PDB publik. Nahezu jedes indische Medium berichtet über ihn und die PDB. Seit dem Tod von Noman Contractor 1983 führt Engineer die PDB-Bewegung an. Engineer berichtet von mehreren Attentaten auf ihn seit 1974 in Kairo und zuletzt im Jahr 2000 in Mumbai.265 Seitdem fanden keine physischen Angriffe mehr statt, wohl weil Engineer zur Aufklärung dieses letzten Attentats den indischen Staat um Hilfe bat. Auch gilt Engineer als Autorität in Fragen rund um die indischen Muslime und zur communal harmony für das indische Parlament und für die indischen Medien, wofür er mehrfach durch das Parlament ausgezeichnet wurde.266 Engineer gründete 1980267 das CSSS. Mit finanzieller Unterstützung aus einem nationalen Fonds und aus einem Fonds der PDB konnte er sich nun ganz dem Aufbau seiner aktivistischen Arbeit als Reformer widmen. Heute wird das CSSS als NGO geführt und erhält finanzielle Unterstützung durch die deutsche Heinrich-Böll-Stiftung, Brot für die Welt und Misereor Deutschland sowie CMC, einer christlichen Stiftung in den Niederlanden, der Singh Foundation in den USA und dem Action Aid und der Ford Foundation, beide in New Delhi. Diese Unterstützung erhält das CSSS für seine Sozialarbeit und sein Engagement für den interreligiösen und gesellschaftlichen Frieden. Das CSSS verfügte zu Beginn nicht über eigene Räumlichkeiten. Engineer bewältigte die Arbeit von seinem Schreibtisch aus innerhalb seiner Wohnung. Später 265 D’Souza: Intolerance. In: rediff. 26.02.2000. Der indische Vizepräsident kondolierte in einer Presseerklärung als Engineer am 14.05.2013 verstarb. Nachruf in der TOI, Punwani: There will never be another Asghar Ali. In: TOI. 15.05.2013. 267 Die Angaben zu Jahreszahlen variieren in den Quellen oft zwischen einem Unterschied von ein bis drei Jahren. Selbst das Geburtsdatum Engineers wird gelegentlich mit 1939 und mit 1940 angegeben. 266 96 wurden Räumlichkeiten im Mumbaier Stadtteil Santa Cruz bezogen, nicht unweit von der Wohnung Engineers. Das CSSS hat folgendes Tätigkeitsfeld: Es widmet sich der Zusammenarbeit mit anderen Sozialreformern und Sozialaktivisten aus verschiedenen religiösen Traditionen. Multiplikatoren und Betroffene werden durch Vorträge und Workshops zu verschiedenen Themen, wie zum Beispiel AIDS, sensibilisiert. Dazu gehören Polizei-Workshops, da die Polizei häufig der entscheidende Faktor ist bei gewalttätigen Ausschreitungen; statt einzuschreiten, befeuert sie häufig den Konflikt oder greift schlicht gar nicht ein. Die Aufklärung und Bildung vor allem von muslimischen Frauen ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit. Das CSSS stellt Forschungsstellen für undergraduate und postgraduate Studenten zur Verfügung (vornehmlich in der Bibliothek) und erteilt Stipendien. Es dokumentiert Übergriffe auf religiöse Minderheiten. Zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit waren etwa zehn Angestellte beschäftigt, die aus verschiedenen religiösen Traditionen und sozialen Milieus stammen. Der Jurist Irfan Engineer unterstützt seinen Vater bei der Führung des CSSS.268 Engineer begann bereits in den 1960er Jahren indischen Zeitungen Artikel zum Thema communalism/communal harmony anzubieten. Er schrieb unermüdlich Artikel in einfachem, verständlichem Englisch, die auf der Website des CSSS veröffentlicht wurden. Sie erschienen in indischen Tageszeitungen wie Times of India, Hindustan Times, Milli Gazzete und in Zeitschriften wie Outlook India, India Today und Tehelka, sowie vielen Blogs und Websites, die sich im weitesten Sinne mit Islam, Indien, Muslimen, communalism und interreligiösem Dialog beschäftigen. 268 Mit dem Tod Engineers im Mai 2013 hat Irfan Engineer die Geschäftsführung übernommen. Nun richtet sich der Schwerpunkt der Artikel, die weiterhin in der Tradition Engineers erscheinen, auf communalism. 97 Seine Artikel finden sich auf vielen westlichen Seiten verlinkt, wie zum Beispiel Universitätsseiten.269 Diese Artikel hat Engineer in den vergangenen Jahren zusammengefasst in Buchform herausgegeben. Seine Publikationsliste umfasst über 60 Titel, darunter Monographien und Herausgeberschaften. Seine Schriften zirkulierten ebenfalls als Beiträge in den hauseigenen Organen des 14-tägig online erscheinenden Secular Perspective und des vierteljährlich erscheinenden Indian Journal of Secularism sowie Islam and Modern Age. Kontakte bestanden zur indischen Intelligentsia, zu Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten, Schriftstellern und anderen Personen des öffentlichen Lebens wie z.B. Schauspielern (z.B. Shabana Azmi, Dilip Kumar), die für das öffentliche Leben in Indien eine Vorbildfunktion innehaben. 269 Aus persönlichen Gesprächen mit Engineer und aus seiner Autobiographie ist zu erfahren, dass Engineer in Urdu Artikel beispielsweise zu Spinoza und Kant geschrieben habe. Leider waren diese nicht mehr im Besitz von Engineer. Ob sie noch bei Weggefährten aus Urdu-Literaturzirkeln, in denen sich Engineer aufhielt, oder deren Nachfahren zu finden sind, war zum Zeitpunkt meiner Recherche nicht mehr festzustellen. 98 Abschnitt I I 1. Einführung in die Analyse des Textkorpus Zum Verständnis und zur genauen Kontextualisierung der Texte wurden bereits in den vorangehenden Kapiteln Einblicke in den regionalen, historischen, religiösen und gesellschaftlichen Kontext Engineers und die Entstehung seiner Texte geliefert. Daran schließt nun das vorliegende Kapitel an. In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse der Textanalyse dargestellt und diskutiert. Sie sollen dazu dienen, zeitgenössisches muslimisches Nachdenken über (global) aktuelle Themen in der pluralistischen modernen Gegenwart zu veranschaulichen. 1.1 Autor und Text Asghar Ali Engineer war ein profilierter Autor, der täglich Artikel produzierte und Interviews für internationale und nationale Medien gab. Die meisten Titel auf seiner Publikationsliste sind Sammelbände, in denen seine online (auf den eigenen Webseiten www.csss-isla.com oder www.csss-isla.com/iis-index.htm) publizierten Artikel als Printversion zusammengefasst sind. Darüber hinaus hielt Engineer Vorträge, die sich mit den Themen und Inhalten der Artikel weitgehend decken und schrieb Reiseberichte über seine Auslandsreisen. Diese sind ebenfalls auf seiner Website zu finden. Für die vorliegende Studie konzentriere ich mich nach Sichtung des Gesamtwerks auf ausgewählte Online-Artikel und Reiseberichte. Diese beiden Gattungen wähle ich aus den folgenden Gründen: Für die Verbreitung der Ideen Engineers ist das Internet das maßgebliche und entscheidende Medium. Auf diesem Weg erreicht er weltweit Menschen und gibt seine Position in die laufenden Diskurse ein. Seine Artikel werden verlinkt oder auf Blogs gepostet und diskutiert. Die 99 Reiseberichte hingegen sind von Interesse, da sie veranschaulichen, wie Engineer Wissenstransfer und Wissensaustausch betreibt, worüber beispielsweise sein Reisebericht über seine Begegnung mit afghanischen Imamen sehr anschaulich Aufschluss gibt. Der Leser vollzieht hier das Aufeinandertreffen verschiedener islamischer Positionen direkt nach. Wie gehen diese Muslime mit der faktisch vorhandenen Pluralität der Meinungen, Deutungen und Interpretationen der eigenen Tradition um? Die genaue Lektüre des Reiseberichts gibt wertvolle Hinweise zur Reflektion dieser Fragen. Dieser Bericht soll daher exemplarisch in einem späteren Kapitel näher betrachtet werden. Darüber hinausgehend eröffnet Engineer mit seinen Reiseberichten seinen Lesern Einblicke sowohl über andere Muslime, aus anderen Traditionen, in anderen Regionen, als auch über Begegnungen mit Nichtmuslimen,270 die seine Leser möglicherweise in dieser Form nie erhalten würden. Er dokumentiert mit diesen Reiseberichten seinen globalen, translokalen Austausch und dabei ebenso seine aktive Rolle im Islamdiskurs. Das Schreiben – über die Dinge, über die er als Reformdenker nachdenkt sowie über seine Handlungen als Aktivist - bildete den Schwerpunkt seines Engagements. Aus diesem Grund, und da sich die Fragestellung dieser Arbeit vor allem auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Traditionen im Kontext der modernen Welt konzentriert, stehen die Texte Engineers im Zentrum der Analyse. 270 Die Berichte über seine Besuche in Deutschland sind lesenswert. Darunter findet sich auch Kurioses wie beispielsweise die Wiedergabe eines Einladungsschreibens des Politikwissenschaftlers Bassam Tibi, der unverhohlen seine akademische Feindschaft mit dem Religionswissenschaftler Peter Heine darin ausbreitet. Vgl. Engineer: Living Faith, 280-1. Engineers Begegnung mit Hans Küng ist eingebettet in einem Kapitel über seine Teilnahme am Kirchentag 2009 in Bremen, von wo er nach Tübingen reiste, um Küng zu treffen und vom Bürgermeister der Stadt, Boris Palmer, in Empfang genommen zu werden. Vgl. Engineer: Living Faith, 283-9, sowie Hermann: Alle Religionen teilen Werte. In: Schwäbisches Tagblatt. 26.05.2009. 100 Bereits als Schüler arbeitete Engineer für die Schulzeitung, schrieb während seines Studiums in Indore Artikel und seit den frühen 1970er Jahren zunehmend für überregionale englischsprachige indische Tageszeitungen und Zeitschriften. Engineer lieferte des weiteren Beiträge für Online-Portale wie Open Democracy und Countercurrents. Seine Artikel sind auf der Website der Heinrich-Böll-Stiftung gepostet, die die Arbeit des CSSS fördert. Musliminnen, seien es Aktivistinnen oder muslimische feministische Theologinnen, tragen zur Verbreitung seiner Ideen und Texte bei, wie beispielsweise durch das Online-Forum Women Living Under Muslim Laws.271 Diese Textproduktivität hat Engineer neben seiner Sozialarbeit in Indien den Ruf eines sachverständigen Experten für alle Fragen rund um den Islam und die Muslime eingebracht. Insbesondere für die Medien war er alternativer Ansprechpartner und religiöse Autorität neben den etablierten, meist konservativen oder radikalen Stimmen des indischen Islam. Auch außerhalb Indiens hat er sich einen Namen als muslimischer Reformdenker gemacht, der sich für das friedliche Zusammenleben im Allgemeinen und der Religionsgemeinschaften im Besonderen einsetzte.272 Neben Monographien und Sammelbänden veröffentlichte Engineer 14-tägig auf der Webseite des CSSS (und in Printform) Artikel für sein Hausorgan Secular Perspective. Diese Artikel sandte er einer internationalen Mailingliste, die sich aus Individuen und Institutionen zusammensetzt. Neben dem CSSS hat Engineer noch das Institute for Islamic Studies (IIS) gegründet, welches allerdings eher eine Website als tatsächlich eine Organisation ist. Auf dieser Website veröffentlichte 271 Website www.wluml.org . Artikel von Engineer unter: www.wluml.org/search/apachesolr_search/Engineer 272 Eine Begegnung mit Hans Küng, sowie zahlreiche Kontakte zu Institutionen und Personen des interreligiösen und interkulturellen Dialogs sind ein weiteres Indiz hierfür. Die Begegnung mit Hans Küng beschreibt Engineer in seiner Autobiographie. Vgl. Engineer: Living Faith, 288. 101 Engineer monatlich für das Magazin des IIS Islam and Modern Age Artikel, die sich mehr mit „rein islamischen“ Themen befassten, im Gegensatz dazu sei das CSSS die NGO, die sich mit diversen Themen befassen könne, so Engineer auf meine Nachfrage, warum es diese beiden Websites gebe. Auch diese Artikel werden monatlich per E-Mail verschickt sowie einige Printexemplare beider Zeitschriften. Neben diesen Artikeln hat Engineer Beiträge zu wissenschaftlichen Sammelbänden geliefert und für Journale in englischer Sprache geschrieben.273 Bei einem Überfall274 der Anhänger des Bohra-Führers Da’i Sayedna Burhanuddin im Jahr 2000 auf die Mumbaier Wohn- und Büroräume Engineers wurden zahlreiche Arbeiten zerstört, darunter ein von Engineer angefertigter Tafsir, der noch nicht abgeschlossen war. So gingen frühe Artikel und Manuskripte, die Engineer auf einer Schreibmaschine erstellt hatte, unwiederbringlich verloren.275 Unter den Verlusten befinden sich Artikel, die Engineer in den 1970er und 80er Jahren für die TOI schrieb.276 Nach Abschluss meiner Recherche habe ich mich, nach eingehender Sichtung und Lektüre der Primärquellen, für die Konzentration auf die Online-Artikel entschieden, die Engineer auf seinen obengenannten Websites veröffentlicht hat. Diese fielen mir auf, da sie im Internet vielfältige Resonanz durch Leserkommentare erzeugten.277 Internet-Nutzer posteten Kommentare zu den Artikeln; zwar nicht auf Engineers Websites, da er diese Funktion nicht aufführt, aber auf anderen 273 Beispielsweise für Economic and Political Weekly, darunter Resolving Hindu-Muslim Problem. 1999; oder für Oriente Moderno: Islam and Muslims in India. 2004. 274 Vgl. D’Souza: Intolerance. In: www.rediff.com/news/2000/feb/26dilip.htm. 275 Dies teilte er mir in einem persönlichen Gespräch im Frühling 2008 mit, als er mich durch die Bibliothek seiner Wohnung führte. Die wenigen Werke in Urdu, die noch erhalten sind, konnte ich einsehen. 276 Vielleicht sei der eine oder andere Artikel bei Freunden und Weggefährten der PDB-Bewegung vorhanden, so Engineer. Diese Artikel lagen mir zur Auswertung nicht vor. 277 Engineer hielt zahlreiche Vorträge. Die meisten trug er frei und in der Regel in englischer Sprache vor, es sei denn, es wäre eine indische Sprache erwünscht, die er beherrschte (wie z.B. Urdu oder Gujarati). 102 Internetseiten, die die Artikel ebenfalls posten oder verlinken, wie zum Beispiel Blogs (z.B. twocircles.net) oder Tageszeitungen und Zeitschriften. Engineer schrieb und veröffentlichte ebenfalls auf der Website der PDB. Hier gibt es die Möglichkeit, in einem Forum auf die Artikel zu reagieren, was auch gerne und häufig getan wird.278 Engineer verfasste seit den 1980er Jahren seine Artikel in englischer Sprache, um so ein breites Publikum erreichen zu können, Sicherlich ist diese Entscheidung auch der Tatsache geschuldet, dass zu Beginn seiner Tätigkeit kein muslimisches, Urdu-sprachiges Medium seine Artikel in Urdu abdrucken wollte, da Engineer der Ruf vorauseilte, ein Abtrünniger, Atheist und Kommunist zu sein. Von den muslimischen Medien druckt die englischsprachige Milli Gazzette mittlerweile Beiträge Engineers. 1.1.1 Themen Die Hauptthemen in Engineers Texten sind gesellschaftliche, politische und religiöse Umstände, die er kritisiert. Seine Kritik bewegt sich in ihren Anfängen von der inneren Kritik, bezüglich seiner kleinen Heimatgemeinde, zur indischen Gesellschaftskritik und zur übergeordneten innerislamischen Kritik. Von Anfang an wird ein gesellschaftspolitisches Engagement deutlich, das sich auch in Engineers Forderung nach sozialem Frieden äußert. Zunächst schrieb Engineer über communal riots (ab Mitte der 1960er Jahre), dann folgte seine Kritik an der Bohra-Führung (ab Mitte der 1970er Jahre), damit einhergehend dominierten zunehmend gesellschaftspolitische Themen auf internationaler und nationaler Ebene seine Texte. Schließlich folgte die Kritik an 278 Siehe weiterführend www.dawoodi-bohras.com/forum/ . 103 innerislamischen und indischen Zuständen (ab Anfang der 1980er Jahre).279 Hauptthemen bleiben bis heute der Islam und communalism, also das Zusammenleben mit den Anderen. Seine Kritik an der Bohra-Führung kommuniziert Engineer in nationalen Medien und auf der Website der PDB-Bewegung. Engineer beschäftigt sich in seinen Artikeln nicht nur mit national und international tagespolitisch aktuellen Themen, sondern auch mit Grundsatzfragen. Die Hauptthemen der Artikel sind, sortiert nach Häufigkeit des englischen Stichworts, secularism, democracy, communalism, women, Koran.280 Seit 2000 hat Engineer für jedes Jahr einen Communal Riots Report herausgegeben, in dem er die einzelnen Unruhen dokumentiert.281 Seit den brutalen Übergriffen im Frühjahr 2002 in Gujarat an Muslimen, erinnert er jedes Jahr an das Ereignis, dokumentiert den Verlauf der Aufarbeitung und eventuellen juristischen Konsequenzen.282 Für diese Dissertation wurden insgesamt 434 Artikel (aus den Jahren 20002012) ausgewertet. Von den diversen Themen Engineers, der interessiert das Geschehen im eigenen Land und in der Welt verfolgte, selber Themen kommentierte oder solche aufwarf, drängt sich aufgrund ihrer Brisanz und Bedeutung für die Diskurse, in denen sich Engineer bewegt, eine konkrete Themenkonstellation auf, die ich für die vorliegende Studie wie folgt zusammengefasst habe: 279 Auf der eigenen Website konzentriert er sich auf die Hauptthemen. Im Jahr 2012 (Stand Juni 2012) hatte Engineer auf der Website des CSSS 289 Artikel veröffentlicht, 90% davon mit direktem (tages)aktuellem, meist politischem Bezug. Auf der Website des IIS waren es 145 Artikel, von denen 11 aktuellen Bezug hatten. 280 Auffällig häufig sind Artikel zum Thema Frauen vertreten (42 Artikel) sowie zum Themenkomplex Säkularismus-Demokratie-Staat-Religion und zu communalism. 281 Diese Berichte erschienen vereinzelt in Economic and Political Weekly. Beispielsweise: Communal Riots 2003. 2004. Sowie für die Jahre 1996, 1998 usw. 282 Das CSSS hat nach den blutigen Übergriffen in Gujarat eine Feldstudie in der betroffenen Region durchgeführt, die die Ereignisse dokumentiert. 104 Themenkomplex Zusammenleben mit den Anderen Themenkomplex Geschlechterdifferenz Themenkomplex Säkularismus Sowie Texte zum Themenkomplex Koran, da er diesen als übergeordneten Referenzrahmen gewählt hat. Die Analyseergebnisse zum Thema Koran werden einführend in diesem Kapitel vorgestellt. Die Analyseergebnisse der Texte zu seinen grundsätzlichen Ansichten zu Religion folgen im Anschluss an das Kapitel über den Themenkomplex Säkularismus. 1.1.2 Adressaten Engineers Texte richten sich an Muslime und Nichtmuslime, an Multiplikatoren im interreligiösen Dialog oder in der Sozialarbeit in Indien. Je nach Thema werden manche Texte schwerpunktmäßig eher Muslime und andere eher Nichtmuslime ansprechen. Engineer richtet keine direkte Anrede an die Leser. Angesichts der Relevanz der Themen, vor allem für den Islamdiskurs, darf jedoch davon ausgegangen werden, dass sich in erster Linie Muslime mit den Texten Engineers auseinandersetzen dürften, die nach neuen Erklärungs- und Deutungswegen der Tradition suchen. Die Texte dürften auch interessant für jene sein, die sich für das Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften in pluralistischen Gesellschaften interessieren. Die Texte haben dennoch den Anspruch, von allen verstanden werden zu wollen. Das wird anhand der wiederkehrenden Erklärungen beispielsweise von Jihad oder kufr/kāfir deutlich. Offenbar geht Engineer von der Unkenntnis bzw. dem Missverständnis des Lesers, sei es Muslim oder Nichtmuslim, in Bezug auf diese Konzepte und Begriffe aus. So erklärt sich auch, dass er die Begriffe zunächst 105 lexikalisch283 unter Heranziehung von Wörterbüchern wie zum Beispiel des Lisān al‘arab (Lane) oder Qāmūs (Firozabadi) klärt, und sich anschließend einer exegetischen und historischen Einordnung zuwendet. Diese Vorgehensweise, ein Stereotyp, ein Missverständnis oder ein bestimmtes gängiges Verständnis eines islamischen Konzeptes wie beispielsweise kufr aufzugreifen und darauf aufklärend zu reagieren, weist darauf hin, dass Engineers Ziel in den Texten, die Aufklärung ist, das Dekonstruieren und die Korrektur dieser Stereotype und Missverständnisse. So liest man in Text Nr. 4/Themenkomplex Zusammenleben: „There is widespread misunderstanding about these terms [kufr, jihad, etc.] not only among non-Muslims but also among Muslims themselves. “ (Text Nr. 4, On Kufr, Jihad) Daraus folgert er im selben Textbeispiel: „It is highly necessary to remove misunderstandings about these terms [kufr, jihad, etc.] in the interest of peace and harmonious co-existence with Non-Muslims both in Islamic and non-Islamic countries.“ (Text Nr. 4, On Kufr, Jihad) Engineer reagiert nicht auf Kommentare in Blogs und Foren oder in Form von Leserbriefen. In den Online-Publikationen bleibt Engineer monologisch. Der Dialog findet während Vorlesungen, Vorträgen, Diskussionsrunden oder Workshops statt. 283 Die lexikalische Erschließung koranischer Termini wird als hermeneutisches Instrument zum Verständnis des Koran eingesetzt, auch von Engineer. 106 1.1.3 Textgattung Für meine Untersuchung konzentriere ich mich auf die online publizierten Texte. Gemäß der oben aufgeführten Themenkomplexe habe ich je zehn Artikel zur vertiefenden Untersuchung ausgewählt. Die für diese Studie untersuchten OnlineArtikel sind durchschnittlich meist ca. drei bis sechs Seiten lang. Engineer schreibt in englischer Sprache, die vom Hindi manchmal in Syntax und Wortwahl geprägt ist. So verzichtet Engineer häufig auf notwendige Artikel (the und a). Das wirkt an manchen Stellen etwas holprig, doch der schlichte Stil ist charakteristisch für Engineers Texte. Der appellative Duktus der Texte erinnert an den einer Predigt oder Ermahnung. Ich konnte ihn zu universitären Vorlesungen begleiten, wie auch zu Workshops, beispielsweise mit Sozialarbeitern zum Thema AIDS, stets blieb er seinem Stil treu. Engineer hat einen ruhigen und flüssigen Vortragsstil. Er redet meist ohne Skript. Neben den Begriffen aus dem Hindi finden sich in den Texten viele islamspezifische Termini.284 Eine rege Schreibproduktion bedeutet allerdings auch, dass sich Texte und Inhalte wiederholen (können). Daher habe ich für diese Studie die stichprobenartige Auswahl der zu untersuchenden Texte bevorzugt. So geben die untersuchten Texte einen recht präzisen Eindruck von dem gesamten Textkorpus Engineers wieder, auch wenn nicht alle Untersuchungsergebnisse hier thematisiert und wiedergegeben werden konnten. 284 Die Wahl der englischen Sprache ermöglicht es Engineer seine Texte einem breiten Leserkreis zugänglich zu machen. Da er das Internet als Medium nutzt und gleichzeitig seine Artikel in Monographien zusammenfasst, sind seine Texte sowohl online als auch in Buchform in Bibliotheken zugänglich. 107 Es stellt sich die Frage, wie die Texte Engineers einzuordnen sind. Welcher Textgattung oder -kategorie sollen sie zugeordnet werden. Handelt es sich um einen klassischen Tafsir, um Koranexegese oder Interpretation? Die hier untersuchten Texte Engineers ordne ich der Textgattung Kommentar zu. Auf eine einfache Formel gebracht, schreibt Engineer Kommentare zum Weltgeschehen.285 Diese Kommentare unterscheide ich in drei Kategorien. Diese habe ich nach eingehender Lektüre und Analyse der Texte wie folgt bestimmt: 1. Exegetischer Kommentar 2. Politischer Kommentar 3. Mischkommentar Die Kriterien für die Kategorien möchte ich wie folgt zusammenfassen: 1. Exegetischer Kommentar: Koranverse und islamische Referenzen werden herangezogen, vor allem aber Koranverse: Der Koran ist der Referenzrahmen für die Argumentation. 2. Politischer Kommentar: vornehmlich ohne Referenz auf Koranverse. 3. Mischkommentar: Themen des Islamdiskurses, die im selben Text zum Teil in einem exegetischen Kommentar und zum Teil in einem politischen Kommentar abgehandelt werden. Engineer schreibt Texte, die aus einer Mischung aus Koranversen, historischen und sehr weit reichenden kulturellen Referenzen bestehen. Es gibt für Engineer nahezu immer einen aktuellen Anlass, auf den er mit einem Kommentar/Text reagiert. Ausgehend von der Art und Weise, wie er seine Argumente und damit seinen Text 285 Seine Texte beinhalten Referenzen aus Koranversen, historischen Zitaten, Ereignissen, Persönlichkeiten und sehr weitreichenden Quellen und Autoren. 108 aufbaut, ordne ich Engineers Reaktion in die oben aufgeführten drei Kategorien von Kommentar ein. Für die Analyse der Lektüre habe ich folgendes Ablaufmodell in Anlehnung an Mayring entwickelt: Ablaufmodell für die Analyse (Textaufbau bei Engineer): 1) Aktueller Anlass oder Grundsatzfrage 2) Stereotyp oder Vorwurf 3) Argumentation Für die Textanalyse habe ich einen Fragenkatalog entwickelt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Was ist der Anlass? Worauf reagiert Engineer? Welche Attribute schreibt er den Konzepten/Begriffen zu? Zu wem spricht er? Warum? Auf welche Autorität bezieht er sich? Welche Autorität lehnt er ab oder stellt sie in Frage? Welches Bild des Islam legt er seinen Texten zugrunde? In welchem Kontext spricht er? Welche Quellen zieht er heran? Welche Koranverse verwendet er? Auf der Metaebene kann Engineers Thema als „Der Die Das Andere“ bezeichnet werden. Alles dreht sich um das Anderssein, sei es als Muslim oder Nichtmuslim, die wechselseitigen Bezüge, die solch ein Anderssein herstellt und welche Bewältigungsstrategien Engineer für diesen Umstand anbietet. Es ist sicher nicht spekulativ zu behaupten, dass Engineers persönliche Biographie dabei eine entscheidende Rolle für seine Konzentration auf das Thema, das ich hier etwas verkürzt „Der Die Das Andere“ nenne, spielt. Wer gehört dazu? ist die Frage, die 109 durch nahezu alle Texte schimmert. Das gilt ebenfalls für die Texte zur Geschlechterdifferenz.286 Da Engineer in seinem Leben die Erfahrung gemacht hat, nicht dazu zu gehören, einerseits durch den Ausschluss aus seiner Heimatgemeinde und andererseits durch seinen Status als indischer Muslim in der indischen Gesellschaft, dürfte es naheliegend sein, dass er sich mit dieser Frage auf verschiedenen Ebenen und unterschiedlichen Weisen beschäftigt. Das Stichwort, welches sich hier deutlich in den Vordergrund schiebt, ist kufr. Engineer wurde von seiner Heimatgemeinde, das heißt, vom geistigen Führer der Gemeinde, als kāfir betrachtet,287 obwohl nie eine offizielle schriftliche Erklärung hierzu erlassen wurde.288 Das Anderssein auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, das er als indischer Muslim beobachtet, handelt er nicht auf dieser Ebene ab. Allerdings weiß er, dass der Stempel kāfir im Zusammenleben von Hindus und Muslimen eine entscheidende Rolle spielt. Entscheidend, da sich durch die Bezeichnung kāfir, das Verhältnis zum hinduistischen Nachbarn nicht nur trüben kann, sondern, da folglich Aggression gegen diesen mit einer religiösen, in diesem Falle ethisch-moralisch konnotierten Legitimation daherkommen kann. 286 Die Frau als das Andere, siehe weiterführend Schirilla: Die Frau, das Andere. 1996. Dieses „Gerücht“ bzw. Dünkel lässt sicher Muslime aus der eigenen Gemeinschaft und unter Muslimen aus anderen Rechtsschulen einen Bogen um ihn machen. In einem Gespräch mit einem lokalen sunnitischen Imam im Mumbaier Stadtteil Bandra, bestätigte mir dieser, dass er bereits als junger Mann zahlreiche Gerüchte um Engineer hörte und zunächst als Imam zögerte, mit ihm zusammenzuarbeiten. 288 So berichtete mir Dr. Engineer auf meine Anfrage 2013. Ein als „Fatwa“ getarntes, diffamierend gemeintes Schriftstück kursiert im Internet, nachdem es im pakistanischen Online-Magazin DAWN veröffentlicht worden war. (In diesem Magazin hat Engineer ebenfalls Beiträge veröffentlicht. Diesen Widerspruch konnte ich nicht aufklären.) Darin wird Engineer unter anderem vorgeworfen, eine Affäre mit der Schriftstellerin Tasleema Nasreen zu haben, die er nie zuvor getroffen habe, so Engineer. So wird Engineer manchmal als kāfir, als mal’ūn oder munāfiq von Gegnern bezeichnet, allerdings konnte ich kein offizielles Statement oder Dokument von Seitens der Bohra-Führung auffinden, in dem sie sich zu Engineer äußert. Das Fehlen eines solchen Dokuments bestätigte mir Engineer. Der Autor und seine Erfahrungen (Ausschluss aus der Gemeinde, Attentate auf ihn sowie Bruch mit der eigenen Familie, die Mutter wurde gezwungen, keinen Kontakt zu ihrem Sohn zu haben, während sie eine gemeinsame Wohnung teilten, usw.) dienen mir hier als Quelle. Vgl. auch das vorangegangene Kapitel Biographische Notizen. 287 110 In allen von Engineer behandelten Themen schwingen Leitfragen wie die folgenden mit: Wie lebt man in einer zutiefst heterogenen Umwelt in Frieden miteinander? Welchen Beitrag können Muslime dazu leisten? Wie kann man Muslim sein in der Gegenwart, ohne sich selbst von dieser modernen Gegenwart auszuschließen? Wie kann man den Koran in der Gegenwart lesen? Die Analyseergebnisse geben Aufschluss über Engineers Antwortsuche. 1.1.4 Aufbau der Texte Der Aufbau der Texte beinhaltet eine Einleitung, die einen aktuellen Anlass oder ein Stereotyp, mit oder ohne aktuellen Anlass wiedergibt. Beispielsweise kann ein aktueller Anlass ein globales Ereignis sein, das im weitesten Sinne Muslime betrifft, wie zum Beispiel in Text Nr. 1 im Themenkomplex Zusammenleben. Die Überschrift Armed Fight ist not Jihad ist bereits programmatisch und weist auf die argumentative Richtung des Textes hin. Der Text bezieht sich auf einen Artikel von Daniel Pipes, eines amerikanischen Journalisten, der über eine Islam-Konferenz an der Harvard University berichtet. Engineer greift hier ein Argument von Pipes aus, welches er als Stereotyp ausmacht: „The author is bent upon proving that jihad in Islam is nothing but an ‘armed warfare’ against non-Muslims.“ (Text Nr. 1, Armed Jihad) und reagiert kritisch auf dieses Argument: „Nothing else could be admissible.“ (Text Nr. 1, Armed Jihad) Hier fällt der aktuelle Anlass und das diskutierte Stereotyp (Der Islam ist eine Religion der Gewalt) zusammen. Der aktuelle, in der Regel tagespolitische Anlass ist 111 meist kein freudiger für Engineer, denn er ist auch gleichzeitig Anlass, ein ihm bekanntes Stereotyp einzusetzen, zu wiederholen oder zu produzieren. So beginnen alle Texte dieser Art damit, dass Engineer sowohl Anlass (akademische Diskussion um „jihad in Islamic tradition“) als auch Stereotyp beschreibt: „These days the American scholars and academics are having repeated discussions on the meaning and significance of jihad in Islamic tradition.” (Text Nr. 1 / Zusammenleben, Armed Jihad) Engineer unterscheidet dann zwischen jenen, die sich “genuinly interested in understanding the meaning and significance of jihad” zeigen und jenen, “who, with agendas of their own, want to either deliberately distort meaning of jihad.” Danach folgt eine genaue Beschreibung des Artikels, auf den Engineer sich bezieht. Das ist eine gängige Einleitung in Engineers Texten. Anschließend diskutiert er die Positionen im Artikel und führt seine Gegenargumente an. Auf diese Weise sind die Artikel in der Regel organisiert: Einleitung: Aufgreifen eines Stereotyps und/oder eines tagesaktuellen Anlasses, Hauptteil: Diskussion und Argumentation sowie Schluss: Korrektur des aufgegriffenen Stereotyps. Neben diesen Texten, die einen aktuellen Bezug haben, finden sich Texte, die ohne aktuellen Anlass geschrieben worden sind und in denen Engineer meist Grundsatzfragen behandelt. Ein Beispiel für einen Text, in dem Engineer eine Grundsatzfrage ohne aktuellen Anlass diskutiert, ist aus demselben Themenkomplex (Zusammenleben), Text Nr. 10 Religion as I view it, mit dem, wie die Überschrift bereits ankündigt, Engineer so etwas wie ein Grundsatzpapier zu seinem 112 Engagement liefert. Darin reflektiert er biographische Stationen, seine geistigphilosophische Entwicklung und seine Weltsicht. 1.1.5 Textelemente Engineer benutzt in seinen Texten argumentative Figuren und wiederkehrende Textelemente, die zum Aufbau und zur Untermauerung der eigenen Argumentation dienen. Diese sind: a) Begriffe aus dem islamischen Kontext, islamische Schlüsselbegriffe wie beispielsweise jihād, kufr, raḥma oder ḥikma. b) Koranverse, die er interpretiert oder deren Interpretation durch Andere diskutiert, kritisiert, infrage stellt oder akzeptiert. Die Koranverse werden entweder als numerische Angabe aufgeführt, wie zum Beispiel 49:13, oder Engineer diskutiert einzelne Koranverse exegetisch oder interpretiert diese selbst. Unter den Koranversen befinden sich je nach Popularität des Themas (beispielsweise Thema Frau) ebenso populäre Verse wie beispielsweise der Vers 4:34, der um die Problematik der körperlichen Züchtigung der Frau durch ihren Ehemann kreist (Schlüsselwort ḍaraba, dt. schlagen). c) gelegentlich, aber eher selten, Hadith. d) Referenzen aus Werken der traditionellen Gelehrsamkeit wie beispielsweise Tafsir-Werke aus der schiitischen und sunnitischen Tradition. e) Wörterbücher, die er für die lexikalische Erläuterung von einzelnen Begriffen in Koranversen heranzieht. 113 f) historische Ereignisse oder Personen sowohl aus der indischen als auch islamischen (Früh-)Geschichte, gelegentlich aus der Weltgeschichte, wie beispielsweise Mahatma Gandhi, der Prophet Mohammed, Karl Marx oder der englische Sozialphilosoph Bertrand Russell. g) Personen, Werke, oder Ereignisse aus der Sufi-Tradition. h) Engineer setzt argumentative Figuren in seinen Texten ein. Darunter subsumiere ich argumentative Konstrukte und Strategien, mit denen er seine Kritik und Entgegnung auf Stereotype sowie seine Reaktion auf einen aktuellen Anlass zum Ausdruck bringt. Hierunter verstehe ich z.B. die häufige Paraphrasierung zentraler Aussagen, deren appellative Funktion hierdurch verstärkt wird. Das Appellative ist das signifikante Merkmal an Engineers Texten, daher erinnern sie häufig an Predigten. In Engineers Texten finden andere zeitgenössische muslimische Reformdenker, Philosophen, Theologen oder Aktivisten nur in geringem Maße Erwähnung.289 In seiner Kritik an den Ulama ist er zwar inhaltlich explizit, bleibt aber dennoch dabei, eine generelle, grundsätzliche Kritik zu äußern. Dies entspricht seinem übergeordneten Ansatz, der grundsätzlich argumentiert und etablierte Prinzipien und Grundsätze, sei es in der Gesellschaft oder innerhalb der Religion und Theologie, infrage stellt. Eine Ausnahme bildet seine Kritik an Yusuf Qaradawi, die in dieser Arbeit an späterer Stelle diskutiert wird.290 In seiner Argumentation und Diskussion spezifischer Begriffe wie beispielsweise jihād, kufr und shirk folgt er meines Erachtens der Vorgehensweise des japanischen Linguisten Toshihiko Izutsu, erwähnt diesen aber nicht. Izutsu 289 Ausnahme beispielsweise in seiner Rezension von Taji-Farouki (Ed.): Modern Muslim Intellectuals. 2004. Vgl. Engineer: Modern Muslim Intellectuals. 2004. 290 Vgl. Kapitel zum Thema Säkularismus sowie zum Thema Geschlechterdifferenz. 114 verortet diese und andere zentrale Begriffe des Islam, wie beispielsweise mu’min, in einem semantischen Verhältnis zueinander.291 Dementsprechend diskutiert und interpretiert Engineer Koranverse in einem semantischen Zusammenhang. Neben den exegetischen Kommentaren schreibt Engineer Texte, die ohne eine Referenz auf den Koran oder Islam auskommen. Es sind Texte, die sich vornehmlich mit den innerindischen politischen Zuständen befassen, wie zum Beispiel Wahlen oder die rechtsnationale Hindutva-Bewegung. Diese Texte ordne ich der Kategorie politischer Kommentar zu. Schließlich gibt es noch eine Mischkategorie, den Mischkommentar. Diese Texte bewegen sich thematisch zwischen den beiden ersten Textkategorien exegetischer und politischer Kommentar.292 Dieser Überblick über Inhalt und Struktur der Texte verdeutlicht neben den thematischen Schwerpunkten, mit denen sich Engineer befasst, die Referenzrahmen, in denen sich die Texte bewegen und auf die sich der Autor bezieht. Diese sind: Der politische Referenzrahmen für Engineer ist der Säkularismus. Als religiöser Referenzrahmen dient ihm der Koran. Der gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Referenzrahmen bezieht sich auf das Zusammenleben der (Minderheiten in) Indien. 291 Toshihiko: Ethical Terms. 1959 sowie ders.: God and Man. 1964. Selbstverständlich kann ein exegetischer Kommentar auch immer eine politische Dimension besitzen und vice versa. Die Schematisierung dient hier lediglich zur Strukturierung und Übersichtlichkeit der Analyse. 292 115 1.1.6 Leitsätze In Engineers Texten wiederholen sich bestimmte Leit- oder Glaubenssätze, die er für die jeweilige Thematik adaptiert. Ich fasse hier zur Strukturierung der Textinhalte paraphrasierend Engineers Aussagen zusammen: a) Thema Koran: Der Koran ist kein Gesetzbuch. Er ist das Wort Gottes und dient als ethisch-moralischer Leitfaden für den Gläubigen. Aus dem Koran soll der Gläubige diese Prinzipien erkennen und nach diesen leben. Die Scharia ist, im Gegensatz zum Koran, das Werk von Menschen. Ein shariabased Islam ist nicht universell oder ewig gültig. Die Muslime sollen nach den koranischen Werten leben, nicht nach denen, die die Scharia formuliert. Die Lektüre und Interpretation des Koran ist nicht ausschließlich den Gelehrten vorbehalten. Unter Berücksichtigung historischer, sprachlicher und kontextueller Bedingungen, sollte der Gläubige dies ebenfalls können. b) Thema Zusammenleben mit den Anderen: Es gibt eine religiöse und politische Dimension des Themas: a) Die religiöse Dimension: Hindus sind keine kāfir oder mushrik, der Koran gibt diese Annahme nicht her. Respekt vor dem Anderen ist wichtig. Es gibt keinen Zwang im Glauben. Glaube ist eine Privatsache. Liebe hat keine Religion.293 b) Die politische Dimension: Stereotype abbauen. Communalism ist nicht den Religionen inhärent, sondern die Konflikte werden durch äußere Faktoren bestimmt. Diese sind beispielsweise soziale Faktoren, zuvorderst Armut und fehlende Bildung, Benachteiligung von Minderheiten; sowie äußere Kräfte wie etwa politische Parteien, die den Konflikt befeuern, um ihre Macht zu konsolidieren. Vorurteile und Stereotype werden 293 durch die Verantwortlichen, Diese Aussage bezieht sich auf die Haltung Engineers zur Frage von interkonfessionell und interreligiös gemischten Ehen. 116 Repräsentanten und Multiplikatoren von religiösen und politischen Institutionen manifestiert, wie zum Beispiel durch die Polizei. Die Schulbücher müssen ebenfalls so bearbeitet werden, dass communalism nicht gefördert wird. Der Islam predigt die Vielfalt, Indien ist ein Land mit einer composite culture, worauf die Inder stolz sind. Die indische Verfassung steht für Pluralismus. c) Thema Geschlechterdifferenz: Die Aussagen im Koran zum Mann sind duty-based und zur Frau rights-based. Es gibt einen Unterschied zwischen Scharia und Koran. Die Gelehrten missbrauchen oder missachten den Koran, so dass Frauen unterdrückt werden und ihre Rechte im Koran nicht kennen. Der Koran schützt die Frauen und gibt ihnen eine würdige Stellung. Die Männer wollen ihre Macht nicht aufgeben und verwehren den Frauen ihre Rechte, die Gott ihnen gegeben hat. Das ist ungerecht und widerspricht den Leitprinzipien, die Gott im Koran festlegt. Diese sind Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Weisheit. Das sind auch die Leitprinzipien auf deren Hintergrund man den Koran lesen sollte. Frauen sollen unterstützt und bestärkt werden, ihre Rechte zu kennen und einzufordern. Das islamische Recht und die Ulama, die die islamische Jurisprudenz (meist durch ihre Fatwa) bestimmen, sollen dazu gebracht werden, zu erkennen, dass sie die Rechte der Frauen wider der koranischen Botschaft missachten. Dies religiös zu begründen, ist ein Unrecht. d) Thema Säkularismus: auch hier findet Engineer eine religiöse und politische Dimension. Säkularismus (und damit Demokratie) ist mit dem Koran vereinbar. Religion und Glaube sind individuell und Privatsache. Säkularismus ist die Alternative zu communalism. Der demokratische Staat schützt die Religionsgemeinschaften 117 und wahrt ihr Recht auf Religionsfreiheit. Alle Religionsgemeinschaften existieren friedlich und gleichberechtigt in der Gesellschaft. Der Staat mischt sich nicht in religiöse Angelegenheiten ein. Der Säkularismus ist eine Haltung und ein Weltbild, das den Frieden in der Gesellschaft wahren soll, vor allem den Frieden zwischen den Religionsgemeinschaften, so dass es nicht zu communalism kommt. e) Thema Religion: Religion wird oft von den Mächtigen missbraucht, sei es in der Politik oder innerhalb der institutionalisierten Religion. Werte sind wichtiger als Rituale. Glaube und Vernunft müssen sich nicht widersprechen. 118 1.2 Die Rolle und die Bedeutung des Koran bei Engineer Aus der obigen Ausführung wird deutlich, dass für Engineer der Koran im Mittelpunkt seiner Argumentation und seines Weltbildes steht. Welche theoretischen Überlegungen stellt er zum Koran an, welchen methodischen Ansatz verfolgt er im Umgang mit dem Koran? Diesen Fragen soll an dieser Stelle nachgegangen werden. Engineers Kritik an bestehenden Missständen in der islamischen Welt und unter den Muslimen macht er unter anderem an Fehlinterpretationen des Koran fest. Auch seine Kritik an negativen Stereotypen über die Muslime und den Islam führt er auf diesen Umstand zurück. Er geht von einem grundsätzlichen Missverständnis sowohl auf Seiten der Muslime als auch der Nichtmuslime aus. Für seine eigene Arbeit definiert er den Koran und die Koranverse neu oder ordnet diese neu ein. Das heißt nicht, dass er mit seiner Interpretation immer auf Gegenwehr stoßen wird, schließlich sind die Inhalte und Aussagen des Autors nicht gänzlich neu, dennoch ist es von Bedeutung, dass er eigene Interpretationen vornimmt und Kritik an gängigen Auslegungen übt. Er präsentiert die Ergebnisse seiner Überlegungen einem Publikum, welches diese Art der Vorgehensweise und diese Sicht auf Religion und Moderne für sich als relevant und neu erachtet. Zu allen im Islamdiskurs brisant diskutierten Themen zieht Engineer den Koran heran. Zum Koran selbst möchte ich an dieser Stelle Engineers theoretische Überlegungen betrachten sowie darstellen, welche hermeneutischen Instrumente und Techniken er bei der Textlektüre verwendet. Für die analytische Betrachtung von Engineers theoretischen Überlegungen zum Koran ziehe ich Texte von Engineer heran, in denen er die Grundlage für seine Herangehensweise an den Koran entwirft.294 294 Diese fasse ich unter der Überschrift Themenkomplex Koran zusammen. Eine Übersicht der Titel findet sich in der Bibliographie. 119 In Text Nr.1/Themenkomplex Koran skizziert er beispielsweise einen theoretischen Leitfaden, den es bei der Interpretation von Koranversen seiner Meinung nach zu beachten gelte. Zwar überschneiden sich seine Vorschläge mit einzelnen Bedingungen, die auch der klassische mufassir beachten sollte, wie zum Beispiel die Berücksichtigung der Offenbarungsanlässe, also der asbāb an-nuzūl einzelner Verse, dennoch folgt Engineer einer eigenen spezifischen Vorgehensweise. Allerdings gibt es keine von Engineer detailliert ausgearbeitete Kompilation seiner Techniken, eher den Entwurf eines methodischen Ansatzes. Schließlich entspricht dies seiner grundsätzliche Methode, die eher eine weit gefasste Herangehensweise favorisiert, da er den Ansatz der traditionellen, von ihm als orthodox ulama bezeichneten Korangelehrten oder Geistlichen als zu eng sieht. Engineer möchte sich und andere Muslime davon befreien und entwirft einen ethisch-moralischen Leitfaden. Dies spiegelt sich in der häufigen Verwendung der Begriffe Qur‘anic values oder Qur‘anic spirit. Engineer erarbeitet sich aus dem Koran eine spirituelle und theoretische Grundlage für sein Engagement, auf der seine Positionen basieren. Diese Betonung, dass „values, not rituals are essence of religion“295 taucht in diversen Texten in Variationen auf.296 Engineers Kernaussagen oder Glaubenssätze zum Koran lauten (von mir paraphrasierend zusammengefasst): 295 Beispielsweise in Text Nr. 2/Themenkomplex Koran. Das oben aufgeführte Zitat ist der Titel eines Artikels vom Juni 2001; mit Qur‘anic ethics befasst sich Engineer in Text Nr. 1 On Methodology sowie in Text Nr. 3 Historical Background sowie mit spirit of Qur‘an in Text. Nr. 6 On Understanding the Qur‘an. 296 120 1. Der Koran ist als Korrektiv in einen historischen Kontext offenbart worden, in dem soziale Ungerechtigkeit herrschte. 2. Der Koran hebt mit seinen Versen, wenn sie sich auf historische Ereignisse beziehen, auf den Status quo ab und setzt diesen ungerechten sozialen Verhältnissen Verse entgegen, die beschreiben, wie es idealerweise sein soll. 3. Der historische Hintergrund für die koranische Ethik bezieht sich auf die mekkanische Gesellschaft, die ungerecht war. Der Koran steht auf der Seite der Schwachen. 4. Die koranische Ethik fordert von den Menschen, dass sie sich für eine friedliche Gesellschaft einsetzen. Dazu bedarf es sozialer Gerechtigkeit und der Kontrolle der Mächtigen, damit diese ihre Macht nicht missbrauchen. Engineer betont, dass der Koran für ihn die Quelle für Ethik und Moral darstellt. Dementsprechend definiert er Schlüsselkonzepte, die als ethischmoralischer Leitfaden nicht nur der Koranlektüre dienen sollen, sondern auch der individuellen Lebensführung. Diese sind, wie bereits erwähnt, solche ethischen Werte wie Barmherzigkeit, Weisheit und Mitgefühl.297 In diesem Zusammenhang macht er deutlich, dass er sich durchaus bewusst darüber ist, dass trotz der von ihm aus dem Koran abgeleiteten Forderungen Gottes, die Menschen im Allgemeinen, aber die Muslime im Besonderen, diesen ethischen Prinzipien en gros nicht folgten. 297 Diese Werte thematisiert Engineer an zahllosen Stellen seiner Texte, aber am eindrücklichsten in dem Grundsatzpapier What I believe, welches auf der Website der PDB zu finden ist. Vgl. http://dawoodi-bohras.com/about_us/people/engineer/believe/ . 121 1.2.1 Hermeneutische Techniken Für seine Argumente zieht Engineer häufig Koranverse heran. Gleichzeitig leitet er aus Koranversen auch Aussagen ab, wie beispielsweise die ethischen Werte, von denen er in seinen Texten spricht. Zum Verständnis und zur Interpretation der Koranverse setzt Engineer verschiedene hermeneutische Techniken ein: 1. Den Text durch den Text verstehen, wie zum Beispiel Referenzverse heranziehen oder Texte im Textzusammenhang nach der inneren Logik hin lesen. 2. Den Text historisch-kritisch lesen. 3. Im Zusammenhang damit einen Hadith heranziehen, dessen Authentizität als sicher gilt, oder dessen Authentizität von Engineer nicht angezweifelt wird. 4. Sowie Beispiele aus der frühen islamischen Geschichte heranziehen, die ihm für den Umgang und die Interpretation mit bestimmten Versen nachahmenswert erscheinen. 5. Den Text durch die lexikalische Diskussion und kritische Reflektion von Schlüsselbegriffen neu übersetzen und so anders als bisher üblich lesen. 6. Den Text in Korrelation zur modernen Gegenwart lesen. 7. Dies geschieht vor allem durch das Kategorisieren der Koranverse in contextual und normative sowie in allegorische vs. nichtallegorische Verse, medinensische vs. mekkanische Verse, abrogierende und abrogierte also nāsikh und mānsūkh Verse. 122 1.2.2 Kategorisierung der Koranverse bei Engineer In Text Nr. 5 des Themenkomplexes Koran mit dem Titel On Normative and Contextual in Understanding the Koran unterscheidet Engineer die Koranverse nach normative versus contextual sowie in einer Mischkategorie, die er normativecontextual nennt. Nach welchen Kriterien ordnet Engineer die Koranverse diesen Kategorien (normativ, kontextbezogen oder normativ-kontextbezogen) zu? Zunächst einmal stellt sich die Frage, warum Engineer das Bedürfnis hat, diese Kategorien zu schaffen. Der komplexe Charakter des Koran, den er mit anderen Offenbarungstexten gemein hat, ist grundsätzlicher Natur. Sei es sprachlich, sei es inhaltlich, der Koran stellt den Leser vor vielfältige Herausforderungen. Diesen Problemen und Herausforderungen sind muslimische Gelehrte in der Vergangenheit und Gegenwart unterschiedlich begegnet, haben unterschiedliche Instrumentarien zur Lektüre und zum Verständnis des von ihnen als Wort Gottes verstandenen Textes entwickelt. Die reiche Tafsir-Literatur und die Ausprägung verschiedener Tafsir-Schulen zeugen davon. Engineer deutet an vielen Stellen seiner Texte an, dass er mit dieser Tradition vertraut ist und dass er Texte dieser Tafsir-Schulen kennt, wie zum Beispiel die der Mu’taziliten oder Tafsir-Werke, die als Bestandteil eines Kanons der islamischen Gelehrsamkeit gelten, wie die Werke von Tabari beispielsweise. Darüber hinaus ist ihm die schiitische Tafsir-Tradition mit ihrer Betonung der allegorischen Bedeutung des Koran ebenso vertraut. 123 1.2.3 Die Kritik: Subjektivität und Selektivität Der Text On normative and Contextual in Understanding the Koran (Text Nr. 5/Koran) ist sowohl ein Grundsatzpapier, da Engineer hier seinen Ansatz zur Koranlektüre und –interpretation wiedergibt, als auch eine Replik auf eine Kritik durch den indischen Soziologen Yoginder Sikand an Engineers, so Sikand, selektivem und willkürlichem Umgang mit Koranversen. 298 Da sich Engineer sonst selten zu Kritik und Kommentaren in Bezug auf seine Person und seinen Texten direkt äußert, ziehe ich diesen Text hier zur Analyse heran. Darüberhinausgehend ist der Text aussagekräftig in Bezug auf seine Perspektive auf den Koran, die er hier auch zentral thematisiert und nicht, wie häufig üblich, indirekt mit anderen oder durch andere Themen verhandelt. Yoginder Sikands Kritik an Engineers hermeneutischem Ansatz und seinem Umgang mit dem Koran ziehe ich exemplarisch in den Vordergrund, da er die gängige Kritik an zeitgenössischen Reformdenkern, sowohl durch Muslime, Laien und Theologen sowie Fachwissenschaftlern wiederholt. Der Vorwurf lautet, Engineer und andere Reformdenker würden willkürlich (Selektivität und Subjektivität bei der Lektüre) und nach eigenem Gutdünken den Koran lesen und aus dem Koran Verse zu ihrer eigenen Argumentation heranziehen, während sie bestimmte Verse gänzlich ignorierten. Das ist in ihrem Kern die Kritik, die Sikand 2004 in seinem Buch Muslims in India since 1947 äußert.299 Nach einer kurzen Einführung in die 298 Vgl. Sikand: Muslims in India, 28. Vgl. Sikand: Muslims in India. 2004, ist ein wegweisendes einführendes Werk zum Thema Islam in Südasien, das einschlägig und häufig zitiert wird. Sikand befasst sich auf den Seiten 12 bis 32 mit Engineer. Ich habe Engineer auf diese Kritik von Sikand persönlich angesprochen, denn in seinem Artikel On Normative and Contextual Understanding nennt Engineer Sikands Namen nicht. Mir kam die Kritik bekannt vor und soweit ich es überblicken kann, ist sie die einzige publizierte Kritik (Sikand zitiert zwar in seinem Buch unterstützend die Kritik aus einer Masterarbeit eines Samuel, K.J., aber ich konnte in meiner Recherche eine solche Publikation nicht ausfindig machen. Ich gehe davon aus, dass es zu keiner Publikation kam, sondern dem Autor das Manuskript vorlag. Vgl. Sikand: Muslims in India, 28 und 223 Fußnote 56. So bat ich Engineer um Aufklärung. Er teilte mir mit, dass er Sikand persönlich kenne. Offensichtlich, so konnte ich aus der Antwort-Mail von Dr. Engineer herauslesen, vermutete Engineer eher persönliche Gründe Sikands, Sikand sei zu 299 124 Lehre Engineers und seinem Umgang mit dem Koran, unter besonderer Berücksichtigung seiner Ansichten zum interreligiösen Zusammenleben, folgt ab Seite 27 bis Seite 30 die Kritik. Sie bezieht sich auf die Kernthemen Engineers, das bedeutet, auf seinen Umgang mit dem Koran und in diesem Zusammenhang, mit den Themen Zusammenleben mit den Anderen sowie Säkularismus/Demokratie.300 Diese Kritik lässt sich wie folgt zusammenfassen. Engineer lese den Koran aus der eigenen „politischen“ Perspektive heraus, sein Islamverständnis sei ein „Produkt seines eigenen politischen Programms“:301 “In short, then, it appears that Engineer’s own theology of Islam is determined, above all, by considerations that emanate from outside the Qur’anic text, and, in several crucial respects, bears little relation to the ways in which Islam has been understood by Muslims, throughout history. His understanding of Islam is a product of his own political agenda (…).”302 Er ignoriere und missachte, die lange Schrifttradition des Islam, da er eine eigene Theologie entwickle, die auf einer eigenen persönlichen Lesart des Koran begründet sei. Er reduziere den Islam auf eine Handvoll Werte und den Glauben an Gott: “By limiting the essential core of the Qur’an to faith in God and commitment to a set of basic values, the rest of the Qur’an and the Islamic scripturalist tradition is treated, effectively, as of little or no ultimate concern. Islam thus gets reduced to a value orientation and a system of rituals, although even the latter is seen as part of the historical shari’ah, with little or no ultimate value in itself.”303 [Hervorhebung im Original] verschiedenen Religionen konvertiert, er sei ein Hindu Dalit (also Angehöriger der Kaste der Unberührbaren) gewesen, dann zum Islam konvertiert, nun habe er aber wieder eine neue Religion gefunden. Zu der inhaltlichen Kritik äußerte sich Engineer nicht, auf telefonische Nachfrage teilte er mir mit, er habe dazu alles in seinen Artikeln gesagt. 300 Vgl. Kritik Sikands an Engineers Auffassung von Demokratie und Säkularismus, sowie zum Umgang Engineers zum Thema Islam und Politik, Sikand: Muslims in India, 29 f. 301 Übersetzung durch mich. 302 Sikand: Muslims in India, 30. 303 Sikand: Muslims in India, 29. 125 Diese sei auf seinen persönlichen Erfahrungen und auf seinem persönlichen sozialen Engagement begründet. Daher definiere er selektiv und willkürlich, welche Texte des Koran normativ oder kontextuell zu sehen seien. „The distinction that Engineer draws between what is normative in the Qur’an, and hence of lasting relevance, and what is contextual and thus limited in its application is a product of his own political agenda and of the purposes for which he seeks to employ the text.”304 Sikand kritisiert darüber hinausgehend den Ansatz Engineers bezüglich des interreligiösen Dialogs. Engineer ignoriere den Umstand, dass die anderen Religionen ebenfalls eigene Wahrheitsansprüche und eigene Definitionen dieser Wahrheit hätten. Engineer aber würde sogar Hinduismus neu definieren, damit er sein Argument, Hindus seien keine Götzendiener, sondern ahl al-kitāb belegen könne.305 Dieses Vorgehen bewertet Sikand äußerst kritisch: “Not only does this approach to Islam undermine the specifity and autonomy of Islam; it also does scant justice to the way in which other religions see themselves.”306 Sikand wiederholt an mehreren Stellen seines Kapitels, dass ihm vornehmlich die selektive Vorgehensweise Engineers bei der Textauswahl missfällt. Er begründet dies wie folgt: “This selective reading of the Qur’an as it relates to other faiths does scant justice not only to the Qur’an itself but also to the notion of the self-identity of Islam as well as that of other religions. This leads to a relativism that effectively denies the autonomy and integrity of each religious tradition.”307 Zwar treffen die Beobachtungen Sikands zu, was die Vorgehensweise Engineers angeht, allerdings ist seine Deutung der Motive und Folgen dieser 304 Sikand: Muslims in India, 27. Vgl. Sikand: Muslims in India, 29. 306 Sikand: Muslims in India, 29. 307 Sikand: Muslims in India, 28. Zum Vorwurf der Selektivität und Subjektivität bei Textauswahl und -lektüre werde ich mich an späterer Stelle in dieser Arbeit äußern. Vgl. Schlusskapitel. 305 126 Hermeneutik kritisch zu diskutieren. Auffällig häufig wiederholt Sikand die „politischen“ Motive Engineers, die er bei dessen Wahl der Lesart zu sehen glaubt. Schließlich fällt auf, dass Sikand normative Aussagen über den Islam macht, sowie Aussagen, die Deutungen seines Islamverständnisses zulassen, wie beispielsweise „the self-identity of Islam“,308 oder “bears little relation to the ways in which Islam has been understood by Muslims, throughout history”309 oder “Islam thus gets reduced to a value orientation and a system of rituals.”310 Sikand geht offenbar von einem homogenen Verständnis aus, das Muslime „throughout history” gehabt hätten. Wie diese Muslime zu ihrem Islamverständnis gekommen sind, steht für Sikand nicht zur Debatte. Er stellt keine Fragen zur Konstruktion einer eigenen subjektiven Wirklichkeit oder zur Subjektivität des Lesers. Während er Engineer ein verkürztes historisches Verständnis vorwirft und seine Blindheit für eine historisch gewachsene Tradition des Islam moniert, bleibt Sikand in seiner Kritik ebenfalls generalisierend. Der Leser erfährt nichts über dieses Islam-Verständnis, das Sikand als Maßstab für seine Kritik an Engineers Weltsicht und dessen Definition des Islam im Besonderen und Religion im Allgemeinen verwendet. Sikands normative Aussagen über den Islam beziehen sich auf eine spezifische Definition des Islam. Dies äußert er zwar nicht explizit, das heißt, er verwendet sie, ohne sie zu kontextualisieren oder zu diskutieren und setzt sie damit gewissermaßen absolut: „If all the historical religions (as opposed to the primal din, which, as the Qur’an sees it, was taught by all the prophets) are true, then what remains of the Muslim claim that Islam represents a greater degree of truth or, indeed, the absolute truth?“311 308 Sikand: Muslims in India, 28. Sikand: Muslims in India, 30. 310 Sikand: Muslims in India, 29. 311 Sikand: Muslims in India, 28. 309 127 Es drängt sich der Eindruck auf, dass Sikand in all seiner inhaltlich berechtigten Kritik an Engineer, die Perspektive eines Vertreters des etablierten Islam oder eines bestimmten Islam-Verständnisses einnimmt und so zu problematischen und kritisch zu diskutierenden Schlussfolgerungen, unter anderem über die Motive Engineers, kommt. Die vorliegende Arbeit soll eine Anregung dazu sein, bei der Betrachtung muslimischer zeitgenössischer Überlegungen über Religion, darüber nachzudenken, was die einzelnen Perspektiven von muslimischen Denkern, Aktivisten, Philosophen oder Theologen bedeuten, was die Motive, die Kontexte und Ziele dabei sind und schließlich die Ergebnisse in einen Metakontext zu überführen, in dem, neben vielen relevanten Fragen, zwei hervorstechen dürften: Welche Bedeutung und Relevanz hat Religion in der modernen Gegenwart und wie deuten und definieren Gläubige ihre Tradition (neu) in diesem Kontext? Sikand steht mit seiner Perspektive nicht alleine da, daher diskutiere ich an späterer Stelle den Umgang der Forschung mit ihrem Forschungsobjekt „Islam“.312 312 Vgl. Schluss. 128 1.2.4 Kontextuelle und normative Verse: Engineers Replik Kommen wir noch einmal auf das oben genannte textimmanente Moment des Koran zurück. Welche Texte haben heute für die Gläubigen Gültigkeit, welche sind für sie von grundsätzlicher Natur, welche historischer, und nach welchen Kriterien wird durch die Gläubigen eine Zuordnung vorgenommen? Engineer löst diese Fragen für sich wie folgt. Als Argumentationsgrundlage und als Legitimation dient ihm in erster Linie Vers 3:7 sowie einige andere Verse, die er im Verhältnis zu diesem Vers liest. Demnach ist die Auffassung von Engineer, hier von mir paraphrasierend wiedergegeben, folgendermaßen: Es gibt normative Koranverse, diese sind ewig gültig, das heißt sie sind überzeitlich und stehen über allen religiösen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und anderen Faktoren und Bedingungen: „Thus a normative verse is one, which provides value-guidance for future situations and societies and is essentially value-oriented.” (Text Nr. 5, On Normative) Kontextuelle Koranverse sind hingegen Verse, die auf einen konkreten historischen Kontext bzw. auf ein konkretes historisches Ereignis hinweisen, oder dieses Ereignis wiedergeben. Diese sind beispielsweise Verse, die den Umgang mit Sklavinnen beschreiben: “For example all the verses dealing with slaves and slavery or slave-girls. There is no more slavery in the world and so those verses become purely contextual and have lost their application.” (Text Nr. 5, On Normative) Jedem kontextuellen Vers sieht Engineer einen normativen Vers gegenüberstehen, da er davon überzeugt ist, dass der Koran zur Korrektur eines bestehenden negativen Status quo offenbart worden sei: „The Qur'an does not support status quo. It wants believers to transcend and subvert it and if it is not immediately possible to do so to at least reform it to the extent possible. The Qur'an thus combines revolutionary with evolutionary method. If for given historical reasons it is not possible to abolish slavery in one go, abolish it 129 gradually and meanwhile treat slaves with human dignity. In any case status quo should not be protected.“ (Text Nr. 5, On Normative) In eine dritte Kategorie ordnet Engineer Verse ein, die er zwar als konkret und in einem historischen Kontext verortet sieht, aus denen er dennoch eine Norm herausliest, die über den konkreten Kontext hinausgehend gültig sei. Als Beispiel für solch einen Vers nennt er die Verse, die die Zakat-Abgabe betreffen. “Thus according to the Qur'anic norm social and economic justice is most important and any status quo, which allows accumulation of riches, must be done away with. The Qur'an invented the institution of zakah to bring about social justice and left it to the believers to devise more such institutions for ensuring social justice. Thus justice is an eternal norm in the Qur'an. The given society was unjust and in that historical situation it levied zakah on believers to reduce socio-economic injustices. The institution of zakah also is both normative as well as contextual. It is normative in as much as it obliges the believers to take money from ones income to help weaker sections of society (…).” (Text Nr. 5, On Normative) Engineer beruft sich in seiner Kategorisierung auf den Koran. Der entscheidende und kontrovers diskutierte Koranvers in diesem Zusammenhang ist der von ihm in Text Nr. 1 diskutierte Vers 3:7, in dem sich die gesamte Problematik der Koranexegese spiegelt und der vor allem den ambivalenten Charakter des Offenbarungstextes ankündigt. Entscheidend ist der Ausdruck āyātun muḥkamātun (in etwa: eindeutige Verse) sowie diesem entgegengesetzt mutashābihātun (in etwa: mehrdeutige/ähnliche Verse).313 Dieses in der Tafsir-Literatur umstrittene Begriffspaar bildet die Grundlage der Autoritätsdebatte und der Diskussion um die Frage, wo die Grenzen einer Exegese sein können. Auch Engineer setzt sich mit ihnen auseinander. Er stellt sich die Frage, wie der Koran gelesen werden soll. Engineers Antwort bezieht sich auf die Absicht und Motivation des Lesers. Dieses Prinzip leitet er ebenfalls aus dem Koran ab: 313 In der Tradition der Tafsir-Literatur findet sich eine umfassende und andauernde Debatte über die Bedeutung dieser Begriffe und die Definition dieser Konzepte. Vgl. Kinberg: Ambigious. In: EQ. 706. 130 “The great revealed books like the Qur'an cannot be without allegorical verses as it deals with complex situations, metaphysical questions, nature of creator and creations and other unknown and unseen realities. In such situations it is very difficult to do without allegories but these allegorical verses too, are pregnant with meaning but also, as the Qur'an says, liable to be misinterpreted by those whose hearts are not straight and who mean mischief.” (Text Nr. 1, On Methodology) Er ist sich bewusst, welche Probleme und Herausforderungen ein ambivalenter Text wie der Korantext oder andere Offenbarungstexte mit sich bringen können: “Thus it is clear from above verse of the Holy Qur'an that there are passages which are allegorical and liable to different interpretation. Its true interpretation is known either to Allah or to those who are firmly rooted in knowledge and who believe in revelation from the core of their heart. However, there are those who do not believe in revelation sincerely and uses such allegorical verses for misleading others and for spreading confusion. It is those people who are perverse.” [Vers 3:7, von Engineer versehentlich als Vers 3:6 angegeben, Anm. FS] (Text Nr. 1, On Methodology) Aus dem obigen Zitat wird deutlich, dass Engineer die mehrdeutigen Verse als allegorisch und daher offen für verschiedene Interpretationen versteht. Es ist eine moralische Frage für Engineer, wie der Text gelesen wird. So erklärt sich die Vehemenz mit der er jene, die vor allem diese mehrdeutigen Verse unaufrichtig läsen, als perverse bezeichnet. Für Engineer ist das wichtigste Kriterium bei der Lektüre des Korans und vor allem bei der Lektüre dieser mehrdeutigen Verse „to have faith“: “For revealed books like the Qur'an (or other scriptures too) it is necessary to start with to have faith - what the Qur'an calls iman bi' al-ghayb. But - and it is also important to note - the Qur'an does not demand blind faith. It speaks of 'reasoned faith' which satisfies the people of understanding - u'lil albab. Literally u'lil albab means people of essence and since reason is essence of mind, people of reason are called u'lil albab. Thus Qur'an does not demand from us to accept something just because it is revealed but also because it satisfies human reason.” (Text Nr. 1, On Methodology) 131 In diesem Text, der gleichzeitig ein Grundsatzpapier ist, bezieht Engineer paraphrasierend Worte oder Teile aus anderen Koranversen ein, ohne diese explizit zu nennen, wie beispielsweise im obigen Zitat. Die hermeneutischen Techniken, die er auf pragmatischer Ebene anwendet, führt Engineer in keinem seiner Texte zusammenhängend und systematisch auf. Er entwirft eher die ethisch-moralische Leitlinie, nach der er den Koran liest und gibt gleichzeitig Auskunft über sein Verständnis der Bedeutung des Koran: “In developing methodology of understanding the Qur'an it is very necessary to understand that a revealed scripture does not only deal with what is given but has to cater to what is to come. A religion (deen) is always spiritually transcendent i.e. going beyond the given situation. The vested interests oppose it precisely because it subverts the status quo. Wherever there are vested interests there are in built injustices what we call in modern politico-economic terminology structural injustices. A revealed scripture like the Qur'an has to address itself to these structural injustices and hence faces stiff opposition from the vested interests.” (Text Nr 1, On Methodology) Diese Aussage ist programmatisch für Engineer, denn sein Engagement zielt auf eine Lesart ab, die dem von ihm entworfenen ethisch-moralischen Leitfaden folgt. Die von Engineer als Qur‘anic ethics, spirit of the Qur‘an oder Qur‘anic values bezeichneten Werte durchziehen nahezu programmatisch alle Texte von Engineer. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Alternativen Nobelpreises für Frieden im Dezember 2004 beruft er sich ebenfalls auf diese: „I also believe that religious rituals alone do not enrich human life. Rituals are important as means, not as end. Values to me are more central for a truly religious person. To me four Qur’anic values 'adl (justice), ihsan (benevolence), rahmah (compassion) and hikmah (wisdom) are the essence of the Qur’anic teachings and without promoting these values actively one cannot be a good Muslim.” (Acceptance Speech Right Livelihood Award 2004) [Alle Hervorhebungen FS] Zu den oben genannten Begriffen führt Engineer noch weitere an: „The Koran, on the other hand, gave values like equality, justice, benevolence, compassion, wisdom, tolerance towards other faiths, human dignity, love and truth. 132 These values were meant to elevate human behaviour to a much higher moral plane.” (Text Nr. 4, On Understanding) Das Fehlen dieser Werte macht Engineer an der Frage der sozialen Gerechtigkeit und dem Genderdiskurs fest. Er führt diese beiden Themen - die Benachteiligung von Frauen sowie das Fehlen ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit - als Belege für die Abwesenheit dieser Werte an. Dies gelte sowohl im muslimischen Kontext, als auch in der indischen Gesellschaft. 314 Einen Vers, der die vorislamische Sitte des Tötens von Mädchen thematisiert, korreliert er zur indischen Praxis der Abtreibung weiblicher Föten. Das bestätigt Engineer in seiner Überzeugung, dass der Koran wahr sei und auch für die Gegenwart eine Botschaft habe. Engineer erkennt zwar die Komplexität des Koran als Offenbarungstext an und auch, dass der Koran dadurch aus unterschiedlicher Perspektive gelesen und interpretiert werden kann, dennoch akzeptiert er für sich den Koran nicht als ein Buch, das alle Lebensbereiche erfasst oder ein Regelwerk und Gesetzesbuch darstellt, - Auffassungen, die gemeinhin von manchen Muslimen wie Nichtmuslimen dem Koran qualitativ zugeordnet werden sondern er definiert ihn als ethisch-moralisches Grundsatzwerk, auf dessen Basis sich das Individuum ethisch-moralisch formen und seinen Beitrag zur Befriedung einer Gesellschaft leisten soll. So wählt er folglich auch Verse, die sich innerhalb dieses Narratives bewegen - und keine anderen. Engineer ist sich durchaus sowohl der Geschichte, als auch der Vielfalt innerhalb der islamischen Tradition in Bezug auf den Koran bewusst. Das machen seine zahlreichen direkten Referenzen deutlich, sei es auf einzelne Gelehrten oder Schulen oder sei es, dass er Diskursstränge verschiedenster Art aufgreift. Das gilt 314 Diese Themen dominieren auch seine Texte, die sich eigentlich laut der Textüberschrift mit der Methodik der Koranlektüre auseinandersetzen sollen. Vgl. Text Nr. 5 und Nr. 1. In beiden Texten thematisiert er Vers 4:34 und den Genderdiskurs. 133 auch für die Hadith und Rechtsmeinungen, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass er diese für legitim hält oder für sich als relevant anerkennt. Engineer führt die Traditionen auf, in die er gerne eingeordnet werden möchte, zum Beispiel die der Sufis oder einzelner Gelehrter, wie etwa Abu Hanafi, dessen Meinung er sich anschließt, die Frauen im Richteramt für zulässig erachtet, sowie den ägyptischen Reformdenker Muhammad Abduh, ebenfalls zum Thema Frau.315 Die von ihm als orthodox ulama bezeichnete Gelehrsamkeit kennt er, aber lässt sie weitgehend außer Acht, da er sie nicht benötigt, um seine Position deutlich zu machen. Allenfalls in der Abgrenzung setzt er sie gelegentlich ein, aber nicht durch eine tiefer gehende konkrete Auseinandersetzung.316 Die Kritik von Sikand scheint mir an dieser Stelle etwas zu kurz gegriffen. Nicht jeder Text oder Koranvers kann für jeden gleichermaßen relevant sein. Wer das einfordert, ignoriert die Tatsache, dass Texte, auch solcher religiöser Provenienz, immer subjektiv gelesen werden. Inwieweit das die richtige oder falsche Lesart sei, oder mehr noch wahr sei, ist meines Erachtens nicht die Frage, der ein Wissenschaftler zufriedenstellend nachgehen kann, ohne sich in normative Gefilde zu begeben, sondern die Frage, ob und welche Folgen diese spezifisch subjektive Lesart, sei es religiös, sozial oder politisch, für Individuum und/oder Gesellschaft haben kann oder hat. 315 Vgl. Themenkomplex Geschlechterdifferenz. Die wenigen Ausnahmen habe ich exemplarisch herausgegriffen. Vgl. Engineer vs. Qaradawi in den Themenkomplexen Geschlechterdifferenz und Säkularismus. 316 134 1.2.5 Wer spricht für den Islam? Ein Ergebnis dieser Studie ist, dass Engineer den Korantext eher für den Entwurf eines Weltbildes, einer geistigen Haltung heranzieht. Er benötigt ihn, um seine Positionen deutlich zu machen. Der Koran dient ihm dazu, die Welt und ihre inneren Sinnzusammenhänge zu verstehen, nicht umgekehrt. Das ist das entscheidende Kriterium, das ihn von etablierten Denkern oder Gelehrten abgrenzt und es ist gleichzeitig eine veränderte Perspektive auf den Heiligen Text im Vergleich zur Tradition früherer Epochen. Es geht in seiner Auseinandersetzung mit Religion und Koran darum, die Relevanz dieser abzuklären und in der modernen Gegenwart zu verorten. Es besteht meines Erachtens ein sehr feiner, aber bedeutsamer Unterschied zwischen dem Ansatz, den Koran verstehen zu wollen, um den Koran (als Heiligen Text) zu verstehen und dem Ansatz, die Welt unter Heranziehung des Korans verstehen zu wollen. Sicherlich sind beide Perspektiven nicht immer gänzlich voneinander zu lösen, allerdings ist die Gewichtung des Lektüreziels ausschlaggebend. Diese unterschiedlichen Zielsetzungen bei der Lektüre des Koran ziehen zwangsläufig unterschiedliche Herangehensweisen an den Text nach sich. Folglich ist die Kritik, Engineer, und andere Reformer würden willkürlich (selektiv und subjektiv) aus dem Korantext auswählen, nachvollziehbar, folgte man der Argumentation, die ausgehend von einer etabliertem Herangehensweise operiert. Das heißt, den Text um des Textes willen zu lesen oder im Kontext einer Überzeugung zu lesen, die davon ausgeht, dass alle Verse des Koran gleichermaßen (und für jeden) relevant seien. Dementsprechend ist es logisch, dass derjenige einer genau entgegengesetzten Auffassung folgt, der davon ausgeht, der Text diene ihm als ethisch-moralischer Leitfaden, als erklärender Kommentar zu seiner Realität. Folglich liest er lediglich jene Verse, die für ihn und sein Weltbild relevant sind und ignoriert solche, die diesem entgegenstehen. 135 Was ist legitim? Genau diese Frage steht meines Erachtens hinter dem Vorwurf der Subjektivität und Selektivität. Beide Vorgehensweisen speisen ihre Legitimität aus der einfachen Tatsache heraus, dass es sich bei den Lesern um Gläubige handelt und aus dem Umstand, dass Muslime sich nicht zwangsläufig und glaubensimmanent einem Dogma verpflichtet fühlen müssen, das die eine oder andere Herangehensweise als einzig legitime definiert. Dies mag für die einen Freiheit, aber für die anderen Willkür bedeuten. Den Diskurs darüber müssen die Gläubigen führen. Ob man als Wissenschaftler einem Gläubigen und einem Leser eines Offenbarungstextes, der so ambivalent und komplex wie der Koran ist, vorwerfen darf, dass er diesen aus der eigenen subjektiven Perspektive heraus liest, ist eine wichtige Frage für den Umgang der Forschung mit diesem Thema. Die Frage Wer spricht für den Islam? ist ihrem Charakter nach eine Autoritätsfrage, die Engineer innerhalb eines Machtdiskurses, hier die ulama und dort der Gläubige, der unter dem Missbrauch und der beanspruchten Deutungshoheit durch die Gelehrten leiden müsse, verortet. Die Texte Engineers beantworten die oben genannte Frage schlicht: Jeder Muslim spricht für den Islam. Mit dieser Position ist er nicht allein, die meisten zeitgenössischen Reformdenker wie Abu Zaid, Farid Esack, Mohammed Shabestari oder Asma Barlas wenden ebenfalls die subjektive Lesart und die relevanzorientierte Auswahl von Korantexten an. Sicher, zwischen den Reformdenkern gibt es Unterschiede, die sich manchmal fein nuanciert und manchmal mit deutlicher Schärfe offenbaren, dennoch ist ihnen diese Herangehensweise und Sicht auf den Heiligen Text gemein. Sie nehmen sich die Freiheit, sich als Leser in den Mittelpunkt zu stellen und etablierte Autoritäten, seien es Personen, Institutionen oder Werke auszublenden, wenn diese für sie keine Relevanz haben. 136 Es gibt viele Stimmen, die für den Islam sprechen (wollen und können), doch die entscheidende Frage ist: Wer setzt sich durch? Welche Stimme ist die lauteste, die eindringlichste, wer verschafft sich Gehör und wie? Innerhalb des Islamdiskurses kämpfen die Diskursteilnehmer um diese Deutungshoheit. Engineers Stimme ist nur eine von vielen. 137 1.2.6 Die spirituelle Dimension Bei der Darstellung der Herangehensweise von muslimischen Gelehrten wird in der Fachliteratur die Betrachtung der spirituellen Dimension oft vernachlässigt. Auch bei der Diskussion von Engineers Ansatz ist dies so. Aus Engineers Texten wird deutlich, dass er, aus einer tiefen Gläubigkeit und einem spirituellen Bewusstsein heraus, den Koran als Quelle für seine Argumentation für sich heranzieht und nicht nur, weil er auf diese Weise Menschen erreichen kann, für die der Koran ebenso wie für ihn eine rechtliche und moralische Autorität darstellt. Er diskutiert die Fragen der Gegenwart mit einem Blick durch seine „Koranische Brille“. Dies ist Teil seiner Spiritualität. Er glaubt an die Gerechtigkeit Gottes, die er im Koran manifestiert sieht. Das koranische Weltbild und die koranische Ethik sieht er zum Status quo als Gegenentwurf gesellschaftlicher, sozialer und politischer Art. Dieses Narrativ des Koran prägt sein Weltbild entscheidend. Die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit seines Engagements, bezieht Engineer aus dem Koran als Wort Gottes, der für Engineer the supreme authority ist, an die er glaubt. Religiösen (und auch vielen weltlichen) Institutionen und etablierten Strukturen gegenüber ist er misstrauisch, denn, spirituell gesprochen, hat Gott ihn nicht verlassen, aber seine Heimatgemeinde schon. Engineer hat sich in der Reflektion der eigenen Religiosität gegen die religiösen Institutionen entschieden, für die in seinen Texten übergeordnet stellvertretend the ulama stehen, und, ganz spezifisch aus der eigenen Biographie, die Bohra-Gemeinschaft rund um die BohraFührungselite, repräsentiert durch den Anführer der Gemeinschaft, den Da‘i. Das heißt, diese Institutionen stellen für ihn keine religiösen, ethisch-moralischen Autoritäten mehr dar. Es wäre naheliegend gewesen, sich auch gegen den Glauben auf spiritueller Ebene zu entscheiden. Engineer lehnt die Autorität der institutionalisierten Religion 138 und Religiosität ab und beruft sich auf seine individuelle Religiosität. Da er sich aber nicht ins Private zurückzieht, sondern seine Kritik auch öffentlich kanalisiert, muss er sich auf eine Autorität berufen, auf die man sich gemeinsam geeinigt hat. Das ist der Koran, an den er weiterhin glaubt. Doch warum wählt er diese Vorgehensweise? 1.3 Stereotype Meine Annahme lautet, dass Asghar Ali Engineer in und mit seinen Texten auf Stereotype reagiert. Für meine Analyse habe ich erarbeitet, welche Stereotype in den Texten von Engineer aufgeführt werden. Diese sind vornehmlich negative Stereotype bezüglich des Islam und der Muslime, aber auch zuweilen solche, die sich auf Hindus beziehen. Meine Annahme lautet, dass Engineer ebenso mit positiven Stereotypen antwortet. Engineer reagiert auf diese Stereotype vor allem mit der Absicht, klärend und aufklärend zu wirken. Diese Position wünscht er auch zu etablieren. Auf einer Metaebene finde ich eine weitere Motivation für die Popularisierung der subjektiven Religiosität, die mit dieser Aufklärungsarbeit einhergeht. Ich nehme an, dass dieses Motiv der Wunsch nach Anerkennung sei. 139 1.3.1 Exkurs: Anerkennung Zur Frage der Anerkennung haben sich aus sozialphilosophischer, moralphilosophischer sowie sozialwissenschaftlicher Perspektive zahlreiche Autoren in der Gegenwart geäußert. Der Sozialphilosoph Axel Honneth gilt neben der amerikanischen Feministin Nancy Fraser und dem Philosophen Charles Taylor zu den bedeutendsten Stimmen.317 Honneth entwickelt eine Gesellschaftstheorie ausgehend vom Anerkennungskonzept Hegels (Phänomenologie des Geistes.1807).318 Dass Engineer aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen wird, dürfte ein existentielles Bedürfnis für eine neue Gemeinschaft zutage befördert haben. Diese Gemeinschaft oder besser Gemeinschaften hat er entsprechend diverser Aspekte seiner Identität und Persönlichkeit, sei es die als Sozialaktivist, indischer Muslim oder als Mitglied der PDB gesucht. Die Anerkennung seiner Meinung und seiner persönlichen Religiosität hat er durch die Popularisierung dieser und die damit einhergehende Beachtung oder gar Wertschätzung durch Andere erfahren. Er wurde eingeladen, zu sprechen und zu schreiben. 317 Wobei diese drei Autoren jeweils sehr unterschiedlich Ansätze verfolgen. Siehe weiterführend: Honneth: Anerkennung. 1992; Honneth: Redistribution; Fraser: Recognition without Ethics.; Baumann: Great War; diese drei Artikel finden sich bei Lash/Featherstone (Eds.): Recognition and Difference. 2002.; Sowie Kaufmann/Kuch (Eds.): Humiliation. 2011, (darin besonders Herrmann: Social Exclusion; der den Begriff und das Konzept Musselman untersucht); Margalit: Decent Society. 1996 (Misrecognition führt zur Schädigung der menschlichen Würde); Taylor, Charles: Multikulturalismus. 2009. Bedorf diskutiert Taylors theoretischen Entwurf kritisch, besonders im Hinblick auf den von Taylor verwendeten Kulturbegriff, vgl. Bedorf: Interkulturelle Anerkennung. 2008; Bedorf: Verkennende Anerkennung. 2010; die Werke des Moralphilosophen Scanlon: Owe. 1999; sowie Schmetkamp: Respekt und Anerkennung. 2012. Sie setzt sich vor allem mit der Theorie Honneths auseinander. Besonders 128-55 sowie „Respekt und Anerkennung in multikulturellen Gesellschaften“ 173 ff. Die Autoren haben sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven mit der Frage nach Exklusion und Anerkennung auseinandergesetzt. Während beispielsweise Scanlon einen umfassendes Anerkennungsmodell entwickelt, teilt Honneth diese in verschiedene Sphären ein (Vgl. Latinin in: Schmetkamp: Respekt, Fußnote 57, 129.). 318 140 Diese Erfahrung, dass ihm zugehört wurde, dürfte elementar gewesen sein und Anerkennung bedeutet haben, so dass, gemäß der Definition von Honneth, Anerkennung auch zur Steigerung des Selbstwertgefühls beigetragen haben muss.319 Schmetkamp fasst diese anerkennungstheoretische Grundthese zusammen: „Menschliche Wesen sind, so die anerkennungstheoretische Grundthese, zur Entwicklung ihrer Identität auf die Mithilfe und Bejahung ihrer Mitmenschen angewiesen.“320 Das Ablehnen der institutionalisierten Religion und einer religiösen Autorität führt pessimistisch formuliert zu einem Vakuum und optimistisch betrachtet zu einer Freiheit und Offenheit für neue Referenzpunkte. Dementsprechend ist es vor allem bei sogenannten Reformdenkern der Gegenwart augenfällig, dass sie in der Auswahl ihrer Quellen und Referenzen sehr offen und breit angelegt sind. So gibt Engineer als Referenz Namen wie Noam Chomsky, Bertrand Russell, Abul Kalam Azad, Syed Ahmad Khan, Mahatma Gandhi, den Propheten Muhammad oder Karl Marx an, hinzu kommen zahlreiche Sufi-Persönlichkeiten. Für seine exegetischen Kommentare zieht er Quellen aus verschiedenen muslimischen Traditionen heran, seien diese schiitisch, spezifisch ismailitisch oder sunnitisch. So drängt sich auch die Frage auf, ob dieses Vakuum/diese Freiheit ebenso der Motivationsmotor ist, der ihn anregt, global relevante Themen zu rezipieren und sich in den Diskurs bei Bedarf einzuschalten. Welche Folgen hat es, wenn jegliche religiöse etablierte Autorität, besonders in Fragen von Normen, Ethik und Moral, zurückgewiesen wird? Dieses als Selektivität oder willkürliche Auswahl bezeichnete und von einigen Autoren missbilligend betrachtete Vorgehen, stellt offenbar den Gläubigen/Denker hier zufrieden. 319 Vgl. Honneth in Schmetkamp: Respekt, 129. Schmetkamp: Respekt, 130 f. Vertiefend dazu vor allem Honneth, Margalit, Schmetkamp sowie Scanlon. 320 141 Ist er so Herr über die eigene individuelle Religiosität; wenn man so will, Souverän über die eigene Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie über die Gestaltung seines individuellen Weltbildes, welches hier seine Kraft, seine Spiritualität offenbar aus dem Koran speist? 1.3.2 Was ist ein Stereotyp? Der amerikanische Journalist und Autor Walter Lippmann verwendete diesen Begriff 1922 erstmals in seinem medienkritischen Buch Public Opinion321 und führte ihn damit in die Terminologie verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen ein wie die der Psychologie, Sozialpsychologie, Sozialphilosophie, Literaturwissenschaft und unzählige weitere, die von diesem Terminus ausgehend verschiedene Definitionen für diesen entwickelt haben.322 Stereotype dienen dazu „to refer to the typical picture that comes to mind when thinking about a particular social group.”323 Stereotype werden in den einschlägigen Lexika und Nachschlagewerken als Vereinfachungen einer komplexen Realität definiert. Sie werden in der Regel von einer Mehrheit geteilt.324 Es sind Urteilssimplifizierungen, deren Effekte u.a. Dichotomisierung und Generalisierung sind, „das heißt, der Unterschied zwischen den Kategorien (Gruppe, Organisation, Nation) wird größer gemacht, der Unterschied innerhalb der Kategorie kleiner.“325 Stereotype lassen sich vielfach kategorisieren, beispielsweise in Sprachstereotype, Nationenstereotype, Gruppenstereotype oder Ideologiestereotype. 321 Für diese Arbeit verwendete Onlineversion der Originalausgabe : http://www.gutenberg.org/cache/epub/6456/pg6456.html sowie die deutsche Übersetzung Öffentliche Meinung. 322 Beispielsweise linguistisch und soziolinguistisch bei Pümpel-Mader: Personenstereotype. 2010. 323 Dovidio et al.: Sage Handbook, 7. 324 Vgl. Lexikon Online für Psychologie und Pädagogik: Stereotyp. http://lexikon.stangl.eu/630/stereotyp/. 325 Lexikon Online für Psychologie und Pädagogik: Stereotyp. http://lexikon.stangl.eu/630/stereotyp/. 142 Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie eine soziale Wirklichkeit sowie die Identität einer sozialen Gruppe konstruieren und damit über bestimmte Erwartungshaltungen an das Verhalten und den Charakter der Gruppe verfügen. Die von den Sozialpsychologen Dovidio et al. vorgenommene Definition von Stereotyp unterstützt die vorliegende Studie ausreichend: „Stereotypes represent a set of qualities perceived to reflect the essence of a group. Stereotypes systematically affect how people perceive, process information about, and respond to, group members. They are transmitted through socialization, the media, and language and discourse. (…) we define stereotypes as associations and beliefs about the characteristics and attributes of a group and its members that shape how people think about and respond to the group.”326 Die Zirkulation solcher Stereotype durch Medien, Sprache und Diskurs ist im Rahmen einer raschen Mobilität durch elektronische Medien und soziale Netzwerken im Internet prädominant. In dieser Logik gibt Engineer seine Korrektur der Stereotype ebenfalls auf diesem Weg in die Zirkulation. Solche Stereotype werden häufig als eine Information über die besagte Gruppe kommuniziert, das gilt ebenfalls für die Entgegnung auf die negativen Stereotype. Eine Information suggeriert, dass sie sachliches und objektives Wissen über den Anderen liefere. Dieser Umstand macht es umso schwerer, Stereotype zu enttarnen oder ihre Auflösung zu betreiben. 327 326 Dovido et al.: Sage Handbook, 8. Weiterführend vgl. Allport-Skala, die verschiedene Stufen von Stereotyp, Vorurteil und Diskriminierung kategorisiert (1. Verleumdung, 2. Vermeidung, 3. Diskriminierung, 4. Gewalt, 5. Vernichtung) Sie wurde durch den amerikanischen Psychologen Gordon Allport 1954 entwickelt und in seinem Werk aus demselben Jahr eingeführt. Allport: The Nature of Prejudice. 1954. 327 143 1.3.3 Korrektur von Stereotypen Meine Annahme zu Beginn dieser Studie lautete, dass Engineer durch seine Argumentation, negative Stereotype (über Muslime, Hindus, Frauen) zunächst aufzeigen und schließlich korrigieren möchte. Wie aber ist sein Handeln motiviert? In der Sozialpsychologie und in mit ihr verwandten Disziplinen ist dieses Phänomen ein bedeutendes Thema. Der kanadische Soziologe Erving Goffman328 beschreibt in seinem wegweisenden Werk Stigma eine Reihe von Bewältigungsstrategien, die stigmatisierte Personen oder Gruppen anwenden, um mit dem Stigma umzugehen. Dazu zählt er unter anderem das Bemühen um die Korrektur des Stigmas: „trying to correct their stigma, working harder to overcome negative stereotypes associated with their stigma“,329 Diese Strategie ist bei Engineer deutlich erkennbar. Goffmann führt neben dem Wunsch, das eigene Stigma zu korrigieren, als Bewältigungsstrategien auch solche auf, die eine Exklusion der Betroffenen bedeuten, wie beispielsweise die Selbstzensur, das heißt, das Abwenden von der Gruppe, die stigmatisiert, oder, dem entgegengesetzt, der ausschließliche Kontakt in der eigenen stigmatisierten Gruppe und damit der Abbruch der Kommunikation mit dem Anderen.330 Engineer entscheidet sich für die Öffnung zur stigmatisierenden Gruppe und zur Korrektur, um das „beschädigte Selbst“ (Goffman) zu „heilen“, um den Gegenbeweis zum negativen Stereotyp über Muslime und respektive den Islam anzutreten. 328 Siehe weiterführend Goffman: Stigma. 1963. Major/Townsend: Coping with Bias. In: Dovido et al.: Sage Handbook, 411. Darin: Differenzierte Diskussion um den Effekt von Stereotypen und die Reaktion auf diese durch die stigmatisierten Personen oder Gruppen, 413-25. 330 Stigmatisierte, stereotypisierte Gruppen übernehmen diese Stereotype zuweilen zur Definition der eigenen Identität. Weiterführend und mit einem Überblick zum aktuellen Forschungsstand Dovidio et al.: Sage Handbook, 7-28, sowie passim. 329 144 Eine umfassende Studie, die die Stigmatisierung und negative Stereotypisierung von Islam bzw. Muslimen aus sozialpsychologischer Perspektive angeht, fehlt noch. Eine Öffnung für interdisziplinäre, oder mehr noch multidisziplinäre Forschungsmethoden und Forschungsergebnisse ist wünschenswert, denn die psychologische Ebene spielt, besonders im Hinblick auf Aronson und Steels These vom Stigma oder Stereotyp „in the air“, 331 also im Hinblick auf die herrschende oder empfundene Atmosphäre der Stigmatisierung, in der Muslime leben oder auf die sie reagieren, eine elementare Rolle. Dieses „in the air“ dürfte maßgeblich dazu beitragen, dass so etwas wie eine imagined identity332 im Falle von empfundenen oder tatsächlichen Angriffen geschaffen oder heraufbeschworen wird. „Stereotype threat“ (Aronson/Steel) bezeichnet die Angst, negative Stereotype zu bestätigen oder solche Stereotype zu produzieren. Diese Situation werde von den betroffenen Personen als Bedrohung (engl. threat) wahrgenommen.333 Die Motive der Bemühungen um Korrektive beschreiben einige Wissenschaftler aus der psychologischen Stereotypenforschung, aus dem Wunsch heraus ein positives „image of the self.“334 zu erhalten. Das weist darauf hin, dass das Engagement um den Dialog mit den Anderen sozialpsychologisch betrachtet auch dazu dient, das eigene Selbstbild, das heißt die eigene Identität, positiv von dem 331 Dieser Ausdruck wird von Aronson und Steele als stereotype threat in the air zusammenhängend verwendet, Vgl. Steele: A Threat in the Air. In: American Psychologist. 1997. 613-29. 332 Ich verwende diese Formulierung in Anlehnung an Benedict Andersons Konzept der „imagined communities“. Anderson: Imagined Communities. 2006. [1986]. 333 Aronson und Steels Studie markiert 1997 einen Wendepunkt in der Sozialpsychologie. Die Sozialwissenschaftler führten Studien zum Verhalten von Afro-Amerikanern und Frauen in Testsituationen im akademischen Bereich durch. Sie stellten fest, dass stereotype threat, also die Angst vor der stereotypen Erwartung und Stigmatisierung durch die Anderen, die intellektuelle und kognitive Leistung der Probanden minderte. Vgl. Aronson/Steele: Stereotype Threat. 1995. In: Journal of Personality and Social Psychology. 1995. 797-811; sowie Steele: Threat in the Air. In: In: American Psychologist. 1997. 613-29. 334 Monteith/Arthur/Flynn: Sage Handbook, 495. Unter dem Stichwort Self-Regulation beschäftigt sich die sozialpsychologische Forschung mit diesem Phänomen und damit zusammenhängend multiple identities und identity complexity. Siehe weiterführend dies.: Sage Handbook, 490-560. 145 bestehenden negativen Stereotyp abzugrenzen und sie selbst aktiv zu gestalten.335 Die Bandbreite der tatsächlichen Umsetzung dieses Motivs dürfte recht weit ausfallen und von der Idealisierung der eigenen, hier islamischen, Identität, der eigenen Geschichte (gelegentlich subsumiert unter „das goldene Zeitalter des Islam“) bis hin zur starken Kritik und Ablehnung dieser reichen.336 Offenbar leidet Engineer unter der doppelten Stigmatisierung, die er als „Exkommunizierter“ und als indischer Muslim erfährt. Diese Stigmatisierung ist für ihn persönlich durch die Angriffe seiner Gegner und Kritiker in physischer Gewalt und in der indischen Gesellschaft als communal riots mit verheerenden Verlusten und desaströsen Folgen für die Stabilität einer Zivilgesellschaft eskaliert. 335 Varshney konnte in seiner Studie aufzeigen, dass in Indien dort die Konflikte und blutigen Auseinandersetzungen reduziert werden konnten, wo eine Kommunikation und einen Ausstausch mithilfe von Verbänden und Netzwerken stattfand. Vgl. weiterführend Varshney: Ethnic Conflict. In: World Politics. 2001 und ders.: Ethnic Conflict. 2002. 336 Allein die schier unüberblickbare Fülle an muslimischen Organisationen, ist hinreichend, um die Vielfalt dieser Korrespondenz mit dem Status quo zu indizieren. 146 1.3.4 Stereotype, auf die Engineer reagiert Um von Engineer identifizierte negative Stereotype, auf die er in seinen Texten reagiert, aufzuzeigen, habe ich Texte aus dem Themenkomplex Zusammenleben gewählt, da die Stereotype hier solcherart sind, dass Engineer sich besonders um ihre Korrektur bemüht, da sie ihn konkret in seinem Kontext in Indien betreffen. Allerdings betreffen die Stereotype von Muslimen global die Gruppe der Muslime. In den ausgewählten Texten zum Themenkomplex Zusammenleben dominieren solche Stereotype, auf die Engineer reagiert. Engineer nennt die Stereotype bereits selbst im Text und schreibt anschließend seine Entgegnungen auf diese Stereotype. Da sich durch die zehn analysierten Texte zusammengefasst ein Stereotyp in verschiedenen Formen deutlich abzeichnet, habe ich dieses in vier Spezifizierungen wiedergegeben, die ich im Folgenden jeweils unter Heranziehung eines Textzitates aufführe. Das Stereotyp lautet: Der Islam ist eine Religion der Gewalt. Lediglich Stereotyp Nr. 5 fällt auf den ersten Blick zunächst einmal aus der Reihe: Der Islam trennt Religion und Politik nicht. Da er aber für die Gleichung Islam = Gewalt in der weiterführenden Argumentation als Stereotyp herangezogen wird, meist um darzustellen, dass eine „Politik des Islam“ folglich ebenfalls gewaltbereit und gewalttätig sei, führe ich es hier auf. In diesem Kontext diskutiert Engineer dieses Stereotyp. Die Aussage, der Islam kenne keine Trennung von Religion und Politik, zieht beispielsweise die Schlussfolgerung nach, dass Muslime oder muslimische Gesellschaften nicht säkular 147 seien oder sein könnten. Folglich widerspräche Säkularismus/Säkularisierung dem ontologischen Charakter des Islam und damit der Muslime.337 Säkularismus und Moderne/Modernität werden in der allgemeinen Wahrnehmung und in der Wissenschaft weitgehend als komplementär assoziiert, so ist der Schluss naheliegend, Muslime seien nicht modern und lehnten damit den Kanon, der gemeinhin mit modern konnotiert wird, ab, wie beispielsweise Geschlechtergerechtigkeit, die Einhaltung und Anerkennung universeller Menschenrechte, Fortschrittlichkeit usw. Diese Stereotype sind: Stereotyp 1: Jihad bedeutet Gewalt. Muslime sind aufgefordert, Nichtmuslime mit Gewalt zum Islam zu „bringen“ oder, bei Weigerung, sie zu töten. Muslime sind gewalttätig, weil ihre Religion das von ihnen fordert. Gewalt ist dem Islam genuin inhärent. Der Islam ist keine Religion des Friedens. Beispiel aus Text Nr. 1 / Zusammenleben: „jihad in Islam is nothing but an „armed warfare“ against non-Muslims” Stereotyp 2: Alle Nicht-Muslime sind kāfir. Dazu gehören auch die Hindus. Beispiel aus Text Nr. 2 / Zusammenleben: „Koran is hostile to other religions and all non-Muslims are „kafirs“ and that Islam totally lacks tolerance.“ 337 Siehe zur Problematik weiterführend beispielsweise Schulze: Dritte Unterscheidung. 2010 und Jung: Islam and Politics. 2007. 148 Stereotyp 3: Der Koran schreibt auf Apostasie die Todesstrafe vor. Beispiel aus Text Nr. 3 / Zusammenleben: „Islam as religion without any regards to human rights.“ Stereotyp 4: Der Islam hat das Schwert in einer Hand und den Koran in der anderen. Beispiel aus Text Nr. 6 / Zusammenleben: „accuse it [Koran] of teaching intolerance against all non-believers.“ Stereotyp 5: Im Islam sind Religion und Politik nicht voneinander zu trennen. Beispiel aus Text Nr. 8 / Zusammenleben: identisch mit Stereotyp 5, auf eine Wiedergabe wird verzichtet. Im Folgenden gebe ich paraphrasierend weitere Stereotype wieder, auf die Engineer reagiert.338 I. Thema Koran: 1. Der Koran ist ein Gesetzesbuch, das wörtlich befolgt werden muss. 2. Der Koran predigt Gewalt. II. Thema Zusammenleben mit Anderen: (Stichwort Jihad, kufr, Apostasie, Hindus): 1. Jihad bedeutet Gewalt gegen Andere, bedeutet bewaffneter Kampf gegen Ungläubige und jene, die nicht dem Koran folgen. 2. Alle Nichtmuslime sind kāfir 338 Diese sind geordnet entsprechend der Themenkomplexe, die im folgenden Kapitel behandelt werden sollen. 149 3. Hindus sind mushrik, Götzenanbeter und kāfir. 4. Apostasie ist verboten. 5. Apostasie muss bestraft werden. III. Thema Geschlechterdifferenz: 1. Frauen werden im Islam unterdrückt. 2. Der Mann steht über der Frau. IV. Thema Säkularismus / Demokratie / Moderne: 1. Säkularismus ist unislamisch. 2. Islam und Demokratie vertragen sich nicht. 3. Der Islam kämpft gegen die Moderne. V. Thema Religion: 1. Religion ist Opium für das Volk. 2. Glaube und Vernunft widersprechen sich. 150 1.3.5 Reaktionen Engineers auf die Stereotype Nun wollen wir betrachten, wie Engineer diesen Stereotypen begegnet. I. Thema Koran: 1. Der Koran liefert einen ethisch-moralischen Leitfaden. 2. Nicht Rituale, sondern Werte sind wichtig. Diese Werte sind Bestandteil aller Religionen, so auch des Islam. Wir können sie im Koran finden. II. Thema Zusammenleben mit Anderen: 1. Jihad bedeutet nicht bewaffneter Kampf. Der Koran sagt das nicht. 2. Jihad ist der Kampf gegen das innere Selbst. 3. Kāfir sind nur jene, die ablehnen, Gott zu danken. 4. Hindus sind Gläubige. 5. Es gibt keinen Zwang im Glauben, sagt der Koran. III. Thema Geschlechterdifferenz: 1. Nicht der Koran oder der Islam, sondern die männlichen Gelehrten unterdrücken die Frauen. 2. Gott hat beide gleich erschaffen. IV. Thema Säkularismus / Demokratie / Moderne: 1. Säkularismus garantiert Religionsfreiheit. 2. Religion und Politik sollen getrennt sein. 3. Der Koran spricht nicht von einem islamischen Staat. Der islamische Staat ist eine historische Erfindung. 4. Demokratie und Islam sind vereinbar. V. Thema Religion: 1. (Opium für das Volk) Das ist eher historisch einzuordnen. 2. Glaube und Vernunft gehören zusammen. 151 Engineer möchte die öffentliche, allgemeine (negative) Meinung über den Islam/die Muslime verändern und setzt ihr seine eigene individuelle Meinung/Religiosität entgegen. Es wird eine deutliche Dichotomie erkennbar, wenn er einem negativen Stereotyp einfach eine positive Umdrehung desselben entgegensetzt, wie etwa: Der Islam ist eine Religion der Gewalt vs. Der Islam ist eine Religion des Friedens. Tabellarische Übersicht Stereotype Negativ (von Engineer aufgegriffener Stereotyp) I. Thema Koran: 1. Der Koran ist ein Gesetzesbuch, das wörtlich befolgt werden muss. 2. Der Koran predigt Gewalt. Positiv (Engineers Reaktion) I. Thema Koran: 1. Der Koran liefert einen ethischmoralischen Leitfaden. 2. Nicht Rituale, sondern Werte sind wichtig. Diese Werte sind Bestandteil aller Religionen, so auch des Islam. Wir können sie im Koran finden. II. Thema Zusammenleben mit Anderen: (Stichwort Jihad, kufr, Apostasie, Hindus): 1. Jihad bedeutet Gewalt gegen Andere, bedeutet bewaffneter Kampf gegen Ungläubige und jene, die nicht dem Koran folgen. 2. Alle Nichtmuslime sind kāfir 3. Hindus sind mushrik, Götzenanbeter und kāfir. 4. Apostasie ist verboten. 5. Apostasie muss bestraft werden. II. Thema Zusammenleben mit Anderen: 1. Jihad bedeutet nicht bewaffneter Kampf. Der Koran sagt das nicht. 2. Jihad ist der Kampf gegen das innere Selbst. 3. Kāfir sind nur jene, die ablehnen Gott zu danken. 4. Hindus sind Gläubige. 5. Es gibt keinen Zwang im Glauben, sagt der Koran. III. Thema Geschlechterdifferenz: 1. Frauen werden im Islam unterdrückt. 2. Der Mann steht über der Frau. III. Thema Geschlechterdifferenz: 1. Nicht der Koran oder der Islam, sondern die männlichen Gelehrten unterdrücken die Frauen. 2. Gott hat beide gleich erschaffen. IV. Thema Säkularismus / Demokratie / Moderne: 1. Säkularismus ist unislamisch. 2. Islam und Demokratie vertragen sich nicht. 3. Der Islam kämpft gegen die Moderne. IV. Thema Säkularismus / Demokratie / Moderne: 1. Säkularismus garantiert Religionsfreiheit. 2. Religion und Politik sollen getrennt sein. 3. Der Koran spricht nicht von einem islamischen Staat. Der islamische Staat ist eine historische Erfindung. 4. Demokratie und Islam sind vereinbar. V. Thema Religion: 1. Religion ist Opium für das Volk. 2. Glaube und Vernunft widersprechen sich. V. Thema Religion: 1. (Opium für das Volk) Das ist eher historisch einzuordnen. 2. Glaube und Vernunft gehören zusammen. 152 2. Analyse der Themenkomplexe 2.1 Themenkomplex Zusammenleben mit Anderen 2.1.1 Kufr - „the greatest of all sins“339 Die Ausführungen aus dem vorangehenden Kapitel geben bereits Ergebnisse der Analyse des Themenkomplexes Zusammenleben wieder. Im folgenden Abschnitt möchte ich mich auf Engineers Auseinandersetzung mit dem Begriff kufr/kāfir darstellen. Engineer hat sich auch zu dem Terminus jihād ausführlich in zahlreichen Texten geäußert. Er lehnt eine gewaltkonnotierte Bedeutung ab und weist darauf hin, dass es hierfür andere lexikalische Begriffe gibt, die für die kriegerische Auseinandersetzung verwendet würden, wie etwa qitāl. “It may include fighting with weapons as a last resort but also includes fighting against oneself and ones desires which one hadith describes as jihad-I-akbar i.e. greatest jihad. (…) Many Muslims out of ignorance use it only in the sense of war, which is not correct. Qur'an uses other words like harb and qital for war but uses word jihad for moral struggle. It is every Muslims duty to continue struggle for moral excellence, of his own and also of society he lives in. To fight against corruption, against environmental pollution, for human rights, for justice for weaker sections of society and such other noble causes is part of jihad. Anything, which brings relief to suffering humanity is part of jihad in the way of Allah.” (Text Nr. 4, On Kufr, Jihad) Engineer schließt sich in seiner Definition von Jihad an bekannte Definitionen von Reformdenkern, Mystikern und vielen anderen Exegeten, die diesen Terminus als einen inneren Kampf des Menschen gegen seine inneren Dämonen, gegen Ablenkungen vom rechten Pfad und um das Führen eines guten, sinnvollen, richtigen Lebens verstehen und nicht anders. Sie berufen sich dabei, wie Engineer auch, sowohl auf Koranverse als auch auf den Propheten als Vorbild. 339 Izutsu: Ethical Terms, 113. 153 „And the Prophet (PBUH) rightly defined jihad as telling truth on the face of a tyrant ruler. Thus, from the above saying of the Prophet (PBUH) I conclude that real jihad can never be violent in form; much less using violence for achieving one's objectives. Jihad is nothing but constant struggle to challenge coercive and unjust powers for creating the other world where there will be no violence or even coercion. According to my own understanding of the Qur'an, jihad is nothing but ceaseless spiritual struggle for a just world and violence is permissible in exceptional circumstances to defend oneself. And for that too it should be avoided as far as possible.” (Text Nr. 10, Religion as I View it) Da dieser Terminus bereits große Beachtung in der Forschungsliteratur findet, widme ich mich an dieser Stelle einem Begriff, dem diese Aufmerksamkeit nicht zuteil wird. Die Begriffe kufr/kāfir sind zentral in Engineers Texten, da er sich dem Vorwurf der Apostasie durch den Da‘i und seine Heimatgemeinde konfrontiert sieht. Es gebe viele Motive, einen Menschen als kāfir zu bezeichnen, stellt er fest: „In dubbing someone as kafir various motives are at work including ones disagreement and personal ego or even vested interest. Thus a true Muslim who follows the spirit of the Koran would refrain from using such terms. It should be left to Allah to decide.” (Text Nr. 4, On Kufr, Jihad) Exemplarisch diskutiere ich den Text Nr. 4 in diesem Themenkomplex und ziehe weitere Texte aus dem Themenkomplex ergänzend heran. Entsprechend seiner charakteristischen Vorgehensweise weist Engineer einleitend auf Missverständnisse hin, die sowohl unter Muslimen als auch unter Nichtmuslimen über zentrale islamische Schlüsselwörter kursierten: „Whenever I lecture on Islam or even on communalism and secularism participants usually ask me about kufr, jihad. Dar al-Islam and Dar al-harb and position of cow slaughter. There is whidespread misunderstanding about these terms not only among non-Muslims but also among Muslims themselves. It is therefore necessary to throw light on these terms in Islam. It is highly necessary to remove misunderstandings about these terms in the interest of peace and harmonious co-existence with NonMuslims both in Islamic and non-Islamic countries.”340 [Hervorhebung FS] (Text Nr 4, On Kufr, Jihad) 340 Die Texte und Aussagen von Engineer werden von mir ohne grammatikalische oder orthographische Korrekturen wiedergegeben. 154 Diese Aussage gibt Aufschluss über Engineers Motivation, diese Schlüsselbegriffe zu klären. Sein Interesse gilt der Schaffung eines gesellschaftlichen Friedens, wie er im letzten Absatz des oben aufgeführten Zitats bekräftigt: “It is highly necessary to remove misunderstandings about these terms in the interest of peace and harmonious co-existence with Non-Muslims both in Islamic and non-Islamic countries.” [Hervorhebung FS] Es geht ihm also um das friedliche Zusammenleben. Es ist ihm ein prinzipielles, grundsätzliches Anliegen. Das scheint mir einer der wichtigsten Aspekte zum Verständnis von Engineers Denken und Wirken zu sein, denn er setzt sich ein Ideal zum Ziel seines Engagements. Nichts weniger als der Wunsch nach „Weltfrieden“, wenn man so will, bestimmt seine Arbeit. In einem anderen Text dieses Themenkomplexes, einem Grundsatzpapier, macht Engineer deutlich, dass er sich Propheten und weise Menschen in seinem Engagement zum Vorbild nimmt. Diese Feststellung ist insofern wichtig, als dass er diese Erkenntnis damit verknüpft, dass sie sein Verständnis von dem Begriff kāfir entscheidend verändert habe: „Those who are lost in this world live for themselves and those who struggle to create a new world live for others. (…) But prophets, rishis and munis continue to inspire us long after their death (...). When I understood this secret of life I tried in my own humble and limited way to work for another possible world. It also changed my understanding of the word kafir and mu'min. I had inherited certain fixed meaning but now a new meaning dawned which was more in conformity with the Qur'anic spirit. It is not that one who does not accept Islam is kafir and one who does, is always a mu'min.” (Text Nr. 10, Religion as I View it) Nach der Einleitung in Text Nr. 4 kontextualisiert Engineer schließlich die Entstehung von Begriffen, sei es beim Aufkommen neuer Ideologien wie z.B. des Kommunismus oder bei den Religionen. Dies tut er meines Erachtens, um den Islam als ein soziales Phänomen neben anderen Religionen und Ideologien einzuordnen. Er weist dabei darauf hin, dass religiöse Begriffe zwar innerhalb der Religion, also in 155 der Theologie, präzise abgegrenzt seien, diese aber in der Anwendung durch die Angehörigen der Religion persönlichen Motiven unterlägen: “Some terms are used by the text material of the religous or ideological texts and some are coined later by followers of these religions and ideologies. The terms used by religious texts tend to be more precise and rigorous and also have well defined context. But these terms when used by the followers, tend to be used rather loosely and develope personal motives and agendas.” (Text Nr. 4, On Kufr, Jihad) Die Genese spezifischer Begriffe versucht Engineer als ein sozialpsychologisches Element zu erklären. Die Anwendung, Erweiterung und Interpretation bestimmter Begriffe dienten demnach zur Ausgrenzung und Abgrenzung sowie zur Identifikation mit bestimmten Gruppen. Bevor er sich diesem Phänomen in Bezug auf den Islam zuwendet, gibt er als Beispiel den Kommunismus sowie die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten an. Engineer problematisiert den Umgang und die Popularität solcher Schlüsselbegriffe. Der Islam sei ebenso der Friktion in verschiedene sects341 unterlegen. Jede Gruppe habe die andere, feindlich gesonnene Gruppe als kāfir oder Häretiker abstempeln wollen, entsprechend dem eigenen Verständnis von Wahrheit. Die häufige Verwendung solcher eigentlich theologischer Begriffe erwecke den Eindruck von Originärität: “Also, certain terms though not in original religious or ideological text, are coined later to suit new circumstances. But due to frequent use, these terms acquire originality and are thought to be part of original texts. The non-experts, due to lack of knowledge, think it to be part of original text. (…) Their context has to be properly understood.” (Text Nr. 4, On Kufr, Jihad) Damit beschreibt er seine Beobachtung des Istzustandes, um dann anschließend eine Klärung der Begriffe vorzunehmen. Er beginnt mit einer historisch-kritischen Kontextualisierung der Begriffe, die mit dem Schlüsselwort kufr 341 Im Englischen wird der Begriff sects für religiöse Strömungen, Konfessionen und Schulen sowie für Sekten gleichermaßen verwendet, wie es Engineer hier auch tut. Im Deutschen ist diese Verwendung problematisch, da „Sekte“ eine abwertende Konnotation erfährt. 156 einhergehen. Hierzu zieht er Koranverse heran, um seine Erklärungen zu untermauern und zu belegen. Er nutzt also Quellen der klassischen islamischen Rechtsfindung, Koran und Sunna. Im Falle der hier diskutierten Schlüsselbegriffe handelt es sich um Termini, die Izutsu als ethical terms oder solche, die die Weltanschauung des Korans wiedergeben, bezeichnet, wie beispielsweise kufr.342 Obwohl Engineer Izutsu nirgends erwähnt, so baut er seine Argumentation zur Definition von kufr/kāfir ähnlich auf. Izutsu ordnet Begriffe des Koran, wie etwa kufr in einen semantischen Kontext ein, vornehmlich kufr nicht als Gegensatzpaar gläubig-ungläubig, sondern kufr versus shukr. Das heißt, dem Schöpfer den Dank verweigern im Gegensatz zu denjenigen, die dies tun.343 Zwar kündigt Engineer lediglich eine Klärung an, um ein Stereotyp zu demontieren, aber damit schlägt er jedoch meines Erachtens eine neue eigene Definition vor, nämlich die seine, ohne dies als solches explizit zu behaupten. Dies ist eine für Engineer typische Vorgehensweise. Damit macht er das Angebot einer Definition, einer Interpretation und damit auch einer Lesart. Es bleibt dem Leser überlassen, dieses Angebot mit anderen Interpretationen zu vergleichen und einzuordnen, es zu kritisieren oder zu übernehmen.344 Im Aufbau seiner Argumentation nimmt er sich vier Begriffe und Begriffspaare vor und diskutiert sie: mu’min und muslim, kāfir, dār ul-islām und dār ul-harb sowie jihād. Mit diesen Termini zusammenhängend diskutiert er an anderer Stelle zum Beispiel dār-ul aman345 oder irtād und murtad (dt. Apostasie, Apostat)346 342 Vgl. Izutsu: Ethical terms, passim. In Zusammenhang mit kufr diskutiert Izutsu Begriffe, die er semantisch mit kufr assoziiert, wie beispielsweise fāsiq oder shirk und andere. Vgl. Izutsu: Ethical terms, 145-67. 343 Vgl. Izutsu: Ethical Terms, 22 sowie ausführlich zur Argumentation der Undankbarkeit vgl. ebd. 113-18. Kufr im Gegensatz zu īmān vgl. ebd. 118-22. 344 Besonders gut kann man dieses Vorgehen Engineers, was eher als Haltung bezeichnet werden kann, auf Websites im Internet beobachten. Nie beteiligt sich Engineer an einer Onlinediskussion, die durch seinen Artikel ausgelöst wird. 345 Dieser Begriff wird in einem Artikel von 2009 thematisiert: India is Darul Aman. 2009. 157 sowie shirk im Sinne von Polytheismus.347 In diesem Kontext diskutiert er die Frage, ob Hindus ahl al-kitāb seien. Diese Frage beantwortet er in verschiedenen Texten bejahend. Engineer zieht für die Klärung der Termini verschiedene Quellen heran und damit hermeneutische Techniken, wie etwa die lexikalische Bedeutung, ausgewählte Koranverse, gelegentlich Beispiele aus der Prophetensunna, und die Interpretationen anderer Gelehrter, seien es zeitgenössische oder historische, meist sind dies SufiGelehrte. Insbesondere im Zusammenhang mit der Frage, ob Hindus ahl al-kitāb seien und ob sie shirk betreiben, was die Idolatrie angeht. Dementsprechend versucht Engineer, zunächst eine Klärung über die lexikalische Bedeutung des Wortes kāfir vorzunehmen. „The word kafir literally means one who hides. According to Imam Raghib alAsfahani, who compiled the dictionary of Qur’an, the word kafara means to hide.“ (Text Nr. 4, On Kufr, Jihad) Engineers Definition beschreibt einen egoistischen, rücksichtslosen Menschen als kāfir: “A real kafir is one who lives for himself and for comforts of his own life making serious compromises with fundamental values of life such as truth, justice, compassion, human dignity and inflicts suffering on others for his own comforts and lust for power and self. He lives in this world. And real mu'min (believer) is not only one who formally accepts Islam but one whose life is a continuing struggle for truth and who refuses to compromise with falsehood, is an embodiment of compassion and is always engaged in relieving others' suffering.” (Text Nr. 10, Religion as I View it) 346 347 Thematisiert in Text Nr. 3/Themenkomplex Zusammenleben: Punishment for Apostasy. 2006. In Text Nr. 2/Themenkomplex Zusammenleben: Qur’an and Other Religions. 2006. 158 2.1.2 Sind Hindus ahl al-kitāb? Hindus könne man nicht als kāfir bezeichnen: „Some people out of ignorance describe Hindus as kafirs. They neither know Qur’an properly nor Hindu religion.” (Text Nr. 4, On Kufr, Jihad) Nur diejenigen, die die Wahrheit nicht anerkannten, seien kāfir: “Thus anyone who hides is called kafir and since those Arabs of Mecca who refused to accept higher truth revealed from Allah and hid it were called kafirs. It is important to note that only those who hide higher truth and morality based on this truth are called kafirs (plural kuffar). However, it does not mean all those who are not Muslims are kafirs as they can also possess truth, though in different form or through other prophets.” (Text Nr. 4, On Kufr, Jihad) Obwohl der Koran die Hindus nicht als ahl al-kitāb aufführe, so sage Gott im Koran, er habe allen Menschen Propheten und Gesandte geschickt, so dass diejenigen, die nicht explizit als ahl al-kitāb aufgeführt seien, nicht ausgeschlossen werden dürften. Unterstützend zieht er den Sufi-Gelehrten Mazhar heran: „The Sufi saints like Mazhar Jan-I-Janan also included the Hindus in this category arguing that how Allah can forget to send His Messengers to India as He has promised to send His Messengers to all the nations. (...) He also feels Hindus are monotheists as they believe in God who is nirgun and nirakar (i.e. without attributes and shape), which is highest form of tawhid (monotheism).” 159 2.1.3 Die Rolle der Sufis in Engineers Texten Der Umgang Engineers mit Sufis in seinen Texten und seiner Argumentation deutet darauf hin, dass sie ihm dazu dienen, die ethisch-moralische Dimension sowie die Historizität seiner Forderung nach Toleranz und friedlichem Zusammenleben als Teil einer sowohl muslimischen, als auch spezifisch indischen Tradition darzustellen. Um diesen Ansatz zu verdeutlichen, bezieht sich Engineer auf das Image der Sufis in der Gegenwart, sei es bei Muslimen oder bei Nichtmuslimen. Er knüpft seine Argumentation an das, wofür die Sufis „stehen“, also welche Symbolik und Botschaft sie vermitteln und womit sie assoziiert und infolge dessen rezipiert werden. In diesem Zusammenhang spielt der historische oder der wissenschaftliche Diskurs in der Gegenwart nur eine untergeordnete Rolle. Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Strömungen innerhalb des Sufi-Islam sowie die Darstellung der lokalen und politischen Bedingungen, aus denen diese hervorgingen, werden daher auch von Engineer gar nicht erst erwähnt. Dabei bleibt offen, ob er die Geschichte der Sufis in dieser Narration liest, die er auch in seinen Texten verwendet, oder ob er diese Informationen für den Leser als irrelevant erachtet, da dem Leser das Image der Sufis und die Assoziationen, die sie hervorrufen, wie zum Beispiel friedliebend, gütig, offen gegenüber anderen religiösen Traditionen und nicht-orthodox in ihrer Religiosität, sofort präsent sind, wenn er über sie liest. Unter Sufi kann der Leser sich etwas vorstellen. Die Lektüre der Texte Engineers weist darauf hin, dass es für Engineers Argumentation ausreichend ist, dass Sufi in der öffentlichen Wahrnehmung und medialen Rezeption positiv besetzt ist. Dieser Sufi-Islam, eine Formulierung, die Engineer verwendet, gilt ihm als Korrektiv zum orthodox Islam. Diese Tradition des Islam wird von Engineer darüber hinaus der Tradition des orthodox ulama gegenüber 160 gestellt.348 Die komplexe Geschichte der Sufis als Teil der Ideengeschichte des Islam wird von Engineer vornehmlich in der Auseinandersetzung mit dieser orthodox ulama-Tradition dargestellt und gedeutet. Zwar erwähnt er, dass einige Sufis sich auch in der Politik engagiert hätten das weist darauf hin, dass Engineer sich dieser vielfältigen Geschichte 349 bewusst ist -, aber diese Information wird von ihm nicht weiterverfolgt oder nur verkürzt wiedergegeben;350 denn sie ist nicht relevant für die Argumentation, die unter dieser einen spezifischen Definition der Sufis ein überwiegend homogenes Bild der Sufis wiederholt und transportiert. Engineer tradiert folglich nur ein bestimmtes Bild. Er zitiert lokal bekannte historische Sufi-Persönlichkeiten wie Darah Shikoh oder Mazhar, die auf dem indischen Subkontinent bekannt sind, sowie allen Muslimen vertraute Namen wie Rumi und Ibn Arabi. Beide werden heute von Denkern mit einem dialogischen Ansatz (das heißt, bezüglich des friedlichen Zusammenlebens mit den Anderen) favorisiert.351 Unter den Reformdenkern der Gegenwart fällt besonders Nasr Hamid Abu Zaid mit seiner vehementen Referenz auf Ibn Arabi auf. Während Abu Zaid am wissenschaftlichen Diskurs partizipiert und Beiträge liefert, ist Engineer zwar 348 Bereits im 11. Jahrhundert versuchten Gelehrte dieser Dichotomie zu entkommen, wie zum Beispiel Al-Ghazzali. Vgl. Ansari: Sufi Saints, 4 f. Über die Versuche Theologie und Sufismus zu „versöhnen“ sowie zur Beziehung zwischen Theologie und Sufismus siehe weiterführend die Artikel in Shihadeh (Ed.): Sufism and Theology. 2007, die das Thema im sunnitischen und schiitischen Kontext beleuchten. 349 Auf dem indischen Subkontinent, sowie auch in den anderen Einflussgebieten der Sufis, gab es verschiedene Schulen, Strömungen und Persönlichkeiten, unter denen solche, die zu den lokalen (Herrscher-)Eliten gehörten. Siehe weiterführend dazu die Fallstudie von Ansari: Sufi Saints. 1992, in der sie auch auf die Arbeit von Eaton: Sufis of Bijapur. 1978 hinweist, der die verschiedenen Rollen, die die Sufis in der Gesellschaft einnahmen, aufzeigt und so am populären Bild des asketischen, weltabgewandten Sufis kratzt. Siehe auch weiterführende einführende Darstellungen der Geschichte der Sufis wie zum Beispiel Green: Sufis. 2012; Schimmel: Sufismus. 2005. Zu Sufis in der Gegenwart und in der Auseinandersetzung mit der modernen Welt siehe van Bruinessen/Howell (Eds.): Sufism and the ‘Modern’ in Islam. 2007. 350 „Some Sufis were also concerned with just governance and setting up just social order in keeping with the Qur’anic teachings and hence participated in political struggles for this purpose but not in struggle for political power.“ Vgl. Engineer: Sufism. 2006. 351 Siehe weiterführend Chittick: Imaginal Worlds. 1994. Obwohl sich Chittick auf die Rolle der Imagination bei Ibn Arabi konzentriert, liefert er daneben einen Überblick über das Werk Ibn Arabis, seine Ideen und Konzepte sowie seine Rezeption in der westlichen Wissenschaftswelt. 161 Diskursteilnehmer, richtet seine Beiträge aber nicht in erster Linie an den wissenschaftlichen Diskurs. Sein Appell ist programmatisch und dient zur Aufklärung, vor allem der Muslime. Seinen Ansatz, den Koran zu interpretieren, arbeitet er nicht theoretisch aus, sondern auch dieser bleibt programmatisch und knapp formuliert. Dies dürfte sich auch aus der sozialen und praktischen Arbeit Engineers erklären. Er ist nah „am Volk“. Seinen Appell soll jeder verstehen können. Der dominierende Diskurs rund um den Reformislam geht über die Auseinandersetzung mit Dogmen oder theologischen Problemen oder gar philosophischen Fragen hinaus. Er konzentriert sich in unterschiedlicher Form auf die Auseinandersetzung mit der modernen pluralistischen Gegenwart, in der die Denker leben. Engineers Fokus ist konkret auf dem negativen Image des Islam, den tradierten Stereotypen, denen er eine andere Tradition und ein anderes Image des Islam entgegensetzen möchte, das als Korrektiv zum negativen Stereotyp des Islam dienen soll. Bei der Lektüre der reichen Fachliteratur zum Thema Islam in der Gegenwart und dabei insbesondere zum Thema Reformislam drängt sich der Eindruck auf, dass muslimische Denker heute vornehmlich damit beschäftigt seien, Imagepflege zu betreiben. So drängt sich die Frage auf, ob auf diese Weise noch eigene Ideen entwickelt und die eigene Tradition weitergeführt werden können, ohne Referenz auf das negative Image des Islam in der westlichen Welt. Das Unterfangen, diese Frage zu beantworten, könnte sich als hinlänglich herausstellen, da der Islam in der Gegenwart sich stets in der Auseinandersetzung mit der westlichen Welt352 befinden wird. Sich dabei gänzlich auf rein philosophischtheoretische Fragen zu konzentrieren, scheint unmöglich, denn die dringlichste Frage, die sich viele Muslime und auch Gläubige anderer Traditionen stellen, ist die 352 Mir ist die Problematik und Begrenztheit dieses Terminus bewusst. 162 Frage nach der Bedeutung und Relevanz von Religion in der modernen Gegenwart. Während dieses komplexen Prozesses erwarten sie Antworten religiöser und anderer Autoritäten. Für manche Muslime sind das die Reformdenker und nicht die führenden Theologen großer islamischer Universitäten. Die Frage nach der Autorität ist eine Entscheidende, die Engineer für sich dahingehend beantwortet, dass er den etablierten Gelehrten diese von ihnen traditionell beanspruchte Autorität abspricht oder infrage stellt. Sie hält er für unterdrückerisch und machtbesessen. Diese Gelehrten wollten den Gläubigen von der wahren Botschaft des Islam fernhalten. Die einzige, auch moralische, Autorität ist für Engineer der Koran. Danach folgen die Historie und einige Sufi-Persönlichkeiten. An zahlreichen Stellen hat Engineer erklärt, warum er den Sufi-Islam favorisiert, wie beispielsweise in seinem Artikel im pakistanischen Online-Magazin DAWN: “Some friends often ask why I so strongly support Sufi Islam when many Muslims not only disapprove of it but even call it deviation from Islam. My simple answer is that Sufis love Allah, not fear Allah. Love is the central doctrine for them. (…) One who loves all of humanity always adopts an inclusive approach and feels the truth cannot be the monopoly of some exclusive group. Sufis in that sense are far more democratic with their pluralist approach. They feel Allah has created diversity and we must respect diversity as Allah’s creation.” (Allure of Sufism. 07.09.2012) [Alle Hervorhebungen FS] Diese Aussagen wiederholen sich in Varianten in anderen Texten von Engineer.353 Sie sind sein Statement zu den Sufis. Historische Sufi-Persönlichkeiten spielen vor allem in seiner Argumentation, Hindus seien ahl al-kitāb, eine entscheidende Rolle.354 Daher sollen die wichtigsten Personen hier vorgestellt werden. Bei Engineer sind das - auch über den hier 353 Beispielsweise hier: Rumi. 2004. Man erfährt allerdings nicht, wie Engineer zur Hierarchie in Sufi-Orden steht oder wie er die Existenz von Sufi-Orden in der Gegenwart sieht; schließlich kritisiert er in seiner Heimatgemeinde (Bohra-Gemeinde) den bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem spirituellen Führer (Da’i). 354 163 untersuchten Themenkomplex und Textkorpus hinaus - die Folgenden, aufgeführt nach Häufigkeit der Nennung: Mazhar, Dara Shikoh, Sarmad, Chishti, Rumi und Ibn Arabi. 1. Mirza Mazhar Jan-i Janan (1699-1781), kurz Mazhar, auch unter seinem Rufnamen Shamsuddin Habibullah bekannt, war ein indischer sunnitischer Gelehrter und Anhänger des Naqshbandi Sufi-Ordens des 18. Jahrhunderts. Mazhar Jan-iJanan, der als strenger Verfechter der Sunna des Propheten galt und Polemiken gegen die Schia verfasste, entwickelte in mehreren Briefen an seine Schüler seine Gedanken zu den Religionen Indiens. Seine wohlwollende Haltung gegenüber den Hindus und sein nüchterner Stil in der Auseinandersetzung mit hinduistischen Traditionen dürften eine entscheidende Rolle dabei gespielt haben, dass er heute zitiert wird.355 1781 wurde er durch einen Schiiten angegriffen und getötet. Engineer zitiert Mazhar, um sein Argument, Hindus seien ahl al-kitāb, auch in eine intellektuelle Geschichte des Islam einzubetten. Das weist einerseits auf den Wunsch hin, historische Kontinuität und Tiefe aufzuzeigen, andererseits wird der Beleg angeführt, dass ein anerkannter Theologe des 18. Jahrhunderts auf der 355 Yohanan Friedmann problematisiert die populären Ansichten, die mit dem Namen Mazhars einhergehen. Dazu gehört die Auffassung, dass er „attempted to bring the Indian Muslims and nonMuslims ideologically closer together“ (Mujeeb: The Indian Muslims. London: 1967, 281. Zit. in Friedmann: Muslim Views, 218.), dabei setzt er ein Fragezeichen hinter diese populären Ansichten: „Mirza Mashar’s views cannot be considered as a breakthrough in the historical relationship between Islam and Hinduism. Certainly it cannot be stated without qualification that he considered the Hindus as monotheists or that he refused to declare them infidels, if this is meant to imply that their religion may legitimately co-exist with Islam and that they are therefore exempt from the obligation to embrace the only true faith.“ Friedman: Muslim Views, 25. SherAli beschäftigt sich ebenfalls mit den Schriften Mazhars in Bezug auf die Hindus. Der Autor argumentiert, dass Mazhar den Hinduismus in islamisierten Kategorien definiere und diskutiere. In seinem Artikel fasst SherAli die Kernfragen, die Muslime im Umgang mit Hindus bewegen, zusammen: „The first and the most obvious challenge is that of casting Hinduism as a monotheistic tradition that might be palatable to the Muslim sensibilities of their readers. Second is the problem posed by the question of whether Prophets where ever sent to India (…)? And third and perhaps the trickiest task that awaits a Muslim reading Hindu religion is that of explaining the practice of idol worship among Hindus within the bounds of Muslim norms of discursivity.” SherAli: Reifying Religion, 21. Friedmann und SherAli ziehen die Briefe Mazhars als Primärquellen heran. Engineer tut dies ebenfalls. Er kommt zu anderen Ergebnissen und zitiert Mazhar, um zu belegen, dass Hindus nicht kāfir seien. Und wenn man sie doch als kāfir bezeichnete, dann bedeutete das immer noch nicht, dass man sie schlecht behandeln dürfte, so Engineer: „And any way even if some people consider Hindu as kafirs Qur‘an permits Muslims to peacefully coexist with kafirs (see chapter 109).“ Vgl. Text Nr. 9/ Themenkomplex Zusammenleben, India is Darul Aman. 2009. 164 Grundlage des Koran und der Sunna ebenfalls zu dieser Überzeugung gekommen ist. Es untermauert das Argument: Der Islam ist friedfertig und geht gegen die Stereotype an: Der Islam ist eine Religion der Gewalt. Alle Nichtmuslime sind kāfir, sie gehören also nicht dazu. Engineer aber ist es wichtig zu beweisen, dass sie dazugehören. Schließlich ist es ein entscheidender Aspekt im Zusammenleben von Hindus und Muslimen in Indien, besonders, wenn es um die Prävention von Konflikten geht. Engineer stellt sich mit seiner Position, und dabei spielt für diese Botschaft keine Rolle, ob und unter welchen Umständen seine historische Argumentation überhaupt zutrifft, gegen die exklusivistischen Tendenzen in beiden Religionsgemeinschaften. Seine Argumentation hat für ihn eine existenzielle Dringlichkeit. Eine religiöse Legitimation des Konflikts lehnt Engineer ab. Seine koranreferentielle und auf die islamische Geschichte bezogene Argumentation ist sein Beitrag, eine religiöse Legitimation zu liefern, die inklusiv ist. Weitere Persönlichkeiten, die er für diesen Appell unterstützend heranzieht sind: 2. Dara Shikoh (1615-1659), gelegentlich auch Dara Shukoh oder Sikoh, Mogul-Prinz, als Thronfolger designiert noch zu Lebzeiten seines Vaters Shah Jahan. Gegen seinen Bruder, dem späteren Mogulherrscher Aurangzeb, konnte er sich nicht im Kampf um den Thron durchsetzen. Dieser erklärte ihn für eine Gefahr für den öffentlichen Frieden und zum Apostaten. Schließlich ließ er ihn ermorden. 1657 übersetzte Dara Shikoh aus dem Lehrwerk des Hinduismus, den Upanishaden, 50 Stück aus dem Sanskrit ins Persische und machte sie so muslimischen Gelehrten zugänglich.356 Sein bedeutendstes Werk trägt den Titel Majmā‘ ul-Baḥrain (dt. Die Vereinigung der beiden Ozeane), gemeint sind der Hinduismus und der Islam. An 356 Siehe Gobel-Gross: Persische Upanischadenübersetzung. 1962. 165 diesem Werk nahmen die islamischen Gelehrten so sehr Anstoß, dass es ihm schließlich buchstäblich den Kopf kostete. Sein Bruder Aurangzeb ließ ihn köpfen und ohne islamisches Ritual beerdigen. Die islamischen Gelehrten hatten behauptet, Darah Shikoh habe Islam und Hinduismus als „Zwillinge“ bezeichnet. Darah Shikoh glaubte, dass mit den im Koran in Vers 56:77-80 erwähnten verborgenen Bücher (kitābin maknūnin) die hinduistischen Upanishaden-Schriften gemeint357 und diese eine Quelle des Tawhid (dt. in etwa Monotheismus) seien. Damit schließt er an die Tradition seines Vaters, des Mogulen Akbar an, der selbst eine philosophische Lehre entwarf, die die Einheit der Religionen in den Mittelpunkt stellte (pers. dīn-eilāhī).358 Engineer erwähnt beide, aber im Zusammenhang mit den Hindus zieht er die Argumentation von Dara Shikoh heran. 3. Sarmad Kashani (? – 1661), häufig auch nur Sarmad genannt, Dichter des 17. Jahrhunderts, der vermutlich nicht indischen Ursprungs war. Die Quellen sind seine Herkunft betreffend widersprüchlich. Ihm wird eine armenische und manchmal eine jüdische Herkunft nachgesagt. Als Händler reiste er nach Indien, dort fand er zum Islam, wurde zum Apostaten erklärt und hingerichtet. Er pflegte eine enge Beziehung zum Mogul-Prinzen Dara Shikoh. Sarmad kann getrost als das Enfant terrible der Sufis bezeichnet werden, um den sich zahlreiche Legenden ranken. Er habe sich über die etablierten Religionen lustig gemacht, sei aus dem Islam zum Hinduismus konvertiert und habe auch diesen verlassen. Er habe sich Hals über Kopf in einen Hindu verliebt, das habe ihn so verändert, dass er all seinen Besitz 357 Vgl. Friedmann: Muslim Views, 217. Akbar ist eine historische Figur, die heute in Indien besonders umstritten ist. Den Einen gilt er als Sinnbild und Vorreiter für den interreligiösen Dialog und damit für die herbeigesehnte communal harmony, da er zu den Hindus ein gutes Verhältnis pflegte und mit Hindu-Frauen verheiratet war. Das dürfte zwar sicher eher der üblichen Machtkonsolidierungsfunktion solcher Ehen geschuldet sein, die Ehefrauen waren die Töchter lokaler Fürsten, dennoch gilt in der medialen Darstellung in Indien solch eine Ehe als Beispiel für religiöse Toleranz; denn noch immer gelten interkonfessionelle oder interreligiöse Ehen als ebenso problematisch wie Ehen zwischen verschiedenen Kastenangehörigen. Anderen gilt er als Verräter und Häretiker, der den Islam verwässern wollte, wieder Andere zweifeln an seiner Toleranz. 358 166 aufgegeben habe und fortan nur noch als nackter Fakir durch die Straßen Delhis gewandert sei. Seine in persischer Sprache verfasste Dichtung galt als ketzerisch. Darin machte er sich oft auch über die Ulama lustig. So ließ ihn Aurangzeb 1661 zum Apostaten erklären und ihn hinrichten.359 Zwar nicht in diesem Themenkomplex, aber von Engineer in anderen Texten häufig erwähnt und heute in Indien in der populären und popkulturellen Wahrnehmung ist er prominent präsent, daher soll er an dieser Stelle auch aufgeführt werden: 4. Moinuddin Chishti (1141-1230), auch bekannt unter dem Namen Gharib Nawaz. Er etablierte und führte den indischen Zweig des Chishti-Ordens im nordindischen Ajmer. Sein Nachname bezieht sich auf den Gründungsort des Ordens in Chisht in der Region Sistan, im heutigen Afghanistan. Sein Schrein in Ajmer, im Norden von Indien, ist heute eine beliebte Pilgerstätte für Muslime und Angehörige anderer Religionen.360 Neben diesen Namen sind es die folgenden, die Engineer erwähnt: 5. Djalaladdin Rumi und Ibn Arabi, diese beiden Persönlichkeiten sind nicht vom indischen Subkontinent, aber Engineer setzt sie als übergeordnete Referenz ein, da sie allen Muslimen bekannt sein dürften. Davon darf man bei den indischen SufiPersönlichkeiten eher nicht ausgehen.361 Engineer interessierte sich für Dichtung in Urdu und Persisch. Rumi ist eine populäre Argumentationsfigur für den Dialog. 362 Es ist augenfällig, dass Engineer hier neben den von weiten Teilen der muslimischen 359 Bis heute bleibt Dara Shikoh interessant. Vgl. Kumar, V.: Was Dara Shukoh an Apostate? 2004. Popkulturell verarbeitet beispielsweise in dem Lied Khwaja mere Khwaja von A.R. Rahman, das in der Bollywood-Verfilmung Jodhaa Akbar die Verehrung dieses Sufi durch den Mogul-Herrscher Akbar thematisiert und wochenlang sowohl im indischen Fernsehen zu sehen, als auch im Radio zu hören war. Siehe: http://www.youtube.com/watch?v=Hb1yxNwfu-0. Komponist A.R. Rahman, Oscar-Preisträger, gilt als Anhänger des Ordens. Seine Musikschule in Chennai ist nach Moinuddin Chishti benannt. Siehe weiterführend Khan/Gaur: Rahman, a Devout of Khwaja Moinuddin Chishti. In: TOI. 24.09.2009. Siehe Gowariker: Jodhaa Akbar. 2008. 361 Darah Shikoh und Moinuddin Chishti sind in weiten Bevölkerungsteilen Indiens bekannt, während Sarmad eher dem Segment von Intellektuellen und Künstlern vertraut sein dürfte. 362 Beispielsweise zieren in der Türkei seine Aussprüche zur Toleranz die Waren eines ganz eigenen Industriezweiges. 360 167 Welt anerkannten und akzeptierten Sufis wie Rumi363 und Ibn Arabi364 auch solche historische Figuren wählt, um sie zur Unterstützung seiner Argumentation heranzuziehen, die für kāfir erklärt wurden, wie zum Beispiel Sarmad. Er zieht sie heran als Vorbilder für eine Überzeugung, die dazu dienen soll, Unterschiede zu überwinden. Mit der Erwähnung dieser historischen Persönlichkeiten ordnet sich Engineer selbst in den intellektuellen und historischen Diskurs ein. Beide Ansätze dienen ihm als Vorbild und Leitbild für ein wohlwollendes Wahrnehmen des Anderen und damit auch für ein solches Zusammenleben. In der populären Wahrnehmung stehen diese historischen Figuren symbolisch für die Pluralität und Diversität von Religionen und dem Streben, dieser Pluralität und Diversität wohlwollend und versöhnlich zu begegnen. Ein Blick in das Online-Lexikon Wikipedia beispielsweise macht dies deutlich. Bei Mirza Mazhar Jan-i-Janan stehen in einem Kasten die wichtigsten Informationen zusammengefasst, darunter diese: „Notable Ideas: Acceptance of Hindus as Ahl-i Kitab (…)“ Engineer wählt Persönlichkeiten, Ereignisse und historische Narrative, die ein positives Image haben. Dieses Image ist eines, mit dem er sich eher identifizieren kann und das er zur Korrektur des Islam-Images einsetzt. Die oben genannten historischen Sufi-Persönlichkeiten genießen eine Art popkulturelles Superstar-Dasein in der Gegenwart und vor allem im Diskurs um den Anderen. Sie werden als vorbildhafte Beispiele herangezogen, um auf das bereits historisch verankerte (indische und muslimische) Bemühen um Dialog und Harmonie hinzuweisen, an das man nun anknüpfe. 363 Engineer besuchte bei einer Türkeireise auch das Grab von Rumi. Er berichtet davon in einem Reisebericht. Siehe Engineer: My Latest Turkey Visit. 2010. 364 Ibn Arabi wird auch als Philosoph eingeordnet, Engineer bezeichnet ihn durchgehend als Sufi. 168 Engineer ist sich um diese Popularität von Sufi-Persönlichkeiten in der Gegenwart bewusst. Zwar dürfte sich sein Bewusstsein vornehmlich aus der Beobachtung und aus dem Wissen über den indischen Status-quo der Pluralität von Religionen speisen, aber, dass Sufi-Islam vs. fundamentalistischem Islam oder politischem Islam auch eine gewisse Popularität im Westen und unter Muslimen im Westen genießt, dürfte ihm bekannt sein. Das heißt, hier greift er auf ein Bild zurück, ohne diese Dichotomie eins zu eins zu übernehmen, dennoch bleibt der Anklang, dass Sufi-Islam der ‘bessere‘ Islam und daher besonders für das Zusammenleben mit Nichtmuslimen geeignet sei. Engineers indischer Alltag bestätigt ihn in dieser Annahme, wenn er beobachtet, dass Angehörige verschiedener Religionen an die Schreine und religiösen Stätten anderer religiöser Traditionen gleichermaßen in Eintracht pilgern, sich also auf diese Tradition der Heiligenverehrung scheinbar einigen können. In seiner Argumentation geht es Engineer offenbar nicht immer und nicht in erster Linie um historische Genauigkeiten oder um die Wiedergabe historischer oder gegenwärtiger Diskurse, seien sie dogmatischer, philosophischer oder theologischer Art. Seinen Textkorpus kann man als Appell lesen, der eine einfache Botschaft vermittelt: In Frieden mit „dem Anderen“ leben, sei es der anderen Religion, dem anderen System (sprich Säkularismus und Demokratie) oder dem „anderen“ Geschlecht. 169 2.2 Themenkomplex Geschlechterdifferenz 2.2.1 „Why this negative attitude towards women?”365 Neben dem Kernthema Zusammenleben mit Anderen beschäftigt sich Engineer mit weiteren Themen, die im weitesten Sinn mit dem Thema Der, Die, das Andere in Zusammenhang stehen. Dazu gehört das Thema Geschlechterdifferenz, respektive Frau. In the name of Islam vs. spirit of Islam,366 so kann man den Diskurs innerhalb der Texte von Engineer, die sich eingehend und kontinuierlich mit dem Thema Frau befassen, auf einen Nenner bringen. Engineer setzt sich einerseits mit der Position der Frauen in muslimischen Gesellschaften als auch mit der Position der Frau in Indien allgemein auseinander. Ich möchte an dieser Stelle den Blick auf seine Argumentation und seinen Umgang mit dem Thema in Bezug auf die Frau im muslimischen Kontext richten. Im folgenden Kapitel zeige ich auf, wie sich Engineer zu bestehenden exegetischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen zu diesem Thema äußert. Wie positioniert er sich? Welche Erklärungen liefert er? Wie geht er mit Koranversen zum Thema um? Wie geht er mit bestehenden etablierten Meinungen zum Thema Frau im Islam um? Aus zehn ausgewählten Texten habe ich für dieses Kapitel Beispiele ausgewählt, die seine Positionen verdeutlichen sollen. Hierfür habe ich zwei relevante Themen, die im globalen Islam-Diskurs kritisch diskutiert werden, in den Vordergrund gestellt. Es sind Texte, die sich mit der Frage nach der Legitimität einer Frau als Imam einer geschlechtergemischten Gemeinde sowie mit religiös begründeter häuslicher Gewalt (vornehmlich Vers 4:34) durch den Ehemann gegen die Ehefrau befassen. 365 „Why this negative attitude towards women? It is obviously social, not Qur’anic.” (Text Nr. 3, Women’s Discourse.) 366 Von Engineer verwendete Bezeichnungen. 170 2.2.1 Kann eine Frau das gemischtgeschlechtliche gemeinsame rituelle Gebet leiten? Ich konzentriere mich zunächst auf einen Artikel aus dem Jahr 2005 mit dem Titel On Women Leading the Congregational Prayer, der der theologischen Frage nachgeht, ob eine muslimische Frau ein gemeinsames geschlechtergemischtes rituelles Gebet leiten darf.367 Aktueller Anlass für den Artikel ist der Fall der amerikanischen Muslimin Amina Wadud, die 2005 in New York das gemeinsame Freitagsgebet von Männern und Frauen leitete sowie eine Hutba hielt. 368 In seinem Text kritisiert Engineer einen führenden Gelehrten der islamischen Welt, Yusuf AlQaradawi,369 und seine Reaktion auf dieses Ereignis. Kaum ein anderes Thema hat in den vergangenen Jahren, gar Jahrzehnten, die Gemüter mehr bewegt, als das Thema Frau im Islam, wenn es um „den“ Islam im Allgemeinen und um sein Verhältnis zur Moderne im Besonderen ging. Landauf landab fanden und finden nicht nur in deutschen Gemeinden und Städten immer noch Veranstaltungen zum Thema statt, die sich vom Bibelkreis einer Dorfgemeinde bis zu Diskussionsrunden, von Politikern oder Parteien initiiert, erstrecken. Im 367 Text Nr. 1 aus dem Themenkomplex Geschlechterdifferenz. In diesem Abschnitt folgen Zitate aus diesem Text, soweit nicht anders vermerkt. 368 Amina Wadud (geb. 1952) ist eine amerikanische Muslimin, Nahost-Wissenschaftlerin und feministische Theologin, die in den 1970er Jahren zum Islam konvertierte. Ihre Dissertation Qur’an and Woman. 1993 gilt als ein Grundlagenwerk für muslimische Feministinnen und feministische Theologinnen. Bereits 1994 hatte sie eine Hutba in einer Moschee in Kapstadt/Südafrika gehalten. Dieses hatte schon Proteste hervorgerufen. Dennoch war die Reaktion gering im Vergleich zu den Reaktionen, die auf ihre Rolle als Imam eines gemeinsamen Freitagsgebets von Frauen und Männern in New York im Jahr 2005 folgten. Dies dürfte unter anderem der intensiven weltweiten Berichterstattung durch führende Medien geschuldet sein. Yusuf al-Qaradawi verurteilte ihre Handlungen in einer Sendung des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera. Noch 2013 sagte die Regierung des indischen Bundesstaates Tamil Nadu einen geplanten Vortrag an der Universität Madras zu Gender, Reform und Islam von ihr ab, da sie Ausschreitungen befürchtete. 369 Wird gelegentlich auch al-Qardawi geschrieben; Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926) ist ein ägyptischer muslimischer Theologe, der als der populärste und einflussreichste seiner Zunft gilt, der er in zahlreichen Vereinigungen vorsteht, wie beispielsweise der International Union of Muslim Scholars. Sein bekanntestes Buch ist das 1960 erschienene al-Ḥalāl wa l-ḥarām fī l -islām (dt. Das Verbotene und das Erlaubte im Islam), das in zahlreichen Sprachen erhältlich ist. Mit seiner TV-Sendung erreicht er bis zu 60 Millionen Zuschauer weltweit. 1997 gründete er die ebenso populäre Website Islam Online, auf der er Fragen einer internationalen muslimischen Leserschaft zum Islam beantwortet. Zu Qaradawi gibt es eine Fülle an wissenschaftlichen Arbeiten. Weiterführend beispielsweise: Gräf/Skoovgard-Petersen (Eds.): Global Mufti. 2009. 171 wissenschaftlichen Diskurs verliert das Thema kaum an Bedeutung, muss aber mit anderen Trendthemen konkurrieren. Im globalen Islamdiskurs gehört die Frage nach dem Geschlechterverhältnis370, konkret die Frage nach der Stellung der Frau, zu den Schlüsselfragen, deren Klärung und Beantwortung als Marker für den Grad der Modernität (nicht nur) der Muslime gilt. Mit dem Thema Frau hebt sich der Islamdiskurs zunächst einmal nicht vom übergeordneten Diskurs um das Geschlechterverhältnis im Allgemeinen ab. Andernorts ist das Thema ebenso vakant, wie man den in den westlichen Ländern geführten Debatten entnehmen kann, die mit den Themen Frauenquote, Kinderbetreuung, Frauenbeschäftigung, Frauen in der Kirche bis hin zum Frauenkörper (Models, Magerwahn usw.) das Bild und die Stellung von Frauen in der Gesellschaft verhandeln. Während die Position der Frauen beispielsweise in einem westlichen Industrieland wie Deutschland eher an der Demarkationslinie Fortschritt, Emanzipation, Gerechtigkeit im Zusammenhang mit den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des Landes verhandelt wird, wird dieselbe Frage im Falle „der Muslime“ schlechthin meist unter der Gleichung modern gleich fortschrittlich gleich als Gesprächspartner akzeptabel versus traditionell gleich rückschrittlich gleich als Gesprächspartner inakzeptabel geführt. Die benachteiligte Stellung der Frau im muslimischen Kontext wird zunächst einmal gemeinhin der Religion, das heißt, dem Islam zugeschrieben. Die Krux in dieser Angelegenheit besteht darin, dass die Benachteiligung und Diskriminierung von Musliminnen zwar in einen sozialen, geographischen, politischen und wirtschaftlichen Kontext eingebettet ist, aber diese Benachteiligung und Diskriminierung gleichzeitig sehr häufig eine religiös motivierte Legitimation 370 Mir ist bewusst, dass dieses Thema mehr als die Rolle der Frau beinhaltet. 172 erfährt, das heißt, Koran und Sunna herangezogen werden, um diese Behandlung zu rechtfertigen. Wie dies im Einzelnen geschieht, hängt vom jeweiligen Kontext und der Rolle des Islams in diesem Kontext ab. Für meine Betrachtung ist dies an dieser Stelle zunächst einmal irrelevant. Die von Muslimen reflexartig vorgetragene Reaktion, diese Annahme zurückzuweisen, verkennt die Rolle der Religion in solchen Diskursen. Sie nimmt die Eindimensionalität der Annahme und Aussage Der Islam ist Schuld an der Diskriminierung der muslimischen Frauen als gegeben an und reflektiert diese ebenso eindimensional. Dies ist zwar aus dem tiefen Bedürfnis zu verstehen, die eigene Identität zu verteidigen, deren Abwertung viele Muslime durch solche Aussagen empfinden, dennoch gefährdet diese apologetisch geführte Kommunikation eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Problematik und damit zusammenhängend mit der eigenen Identität auf beiden Seiten. Dabei gibt es graduelle Unterschiede, was die Kommunikation angeht. In diesen Kontext ist auch die Art und Weise, in der sich Engineer zu den Schlüsselthemen des Islamdiskurses äußert, einzuordnen. Engineer ist sich dieser Dynamik bewusst: „The vast gap between Islamic spirit and Muslim practices need to be bridged through dialogue and discussion. There is constant attack from non-Muslims about gross injustices perpetrated by Islam against women. Non-Muslims are not aware of Koranic teachings and hence they blame Islam for these injustices. Those Muslims who understand the Koranic teachings must come forward and initiate discussions both with Muslims and non-Muslims.” Seine Aufgabe sieht Engineer, wie im oben genannten Zitat im letzten Satz geäußert, als Mahner und Aufklärer in beide Richtungen. In diesem Sinne gestaltet Engineer seinen Text sowohl als eine Kritik an den Aussagen Qaradawis und anderer gleichgesinnter Gelehrter als auch eine Aufklärung zum Thema. Hierfür setzt er Beispiele aus dem Koran und aus der prophetischen 173 Sunna ein, beleuchtet die Rolle der ulama. Die ulama werden von Engineer, nicht nur beim Thema Frau, heftig kritisiert. Seine Kritik werde ich exemplarisch am vorliegenden Fall nachzeichnen und diskutieren. 174 2.2.3 Kritik an Qaradawi als Vertreter der etablierten muslimischen Gelehrsamkeit371 Im Beispieltext Nr. 1 handelt Engineer nicht nur das Thema weiblicher Imam sondern auch die Themen Bekleidung und Polygamie ab. Zunächst einmal schildert Engineer den aktuellen Anlass: Amina Wadud leitet ein Gebet mit einer geschlechtergemischten Gemeinde. Dann gibt er Reaktionen aus der islamischen Welt wieder: Überwiegend heftige Kritik und Ablehnung. Engineer interessiert sich in seinem Text für die Position der ulama, die er dahingehend zusammenfasst, dass die Mehrheit der Meinung sei, Frauen dürften kein gemeinsames Gebet von Männern und Frauen leiten, aber alle einheitlich der Meinung seien, dass es erlaubt sei, dass eine Frau das Gebet einer reinen Frauengemeinde leiten dürfe. Hier fasst er die Aussagen des damaligen Großmufti von Ägypten, Ali Gomaa,372 zusammen. Diese Meinungen nennt Engineer claim, also Behauptung: „It is important to examine this claim from the Qur’anic viewpoint.“ Er stellt sogleich die Autoritätsfrage, die er in Variationen in diesem Text (sowie in vielen anderen) formuliert: „Is there any authoritative argument (nass) against a woman leading mixed gender prayer in Koran? Certainly not. All agree that there is no such denial in Koran. Though Koran does not refer to the issue directly, there are verses in Koran, which can support a woman leading such mixed congregational prayers.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) [Hervorhebung FS] Ganz eindeutig die einzige Autorität in dieser und in anderen Fragen des Islam ist für Engineer der Koran, also nach muslimischem Verständnis das Wort Gottes. Er stellt klar, dass es kein Verbot im Koran dazu gebe und macht deutlich, 371 372 Bei Engineer unter dem Sammelbegriff ulama zusammengefasst. (geb. 1952) amtierte von 2003-2013. 175 dass es dennoch Verse gibt, die darauf hinweisen, dass Frauen ein gemeinsames Gebet von Frauen und Männern leiten dürften. Seine Position zur Frage der weiblichen Gebetsleitung hat er damit deutlich gemacht: er lehnt ein Verbot ab. In seiner weiteren Argumentation führt Engineer Beispiele aus dem Leben des Propheten auf und konzentriert sich dabei auf das Beispiel der Prophetengefährtin Umm Waraqah, die gemeinsame Gebete von Männern und Frauen geleitet haben soll. Hierzu führt er einzelne Gelehrtenmeinungen auf und weist darauf hin, dass aufgrund dieses Hadith einige Rechtsgelehrte die Frage positiv beantwortet hätten.373 Engineer stellt fest, dass es über die Authentizität dieses Hadith Uneinigkeit gebe. Die Kernfrage laute, ob der Prophet die Leitung des gemeinsamen Gebetes nur Umm Waraqah erlaubt habe, oder ob es eine allgemeingültige Regelung sei. Engineer nimmt hier eine Position ein und begründet, warum er die Entscheidung des Propheten für eine allgemeingültige Regelung hält. Allerdings kritisiert er hier die Argumentationsgrundlage jener, die ein Verbot befürworten. Diese argumentierten, dass im Falle von zwei Personen, derjenige das Gebet leiten könne, der physisch stärker, also stabiler sei, sowie derjenige, der die höhere Bildung habe. Engineer kritisiert, dass die ulama davon ausgehen, dass Frauen das schwächere Geschlecht seien und folglich nicht in Frage kämen: „But a woman can be greater ‘alimah than a man and it was on this principle that the Prophet (PBUH) allowed her to lead mixed congregational prayer.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) Engineer gibt seiner Verwunderung darüber Ausdruck, dass die vorgetragenen Argumente gegen eine Frau als Imam merkwürdig seien, aber, dass es noch merkwürdigere Gegenargumente gebe, wie beispielsweise die von Yusuf alQaradawi. Damit leitet Engineer, nachdem er für seine Argumentation die Sunna und 373 Zu den Ansichten im islamischen Recht siehe Melchert: Keep Women. In: Michalak-Pikulska (Ed.): Authority. 2006. 59-69. 176 damit einen historischen Kontext herangezogen und zuvor den Koran befragt hat, seine Kritik an al-Qaradawis Aussagen ein. Durch die Wiedergabe populärer Positionen und der Diskussion anderer Gelehrter, verortet er sich innerhalb des Diskurses und grenzt sich auf diese Weise von der etablierten Meinung ab. Engineers Kritik an Qaradawi arbeitet sich an populären, gängigen Meinungen zum Thema ab, die Qaradawi in seiner Fatwa wiedergegeben und verteidigt hat. Hierzu führt Engineer Qaradawis Aussagen auf und setzt diesen seine Kritik entgegen: „ (…) Qardawi says in his fatwa that „Throughout Muslim history it has never been heard of woman leading the Friday Prayer or delivering the Friday sermon, (…). It is established that leadership in prayer in Islam is to be for men.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) [Alle Hervorhebungen FS] Darauf entgegnet Engineer: „With due respect to the Sheikh I must say first of all Muslim men, particularly ‘ulama have decided that a woman cannot be ruler or head of the state. (…) Qardawi, like other traditional ‘ulama, I am sure, considers woman’s rule as illegitimate. And if he does not, then he should not object to a woman leading mixed congregational prayer.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) Besonders der letzte Satz weist darauf hin, dass Engineer die Gedankengänge und Klimmzüge muslimischer Gelehrter in Bezug auf dieses Thema kennt. Wer eine Frau für zu schwach hält, das gemeinsame Gebet zu leiten, der hält sie ebenfalls für zu schwach, eine Gemeinde oder einen Staat zu führen. Darauf spielt dieser letzte Satz an, der eine wohlbekannte Argumentation muslimischer Gelehrter zu dieser Frage aufgreift. Darüber hinausgehend setzt sich Engineer erneut mit der Frage nach der Autorität auseinander: „Secondly his argument that it is well established that „leadership in prayer in Islam is to be for men.“ The question is who has established that? The Koran? No. The holy Prophet’s Sunnah? No. And every one agrees that Islamic Shariah is based on Koran and Sunnah. It is not for anyone to establish Islamic rules. This assertion on the part of Yusuf al-Qardawi is not right and certainly not based on Islamic sources. 177 Sheickh Qardawi, in order to justify traditional practice (…) comes outh with very strange logic, even obsession with sex.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) [Alle Hervorhebungen FS] Dieser Text von Engineer verdeutlicht, welche unterschiedlichen, meist gegensätzlichen und widersprüchlichen Positionen es innerhalb der islamischen Welt gibt. In diesem Beispiel stehen sich zwei konträre Islambilder, mehr noch Weltbilder, gegenüber. Analysiert man den Text tiefergehend, findet man gänzlich gegensätzliche Vorstellungen von nahezu allen relevanten Punkten im Diskurs wie z.B. die Vorstellung von Religion, von Gott, vom Koran, und vielen weiteren Aspekten. Am Beispiel des Themas weiblicher Imam bieten sich Qaradawis Äußerungen als ein Sammelsurium tradierter Argumente in dieser Frage an, wie: 1. In der islamischen Geschichte hat es das noch nie gegeben. 2. Die Frau ist schwach. 3. Der Körper der Frauen lenkt die Männer während des Gebets ab. Engineers Äußerungen hingegen liefern ebenfalls bewährte Argumentationen der Gegenposition. Er prüft die Aussagen auf Logik, zieht den Koran heran, diskutiert Positionen früherer Gelehrter. Er weist auf die Widersprüche in der Argumentation des/der Theologen und Gelehrten hin: „I really wonder on the Sheikh’s logic. On one hand he says prayer is an act of concentration and submission to Allah and humility to him on the other he argues that woman’s sexuality will interfere with his concentration. Of what use is a Muslim’s concentration if he gets sexually excited even in the sacred and spiritual act of prayer and submission to Allah. Better he does not pray.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) Als Gegenargument liefert Engineer einen Koranvers (29:45) und stellt erneut die Autoritätsfrage: 178 „Whom should we listen to? To Ulama or to Allah who says prayer is antidote for all indecency and evil?” Qaradawi argumentiert, Frauen sollten hinter den Männern stehen, damit sie die Männer nicht sexuell animierten, daher sehe die Scharia vor, dass Männer das Gebet leiteten. Dazu sagt Engineer mit einem klaren Verweis darauf, wer und was für ihn die Autorität ist: „The Koran does not even remotely suggest that men are sexually more excitable than women and so women should be wrapped in cloth from head to toe to spare men the sin of rape or adultery.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) und wie er die Aussagen des Sheikhs einordnet: „This may be Sheikh’s view; it is certainly not the Koran’s and the Sunnah’s view. Qardawi thinks the Prophet did not know what he knows about the men’s sexuality and permitted Umm Waraqah to lead prayer. And he also thinks that only men’s sexual feelings can be stirred, not women’s when they pray behind men.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) Engineer lehnt also die Autorität von Qaradawi in dieser Frage ab. Die gesamte Argumentationslinie, die Qaradawi hier mit seinen Aussagen repräsentiert, ordnet er wie folgt ein: „The problem is not with sexuality but with men’s ego that he does not want to pray behind a woman. Men have total control on all social and religious institutions and in no case wants to give up this control.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) Dahinter schimmern die Argumente, die die schwächere Position der Frauen religiös begründen. Prominente, innerhalb des Islamdiskurses von Muslimen vorgetragene Positionen, greift Engineer indirekt oder direkt auf und setzt sich mit ihnen auseinander. Es wird deutlich, dass er sie alle kennt. Er hat sie alle gehört und ist sich der Argumentation und ihrer Folgen bewusst. Hier ergreift er die Gelegenheit, einen ranghohen, auch im Internet und über die elektronischen Medien über Landesgrenzen hinaus populären Gelehrten zu kritisieren. 179 Damit befindet sich Engineer mitten im Kampf um die Deutungshoheit der religiösen Quellen und damit um die Definitionsmacht in Bezug auf die Religion. Engineer fasst diese Auseinandersetzung unter der Dichotomie male values vs. Qur‘anic values zusammen. Engineer schließt seinen Text mit zwei Aussagen ab, mit denen er sich innerhalb des Islamdiskurses im Allgemeinen und innerhalb des hier spezifisch geführten Diskurses um das Geschlechterverhältnis verortet. Zunächst begrüsst er Amina Waduds Initiative: „We should welcome the initiative taken by sisters like Amina Wadud and others and spread this message.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) Dann, für den Leser überraschend, da vorher nicht erwähnt, schließt er mit einem Verweis auf den ägyptischen Reformtheologen Muhammad Abduh374 ab: „We have always sidelined reformes like Muhammad Abduh of Egypt who stood for gender justice and true Qur’anic spirit. We need not one but many Abduhs.” (Text Nr. 1, On a Muslim Women) Diese letzte Wendung im Text und in seiner Argumentation kann man dahingehend deuten, dass Engineer a) sich und auch Amina Wudud einerseits in eine historische Tradition mit Abduh einordnen möchte, b) darauf hinweist, dass es eine historische Tradition der Reform gibt und c), dass diese Tradition ausgerechnet in Ägypten, also dem Herkunftsland von Qaradawi, ebenfalls vorhanden war, also neben der von Qaradawi repräsentierten Tradition eine andere Tradition existiere. Selten liest man in Texten von Engineer so deutlich auch die spirituelle Ebene seiner Motivation, wie in diesem Text: „Allah will never forgive us for this indifference to His Message.“ (Text Nr. 1, On a Muslim Women) 374 Der ägyptische Gelehrte Muhammad Abduh (1849-1905) gilt als einer der bedeutendsten muslimischen Reformdenker des 19. Jahrhundert. Die von ihm und seinem Schüler Rashid Rida herausgegebene Zeitschrift Al-Manar war ein wegweisendes Organ für das moderne muslimische Denken. 180 2.2.4 Gewalt gegen Frauen: Vers 4:34 und das Wort ḍaraba In seinen Texten zum Thema Frau diskutiert Engineer alle Schlüssel- und Streitthemen zu dieser Thematik. Wie zum Beispiel Ehe, Heirat, Scheidung, Polygamie, Gleichwertigkeit, körperliche Züchtigung und Bekleidung. Er thematisiert also sowohl den Vorwurf, der Islam unterdrücke die Frau, als auch den tatsächlichen Umstand der Position der Frau innerhalb von Religion und Gesellschaft. Engineer erkennt ihre tatsächliche Diskriminierung als real an. Hierfür liefert er Erklärungen aus seiner eigenen Perspektive. Er greift auf die Kritik durch Nichtmuslime zurück und erkennt sie als berechtigt an, lehnt aber die mitgelieferte Begründung für die Diskriminierung der muslimischen Frau ab. Dies tut er keineswegs auf aggressive Weise oder begibt sich in die wohlbekannte Verteidigungsposition, allerdings sieht er durchaus Klärungsbedarf. Den Vorwurf, den er von Nichtmuslimen vorgetragen sieht, dass der Islam als Religion für die negative Stellung der Frau verantwortlich sei, weist er als aus einer Unkenntnis der religiösen Quellen, das heißt des Koran, begründet, zurück.375 Er diskutiert Verse exegetisch zu diesen Themen, übt Kritik an den Theologen und Rechtsgelehrten im Allgemeinen sowie an einzelnen Aussagen, Fatwas und Entscheidungen, wie das bereits oben diskutierte Fallbeispiel verdeutlicht hat, oder wie etwa im Falle der Vergewaltigung einer muslimischen Inderin die Fatwa eines Gelehrten der indischen Deobandi Schule.376 375 Vgl. beispielsweise Text Nr. 3 dieses Themenkompexes: Women’s Discourse in Qur’an. 2007. Hier verwendet er folgendes Argument: „ (…) women’s discourse in Qur’an is right-based not dutybased.” 376 Vgl. Text Nr. 4 dieses Themenkomplexes: Sharia, Women. August 2005. In diesem Text thematisiert Engineer den international aufsehenerregenden Fall der jungen muslimischen Pakistanerin Mukhtaran Mai, die nach dem Urteil eines sogenannten Dorfrates, von einer Gruppe von Männern vergewaltigt wurde, um eine durch ihren 12-jährigen Bruder begangene „Ehrenschuld“ zu sühnen. Engineer nimmt diesen Fall zum Anlass, um in seinem Text die männliche Gelehrsamkeit zu kritisieren, die frauenverachtende Strukturen dulde, legitimiere oder initiiere. Als Beispiel nennt er auch seinen Kampf zur Abschaffung des sogenannten triple talaq (der in Indien verbreiteten muslimischen Scheidungspraxis der Verstoßung der Ehefrau durch den Ehemann durch dreimaliges Aussprechen der Scheidungsformel) sowie ein von der indischen Deobandi Schule ausgesprochenes 181 Darüberhinausgehend übt er zu diesem Themenkomplex Hadithkritik. Er diskutiert in seinen Texten den historischen Kontext und versucht, gültige Regeln und Vorstellungen zur Stellung der Frau in diesen Kontext einzuordnen. Für den Umgang mit dem Koran verweist er auf Qur‘anic values und dass sich etablierte Verhaltensweisen, Wertvorstellungen, Rechtsgutachten und Meinungen zum Thema Frau (und zu allen anderen Themen) an diesen Werten messen lassen müssten, so dass sie einer Korrektur unterzogen werden könnten.377 In seinen Texten übt er Hadithkritik, Kritik am Einsatz von Hadith im Allgemeinen, Kritik an Rechtsgelehrten und Geistlichen, die er alle unter dem Begriff Ulama zusammenfasst. In seiner Vorsicht und seinem Unbehagen, Hadith einzusetzen, befindet er sich auf einer Linie mit vielen anderen Reformdenkern der Gegenwart. Für sie gelten Hadith als leicht manipulierbar und werden daher als unsichere Quelle eingeordnet: „Any hadith which contradicts the Koran, should be rejected howsoever authentic its narrators might be. Unfortunately today hadith prevails over the Koran, even if it contradicts the Koran.” (Text Nr. 3, Women’s Discourse ) So stützt man sich eher auf den Koran, der als die einzig sichere Quelle gilt, da nach muslimischem Verständnis Gott selbst dies im Koran bezeugt.378 Die Nutzung der Hadith wird von Engineer kritisch betrachtet: „In fact the main source of Islamic legislation should be Koran and those ahadith which are in conformity with the Koranic teachings and not any hadith.” (Text Nr. 3, Women’s discourse in Koran.) Fatwa im Falle einer muslimischen Inderin, die von ihrem Schwiegervater vergewaltigt worden war. Sie solle sich von ihrem Ehemann scheiden lassen, da er durch die Vergewaltigung nun wie ihr Sohn sei: „We can conclude from all this happening in Muslim countries that to our ulama are more committed to patriarchy and patriarchal values than to Islam.” 377 Dabei thematisiert Engineer nicht die Problematik der Subjektivität des Rezipienten der Heiligen Texte und damit einhergehend die subjektive bzw. individuelle Konnotation und Definition von sogenannten values, also Werten. Die Frage, auf welche Weise man sich auf ein und dasselbe Verständnis beispielsweise von dem Wert gerecht einigen soll, stellt sich für ihn nicht. Engineer verweist darauf, dass es koranische Werte seien, also der Koran die Definition vorgebe. 378 Siehe Vers 15:9, das in der Regel in diesem Zusammenhang zitiert wird: „Wir haben den Koran offenbart und Wir werden ihn schützen.“ 182 Engineers Kritik an den ulama durchzieht in Variationen alle seine Texte. Manchmal bezeichnet er sie gar als ulama-caste oder als ruling class of ulama. Sie sind für Engineer die Hauptverantwortlichen für den Missstand in der islamischen Welt. Zwar erkennt er soziale, wirtschaftliche und politische Bedingungen als Ursachen ebenfalls an. Er weist beispielsweise zum Thema Frau darauf hin, dass Frauen ausgebildet werden sollten, auch als Theologinnen, damit sie die Texte selber interpretieren können und sich so aus der Abhängigkeit von männlichen Theologen befreien können: „Muslim women also need to be properly educated in the Koranic teachings. (…)” (Text Nr. 1, On a Women). Dennoch stehen für ihn die ulama im Fokus seiner Kritik, wenn es um die Interpretation des Koran und die Deutung der Religion geht. Sie sind nach Engineers Auffassung verantwortlich dafür, dass die Muslime rückständig blieben, besonders, weil sie das Prinzip des Ijtihad als Rechtsfindungsinstrument nicht mehr anwendeten:379 “Our ‘Ulama, whithout bothering to study actual situation and the context, just open their Shari’ah books and mechanically issue fatwas. They are totally shy of applying principle of ijtihad, which means creative re-interpreation of Shari’ah rulings.” (Text Nr. 2, Women’s plight in Muslim society) Engineer wirft ihnen fahrlässiges und ignorantes Verhalten vor: „’Ulama simply consult their school of jurisprudence and issue fatwas without caring about the consequences. No wonder than that whole world thinks that Islam oppresses its women and what is worse, refuses to accept any change in the medieval formulations by the Islamic jurists. ‘Ulama declare Shari’ah laws as divine to stall any attempt to change and to win Muslims in favour of no change.” (Text Nr. 2, Women’s plight) 379 Eine Kritik, die sich ebenfalls bei vielen anderen Reformdenkern findet. 183 Er sieht die ulama festgezurrt an mittelalterlichen Interpretationen, ohne die nötige Ausbildung, mit den Herausforderungen des modernen Lebens umzugehen: „There is strangelhold of ‘Ulama on the community and the ‘Ulama are under the strangelhold of medieval text. They have neither ability to creatively think in the new context nor have they any such training.” (Text Nr. 3, Women’s discourse) Engineer kritisiert islamische Gelehrte im Allgemeinen, aus dem nichtindischen Kontext beispielsweise Yusuf al-Qaradawi, und Gelehrte innerhalb des südasiatischen Kontextes, wie zum Beispiel in Text Nr. 4 mit dem Titel Shari’ah, Women and Traditional Society. Innerhalb meiner Auswahl von Texten liest sich Text Nr. 3 mit dem Titel Women’s Discourse in Qur‘an. Rights-based or duty-based? als Grundsatzpapier zu Engineers Haltung zum Geschlechterverhältnis. In diesem Text führt Engineer eine exegetische Diskussion aller bereits genannter prominenter Themen mit den entsprechend prominenten Koranversen auf sieben Seiten, wie beispielsweise 2:228 zur Scheidungspraxis, 4:3, 4:129 zur Polygamie, 4:34 zu Gewalt und 4:1, 33:35 zur Gleichwertigkeit der Geschlechter. Die innerhalb des Islamdiskurses heftig und prominent diskutierten Verse sind zur Frage der körperlichen Züchtigung der Frau durch ihren Ehemann 4:34-5 sowie zur Frage, ob Männer und Frauen gleich erschaffen und damit gleichwert(ig) bzw. gleichberechtigt seien Vers 4:1. In Zusammenhang mit beiden Fragen wird Vers 33:35 herangezogen, um die letzte Frage zu bejahen. Die Verse zum Thema Scheidung werden speziell in Indien heftig diskutiert, da in Indien zum säkularen Zivilgesetz für die Muslime das religiöse Zivilgesetz gelten kann.380 380 Die Einführung eines sogenannten Uniform Civil Code (Im Gegensatz beispielsweise zu Muslim Personal Law, das seit 1937 unverändert ist) wird in Indien heftig diskutiert. In der Angelegenheit hatte sich seit dem Fall der Muslimin Shah Bano in den frühen 1980er Jahren nichts mehr bewegt. Zwar hat das höchste Gericht Indiens im Juli 2014 Fatwas und Sharia-Gerichte für ungültig erklärt, 184 Die Diskussion um das Thema Scheidung ist in Indien ein Politikum. Sie wird rund um das Verhältnis von Minderheit und Mehrheit geführt. 381 Welches Thema in welcher Gesellschaft und welcher geographischen Region eher prominent ist, dürfte sehr davon abhängen, ob und inwieweit sich die Muslime an das islamische Recht gebunden sehen oder auch faktisch gebunden sind. Besonders prominent ist der Vers 4:34, da er hier in den Bereich der häuslichen Gewalt hineinspielt. Vers 4:1 gilt als grundlegend für die Stellung der Frau. Über die ersten Zeilen des Verses herrscht weitgehend Einigkeit: „Fürchtet Gott, der euch erschaffen hat aus einem einzigen Wesen.“ Entscheidend in der Interpretation ist hier nafsin wāḥidatin (dt. aus einem einzigen Wesen). So wird Vers 4:34 von vielen muslimischen Feministinnen und Reformdenkern im Zusammenhang mit Vers 4:1 gelesen. Auch Engineer wendet sich 4:34 zu und greift die prominente Position auf, die zwei entscheidende Stellen und ihre Übersetzung in Frage stellt. Die erste Stelle lautet ar-rijālu qawwāmūna ‘alā-nnisā‘, gemeinhin übersetzt als „die Männer stehen über den Frauen“, manchmal auch mit dem Zusatz „eine Stufe über den Frauen“. Die zweite umstrittene Stelle lautet faḍribū-hunna (dt. also schlagt sie). Unter Heranziehung dieser Zeilen des Verses 4:34 wird in der Regel durch Rechtsgelehrte und Korangelehrte das Recht des Ehemanns, seine Frau körperlich zu züchtigen, abgeleitet und legitimiert. Engineers Ansatz ist hier repräsentativ für die Position von muslimischen Feministinnen und vielen Reformdenkern. Er übersetzt die beiden Stellen unter Heranziehung einer klassischen aber der Staat hat sich bisher noch nicht zur Einführung eines gemeinsamen verbindlichen Zivilgesetzes durchringen können. Er fürchtet unter anderem, auf heftige Gegenwehr durch muslimische Organisationen zu stoßen, da diese die Frage des Zivilrechts (das heißt, das Ehe- und Familienrecht) als eine Frage der muslimischen Identität und des Rechts einer religiösen Minderheit diskutieren. 381 Aufsehenerregend war der Fall der Muslimin Shah Bano in den 1980er Jahren, die nach einer religiösen Scheidung erfolgreich vor ein säkulares Gericht zog, um Unterhalt einzuklagen. Siehe weiterführend eine Website, auf der die Politikwissenschaftlerin Laura D. Jenkins alles zu diesem Fall aufführt: http://homepages.uc.edu/thro/shahbano/index.htm 185 Quelle (Raghib al-Isfahani)382 schlicht anders, kritisiert die gewöhnlichen Übersetzungen und lehnt diese ab. Neben diesem lexikalischen Instrument zieht er als hermeneutische Technik einen weiteren Koranvers heran, um die genannten Verse zu interpretieren, nämlich Vers 33:35, der in seiner Wiederholung von Handlungen durch Männer und Frauen („Und die muslimischen Frauen und die muslimischen Männer, die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen…“) in der Regel als nähere Erläuterung von Vers 4:34 gilt. Als Beleg gilt der asbāb an-nuzūl zu diesem Vers. Die Frauen des Propheten seien über 4:34 irritiert gewesen und hätten sich mit der Bitte um Klarheit an den Propheten gewandt, daraufhin sei die Offenbarung des Verses 33:35 erfolgt. Engineer führt all diese Argumente an und kommt infolgedessen zu einem anderen Ergebnis. Unter keinen Umständen könne der Ehemann seine Frau schlagen. Gott habe sie beide gleich erschaffen: „There are two verses, as pointed out above, which are quoted by the orthodox 'ulama to establish her secondary status as compared to man i.e. the verse 4:34. This verse is much debated as to whether it establishes superiority of men over women. In fact the word qawwam (maintainer, manager of affairs or one who looks after etc.) is a functional term and does not ensure biological superiority in any sense of the word. Also, man is not maintainer for ever and in all societies. He was so in the Arab society of the time the Koran was being revealed. Today women also earn and hence they also become maintainers and managers (i.e.qawwam). there is no question of establishing men's superiority over women (…)” (Text Nr. 3, Women’s Discourse) 382 (gest. 1108) persischer Gelehrter, Exeget. 186 Damit ist er mit seiner Argumentation auf einer Linie mit vielen muslimischen feministischen Theologinnen383 und Reformdenkern.384 In der Regel ist ihre Reaktion auf diesen Vers, das Verb ḍaraba (schlagen) habe in diesem Vers nicht die Bedeutung schlagen, sondern etwa sich voneinander trennen. Dieser Argumentation schließt sich Engineer an.385 Vers 33:35 gibt Engineer als Quelle für seine Aussage an, die ich als seinen Grundsatz/Glaubenssatz für seine Position zum Thema Frau im Islam identifiziere: „This verse [33:35] is almost suppressed by the orthodox jurists in all their discourse on women’s rights. This verse further proves that Koranic discourse on women is right-based and not duty-based. This verse should be given top priority in discussing gender question in the Koran.” (Text Nr. 3, Women’s Discourse) [Hervorhebung FS] Was meint Engineer damit? Engineer sieht die Position von Frauen in allen Gesellschaften und sozialen Milieus als geschwächt an. In Bezug auf die muslimische Frau macht er als Hauptverantwortliche für diesen Umstand die männliche ulama aus, die das oben genannte Prinzip verkehrt hätten: “The entire Qur’anic discourse on women is right-based and for men duty-based. However, the ‘Ulama have reversed it and unto ‘Ulama entire discourse about women is duty-based and for men is right-based. So much for their honesty to Qur’an.” (Text Nr. 2, Women’s Plight) 383 Argumentation beispielsweise bei Amina Wadud, Lies Marcoes, Riffat Hassan, Asma Barlas et al. 4:34 soll mit 33:35 zusammen gelesen werden. 384 Der hermeneutische Ansatz verweilt hier in der lexikalischen und historischen Einordnung (asbāb an-nuzūl) sowie in der Klärung des Verses durch einen anderen Vers. Der Rückgriff auf die lexikalische Veränderung der Bedeutung der beiden entscheidenden Passagen bleibt problematisch, da sich klassische Wörterbücher aus klassischen Quellen speisen und die arabische Sprache die Offenheit für die Bedeutung hergibt, in die eine, wie die andere Richtung zu übersetzen. Dies spielt dennoch für die Exegese aber offenbar keine Rolle, denn die Herausforderung für die Exegeten besteht darin, den Konflikt und die Widersprüche, die sie in ihren Heiligen Texten finden, für sich nachvollziehbar aufzulösen. Elementar dabei ist, auf welchen sozialen Umstand sie damit rekurrieren. Lösen oder schaffen sie große soziale Probleme? Ein gewaltbereiter Islamist wird diese Verse genauso wie ein Reformdenker oder eine muslimische Feministin ganz subjektiv lesen und deuten. 385 Oder dass nur diese und keine andere Bedeutung zulässig sei. Außerhalb dieser zweipoligen Erklärungsversuche, findet man kaum Raum für andere Erklärungsansätze. Diese beiden Pole dominieren den Diskurs. 187 Sie folgten „patriarchal-feudalistischen“ Prinzipien.386 Engineers Position zum Thema Geschlechterverhältnis gibt er klar und deutlich zu verstehen. Er lehnt die widersprüchliche Haltung der von ihm als orthodox bezeichneten ulama ab. Einerseits betonten sie, welche Rechte der Islam den Frauen gegeben habe, andererseits verwehrten sie ihnen diese, so dass sie mit patriarchalen Strukturen der Gesellschaft konform gingen. Engineer beschreibt sein eigenes Menschenbild als egalitär. Frauen und Männer sollen demnach gleichberechtigt friedlich miteinander leben. Er lehnt gängige Praktiken in Bezug auf zivile Fragen ab, weil er sie für unQur‘anic hält und damit gemäß seines Islamverständnis als ungerecht und unmodern. Erst die Moderne gibt seiner Meinung nach dem Koran die Möglichkeit, richtig und gerecht ausgelegt zu werden: “India is a democracy and all have fundamental rights to freely express themselves. It is not closed society dominated by ‘Ulama that one will accept all they say whithout critically examining it.” (Text Nr. 3, Women’s Plight) Offensichtlich legt Engineer dabei keinen Wert auf die genaue Wiedergabe von Diskursen, inhaltlichen wie historischen, auf das kritische Reflektieren seines eigenen Ansatzes oder die nähere Diskussion, beispielsweise, was genau values sind. Für sein Ziel erfüllen die verknappte Darstellung sowie die appellativ formulierten Argumente ihren Zweck. Er soll gehört werden: „In conclusion it should be said that if one goes by those verses of the Koran which belong to the normative category or which are of the nature of laying down principles and givers of value, men and women should enjoy equal rights in every respect. It would be necessary to re-read and re-interpret many verses which were used for centuries to subjugate women in Muslim societies. This subjugation was more cultural and patriarchal than Islamic or Koranic. The whole corpus juris of Islam relating to women needs to be seriously re-thought on the basis of Koran.” 386 Für die indische Gesellschaft fällt Engineer in seinem Kommentar zum Fall einer jungen Frau in Delhi, die 2012 in einem Bus Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde und an den Folgen starb, ebenfalls dieses Urteil. Der Fall sorgte weltweit für Aufsehen, da zum ersten Mal die indische Öffentlichkeit in solch einem Fall auf die Straße ging. Vgl. Rape and Punishment. 2013. 188 (Text Nr. 8, Islam, Women and Gender Justice.) Für die benachteiligte Stellung der Frau sei nicht der Islam verantwortlich, sondern die männliche Gelehrsamkeit. Engineer trennt auch hier klar zwischen der koranischen Botschaft, die er als gerecht beschreibt, und der Meinung der ulama, deren Position er im totalen Gegensatz zur koranischen Botschaft einordnet: „Who do they follow? Their own version of Islam or Qur’anic and Prophetic Islam? The Koran stands for complete equality in human dignity, freedom, duties and rights as far as women are concerned.” (Text Nr. 1, On a Muslim woman) 189 2.3 Reiseberichte: Wissenstransfer und innerreligiöse Kritik 2.3.1 Reise nach Afghanistan Engineer hat auf seinen Websites und in seiner Autobiographie über seine zahlreichen Reisen berichtet, die er in verschiedene Regionen der Welt unternahm. 387 Diese Reisen waren Vortragsreisen, Reisen zu Fachkonferenzen zum interreligiösen Dialog und zur überkonfessionellen Sozialarbeit. Neben seinen Reisen nach Europa, darunter auch nach Deutschland, reiste er in viele Länder mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung, wie beispielsweise im Juli 2011 nach Afghanistan.388 Diesen Text ziehe ich exemplarisch heran, um aufzuzeigen, wie Engineer sich im Austausch mit anderen islamischen Positionen befindet und wie er Wissenstransfer betreibt. Dies tut er, indem er sowohl in Afghanistan seine Position verteidigt, als auch auf seiner Website Informationen über das Land und seine Begegnungen verfasst und so eine andere Perspektive alternativ zu der in den Medien üblichen anbietet.389 2.3.2 Die Reise Engineer reiste im Sommer 2011 auf Einladung von Mawlawi Ataurrahman Saleem, dem Vorsitzenden des Afghanistan Academic and Islamic Research Centre in Kabul,390 nach Afghanistan, wo er den Norden des Landes bereiste.391 Nach Angaben Engineers wird die Organisation von ca. 300 ulama unterstützt. Das Ziel der Organisation beschreibt Engineer wie folgt: 387 Darin nehmen sie einen großen Raum ein. Vgl. Engineer: Living Faith, 111-333. Vgl. Engineer: My Afghanistan Visit. 2011. 389 Alle Zitate von Engineer stammen hier aus dem Reisebericht, es sei denn, es wird eine andere Quelle angegeben. 390 Meine Recherchen zu der Organisation und ihrem Vorsitzenden blieben weitgehend ergebnislos. 391 Er reiste in die nordöstliche Provinz Badakhshan, in der der Opium-Anbau weit verbreitet ist, ca. 600 km von Kabul entfernt. Hier beobachtete Engineer, dass die Menschen immer noch Sympathie für den ermordeten Führer der Nord-Allianz Shah Ahmad Masoud hegen. An vielen Orten sah er Porträts von Masoud. Vgl. Engineer: Afghanistan Visit. 388 190 „ (..) its primary purpose is to spread moderate and enlightening thoughts about Islam and hence have drawn up programme to invite prominent Ulama from different countries to interact with these ulama and also Government authorities.”392 In seinem Reisebericht schildert Engineer seine Begegnungen mit staatlichen und religiösen Autoritäten sowie die Reaktionen auf seinen Vortrag zum Thema Frau auf einer Konferenz für lokale Imame. Außerdem hielt er in der nordöstlichen Provinz Badakhshan, ebenfalls vor Imamen, einen Vortrag zur Drogenproblematik. Ein Großteil seines Berichts dreht sich folglich um diese beiden Themen, die auch in Afghanistan dominierend sind: die Situation der Frauen sowie der Drogenanbau, handel und -konsum. Er trifft den Berater des Premierministers, den stellvertretenden Minister für Waqf und Hajj, ebenso die stellvertretende Ministerin für Frauen, Syeda Mostafavi, sowie eine Journalistin und eine Multiplikatorin, verantwortlich für staatliche Programme zur Frauenförderung. Er stellt fest, dass sein Bild von Afghanistan von Vorurteilen und Stereotypen geprägt ist: „I had, like many others, certain wrong notions about Afghanistan. It is only my personal visit that I came to know reality about this troubled and much talked about country.” Er informiert aber auch über sein eigenes Land und die Situation der Muslime dort: „First of all I met Mr. Muhammad Ashraf Rasuli, Chief Advisor to the President of Afghanistan. (…) He too had very favourable opinion about India and its relations with Afghanistan. (…) I told him about Mulims in India, their problems as well as democratic rights they enjoy.” 392 In der Tat findet sich ein weiterer, in der Huffington Post erschienener Bericht eines amerikanischen Imam, Abdullah Antepli, der ebenfalls in diesem Jahr auf Einladung derselben Organisation nach Afghanistan reiste. Im Gegensatz zu Engineer greift Antepli zu drastischen Worten, um sein Entsetzen über die mangelhafte Ausbildung der afghanischen Imame, vor allem in Bezug auf ihre Ansichten über Frauen, zum Ausdruck zu bringen. Vgl. Antepli: An American Imam. In: Huffington Post. 27.09.2011. In Zusammenarbeit mit der George Mason University Washington fand im selben Jahr in der Türkei eine Fachkonferenz zur Friedensarbeit in Afghanistan statt, zu der zahlreiche Funktionäre und Imame eingeladen waren. Vgl. en.futurepeace.org/wpcontent/uploads/2012/06/booklet.pdf . 191 Engineer erfährt, dass man Indien als Freund und Pakistan als Feind wahrnehme. Engineers Kommentar ist eine Kritik an der von vielen Muslimen behaupteten Existenz des „Umma-Gefühls”:393 “So much for those who maintain that Islam unites. It is interest which unite or divide, not religion”. Er gibt an manchen Stellen, die Aussagen seiner Gesprächspartner unkommentiert wieder, ohne diese zu hinterfragen. „There is no internal conflict between these groups“. 393 Diese Kritik wiederholt er noch einmal eingehend in seinem Text Umma Wahida Remains Only an Emotional Slogan. 2010. 192 2.3.3 Frauen und Drogen Während dieser Reise hatte Engineer Gelegenheit, mit Frauen über die Situation der Frauen zu sprechen. Er stellt fest, dass es kaum fundierte Kenntnisse vor allem zur Rolle der Frau im Koran gibt, sowohl bei den Imamen, vor denen er spricht, als auch bei den Frauen, die in der Frauenarbeit tätig sind. „I talk to her about the situation fo women in Afghanistan which is rather worrisome. She says it is all on account of or narrow minded mullahs and maulavis. We are to great extent helpless. (…) I tell her about creating awareness among women by conducting workshop on their Qur’anic rights and I told her that I conduct such workshops regularly in India and it has produced good results. Creating awareness among women is perhaps more productive than changing orientation of theologians.” Er ist entsetzt über die Aussagen der Multiplikatorin für Frauenförderungsprogramme: “What is more shocking too many, though not all, women justify their low social status due to Qur’an and hadith. One woman (…) told me that Ulama tell us that we are naqis al-‘aql and naqis al-Iman (our reasoning power and our faith is weak and defective) and it is written so in Qur’an. I told her no such thing is written in Qur’an. On the contrary entire discourse about women is right-based in Qur’an and entire discourse about men is duty-based in Qur’an.” Diese, auch in der Theologie populäre Aussage, Frauen seien „von geringem Verstand und Glauben“ greift er auf und kritisiert sie. Auf dieser Reise soll Engineer auf dem Weg in die nordöstliche Provinz Badakhshan einen Vortrag über die Position der Frauen im Koran vor etwa 80 lokalen Imamen (ulama) halten: „I spoke on rights of women and quoted many verses from Qur’an to show gender equality (...) and also said that contrary to what is believed that women are naqis al‘aql and naqis al-iman (defective in reasoning and lesser in faith) women are in possession of same faculty of reasoning and have equally sound faith as men, perhaps more. This is merely cultural belief and have nothing to do with Qur’an.” Engineeer schreibt, dass das manche ulama aufgeregt habe: „This upset some ulama and became restless to reply to me. One ’alim came on stage and made emotional speech and accused me of being ignorant of Qur’an and Hadith. I was advised not to reply.” 193 Der Gastgeber muss eingreifen und beschwichtigen. Nach dem Ende der Rede kamen einige junge ulama zu Engineer und sagten ihm, dass sie seine Meinung teilten, was er so kommentiert: „It gave me relief that there are some Ulama who accept gender equality.“ 2.3.4 Drogen und ulama Die zweite Veranstaltung, bei der Engineer eine Rede halten soll, ist eine Konferenz mit dem Thema: Islam and Narcotics, in Badakhshan, nahe der tadjikischen Grenze, in der Opium angebaut wird. Mit dem örtlichen Gouverneur der Stadt spricht Engineer über die Drogenabhängigkeit in der Bevölkerung. Engineer zeigt sich überrascht, dass 25% der 6 Mio. Drogenabhängigen in Afghanistan weiblich seien: „This surprised me as it is, by any account, very high percentage of drug consumption among women in a highly conservative country like Afghanistan where women live under stringent control.” Er spekuliert, ob dieses repressive Leben wohl nicht zwangsläufig zu Depression und damit zum Drogenkonsum führe. Auch diese zweite Rede von Engineer vor etwa 300 Zuhörern provoziert kritische Reaktionen. Es geht offenbar darum, ob der Koran den Drogenanbau und –vertrieb erlaube, oder ob er lediglich Alkohol-, Drogenkonsum hingegen aber nicht verbiete. Offenbar werden hier religiöse, theologische Legitimationen durch die lokalen Imame und Gelehrten gesucht, um den in dieser Region florierenden Drogenanbau zu legitimieren. „First I tried to remove the confusion that only liquor has been prohibited in Qur’an. (…) Liquor is called khamr in Arabic and which means something that covers. (…) Narcotics also produces inebriation and hence is khamr. (…) Also there is debate 194 among some theologians that production of drugs is not sin though its consumption is.” Engineer muss damit gerechnet haben, dass es überwiegend ablehnende Reaktionen, vor allem in Bezug auf seine Aussagen zu den Frauen, geben würde. Die Ereignisse dazu schildert er zwar, kommentiert diese aber eher verhalten oder, zwar selten, spitz. Wie beispielsweise hier: „Surprisingly in a tradition bound country like Afghanistan drinks like Coca Cola, 7up etc. are very popular and are widely consumed. This is impact of American culture. We accept such changes easily but resist any change as far as women’s liberation is concerned.” 195 2.4 Themenkomplex Säkularismus 2.4.1 „Is Islam compatible with secularism?” (Text Nr. 1, Islam and Secularism) Engineer schreibt einerseits über den Säkularismus in Indien und andererseits über die Beziehung von Säkularismus und Islam. Wie in seinen anderen Texten, greift Engineer zudem Stereotype und allgemeine Annahmen über das Verhältnis des Islam zu Säkularismus und Demokratie auf, um auf diese zu reagieren. 394 Engineer führt sie wie folgt auf: 1. Islam is not compatible with democracy. 2. Islam is not compatible with secularism. 3. Secularism is unislamic because it is atheism. 4. In Islam religion and politics cannot be separated. Er ist sich bewusst, dass Säkularismus in Indien etwas anderes bedeutet als beispielsweise in Europa. Dies führt er auf die historische Genese und ihren historischen Kontext zurück, innerhalb dessen er die jeweiligen Konzepte verortet. In seiner Entstehung sieht er Säkularismus im Westen als Folge des Kampfes gegen die Kirche, während er ihn in Indien als Folge des Kampfes gegen den Kolonialismus definiert. In seinen Texten geht er der Frage nach, ob Islam und Säkularismus/Demokratie miteinander vereinbar seien. Diese Frage(n) stellen viele Muslime an religiöse Autoritäten, wie beispielsweise Yusuf al-Qaradawi, oder auch andere Gelehrte, die sich häufig der Aussage Qaradawis anschließen. Qaradawis Position ist genau jene, die Engineer angreift, ohne sie als Qaradawis Position kenntlich zu machen. Das mag daran 394 Diese Stereotype und Annahmen werden sowohl von Muslimen als auch von Nichtmuslimen geteilt. 196 liegen, dass sie keine für Qaradawi genuine Position zum Thema sein dürfte, sondern eine unter Muslimen weitverbreitete Auffassung. Es mag aber auch an Engineers genereller Vorgehensweise liegen, Positionen als Grundsatzfragen zu diskutieren. Qaradawis Meinung zum Thema wird aus seinem Buch al-Hulūl almustawradah wa kayfa janat ‘alā ummatinā (dt. Wie die importierten Lösungen unserer Umma schaden) zitiert. In diesem kurzen Abschnitt erklärt Qaradawi, warum Islam und Säkularismus nicht vereinbar seien, und warum Letzteres ein Konzept für christliche Länder sei. Hierfür betreibt er sogar Bibelexegese und zieht Verse aus der Bibel heran. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es Säkularismus in einer islamischen Gesellschaft nicht geben könne.395 Die Frage und Qaradawis Antwort findet sich auf vielen Websites, auf denen Gläubige, Fragen an religiöse Autoritäten stellen können,396 wie beispielsweise die oben Genannte unter der Überschrift How Islam views secularism.397 Der Fragende wird als Khalid aus Algerien identifiziert. Er fragt: „Dear Sheikh! As-Salam ‘Alaykum! We always hear that secularism is the mode dominating most systems in present day world. How does Islam view secularism?” Bevor Qaradawi zitiert wird, beschreibt der nichtidentifizierte Betreiber der Website den Islam als holistisches, allumfassendes System: „First of all, it is to be noted that Islam, being Allah’s final message to humanity, is a comprehensive system dealing with all spheres of life; it is a state and a religion, or government and a nation; it is a morality and power, or mercy and justice; it is a 395 Eine Schlussfolgerung, zu der auch nichtmuslimische Stimmen kommen. Minkenberg/Willems diskutieren diese Position. Vgl. Minkenberg/Willmes: Neuere Entwicklungen. In: APuZ. B4243/2002. 396 Wobei nicht immer klar ist, wie sich diese Autorität zusammensetzt. 397 Die folgenden Zitate sind dieser Website entnommen: www.onislam.net/english/ask-the-scholar/ideologies-movements-and-eligions/175438.html Weiteres Online-Fatwa, das die Aussagen von Qaradawi aufgreift und als Beleg anführt hier: www.onislam.net/english/ask-about-islam/islam-and-the-world/worldview/167497-islam-vssecularism.html und hier auf einer indonesischen Seite (The Fatwa Managment System) wird das Posting vom 22.06.2002 von der Website Islam online wiederholt: www.einfad.my/FMS_en/index.php?option=com_fatwa&task=viewlink&link_id=1517&Itemid=59 , sowie in einem Blog http://maqasid.wordpress.com/2008/05/13/dr-al-allamah-al-qaradawi-islam-and-secularism-2/ 197 culture and a law or knowledge and jurisprudence; it is material and wealth, or gain and prosperity; it is Jihad and a call, or army and a cause and finally, it is true belief and worship.” Nach dieser Vorbemerkung werden Qaradawis Überlegungen zitiert: „Secularism may be accepted in a Christian society but it can never enjoy a general acceptance in an Islamic society. (…) For this reason, 398 the call for secularism among Muslims is atheism and a rejection of Islam. Its acceptance as a basis for rule in place of Shari’ah is a downright apostasy.“ [Fußnote FS] Engineer greift diese Meinung auf und bezeichnet sie als assertions, also Behauptungen: „We would examine here whether these assertions are true and whether Islam is really incompatible with secularism.“ (Text Nr. 1, Islam and Secularism) Er ordnet sie als orthodox ein: „ (…) secularism is totally rejected by orthodox Muslims. They also think that secularism is atheistic, and atheism has no place whatsoever in Islam.” (Text Nr. 1, Islam and Secularism) Säkularismus, so argumentiert Engineer beispielsweise in Text Nr. 1 dieses Themenkomplexes, habe charakteristische Merkmale wie Rationalismus, Menschenrechte, Trennung von Staat und Religion, die sich auch im Koran wiederfänden. Säkularismus und Religion sollten nicht als Widerspruch wahrgenommen werden. Säkularismus sei als ein politisches Konzept zu verstehen, nicht ein philosophisches: „Sacral and secular should not be treated as two poles or antagonistic contradiction. They are rather complimentary to each other. (…) Secularism should be taken in political rather than philosophical sense.” (Text Nr. 1, Islam and Secularism) 398 Qaradawi führt einen Auszug aus Vers 2:140 an (dt. Wisst Ihr es besser oder Gott?). Dieser Versauszug dient ihm als Grundlage für seine Argumentation. 198 2.4.2 Religion und Politik Engineer befasst sich in seiner Auseinandersetzung mit Säkularismus/Demokratie mit der allgemein bekannten These, im Islam gehörten Staat und Religion bzw. Politik und Religion untrennbar zusammen. Er kommt zu dem Schluss, dass dies keine dem Wesen des Islam inhärente Aussage sein könne, sie sei kein theologisches sondern ein historisches Konzept:399 The doctrine that religion and politics cannot be separated in Islam is a later historical construct rather than the Qur’anic doctrine. It is human construct rather than a divine revelation.” (Text Nr. 1, Islam and Secularism) Im Koran gebe es kein Konzept von „Staat“ und der Koran würde sich auch nicht zur Trennung oder respektive Einheit von Staat und Religion äußern: „Another question relates to the separation of state and religion. Muslims generally believe that it is not possible to separate Islam and state. This belief has acquired almost doctrinal status among Muslims. However, it has no such doctrinal position in the Koran.” (Text Nr. 1, Islam and Secularism) Der Koran äußere sich nicht zu einem concept of state, wohl aber zu the concept of a just society. Dazu gehörten die universellen Menschenrechte, die der Koran bestätige: „The other characteristic of secular democracy is a respect for human dignity and human rights. The Koran expressly upholds both.” (Text Nr. 1, Islam and Secularism) 399 Die Kritik an dieser Aussage teilen auch Andere. Dietrich Jung stellt fest, dass die durch den Orient-Wissenschaftler Bernard Lewis in seinem Buch Die politische Sprache des Islam „behauptete Einheit von Religion und Politik ein nahezu unumstößliches Axiom in der öffentlichen Debatte über die islamische Welt [repräsentiert].“ Jung: Religion und Politik, 1. Diese Behauptung genießt sowohl eine Popularität in westlichen Medien und zum Teil in der Wissenschaft, als auch unter Islamisten. Vgl. Jung: Religion und Politik. In: APuZ, 1. Jung kommt nach seiner Analyse von vier Argumentationsgruppen, die bei der behaupteten Einheit von Religion und Politik im Islam, eingesetzt werden, wie etwa die „ideale islamische Gemeinde von Medina“, der Koran als Verfassung oder die „Scharia-Debatte“, zu dem Schluss, dass „das Axiom einer nahezu organischen Einheit von Politik im Islam sich weder mit Rückgriff auf die medinensische Epoche noch mittels der Quellen der Offenbarung, aus der islamischen Geschichte oder mit Hilfe des islamischen Rechts eindeutig begründen [lässt]. (…) Die Behauptung, dass im Islam eine Trennung staatlicher Herrschaft und religiöser Ordnung nicht möglich sei, entbehrt jeder historischen Grundlage. Sie reduziert die kulturelle Vielfalt und historische Komplexität der islamischen Zivilisation auf die imaginäre Einheit „des Islam““. Jung sieht diese Behauptung weniger als Resultat „historisch angeleiteter Analysen als ein Ausdruck des essenzialistisch reduktionistischen Denkens islamistischer Ideologen und westlicher „Islamologen“. Jung: Religion und Politik. In: APuZ, 11. 199 Mehr noch, habe der Koran dies bereits von Anbeginn als Wert vertreten: „Throughout the world today there is increasing emphasis on harmonious coexistence of different religious faiths and Islam had inculcated this spirit from the very beginning of revelation of the Koran.” (Text Nr. 1, Islam and Secularism) 2.2.3 Islam und Demokratie Text Nr. 10 dieses Themenkomplexes ist ein Grundsatzpapier, welches Engineer verfasste, nachdem er eine Debatte im Internet verfolgt hatte. In diesem Text greift er zehn Fragen auf, die sich rund um den Islam in der Gegenwart drehen, und versucht, Antworten auf sie zu finden. An dieser Stelle greife ich einige seiner Erklärungen auf, um seine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex aufzuzeigen: „The first question is whether Islam is incompatible with democracy. It is certainly not. In fact even if one goes by religious text the Qur'an lays emphasis on what it calls shura' (consultation) (3:159, 42:38). Even the messenger of Allah is required to consult his people in worldly matters and Muslims are required to consult each other in their secular affairs.” (Text Nr. 10, Is Islam Compatible) Engineer führt das Schura-Prinzip400 als Begründung für seine Meinung an und liefert die entsprechenden Koranverse (3:159, 42:38). Doch er geht darüber hinaus und übersetzt Schura als democratic consultation. Allerdings ist der sogenannte Schura-Vers Vers 42:38. Engineer schlägt vor, dass man ihn mit 3:159 und 4:49 zusammen lesen sollte, um Machtmissbrauch zu vermeiden: „Some people try to use the Qur'anic verse 4:59 to justify obedience to any kind of authority including a monarch or a caliph or a military dictator. It is certainly not the spirit of the Qur'anic verse. One has to see it in historical background.” (Text Nr. 10, Is Islam Compatible) Er schlägt eine neue Bezeichnung des Schura-Prinzips vor: 400 Zur Rezeption und Deutung dieses Prinzips und den damit zusammenhängenden Koranversen siehe weiterführend Badry: Zeitgenössische Diskussion. 1998; Krämer: Gottes Staat. 1999. 200 „In contemporary world the concept of shura' should mean democratic process and constitution of proper democratic institutions of which elections are a necessary requirement. In Islam any authority forcibly constituted or acquired by power of swords or arms can have no legitimacy whatsoever.” (Text Nr. 10, Is Islam Compatible) Aber wie erklärt sich Engineer das Fehlen von Demokratie in nahezu allen islamischen Ländern? „Thus the absence of democracy in Muslim countries is by no means on account of Islamic teaching or the incompatibility of democracy with Islam but due to a host of factors: political, historical and cultural. (…) Intolerance in Muslim societies today is more political than religious. Islam is not intolerant of any other religion including that of kufr (unbelief) if it agrees to co-exist peacefully and harmoniously. Thus Islam and pluralism always go together.” (Text Nr. 10, Is Islam Compatible) Modernität und Islam sieht Engineer nicht im Widerspruch, sondern er findet Anknüpfungspunkte im Heiligen Text: „In fact democracy and modernity go hand in hand and one can hardly be modern without being democratic. (…) However, lack of modernity in Muslim countries is not on account of Islamic teachings but more due to its medieval interpretation. Islam can not only come to terms with modernity but its teachings were quite modernistic if one goes by the Qur'anic pronouncements. Qur'an encourages pluralism if one goes by the verses like 5:48, 6:109, 60:8 etc. All these verses are quite supportive of pluralistic social structure.” (Text Nr. 10, Is Islam Compatible) 201 2.4.4 Exkurs: Säkularismus in Indien Der indische Staat bezeichnet sich gemäß Verfassung als Sovereign Socialist Secular Democratic Republic. Das Wort secular fand erst 1976 durch den 42. Zusatz Eingang in die Präambel der Verfassung. 1978 unternahm die regierende JanataPartei401 einen Versuch, die „säkulare Republik als Staat zu definieren, in dem allen Religionen gegenüber gleicher Respekt entgegengesetzt wird.“ 402 Allerdings scheiterte der Versuch, da man sich nicht auf eine gemeinsame Definition des Terminus säkular einigen konnte. Ein weiterer Vorstoß blieb 1988 erfolglos, als man die Trennung von Staat und Religion sowie den Staat für unparteiisch gegenüber Religionen erklären wollte. Religiösen Organisationen sollte es verboten sein, sich in politischen Aktivitäten zu engagieren.403 Da dieser Initiative scheiterte, ist bis heute keine Definition von säkular in der indischen Verfassung vorzufinden. Eine etablierte Staatsreligion wird ebenfalls nicht aufgeführt. Der indische Staat lehnt gemäß seinem Selbstverständnis Religion nicht ab, sondern, er soll alle Religionen gleich behandeln.404 Bhargava hat dieses Selbstverständnis in seinem theoretischen Modell des indischen Säkularismus aufgegriffen und es als principled distance405 bezeichnet. Der Staat darf sich gemäß diesem indischen Modell in die Belange der Religionen einmischen „mit dem Ziel sozialer Reformen.“406 Beispielsweise gewährleistet Artikel 25 der indischen Verfassung die Religions- und Bekenntnisfreiheit. Artikel 25 Abs. 2 erlaubt es hingegen kastenlosen Hindus, einen Tempel zu betreten, entgegen etablierter hinduistischer Lehre. 407 Weitere Fälle 401 Janata Party (1977-2013), aus einer Reihe von Splittergruppen ging schließlich 1980 die BJP hervor, die hindu-nationalistische Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Modi. 2013 löste sich der verbliebene Rest der Janata Party in der BJP auf. 402 Das, I.: Staat und Religion, 34. 403 Vgl. Das, I.: Staat und Religion, 34. 404 Vgl. Das, I.: Staat und Religion, 36. 405 Bhargava: Political Secularism. In: Soziale Ungleichheit, 370. 406 Das, I.: Staat und Religion, 36. 407 Vgl. Das, I.: Staat und Religion, 37 und weitere Beispiele aus Rechtsfällen. 202 zeigen die Intervention des (säkularen) Staates in religiöse Angelegenheiten deutlich, sei es in seinem Versuch, zu definieren, was Religion sei 408 oder durch die Heranziehung religiöser (Rechts)quellen zur Urteilsfindung409 oder sei es durch seine Definition dessen, was wesentlicher Bestandteil der Religion sei.410 Der indische Säkularismus versteht sich selbst als Garant für ein friedliches Zusammenleben der hinduistischen Majorität und der verschiedenen nichthinduistischen religiösen Minoritäten. Damit unterscheidet sich das indische Modell in seinem Selbstverständnis wesentlich von Konzepten des Säkularismus in Nordamerika und Nord-Westeuropa. Dieses von Nehru und zum Teil auch durch Gandhi geprägte Selbstverständnis ist im historischen Umfeld der Indischen Teilung und darauffolgenden Unabhängigkeit rund um das Jahr 1947 verortet. Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru vertraten gegensätzliche Auffassungen von Religion. Gandhi verstand sich selbst als tiefreligiösen Menschen, für den Religion allerdings „a personal affair“411 war, in die der Staat sich nicht 408 Vgl. Das, I.: Staat und Religion, 48 ff. Beispielsweise kommt das High Court Calcutta in der Frage, ob es ein Bilderverbot im Islam gebe und daher Muslime sich weigern dürften, Fotos von sich aufnehmen zu lassen, nach eingehender Sichtung der entsprechenden Koranverse, die ihm vorgelegt wurden, zu dem Schluss, dass ein Bilderverbot aus dem Koran nicht abzuleiten sei. Während das High Court Andhra Pradesh unter Ausschluss von Koranversen und ausschließlicher Konsultation von islamischen Rechtslehrwerken zu genau dem entgegengesetzten Urteil kommt. Vgl. Das, I.: Staat und Religion, 58. 410 Vgl. Das, I.: Staat und Religion, 54 ff. Siehe hier besonders S. 54: 1958 wies das Supreme Court die Klage eines Muslims gegen das Verbot des Schlachtens von Kühen nach der Prüfung entsprechender Koranverse mit der Begründung ab, „dass diese keine unausweichliche Pflicht zur Opferung einer Kuh begründeten, sondern dem Gläubigen die Wahl zwischen der Schlachtung einer Kuh oder eines Kamels“ ließen. Das Schlachten einer Kuh sei nicht wesentlicher Bestandteil des Islam urteilte das Gericht. Vgl. Das, I.: Staat und Religion, 54. 411 Gandhi zitiert in Tambiah: Crisis. In: Bhargava (Ed.): Critics, 421. Tambiah stellt sowohl Gandhis als auch Nehrus Position zum Verhältnis von Staat und Religion dar und diskutiert diese kontrastiv. Vgl. 420 ff. Dies ist im Hinblick darauf interessant, dass sich in der gegenwärtigen Säkularismusdebatte in Indien einzelne Positionen sowohl auf diese zurückverfolgen, als auch in Abgrenzung zu diesen beiden Meinungen positionieren lassen. Viele Intellektuelle sehen sich in ihrer Auffassung in der Tradition von Nehru und/oder Gandhi, wie beispielsweise Engineer dies in seiner Selbstdarstellung ebenfalls tut, er bezeichnet sich als Gandhian, in einem Portfolio, das ich auf Anfrage vom CSSS erhielt. Die hier dargestellte Sicht auf und Definition von Säkularismus durch die „Väter“ der indischen Nation ist im Land selber heftig umstritten und wird durch verschiedene Kreise kritisiert. Dazu gehören solche Intellektuelle, die sich als „anti-secularist“ (Nandy) bezeichnen als auch Vertreter und Sympathisanten des Hindunationalismus. Die Kritik durch beide diskutiert Tambiah im oben genannten Band 418-53. Im selben Band diskutiert und kritisiert Belgrami die Positionen der Säkularismus-Kritiker Nandy und Madan ausführlich 380-417). 409 203 einzumischen hatte, während Nehru institutionalisierte Religion als Übel aller communal riots sah und sich als Agnostiker verstand.412 Allerdings vertraten sie in Bezug auf das Verhältnis des indischen Staates zu Religion dieselbe Meinung.413 Beiden waren die Spannungen und Konflikte rund um die Teilung und damit zusammenhängend um das Verhältnis von Hindu-Majorität und Muslim-Minorität bewusst und beide hatten das friedliche Zusammenleben innerhalb einer neuen Nation als gemeinsames politisches Ziel. Tambiah führt hier in zwei Zitaten die Position von Gandhi: „India cannot cease to be one nation, because people belonging to different religions live in it…In no part of the world are one nationality and one religion synonymous terms; nor has it ever been so in India.”414 und Nehru an: „I am convinced that the future government of free India must be secular in the sense that government will not associate itself with any religious faith but will give freedom to all religious functions.”415 Wie diese Auffassung pragmatisch aussehen sollte, blieb und bleibt bis heute diffus. Selbstverständlich drängt sich die Frage auf, ob dieser Umstand in Variationen nicht generell für das Verhältnis von Staat und Religion gilt, berücksichtigt man die Diskussionen, die auch außerhalb Indiens zu dieser Frage in den „Geburtsländern“ des Säkularismus geführt werden, wie zum Beispiel in Deutschland und Frankreich. Die indische Kritik am Säkularismus zielt unter anderem auf die fremde Herkunft des Säkularismus als ein der indischen Tradition fremdes Konstrukt, das die Besonderheiten der indischen Gesellschaft und ihrem Verhältnis zu Religion 412 Vgl. Tambiah: Crisis. In: Bhargava (Ed.): Critics, 426. Sowie Nehru zit. in Fußnote 12, ebd. 413 Tambiah: Crisis. In: Bhargava (Ed.): Critics, 421. 414 Gandhi zit. in Tambiah: Crisis. In: Bhargava (Ed.): Critics, 421. 415 Nehru zit. in Tambiah: Crisis. In: Bhargava (Ed.): Critics, 422. 204 ignoriere.416 Die Frage, wie der Umstand bewertet und eingeordnet werden soll, dass sich der Staat zwar zur Neutralität gegenüber allen Religionsgemeinschaften in Indien verpflichtet, aber sich gleichzeitig das Recht herausnimmt, in einzelne religiöse Auffassungen und Praktiken zu intervenieren, wenn er zu der Überzeugung gelangt, dass diese negativ und schädlich seien, bleibt virulent. Das „indische Modell“417 gemäß Rajeev Bhargava Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht für den Politikwissenschaftler Rajeev Bhargava die Frage, ob Menschen verschiedenen Glaubens friedlich zusammenleben können. Als Auftakt für seine Überlegungen nennt Bhargava die Zerstörung der Babri Moschee im nordindischen Ayodha. Diese Zerstörung sowie die darauf folgenden blutigen Übergriffe auf Muslime sind für Bhargava nicht nur Angriffe auf den gesellschaftlichen Frieden, sondern sie haben bei vielen Menschen auch den Säkularismus als Garant für diesen Frieden in Frage gestellt. 418 Das „indische Modell“ charakterisiert Bhargava wie folgt. 419 Es beinhalte eine Vielfalt an Werten, beschäftige sich sowohl mit interreligiösen als auch intrareligiösen Deutungen, es folge einer prinzipiengeleiteten Distanz, es sei Religion nicht feindlich gesonnen, aber kombiniere „active hostility to some aspects of religion (…) with active respect for its other dimensions”. Dieses Modell ermögliche es, dass verschiedene Gesellschaften, ihre eigenen Säkularismen entwickeln könnten: 416 Beispielsweise durch den Soziologen Ashish Nandy, Mitbegründer der Postcolonial Studies, und den Anthropologen Trilok N. Madan. Siehe Madan: Secularism in its Place; Nandy: Politics of Secularism; sowie Chatterjee: Secularism and Tolerance. Alle Beiträge in Bhargava (Ed.): Critics. 1998; sowie hier: Nandy/Nayar/Subrahmanyam: Säkularisierung oder Säkularismus?In: Internationale Politik. 2005. 64-9. 417 Bhargava: Säkularer Staat, 117. 418 Vgl. Bhargava: What is Secularism. In: Bhargava (Ed.): Critics, 486. 419 Bhargava hat an zahlreichen Stellen sein Konzept des indischen Säkularismus dargelegt. Beispielsweise in Grundzügen in Secularism and its Critics. 1998, Political Secularism. 2004, Distinctiveness of Indian Secularism 2006, Säkularer Staat und multireligiöse Gesellschaft. 2010. Vgl. Bhargava: Political Secularism, 370. Die charakteristischen Merkmale gebe ich hier paraphrasierend in ihren wichtigsten Aspekten wieder. 205 „ (…) it breaks out of the rigid interpretative grid that divides our social world into the western modern and traditional, indigenous non-western. Indian secularism is modern but departs significantly from mainstream conceptions of western secularism.” 420 Der entscheidende Schlüsselbegriff zum Verständnis dieses Modells sind principled distance/prinzipiengeleite Distanz. Demnach muss der Staat: „(…) um der gleichermaßen bedeutsamen, zuweilen widerstreitenden Werte von Frieden, diesseitigen Gütern, Würde, Freiheit und Gleichheit willen (in all ihren komplizierten individualistischen und nicht-individualistischen Ausprägungen) – eine prinzipiengeleitete Distanz zu allen öffentlichen oder privaten, auf Individuen oder Gemeinschaften ausgerichteten religiösen Institutionen halten. Der indische Säkularismus ist folglich eine ethisch abwägende, ausgehandelte Übereinkunft zwischen verschiedenen Gruppen und divergierenden Werten.“421 [Hervorhebung FS] Dass diese tatsächliche Verschränkung, die Bhargava als principled Distance/prinzipiengeleitete Distanz bezeichnet, zwischen Staat und religiösen Institutionen zu Dilemmata und zahlreichen Fragen führen muss, liegt in der Natur der Sache. Diese Distanz muss offenbar verhandelbar bleiben. So erklären sich auch die vom Staat selbst, gemäß Bhargavas Verständnis, als Korrektive verstandenen Interventionen in religiöse Belange, die verschiedene Artikel und Zusätze in der indischen Verfassung regeln. Während Art. 25 beispielsweise die Religionsfreiheit festlegt, führt Art 25 Abs. 1 bereits Schrankenbestimmungen auf, die diese einschränkt, bzw. die Rechte des Staates zur Intervention legitimiert, wenn er beispielsweise „Handlungen, die aus einer religiösen Überzeugung resultieren und möglicherweise die Gesundheit der Bevölkerung beeinträchtigen“ 422 als gegeben sieht. Dazu gehört z.B. auch die zwangsweise Durchführung von Bluttransfusionen bei Patienten, die dies aus Gründen der religiösen Überzeugung (beispielsweise 420 Bhargava: Political Secularism, 370. Bhargava: Säkularer Staat. In: Transit 39, 119. 422 Das, I: Staat und Religion, 63. 421 206 Zeugen Jehovas) ablehnen.423 Das Recht auf Exkommunikation eines Mitgliedes durch das Oberhaupt einer Glaubensgemeinschaft ist ebenfalls durch die Verfassung geschützt, wenn die Exkommunikation „wesentlicher Bestandteil der religiösen Lehren“424 dieser Glaubensgemeinschaft ist.425 Die indische Kritik am Säkularismus Kritik wird, wie oben bereits aufgeführt, nicht nur von Hindu-Nationalisten vorgetragen.426 Amartya Sen erläutert und diskutiert diese detailliert.427 Diese sind: 428 1. „Non-Existence”: Damit bezeichnet Sen die Meinung, die er exemplarisch durch westliche Journalisten vertreten sieht, dass indischer Säkularismus generell als nichtvorhanden betrachtet werde: „Indian protestations about secularism are often seen in the West as sanctimonious nonsense (…)”429, so dass Indien häufig als „Hindu-India“ versus „Muslim-Pakistan“ bezeichnet. 423 Das, I: Staat und Religion, 63. Weitere gesetzliche Bestimmungen zum Interventionsrecht des Staats siehe Das, I: Staat und Religion, 65 ff und passim. 424 Das, I: Staat und Religion, 103. 425 Diese Frage stellte sich erstmals 1962 für die Dawoodi Bohra, aus dessen Glaubensgemeinschaft Engineer stammt und aus der er ausgeschlossen wurde. Der Bombay Prevention of Excommunication Act von 1949 sieht das Recht auf Exkommunikation nicht als Bestandteil der Religion an, da eine Exkommunikation beispielsweise auch zur Folge haben konnte, dass den Betroffenen der Besuch religiöser Stätten, religiöse Praxis sowie die Bestattung verwehrt blieb, also elementare Individualrechte bedroht waren. Dieses Gesetz von 1949 hob der Supreme Court auf. Exkommunizierte Bohras haben immer noch Klagen anhängig, die alle zu Ungunsten der Kläger ausgingen. Vgl. Kapitel Religiöser Hintergrund. Weiterführend im Detail dargestellt und diskutiert bei Das, I.: Staat und Religion,103 f. 426 Vgl. Sen: Secularism Discontents. In: Bhargava (Ed.): Critics, 455. Smith, D.E. stellt im selben Band die Debatte um Indien als säkularen Staat dar, im Anhang Texte der einzelnen Verfassungsartikel. Obwohl dieser Text eine Zusammenfassung seines gleichnamigen Beitrags von 1963 ist, ist er hilfreich im Hinblick auf die frühe Debatte. Man blende für eine kurze Weile die Annahme des Autors aus, dass Hinduismus generell eine tolerante Religion sei. Vgl. Smith, D.E.: India. In: Bhargava (Ed.): Critics. 177-233. Worauf Madan im selben Band antwortet. Siehe Madan: Secularism in its Place. In: Bhargava (Ed.): Critics. 297-315. Im selben Band setzt sich Tambiah mit der Hindunationalistischen Bewegung versus säkularem Staat auseinander. Siehe Tambiah: Crisis. In: Bhargava (Ed.): Critics, 445 ff. 427 Sen: Secularism and its Discontents. In: Bhargava (Ed.): Critics. 454-85. 428 Sen: Secularism Discontents. In: Bhargava (Ed.): Critics, 454 ff. 429 Sen: Secularism Discontents. In: Bhargava (Ed.): Critics, 458. 207 2. „Favouritism”: Ein populäres Argument unter Hindu-Nationalisten besage, dass Säkularismus lediglich ein Deckmäntelchen sei, unter dem die muslimische Minderheit auf Kosten der Hindu-Mehrheit bevorzugt werden würde.430 3. „Prior Identity”: Unter diesem Stichwort fasst Sen die Annahme zusammen, dass vor einer gemeinsamen indischen Identität eine „Muslim Identity“ oder „Hindu Identity“ komme.431 4. „Muslim Sectarianism”: Sen versteht darunter die Annahme, dass das Versagen der Muslime, sich in Indien zu integrieren, dazu geführt habe, dass Hindus sich gezwungen sahen, indische Identität als dominant hinduistisch zu betrachten. Jinnahs Zwei-Nationen-Theorie werde als Fortsetzung der behaupteten muslimischen Verweigerung zur Integration gesehen, sowie für die in Indien verbliebenen muslimischen Inder als Beweis für ihre Illoyalität herangezogen.432 5. „Anti-Modernist”: Diese kombinierten in Indien ihre Kritik am Säkularismus mit einer Sehnsucht nach der Vergangenheit, die weniger problematisch im Umgang mit der heterogenen religiösen Landschaft in Indien gewesen sei. 433 6. „Cultural”: Diese Kritik gehe davon aus, dass Indien ein genuin hinduistisches Land sei, daher könne und dürfe man Hinduismus nicht genauso behandeln wie die anderen Religionen des Landes: 430 Vgl. Sen: Secularism Discontents. In: Bhargava (Ed.): Critics, 458 Vgl. Sen: Secularism Discontents. In: Bhargava (Ed.): Critics, 458 f. 432 Vgl. Sen: Secularism Discontents. In: Bhargava (Ed.): Critics, 459. 433 Vgl. Sen: Secularism Discontents. In: Bhargava (Ed.): Critics, 459 f. 431 208 „It is Hinduism, in this view, that makes India what it is, and to require secularism, with its insistence on treating different religions symmetrically, must turn an epistemic error into a political blunder.“434 Zur Abgrenzung von diesen Aussagen sowie meines Erachtens, um eine indische Identität zu betonen und um zu signalisieren, dass indische Muslime Teil der indischen Gesellschaft und Nation sind, betont Engineer den Aspekt Säkularismus besonders. Dies ist deutlich erkennbar, wenn er sich zu innerindischen Angelegenheiten äußert, beispielsweise in Text Nr. 9/Themenkomplex Zusammenleben.435 In diesem Artikel nimmt Engineer Stellung zur Aufforderung des Vorsitzenden der Vishva Hindu Parishad, einer Hindunationalistischen Organisation, die auch als World Hindu Council bezeichnet wird, Muslime in Indien sollten Indien nicht mehr als dār ul-harb (dt. in etwa Territorium des Krieges) ansehen, sondern zum dār ul-aman (dt. in etwa Territorium der Sicherheit)436 erklären. Engineer zieht historische Belege und theologische Erklärungen heran, um zu begründen, warum seiner Meinung nach diese Aufforderung hinfällig sei. Schließlich weist er auf den säkularen Charakter des indischen Staates hin: „Also, in secular democracy like India every one has right to live unconditionally. Perhaps Shri Singhal has never believed in secular democratic culture and hence he wants to lay down conditions for minorities to live in India. Entire Sangh Parivar [Hindunationalistische Dachorganisation, Anm. FS] has been doing this and is becoming of late shriller in this respect.” (Text Nr. 9/Zusammenleben, India is Darul Aman) Zu guter Letzt fühlt sich Engineer offenbar doch gezwungen, seine Loyalität als muslimischer Inder zu Indien zu erklären: 434 Sen: Secularism Discontents. In: Bhargava (Ed.): Critics, 460. Vgl. Engineer: India is Darul Aman, Mr. Singhal. 2009. 436 Beide Termini entstammen dem islamischen Minderheitenrecht. 435 209 „Let me once again reiterate for Shri Singhal that Muslims and other minorities have always considered India as Darul Aman and all of them have strong sense of loyalty to this great country which is their only homeland.” (Text Nr. 9/Zusammenleben, India is Darul Aman) Für Engineer ist der politische Säkularismus, den der indische Entwurf vorsieht, ein Garant für den gesellschaftlichen Frieden, vor allem zwischen den Religionsgemeinschaften. Der Staat nimmt sich demnach das Recht, regulierend in religiöse Angelegenheiten einzugreifen und die Rechte der verschiedenen Religionsgemeinschaften gleichermaßen zu schützen. Inhaltliche oder systemische Widersprüche oder Fragen stellen sich für Engineer dabei nicht. Im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zu Säkularismus drängt sich die Frage nach Engineers Verständnis von Religion auf. 210 2.5. Themenkomplex Religion Der von Waardenburg entworfene „vorläufige Religionsbegriff“437 ist zwar weit gefasst, allerdings eng genug, um der Frage nachzugehen, welche Funktion Religion in der Gesellschaft und für das Individuum hat, und um zu verstehen, wie der Einzelne Religion persönlich definiert, welche Inhalte, Rituale, Definitionen und Kerngedanken er Religion zuweist. Engineers Religionsverständnis weist Übereinstimmungen mit dieser Definition auf. Er unterscheidet unter anderem durch die Verwendung der arabischen und englischen Termini zudem zwischen Religion als Institution (arab. dīn, engl. religion) und Glaube (arab. īmān, engl. faith) im Sinne von innerer Überzeugung, wobei er die persönliche, werteorientierte Religiosität und Überzeugung in den Vordergrund stellt, institutionalisierte Religion hingegen als Autorität und Deutungsinstanz ablehnt. Der Glaube ist für Engineer die Antriebskraft für sein Handeln. Er kommt in seinem Verständnis einher mit der Freiheit der Meinungsäußerung. Die besondere Stellung des Glaubens im Denken Engineers wird an zahlreichen Stellen seiner Texte deutlich, wie etwa in Text Nr. 3 dieses Themenkomplexes: (…) That is why in Qur’an there is so much emphasis on what is called iman which is roughly translated as faith. Faith gives inner satisfaction but blind faith on one hand, and faith without freedom to inquire is a barren faith, a serious obstacle for change and progress. (…) Once we acquire faith after critical inquiry, it becomes a dynamo for action. One cannot act without faith. (…) What we have to reject is not faith per se but various accretions which keep on occurring from superstitious beliefs, cultural practices and external traditions and restore genuine faith after critical inquiry and only such a faith will become impetus for action.” (Text Nr. 3, Religion as Faith) Religion sei als Identitätsbezeichnung schädlich, da es nur noch um die Deutungshoheit und den Anspruch um die absolute Wahrheit ginge: 437 Waardenburg: Religionen, 34 f. Vgl. Kap. 1.6 dieser Arbeit (Anmerkungen zur verwendeten Terminologie) Abschnitt b (Was ist Religion?). 211 “The believer also find his/her own benefits in religion as an instrument of identification. ‘I am a Muslim’ or ‘I am a Hindu’ no more remains a statement of faith and action or a powerful factor for change in keeping with its principles and values but as an instrument of material benefits or control over establishment. (…) Faith is thus no more dynamo for action according to inner certitude but an instrument of controlling establishments. Thus a truly religious person or a faithful has to be subversive, subversive of establishment.“ (Text Nr. 3, Religion as Faith) Die übermäßige Konzentration auf die Form und das religiöse Ritual stellen für Engineer keinen Wert dar, so dass er diese Überbetonung des Äußeren ablehnt. Es mangele an spiritueller Tiefe und der ethische und moralische Wert sei vernachlässigt. „I also believe that real religion does not lie in rituals like prayer, fasting, pilgrimage and so on. These are means to an end and the end is inner perfection, ridding one's heart and soul of all evils. If rituals become an end in themselves, inner perfection cannot be achieved. These rituals may be necessary but never sufficient for true religiosity. However, for many, religiosity consists more in performing these rituals than perfecting oneself.” (Text Nr. 10/Zusammenleben, Religion as I View it). Folglich betont Engineer die Werte als maßgebliches Wesen der Religion. Nur sie geben nach Ansicht Engineers Sinn und Orientierung.438 Nicht nur das Pochen auf die Einhaltung formaler Regeln, sondern auch die Auffassung, Vernunft und Glaube gehörten nicht zusammen, hindere die Muslime daran, den wahren Charakter des Islam zu erkennen: „Islam, many people would not believe, was such a creative blend of the two [Vernunft und Glaube, Anm. FS] but unfortunately it lost its liberative thrust in the hands of vested interests, particularly the feudal ruling class and medieval values. It was very difficult for Islam to escape this fate. However, now is the time to rediscover the Qur'anic Islam though, as pointed out, it would be make it very difficult to make it acceptable. Islam today is so encumbered with medieval practices and web of cultural and traditional practices that it is very difficult to disentangle it from this complex web of medieval culture and ruling class interests.” (Text Nr. 5, Modernity) 438 Hier greift Waardenburgs Definition von Religion als Orientierung. Vgl. Waardenburg: Religionen, 34 f. 212 Zwar seien die Muslime heute in vielen Lebensbereichen modern, wenn sie etwa moderne Technologien verwendeten, allerdings gelte dies für sie nicht im Bereich der Philosophie oder anderen grundlegenden Fragen: “Even today many Muslims have accepted modernity in superficial sense by accepting modern technology and like western countries, have instrumentalized role of reason but never accepted role of reason in fundamental and philosophical sense.” (Text Nr. 5, Modernity) Religion ist für ihn in der Gegenwart nicht nur Orientierung, sondern auch eine Quelle der Kritik. Aus seinem Glauben schöpft er seine Kritik an innerreligiösen und an gesellschaftlichen Phänomenen. „I also believe that religion, instead of going along with political power, should remain its strong critic. Since power corrupts, power will corrupt religion also and we have seen this in history.” (Text Nr. 10/Zusammenleben, Religion as I View it) Neben den Termini faith und religion verwendet Engineer den englischen Begriff belief, um der Frage nachzugehen, was Religion sei: Now let us answer the question what is religion? The most fundamental answer would be it is a set of beliefs. (…) belief in God is not essential condition for belief in religion. And belief in religion is of course much more than belief in God or even in one God.” (Text Nr. 4, Religion, what it Means) Engineer ist sich um die kulturelle, historische und soziale Bedeutung von Religion bewusst. Seine eigene Definition ist sehr weit gefasst. Meines Erachtens spielt institutionalisierte und formalisierte Religion für ihn eine weitgehend untergeordnete Rolle im Vergleich zum Glauben. Darauf weist die Betonung innerer Stärke und die beinahe mantraartige Wiederholung der certain values wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Mitgefühl hin.439 Er stellt diese in den Dienst einer „guten Sache“, sie dienen ihm dazu, die Welt zu verstehen und sie zu verändern, und zwar moralisch einwandfrei.440 Er setzt „objektive“ Religion versus 439 440 Seine Aufzählung dieser Werte variiert von vier bis zu acht Stichworten. Vgl. Engineer: Other World is Possible. 2006. 213 subjektive Religiosität. Letztere gestaltet er frei. Er wählt eigene Autoritäten und Quellen sowie eigene Herangehensweisen an den Heiligen Text. Der Soziologe Peter L. Berger hat für diese eklektische Vorgehensweise den Begriff des „häretischen Imperativs“ eingeführt. 441 Peter L. Bergers Ausführungen zum „häretischen Imperativ“ können an diese Stelle hilfreich sein, um Engineers Perspektive einzuordnen. Unter dem „häretischen Imperativ“ fasst Berger seinen Denkansatz zusammen, der davon ausgeht, dass in der modernen Gegenwart Religion nicht mehr durch das Schicksal vorgegeben sei, sondern der Einzelne zwangsläufig individuell wählen müsse. Bei dem Begriff häretisch greift Berger auf die griechische Wortbedeutung „Wahl“ zurück. Berger geht zwar von modernen, westlichen, pluralen Gesellschaften aus, dennoch lässt sich sein Ansatz auch auf Engineer anwenden, der in Indien lebt. Meines Erachtens ist durch die rasche Kommunikation und der Schaffung von translokalen und parallelrealen Gemeinschaften durch das Internet und im Internet eine Verortung möglich, sich bis zu einem Grad, vor allem, was die ideologische oder andere Identitätsbildung angeht, über lokale Gegebenheiten hinwegzusetzen. 441 Vgl. Berger: Zwang zur Häresie. 1986. 214 III 1. Schluss 1.1 Der, Die, Das Andere … im zeitgenössischen islamischen Denken In der vorliegenden Studie habe ich die Texte des indischen Reformdenkers Asghar Ali Engineer in den Mittelpunkt meiner Analyse gestellt. Unter der übergeordenten Leitfrage, welchen Beitrag Muslime zur Frage nach dem Umgang mit Diversität leisten, bin ich in meiner Studie zu aufschlussreichen und für die islambezogene Forschung relevanten Ergebnissen gelangt. Im Folgenden fasse ich diese Ergebnisse zusammen und diskutiere sie. Neben der Leitfrage (Diversität) und der Frage nach der Bedeutung von Subjektivität und Selektivität bei der Koranlektüre und –exegese, werfe ich einen kritischen Blick auf die islambezogene Forschung und ihren Umgang mit dem Islam hier spezifisch mit alternativen Zugängen zum Koran. Coping with Diversity – die Jahrhundertaufgabe Welchen Beitrag leisten Muslime auf die Frage nach dem konstruktiven Umgang mit Diversität? So lautet die übergeordnete Leitfrage dieser Arbeit. Um sie am Beispiel eines einzelnen muslimischen Denkers zufriedenstellend zu beantworten, habe ich die Texte des indischen Reformdenkers und Sozialaktivisten Asghar Ali Engineer (1939-2014) ausgerichtet auf dieses übergeordnete Erkenntnisinteresse hin untersucht. Anhand der Analyse verschiedener Themenkomplexe442 in Engineers Texten, konnte aufgezeigt werden, dass muslimische Reformdenker auf die Frage, wie mit 442 Vgl. Kap. Analyse der Themenkomplexe. 215 Diversität umgegangen werden kann, durch ihre kritische Auseinandersetzung mit dem Koran wertvolle Beiträge leisten können. Kritische Reflektion und Koran: Wege zum Anderen Asghar Ali Engineer wächst in einem von Diversität geprägten Kontext innerhalb eines säkularen Gefüges, wie es der indische Staat vorsieht, auf. In seiner frühen Schulzeit wird er von Lehrern unterrichtet, die aus unterschiedlichen religiösen und lokalen Traditionen stammen und verschiedene Sprachen beherrschen. Unter seinen Mitschülern und Kommilitonen finden sich Hindus aus verschiedenen Kasten, Muslime verschiedener konfessioneller Ausrichtung, darunter Sunniten und Schiiten. Als Kind und Jugendlicher lebt er in einer Atmosphäre von Diversität, er spürt das reiche Potential das diese bedeuten kann, aber auch die Spannungen, die fortwährend innerhalb dieser Gemeinschaft und der indischen Gesellschaft lauern. Zwar wächst er in einem, wie er selbst sagt, highly orthodox Elternhaus und in einer ebensolchen religiösen Atmosphäre auf, dennoch bieten sich ihm innerhalb der örtlichen Gemeinde, in der die Bohras immer mit Angehörigen anderer Religionen zusammenlebten, „Korrektive“, wie etwa der örtliche Postbote oder einzelne Lehrern. An der Universität fordern ihn Begegnungen mit Kommilitonen aus anderen intellektuellen Milieus, wie etwa dem linksintellektuellen, heraus und geben ihm Impulse zur kritischen Überprüfung eigener Weltbilder und Glaubensmomente. Bereits die erste kindliche Erfahrung in einem vormals geteilten Dorf, dessen Bewohner die Teilung in den Köpfen nicht überwinden können und so in ständiger 216 Rivalität zu der ehemals anderen Hälfte leben, 443 prägend. Das Dorf Dewas war zuvor ein 1728 gegründeter Fürstenstaat gewesen, der unter zwei Brüdern in zwei Staaten geteilt worden war, in Dewas Junior und Dewas Senior (Sic!). 1956 wurden alle Fürstenstaaten aufgelöst und gingen, in diesem Fall wiedervereint, im Bundesstaat Madhya Pradesh auf. Engineer gibt in seiner Autobiographie seinen Erlebnissen in Kindheit, Jugend und Studienjahren großen Raum. Diese sind wichtig, um sich der Motivation Engineers für sein späteres Wirken anzunähern. Seine Kindheit in einem GeistlichenHaushalt, seine Position als Mitglied einer Minderheit in einer religiös und kulturell heterogenen Gemeinschaft, sowie der historische Zeitrahmen relativ knapp nach der indischen Unabhängigkeit, in der sich die junge indische Nation formierte, Sozialismus attraktiv war für Intellektuelle und darüber hinaus die zahlreichen gewalttätigen communal riots zwischen Hindus und Muslimen, all diese Aspekte schufen eine Atmosphäre, in der sich das emotionale Gewand Engineers zu formieren begann. In diesen Jahren wird Engineer als Angehöriger einer Minderheit für die komplexe Struktur der indischen Gesellschaft sensibilisiert. Sein innerster Wunsch, Stereotype zu korrigieren, um so eine Stigmatisierung als Muslim und Verterter einer Minderheitenmeinung zu überwinden, bestimmt sein Engagement als religiöser Reformdenker und Sozialaktivist. Folglich erstaunt es nicht, dass ein Großteil seiner Texte in Reaktion auf negative Stereotype entstanden sind.444 Seine Affinität zum Schreiben, zur Urdu-Dichtung und zur Literatur, begleitet ihn bereits von Kindesbeinen an. Durch dieses Interesse findet er Kontakt zu Linksintellektuellen, die meist aus der indischen Oberschicht stammen, und ihn in Berührung vor allem mit kommunistischem 443 Gedankengut brachten. Vgl. Engineer: Living Faith, 7. Diesen Aspekt habe ich aus sozialpsychologischer und sozialphilosophischer Perspektive im Kapitel Stereotype erläutert. 444 217 Die Schilderungen in der Autobiographie sind, obgleich aus der Feder des Autors selbst und damit sehr persönlich und subjektiv dargebracht, eine wichtige Quelle, um zu erfahren, wie der Autor seinen eigenen Wandel reflektiert. Die Verwendung der Bezeichnung mulla und orthodox für sich und schließlich die Einlassung, dass Bücher, hier jenes von Niyaz Fatehpuri, ihm eine gänzlich neue intellektuelle vision eröffnet hätten und einen Wendepunkt in seinem Leben bedeuteten, ist bezeichnend, bedeutet sie doch, dass Engineer seine orthodox Phase nicht verdrängt oder vertuscht, sondern seine eigene Entwicklung reflektiert und hier einen Prozess aufzeigen möchte.445 Anderssein als Bedrohung für die etablierte Ordnung Engineers frühe Erlebnisse und Konflikte mit religiöser Autorität und religiösem Gehorsam schärfen sein Bewusstsein und schüren sein Streben nach Befreiung von solchen Grenzen, die er als einengend und bevormundend empfindet. Er ordnet diese Erfahrungen in einen normativen Kontext ein und reflektiert sie als unislamisch, unspirituell und damit in seinem Sinn als unethisches Verhalten ein. Der Gläubige soll frei von solchen, nach Meinung Engineers, restriktiven Normen und Grenzen sein. Er soll seinen eigenen Verstand benutzen und die Worte Gottes selber lesen und sich um ein subjektives, individuelles Verständnis dieser bemühen. Auf pragmatischer Ebene zeigt Engineer durch seine eigene Hermeneutik, wie dieser Erkenntnisprozess gestaltet werden kann, daher steht im Denken Engineers der Korantext als normative Autorität im Mittelpunkt. Der Koran ist für ihn die einzige religiös verbindliche Quelle für einen ethisch vertretbaren Lebensweg sowie eine ebensolch ethisch einwandfreie Weltsicht. Er ist sein treuester Weggefährte. 445 Vgl. Kap. Biographische Notizen zu Engineer. 218 Engineer ist sich durchaus der praktischen Zwänge des menschlichen Daseins bewusst und er möchte den Korantext nicht ohne ein hermeneutisches Instrumentarium lesen. Dazu gehören für ihn die Sprache, der historische Kontext sowie die Korrelation zur lebensweltlichen Erfahrung des Gläubigen in der Gegenwart. Dass er sich hierfür normative Leitprinzipien setzt, nach denen er den Koran rezipiert, entspricht seinem Welt- und Gottesbild, denn diese Leitprinzipien, die er als Gerechtigkeit, Barmherzigkeit etc. aufführt, leitet er aus Eigenschaften Gottes ab, die er im Koran als solche zu erkennen glaubt. Engineers Forderung, die sein Gesamtwerk als eines von vielen Leitmotiven durchzieht, die ulama caste bei der Lektüre und Interpretation des Textes auszuklammern und ihnen auf diese Weise die alleinige Autorität über die Deutung des Textes zu entziehen, bedeutet de facto, dass jeder Muslim den Text ohne Mittler lesen solle und könne. Vorausgesetzt, so Engineers Einschränkung, er halte sich an diese ethischen Leitprinzipien (wie etwa Gerechtigkeit), habe Kenntnisse über die islamische Geschichte, so dass er Texte historisch-kritisch lesen könne, eine fundierte Kenntnis der Gegenwart, arabische Sprachkenntnisse, das heißt, ein hermeneutisches Instrumentarium zur Hand, so dass er verantwortungsbewusst den Heiligen Text lesen könne. Diesem technischen Ansatz vorausgesetzt sieht er die Absicht des Lesers, die entscheidend für die Ergebnisse der Lektüre und Exegese sei. Durch diese subjektive Lektüre weist Engineer dem Gläubigen die Deutungshoheit über sein eigenes Leben, Denken und seine religiöse Praxis als rechtmäßigen Besitzer zu. Der Koran ist für ihn kein Regelwerk, sondern, er soll die ethisch-moralische Färbung für den Gläubigen liefern. Engineers exegetischer Ansatz richtet sich auf die innere, ethisch-moralische Haltung des Lesers, oder zugespitzt formuliert, auf seinen Glauben, sein Vertrauen auf den Text und dass er ihn nach bestem Wissen und 219 Gewissen schon richtig verstehen werde. Die Leitprinzipien und Werte sind so weit gefasst, dass sich eine größtmögliche Schnittmenge mit ihnen identifizieren kann. Innerreligiöse Kritik: Wahrheitsanspruch? Einen Wahrheitsanspruch seiner Ansichten formuliert Engineer nicht explizit, dennoch lässt sich aus seiner massiven und vehementen Kritik an etablierten Lesarten durchaus deutlich erkennen, dass er diese populären Meinungen, die er als orthodox Islam bezeichnet, als falsch ablehnt. Was selbstverständlich immer noch nicht bedeutet, dass er nur seine eigene Meinung als alleingültig bezeichnet, sondern lediglich, dass er diese Meinungen dezidiert als non-Islamic oder gar als nonQur‘anic bezeichnet und sie außerhalb eines ethisch einwandfreien und legitimen Weltbildes und Islambildes sieht. Er schließt sie als legitime Deutungsmöglichkeiten aus, da er die sozialen Folgen, die diese bedeuten, für schädlich erachtet. Wenn der hinduistische Nachbar nach etablierter Meinung, nicht als ahl al-kitāb gilt, dann fehlt im Kampf gegen communalism ein theologisches Argument, dass dem Dialog zwischen ihm und seinem muslimischen Nachbarn den Weg bereiten könnte. Engineer ist überzeugt davon, dass es eine übergeordnete Gerechtigkeit und Wahrheit gebe. Gleichzeitig ist ihm ganz deutlich bewusst, dass eine Vielfalt an Perspektiven, Meinungen, Glaubenswegen existiert. Diese Pluralität erkennt er an und bewertet sie positiv. Diese Haltung steht im Einklang mit Engineers AntiDogmatismus, der durch seine Abneigung gegen Rituale noch untermauert wird. Ethik, nicht das Ritual, steht für ihn im Vordergrund. Eine Überzeugung, die sicher auch auf seinen persönlichen Erlebnisse innerhalb der Bohra-Gemeinde beruht. Die Einhaltung von Formen hat für diese, wie auch wie für viele andere Gläubige, seien es Muslime oder andere, einen besonders hohen Wert. Ein Ritual ohne inhaltliches Bewußtsein lehnt Engineer jedoch als hohl ab. Rituale, darunter 220 ordnet er das Gebet oder das Fasten ein, weist er dem privaten individuellen Bereich zu. Die ethisch-moralische Ausbildung des Gläubigen steht für ihn dagegen im Vordergrund. Dies eignet sich seiner Meinung nach eher dazu, eine friedliche Gesellschaft zu schaffen, die in Frieden miteinander leben kann, auch wenn ihre Mitglieder nicht der selben Religionsgemeinschaft anghören oder gar keine Religionszugehörigkeit aufweisen. Diese Vorstellung ist sicher aus den Erfahrungen Engineers als Angehöriger einer Minderheit innerhalb der indischen Gesellschaft, die unter den communal Konflikten der einzelnen Religionsgemeinschaften, vor allem von Muslimen und Hindus leidet, zu erklären. Es ist Engineer ein persönliches, individuelles Bedürfnis, diesen gesellschaftlichen (communalism) und den innerislamischen Mißstand aufzuheben. Seine persönliches Erleben dieser weltlichen und religiösen Krisen ordne ich als die wichtigste Quelle für seine Überzeugung, das Richtige zu tun, ein. Er weiß, dass er recht hat, das zu tun was er tut, weil er es erfahren hat. Der Reformdenker hat eine klare Haltung dazu, dass der Koran gerecht sei. Als Sozialaktivist ist er erschreckend nüchtern, wenn es darum geht, zu verstehen, was die indische Gesellschaft, die Muslime und die Weltgemeinschaft global umtreibt. Auf dieser Grundlage findet er zu einer pragmatischen Koranlektüre, weil er sie an pragmatische, existentielle Probleme der Gegenwart anlegt. Obwohl sich Engineer der Dissonanzen und Schwierigkeiten im Zusammenleben einer sehr heterogenen Gesellschaft wie der indischen bewußt ist, und der schwierigen Umstände unter denen Muslime in islamischen Ländern leben, bleibt er konsequent bei seinem Welt- und Gottesbild und seinem Narrativ der koranischen Botschaft. 221 Dass ihm Widerstand und Kritik gewiss sind, schien ihn kaum zu berühren, auf Kritik geht er in seinen Texten, bis auf wenige Ausnahmen,446 wenn überhaupt, dann lediglich in genereller Form ein. Die heftigen ablehnden Reaktionen beispielsweise seiner arabischen Kollegen auf seinen Vortrag während einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgerichteten Konferenz (Progressive Muslims) 2010 in Berlin sind bezeichnend. Zusammengefasst lautete die Kritik seiner merheitlich arabischsprachigen Kollegen, so könne man den Koran nicht lesen. Unter den Kritikern befand sich auch der syrische Reformdenker Mohammed Shahrour, den die syrische sunnitische Gelehrsamkeit, geduldet vom syrischen Staat, ins innere Exil gezwungen hatte. Begründung: So könne man den Koran nicht lesen.447 1.2 Engineers exegetische Koranlektüre: Anschluss an den universellen Menschenrechtsdiskurs? Ausgehend von negativen Islam-Stereotypen, die Muslime stigmatisieren, hat Engineer es sich in seiner Koranlektüre und –exegese zum Ziel gesetzt, diese Stereotype zu korrigieren.448 Nicht nur die Überwindung der Stigmatisierung, sondern auch der Wunsch nach gesellschaftlichem Frieden insbesondere in einer heterogenen Gesellschaft wie der indischen sind das Ziel seiner Koranlektüre. Der exegetische Ansatz Engineers ist dialogorientiert und hat einen reformerischen Ansatz im Sinne einer Korrektur innerislamischer Missstände. Die vehemente Betonung ethisch-moralischer Prinzipien in Abgrenzung zur Überbewertung des religiösen Rituals, ist darin begründet, dass so Werte und 446 Replik auf die Kritik von Sikand vgl. Kap. Die Rolle und die Bedeutung des Koran bei Engineer; sowie Kritik an Qaradawi vgl. Kap. Themenkomplex Geschlechterdifferenz und Kap. Themenkomplex Säkularismus. 447 Zum Fall Shahrour siehe weiterführend die Werke von Christmann. 448 Diese Stereotype habe ich systematisch dargestellt. Vgl. Kap. Stereotype. In diesem Kapitel stelle ich die negativen Islam-Stereotype, die Engineer aufgreift, den positiven Islam-Stereotypen, die er diesen geradezu dichotomatisch entgegensetzt, gegenüber. Vgl. Tabellarische Übersicht Stereotype im Kap. Stereotype. 222 Prinzipien bestimmt werden können, auf die sich eine große Schnittmenge einigen kann. Daher verwundert es nicht, dass Engineer um die Popularisierung dieser Position, die seine subjektive Religiosität bestimmt, bemüht ist. Dementsprechend selektiv geht er an den Korantext heran. Einen klassischen Korankommentar hat Engineer nicht verfasst. Seine Texte haben den Charakter exegetischer Kommentare zum Weltgeschehen. Auf ihn treffen die Beobachtungen der subjektiven Lektüre des Koran ebenso zu wie die selektive Auswahl der Koranverse, die sich aus dem subjektiven Interesse zwangsläufig ergibt. So wählt er relevanzorientiert aus und liest diese Koranverse ganz und gar subjektiv. Das Heranziehen tradierter Quellen, wie etwa Hadithe oder etwaige Korankommentare, führt dennoch zu einer eigenen Interpretation. Dessen Kongruenz mit bestehenden Kommentaren er nicht gezielt sucht, oder zur Legitimation eigenener Interpretationen bedarf. Engineer zieht zur Konkordanz Quellen verschiedenster Provenienz heran, seien diese religiöser oder weltlicher Art, islamischer oder nichtislamischer Ausrichtung. Diese Ambivalenz der Vorgehensweise ist charakteristisch für ihn und ähnliche Reformdenker. Er schafft den Spagat, einerseits einen Bezug zur religiösen Tradition und andererseits einen Bezug den univesellen Menschenrechten und damit den Herausforderungen der modernen Gegenwart herzustellen. Dies ist an sich zunächst einmal keine Besonderheit, denn diese Ambivalenz ist schlicht durch die Komplexität der Moderne in der die Tradition weiter wirken soll (und will) gegeben und gleiches gilt für die Reaktion auf diese. Diese Reaktionen fallen sehr unterschiedlich aus. Sie können von Ablehnung der Tradition bis hin zur Ablehnung der Moderne reichen. Engineer versucht, diese Spannung, die diese Ambivalenz erzeugen muss, anzuerkennen und manchmal auch aufzulösen. Das Ergebnis, aber auch gleichzeitig die Motivation dieser Bemühung ist 223 die Bejahung von Diversität. Diese Position ist im Hinblick für den Dialog und im Hinblick auf die Leitfrage dieser Arbeit relevant. Engineers Weg ist ein Ansatz. Sicher gibt es verschiedene Ansätze den Koran zu lesen und zu interpretieren und zu diesem Ergebnis zu gelangen. Wie diese Bejahung der Diversität und die religiöse Argumentation sich gestaltet, ist entscheidend für die Qualität des Gesprächs und der Kommunikation, um einen konstruktiven Umgang mit solch einer Gesellschaftsstruktur zu etablieren. Bestehende religiöse Auffassungen werden von Engineer infrage gestellt, sofern sie in dieses Narrativ störend hineinragen. Erst das gänzliche Infragestellen dieser etablierten Deutungen und der religiösen Autoritäten, ermöglichen es ihm einen neuen und individuellen Zugang zum Koran zu finden. Das Bestehende ist damit für Engineer verhandelbar. Das gilt gleichermaßen für bestehende theologische Konsens über solche Fragen wie die nach der theologischen Kategorisierung der Hindus als ahl al-kitāb. Die Themenkomplexe zu denen ich Engineers Texte zugeordnet habe, ergaben sich aus der Themenwahl Engineers: Koran, Zusammenleben mit den Anderen, Geschlechterdifferenz, Säkularismus und Religion. In diesen Themenschwerpunkten zeigen sich Pluralismus, Differenz(en), die Relativierung von Autoritäts-, Wahrheits- und damit Absolutheitsansprüchen sowie die Frage nach der Auslegung des Koran zur Klärung dieser innerweltlichen Probleme bzw. zum Umgang mit diesen. Die Ergebnisse der Analyse der Themenkomplexe, unter die ich Engineers Texte subsummiert habe, habe ich im Folgenden zusammengefasst. Die Themenkomplexe geben Themen des universellen Menschenrechtsdiskurses ebenso wieder wie des Diversitätsdiskurses. Diese beziehen sich auf: 224 Die Toleranz gegenüber dem Anderen (Andersdenkenden, Andersgläubigen) Gleichbehandlungsgrundsatz: die Stellung der Frau in der Gesellschaft und in der Theologie, Religion und Tradition sowie damit zusammenhängend die Ausrichtung des Geschlechterverhältnisses, Säkularismus als Garant für eine Trennung von Politik und Religion Religion- und Bekenntnisfreiheit: die Rolle von Religion und individueller Religiosität Die Positionen zu denen Engineer durch seine Koranlektüre gelangt, decken sich weitgehend mit dem universellen Menschenrechtsdiskurs. Zum Zusammenleben mit den Anderen, betont Engineer die friedliche Kommunikation, Gemeinsamkeiten sollen aufgedeckt, Unterschiede akzeptiert werden. Zum Geschlechterverhältnis: Die Frau soll von der Willkür von Tradition, Gesellschaft, Politik und Theologie befreit werden. Nur die Instrumentalisierung von religiösen Quellen und ihr Mißbrauch halte die Frauen in einer nachrangingen Position. Den Säkularismus favorisiert Engineer, da er die Annahme Islam und Politik seien untrennbar für ein historisches Konstrukt hält und die Vermischung beider Bereiche als schädlich erachtet. Religion sei Privatsache und eine individuelle Angelegenheit. 225 1.3 Subjektivität und Selektivität bei der Koranlektüre und –exegese Engineer hat den Koran subjektiv und selektiv gelesen und interpretiert. Hierfür erntete er Kritik. Doch Subjektivität und Selektivität bei der Koranlektüre und -exegese werden auch in der islambezogenen Forschung und im populräwissenschaftlichen Diskurs überwiegend negativ konnotiert, wie ich im Folgenden noch darstellen werde. In Bezug auf Engineer äussert diese Kritik Yoginder Sikand, auf die ich im entsprechenden Kapitel bereits eingegangen bin und diese im Zusammenhang mit Engineers Replik diskutiert habe. Ist diese Kritik berechtigt und wenn ja, was bedeuten Subjektivität und Selektvität? Zunächsteinmal kann festgestellt werden, dass diese Kritik zutreffend ist, denn zeitgenössische Reformdenker (und auch andere Muslime) wählen die Koranverse entsprechend ihres individuellen Interesses aus und gelangen so zu einem subjektiven Zugang zum Koran. In der Folge entsteht ein subjektives Religionsverständnis und eine subjektive Religiosität. Dies ist ein durchaus moderner Ansatz, der sich beispielsweise in der Tradition des Protestantismus ebenfalls wiederfindet. Geht man davon aus, dass Individualisierung ein Zeichen für Modernisierung und Säkularisierung sei, so stellt sich die Frage, warum Muslime, die in diesem übergeordneten Paradigma („moderne Gegenwart“) agieren, nicht diesem Prozess unterliegen sollten. Diese Vorgehensweise kritiseren viele Autoren aus der islambezogenen Forschung allerdings mit dem Hinweis, sie sei nicht in der islamischen Tradition verortet. Diesen Aspekt greife ich an späterer Stelle vertiefend am Beispiel der britischen Wissenschaftlerin Taji-Farouki auf. Ich behaupte, dass sich diese Kritik aus einer verkürzten Sicht auf den Status quo ergibt, denn die Bedeutung etablierter Deutungen und religiöser Institutionen wird überschätzt. Diese befinden sich im 226 Umbruch, ihre Rolle für den Gläubigen ist nicht mehr in der tradiert behaupteten Eindeutigkeit gegeben. Die Dringlichkeit, auf moderne Fragen zu antworten, ist existentiell relevant, insbesondere für Muslime, die als Minderheiten in nichtmuslimischen Kontexten leben. Man könnte hier den Einwand erheben, dass etablierte, tradierte Deutungen und Vertreter religiöser Institutionen dies bereits tun. Die rege Fatwatätigkeit und das muntere Abfragen solcher Fatwas durch Internetnutzer belegen diese Beobachtung, aber im Allgemeinen verfehlen diese Deutungen die Lebensrealitäten der Gläubigen. Sie ignorieren die weltpolitische und gesellschaftspolitische Dringlichkeit, Lösungen zu finden, mit denen sich Muslime mit Nichtmuslimen im Dialog befinden können, mit denen sie das Zusammenleben mit den Anderen friedlich gestalten können. Es mangelt an etablierten Deutungen, die an einer gesellschaftlichen, sozialen Gerechtigkeit orientiert wären, wie etwa die katastrophalen Fatwas in Bezug auf das Geschlechterverhältnis und die Rolle der Frau im Besonderen zeigen. Nun mag man einwenden, dass sich global eine Tendenz zur politischen und religiösen Radikalisierung zeigt und Muslime davon leider nicht ausgeschlossen seien. Dies ist zutreffend, mehr noch, sie stehen leider im Fokus der Weltöffentlichkeit, in die sie der islamistische Terror gebombt hat, unter Bezugnahme auf den Islam. Auch Angehörige der IS gelangen zu ihren haarsträubenden Ansichten durch willkürliche und subjektive Auswahl der Koranverse und dem ebensolchen Ausschlachten der (prophetischen) Tradition. Bleiben wir bei diesem extremen Beispiel. Im Gegensatz zu einer Koranlektüre, die sich auf einen friedlichen und bejahenden Umgang mit Diversität konzentriert, ist das Ergebnis der Lektüre von Extremisten ganz offensichtlich nicht für den Dialog und zur Schaffung eines gesellschaftlichen Friedens geeignet. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und festgelegten, tradierten Deutungen des Korantextes 227 als Ausdruck einer Sehnsucht nach Orientierung ist zwar nachvollziehbar, aber die bedenklichen Folgen einer solchen, faktischen Dogmatisierung sind absehbar. Die Entwicklung und das Bestehen von Pluralität wird erheblich torpediert. Widersprüche und Dissonanzen in solch einem pluralen Gefüge von Meinungen, Deutungen und hermeneutischen Ansätzen auszuhalten, ist die Herausforderung für Muslime in der Gegenwart, seien es Laien oder Vertreter der Gelehrsamkeit. Die Subjektivität und Selektivität sind in diesem Zusammenhang sinnvoll, da sie eine Voraussetzung zur Herausbildung individueller Religiosität sind. Diese subjektive Religiosität ermöglicht das Einbringen individueller Deutungen in den Diskurs wie beispielsweise die Relevanzorientierung bei der Koranlektüre im Hinblick auf aktuelle Fragen. In der Jeremiade: Reaktionen der islambezogenen Forschung Das Unbehagen in der islambezogenen Forschung und in der populärwissenschaftlichen Darstellung in Bezug auf diese fließenden Grenzen, die infolge des oben dargestellten Prozesses entstanden sind, verstellt den Blick auf diese Vorteile. Sie beklagt den Verlust einer von ihr angenommenen islamischen Homogenität, die sie in der Geschichte des islamischen Denkens durch ein monokausales Geschichtsnarrativ verorten möchte. In diese Jeremiade stimmen auch muslimische Konservative und Hardliner ein, was wenig überrascht. Der Wunsch solcher Reformdenker, wie Engineer, nach der Etablierung ihrer Position, erwächst aus dem Bewusstsein dieser für die Probleme der Gegenwart im Umgang mit Diversität im Allgemeinen und die Stigmatisierung der, die, des Anderen. Die Überwindung des Stigma und das Angebot für einen alternativen 228 Umgang mit Diversität stehen im Vordergrund.449 Die etablierten Antworten muslimischer Gelehrsamkeit sind für diese Reformdenker und viele andere Muslime weltweit nicht zufriedenstellend. Sie verhindern den Dialog mit den Anderen (seien es Muslime oder Nichtmuslime) und sie zeigen keinen Weg auf aus dem Dilemma, in dem sich Muslime im Umgang mit ihrer Religion in der modernen Gegenwart sehen. Denn sie fragen sich, wie kann religiöse Tradition in der Gegenwart Bestand haben, so dass sie die Komplexität modernen Lebens anerkennt und dabei das Bedürfnis nach Religiosität nicht ausklammert. Die etablierten Lesarten stellen den Gläubigen in diesem Zusammenhang in der Regel vor ein unlösbares Dilemma. Sie tradieren damit, bewusst oder unbewusst, eine von westlichen Wissenschaftlern und Autoren kolportierte Dichotomie Religion versus Moderne oder Islam versus Westen. Am Beispiel von Asghar Ali Engineer habe ich aufgezeigt, dass unter den Reformdenkern, der Wunsch, diese Frage für den Gläubigen zufriedenstellend zu beantworten, die gesamte Perspektive auf den Korantext und seine Lektüre definiert. Engineer verlässt mit seiner Koranexegese die Dichotomie Islam versus Moderne. Ein alternativer Denkansatz, nicht nur für die Gläubigen. Die Integrationsleitung die diese Denker bei der Beantwortung virulenter Fragen des modernen Lebens in Bezug auf den Islam erbringen, bleibt weitgehend nicht nur in der Forschung unerkannt, da der Fokus sich auf ihren Umgang mit den Heiligen Texten und der Frage nach der Legitimität dieser Hermeneutik richtet. 449 Diese Popularisierung subjektiver Religiosität lässt sich auf zwei herausragende Motive herunterbrechen, die ich in zwei Erklärungsansätzen skizziert habe. 1. Sozialphilosophisch: Anerkennung, 2. Sozialpsychologisch: Überwindung von Stigma (Korrektur von Stereotypen). Vgl. Kap. Stereotype 229 Grenzen der Reform? Für den Islam gibt es keine allgemeingültige, übergeordnete religiöse Kontrollinstanz oder Institution, die ein bestimmtes Denken dogmatisch unterbinden oder festlegen könnte. Über kürzere und gelegentlich längere Perioden gab es in der islamischen Geschichte, in spezifischen Kontexten immer wieder eine Einigung und Verabredung darüber. Ebenso lösten divergierende Ansichten über die alleinige Deutungshoheit und absolute religiöse Autorität schwere Krisen aus, die bis hin zu blutigen Konflikten führten. Wenn sich heute muslimische Gläubige, Gemeinschaften oder Gesellschaften, den Lehrmeinungen der einen oder anderen Schule anschließen und diese für sich als verbindliche religiöse Autorität akzeptieren, wie etwa die der ägyptischen al-Azhar Universität oder die des türkischen Präsidiums für religiöse Belange (Diyanet İşleri), so ist das ihre persönliche Entscheidung. Dies bedeutet nicht, dass diese Lehrmeinungen dogmatisch für alle anderen Muslime gleichermassen verbindlich gelten müssen. Die Wahl der religiösen Instanz und Autorität bleibt -die soziale Prägung und sich die daraus ergebenden Zwänge durch solche prädominanten Lehrmeinungen und Institutionen einmal ausgeklammert- freiwillig. Lediglich spirituell gesprochen kann eine Autorität das „Gewissen“ oder die „göttliche Autorität“ sein. Einzig in Gesellschaften, in denen die religiöse Praxis oder das kritische Nachdenken über Religion sozial sanktioniert oder kontrolliert wird, ist eine Installation und Kontrolle dieser „Dogmatisierung“ durch Gesellschaft und Politik oder durch etablierte religiöse Institutionen und Autoritäten möglich, wie zahlreiche Biographien moderner zeitgenössischer Reformdenker zeigen. 230 Der, die, das Andere hat hier keinen Platz. Diese Exklusion und Sanktion kann zudem durch die eigene Gemeinschaft erfolgen, wie etwa bei Engineer durch die Bohra-Gemeinde, durch staatliche Instanzen,450 oder durch die Ulama-Gruppe, die es verhindert, dass Vertreter solcher nichtetablierter Meinungen, die gläserne Decke der Hierarchie innerhalb der Institutionen durchbrechen können, wie es etwa die Entziehung der Lehrerlaubnis für Mohammed Shabestari deutlich macht.451 Diese fehlende einheitliche, allgemeingültige religiöse Kontrollinstanz und mangelnde dogmatische Verbindlichkeit verursacht bei manchen Wissenschaftlern offensichtlich Unbehagen. Den Reformdenkern wird willkürliche Selektivität bei der Auswahl von Koranversen vorgeworfen und Subjektivität in der Lektüre und Exegese des Heiligen Textes. Dieser Vorwurf ist, wie ich bereits oben dargestellt habe, berechtigt, denn er gibt lediglich einen tatsächlichen Istzustand wieder. Der „Vorwurf“ drückt meines Erachtens lediglich die Irritation und das Unbehagen im wissenschaftlichen Diskurs in Bezug auf den Umgang mit diesem Phänomen aus. Diesen Aspekt möchte ich exemplarisch an einem Beitrag der britischen Wissenschaftlerin Suha Taji-Farouki verdeutlichen. In ihrer Einleitung für den von ihr herausgegebenen Band „Modern Muslim Intellectuals and the Qur’an“ diskutiert sie unter der Überschrift „Who speaks for Islam?“452 die Frage nach der Autorität und Deutungshoheit. Sie stellt fest, dass dies traditionell die Gruppe der Ulama gewesen sei und weist auf die zunehmende Auflösung dieser Deutungshoheit hin, der mit der 450 Im Falle von Abu Zaid ließen staatliche Gerichte die religiös und theologisch motivierte Klage der Ulama gegen Abu Zaid zu und verweigerten ihm jeden Schutz. In der Folge verließ er Ägypten, was er persönlich als große Tragödie empfand, wie er mir in persönlichen Gesprächen mitteilte. Die Anerkennung und Aufmerksamkeit, die ihm in westlichen Ländern zuteil wurde, war ihm suspekt. 451 Vgl. dazu auch die Arbeit zum libanesischen Reformdenker Abduallah al-Alayli von Sing: Progressiver Islam. 2007. 452 Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 12 ff. 231 Kolonialisierung großer Teile der islamischen Welt und dem Modernisierungsprozess im 19. und 20. Jahrhundert einhergegangen sei. Dieser Machtverlust habe einen maßgeblichen Wandel in den muslimischen Gesellschaften herbeigeführt. Die Position der Ulama war geschwächt, eine neue intellektuelle Elite rückte nach, die die bisher alleingültige Autorität der Ulama im Bereich der Erziehung und Ausbildung sowie im Recht bedrohte. Die Entwicklung und Verbreitung des (Buch)drucks als Massenmedium in muslimischen Gesellschaften habe maßgeblich dazu beigetragen, so Francis Robinson, der die Folge dieses Prozesses ganz treffend wie folgt zusammenfasst: „Books, which they [the ulama] literally possessed ... could now be consulted by any Ahmad, Mahmud or Muhammad, who could make what they will of them. Increasingly from now on any Ahmad, Mahmud or Muhammad could claim to speak for Islam…”453 Dies ist im Wesentlichen die Kritik sowohl unter Wissenschaftlern, westlichen Kommentatoren als auch unter muslimischen Konservativen, Traditionalisten und Hardlinern. Jeder Ahmet, Muhammad und Mahmud, neurdings auch jede Aysha und Khadija, kann die Heiligen Texte und religiösen Quellen lesen, wie er oder sie möchte. Dazu stellt Souha Taji-Farouki fest, dass auch jene ohne professionelle theologische Ausbildung beanspruchten, den Heiligen Text zu interpretieren: „[they] proclaim direct interpretative rights over the Islamic texts as equals with the Ulama, and in direct competition with them [32].”454 Sie beklagt, dass sich daraus ein Mangel an Einheitlichkeit ergebe: „Any possibility of uniformity or continuity of interpretation, or of a controlled diversity of readings, has been lost.”455 453 Robinson, F.: Technology and Religious Change. In: Modern Asian Studies. 27, 1 (1993). 245-6. Zit. in: Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 14. 454 Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 14. 455 Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 14. 232 Das Fehlen eines Konsenses bezüglich einer islamischen intellektuellen und religiösen Autorität spiegele sich in der Abwesenheit eines Konsens über Ziele und Methoden456 und vor allem über die „Grenzen der Reform“ („limits of reform“).457 Eine zutreffende Beobachtung, allerdings ist die Annahme, es habe in der Vergangenheit eine Einheit und Kontinuität der Exegese gegeben diskussionwürdig. Warum Taji-Farouki Grenzen wünscht, legt sie nicht nachvollziehbar dar. Die vorliegende Studie zeigt, dass der Koran für diese Denker unter anderem als Quelle der Kritik, sei es gesellschaftspolitischer oder innerreligiöser Art, dient. Sie legen den Koran an die Welt und versuchen sie Mithilfe des Heiligen Textes zu verstehen. Daher fertigen diese Denker mehrheitlich keinen klassischen Tafsir oder Kommentar an. Taji-Farouki geht offensichtlich von einer ungebrochen fortbestehenden Akzeptanz einer tradierten Auffassung über den Umgang mit diesen Heiligen Texten aus. Sie macht dies unter anderem durch das Heranziehen der theologisch-philosophischen Termini zur Reformpraxis, tajdīd und iṣlāḥ , deutlich. Reformpraxis charakterisiert sie: „(…) has consistently challenged the Muslim status quo from within the fundamental sources of Islamic inspiration [Hervorhebung FS].“ Den von ihr zutreffend dargestellten Status quo kann sie in diese Konzepte nicht einordnen, eine Anknüpfung an diese Tradition sieht sie nicht und kann nicht über den Tellerrand hinausschauen. Stattdessen operiert sie mit der axiomatisch angenommenen Dichotomie: „the problematic of Islam and Western modernity“. 458 456 Vgl. Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 16. Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 16. 458 Taji-Farouki: Muslim Intellecutals, 17. 457 233 Taji-Farouki versäumt es, diesen Prozess als Prozess zu betrachten, und ihn integriert innerhalb der Moderne zu diskutieren, mit allen Problemen und Herausforderungen, die das Dasein der Tradition in der Moderne mit sich bringt. Sie stellt den Islam, wie viele andere ihrer Kollegen, als ausserhalb der Moderne dar. Die Denkaktivität der muslimischen Denker beschreibt sie daher nicht nur als Reaktion auf den „modernen Westen“459, sondern gar als „internalization of Western Modernity“,460 so dass sich hier der Eindruck aufdrängt, diese muslimischen Denker stünden irgendwo in einem undefinierbaren Raum außerhalb der Moderne, die dynamisch neben einem statischen, hermetisch geschlossenen, homogenen Islam existierte, und saugten munter den Westen auf. 461 Eigene Traditionen hätten sie vergessen. Sie zweifelt die Kompatibilität dieses Denkens mit einer von ihr nicht näher bestimmten islamischen Kultur an: „Some of the producers of these projects are hardly rooted in Islamic culture.“462 Nun stellt sich hier die Frage, die allerdings in der Diskussion bei TajiFarouki keine Rolle spielt, in welchem Maße (und in welchen Kreisen) ein solches Bedürfnis nach einer regulierenden Autorität überhaupt existiert. Diese Frage kann zumindest für den in dieser Studie im Mittelpunkt stehenden Reformdenker und ihm geistig verwandte Reformdenker deutlich verneint werden, wenn sie unter der Prämisse etablierter Autoritäten gestellt wird. Lediglich der Koran ist für sie als Autorität in religiösen Belangen legitim, nicht etablierte Gelehrte oder Institutionen. Warum sollte es Grenzen der Reform geben? Wie sollten diese aussehen und wer sollte sie festlegen? Diese Fragen bleiben bei Taji-Farouki unbeantwortet. 459 Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 17. Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 17. 461 Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 17. 462 Taji-Farouki: Muslim Intellectuals, 17. Bemerkenswert ist auch die Wortwahl bezüglich der Bezeichnung dieser Denker und Denkrichtungen als projects. 460 234 Unklar bleibt zudem, warum sie eine Einheit, einen Konsens für wichtig erachtet. Wichtig für wen und warum? Taji-Faroukis Beschreibung des Istzustandes und ihre Beobachtungen sind zutreffend, allerdings geht sie bei der Einordnung und Bewertung dieser von Axiomen aus, die fragwürdig sind, und durch die sie es versäumt, dieses Phänomen wissenschaftlich einzuordnen. Stattdessen wird ein Verlust beklagt. Ich frage mich, ob ihr als Wissenschaftlerin diese Aufgabe zusteht. 1.4 Infantile Theologie? Implizit und explizit normative Zugänge zum Forschungsobjekt Islam Bei der Lektüre der Fachliteratur zur Islamforschung, die auch die neueren Ansätze zur Koranlektüre betrachtet, drängen sich vielschichte Fragen auf; unter anderem die Frage nach der Rolle des Wissenschaftlers und seinem Verältnis zu seinem Forschungsobjekt Islam. „Rutschen“ Islamwissenschaflter dabei in die Rolle der Exegeten oder Theologen? Sie scheinen zwischen ihrer Funktion als Wissenschaftler und einer von ihnen selbst für sich exlipzit oder implizit angenommenen Rolle als Exegeten und Theologen der Primärquellen, Glaubensinhalte und Interpretationen, einem Wackelbild gleich, hin und her zu springen. Was ist die Aufgabe des Forschers? Sollte nicht die Aufgabe des Wissenschaftlers sein, darzustellen, welche unterschiedlichen Definitionen und Konzepte von Tafsir Muslime in Geschichte und Gegenwart liefern, ohne beispielsweise zu schreiben, dass Hassan Hanafis463 Konzept „higly problematic“464 (Wielandt) sei, oder anzumerken, dass „Hanafi actually abandons the notion of the hermeneutical circle as a model for interpretation“, sowie er von Gadamer et al. 463 464 Ägyptischer Philosoph (geb. 1935). Wielandt: Exegesis. In: EQ, Brill Online. 235 dargestellt worden sei? Warum sollte Hanafi diesen hermeneutischen Zirkel von Gadamer et al. berücksichtigen müssen? Offenbar liefert er einen Beitrag, für den er dies vernachlässigen möchte. Sehen sich Wissenschaftler der islambezogenen Forschung, hier vornehmlich Islamwissenschaftler, in der Rolle, Muslime anzuleiten, wie der letzte Abschnitt bei Wielandt offenbar suggeriert? „ (…) there will be continued attempts to enter into a far-reaching scientific exchange with non-Muslim scholars without questioning the literal revelation of the Koran.“ Das ist an sich ein edles Vorhaben, doch wer definiert die Bedingungen eines solchen Austausches? Haben muslimische Gelehrte den Wunsch geäussert, in solch einen Austausch zu treten. Wir erfahren es nicht. Explizit normativ: Hans-Thomas Tillschneider Plump und chauvinistisch kommen dagegen die Aussagen des Islamwissenschaftlers Hans-Thomas-Tillschneider daher, die an prominenter Stelle in der FAZ in mittlerweile drei Artikeln erschienen. 465 Zwar haben Vertreter der Islamwissenschaft die Aussagen als die eines „jungen Kollegen“ (Marco Schöller) belächelt, aber gerade weil er ein Vertreter der jüngeren Islamwissenschaft ist und seine Ansichten in einer massenmedial und überregional bedeutenden Zeitung publiziert wurden, ist es wichtig, sich einmal die Aussagen näher anzusehen. In diesen drei Artikeln nimmt Tillschneider in Varianten Stellung zur Einführung von Lehrstühlen für islamische Theologie an deutschen Universitäten. Er diskutiert in diesem Zusammenhang a) die Aufgabe der Islamwissenschaft, b) die islamische Theologie am Beispiel von Mohannad Khorchide und, mit beiden Themen verbunden, c) ob der Islam zu Deutschland gehöre. 465 Tillschneider: Traditionskritik. 01.02.2013; ders.: Infantile Theologie. 07.06.2013; ders.: Deutscher Islam. 27.03.2014. Alle in: FAZ. Ich beziehe mich auf die beiden Artikel aus 2013. Aus diesen sind, sofern nicht anders angegeben, auch die Zitate entnommen. 236 In seinem Artikel (Nr.2) vom 07.06.2013 griff Tillschneider den Münsteraner Professor für islamische Theologie, Mohannad Khorchide, an. Er charakterisierte seine Arbeit als „infantile Theologie“.466 Individuelle Religiösität wird versäumt als solche zu erkennen und falls sie als solche erkannt wurde, dann wird sie abgelehnt. In seiner Kritik an Khorchides Theologie unterlaufen Tillschneider daher auch kategorische Fehler, wie beispielsweise hier: „Seine These, dass ausnahmslos alle Menschen ins Paradies kommen (…).“ 467 Dies ist meines Erachtens ein Missverständnis von seitens Tillschneiders. Das ist keine „These“, sondern, dass glaubt Herr Khorchide. Tillschneider ist so sehr damit beschäftigt, gegen Khorchide zu wüten, dass er es hier versäumt, nachzuvollziehen, dass Khorchide als gläubiger Mensch, zu dieser Überzeugung aus seinen für ihn relevanten Heiligen Quellen kommt. Das muss Tillschneider nicht gefallen, aber das ist auch nicht relevant, denn als Wissenschaftler kann er sich darüber Gedanken machen, wie Khorchide zu dieser Überzeugung gelangt und was dies bedeutet.468 Das Nachzeichnen des Erkenntnisprozesses und die wissenschaftliche Einordnung dieser Aussage versäumt Tillschneider. Seine Argumentation wird stattdessen durch eine normative Abwertung angeführt: „Khorchide leistet überhaupt keine echte Denkarbeit, sondern definiert den Islam einfach nach seinem Geschmack. Dabei müsste Khorchide mit der islamischen Theologie ringen, so wie Bultmann mit der protestantischen Theologie gerungen hat, und stärker noch.“469 466 Der Artikel erschien am 07.06.2013 ganzseitig auf Seite 7 der FAZ unter dem Titel „Fragwürdiges Plädoyer für infantile Theologie“. 467 Tillschneider: Infantile Theologie. 468 Schöller hat in einer späteren Replik auf den dritten Artikel von Tillschneider diesen Umstand eingehend diskutiert. Vgl. Schöller: Aus der Ferne. In: FAZ. 10.04.2014. Für meine Betrachtung ist es an dieser Stelle irrelevant, welche Art von Theologie Khorchide betreibt. In seinem dritten Artikel holt Tillschneider zum Generalschlag aus, in dem er in einer kruden alle Ebenen vermischenden Argumentation dem Islam die Fähigkeit abspricht, deutsch zu sein. Dieser Artikel geht derart grundsätzlich von allen möglichen nicht haltbaren Definitionen aus, dass der nötige Raum fehlt, um ihn hier angemessen zu diskutieren und theoretisch einzuordnen. Vgl. Tillschneider: Deutscher Islam. In: FAZ. 27.03.2014. 469 Tillschneider: Infantile Theologie. 237 Herr Khorchide darf gar ganz unter Verzicht auf Denkarbeit zu seiner subjektiven Religiosität und seinem individuellen Religions- und Theologieverständnis finden. Es ist sein gutes Recht. Gefallen muss das niemandem, aber das gilt bekanntlich nicht als Kriterium für wissenschaftliches Arbeiten. Ein Islam definiert nach „Geschmack“ des Gläubigen scheint hier den Islamwissenschaftler in seinem Verständnis zu stören, das er von seinen „Forschungsobjekten“, den Muslimen, hat. Interessant wäre es gewesen zu erfahren, wie der innerislamische Diskurs rund um Khorchides Text sich gestaltete, denn bereits in seinem Artikel vom 1.02.2013 spricht Tillschneider dem Islam und der islamischen Theologie im Besonderen jegliche Entwicklungsfähigkeit ab. Islamische Theologe ist für ihn „ (…) aus vormodernen Zuständen nahezu unverändert in das 21. Jahrhundert gefallen (…)“.470 Der Islam scheint hier kontextlos zu sein, denn seine Theologie „fällt“ aus dem Nichts wie ein Fremdkörper in unsere Zeit hinein. Als Islamwissenschaftler nimmt Tillschneider eine zweifelhafte Haltung gegenüber den Quellen des Islam ein, die insbesondere ausgehend von der Frage, welche Rolle der (Islam)Forscher hat, Aufschluss über eine Haltung gibt, die anachronistisch daherkommt: „(…) der Koran, der nach islamischem Glauben dem Propheten Mohammed in vielen Einzelstücken offenbart und wenige Jahrzehnte nach seinem Tod in der heutigen Form zusammengestellt worden sein soll, woran sich aus neutraler Sicht doch Zweifel anmelden lassen.“ Was der Autor mit „neutraler Sicht“ meint, verrät er nicht. Aus seiner Argumentation ist anzunehmen, dass er damit seine eigene, also subjektive Sicht meint. Warum er dies nicht als solches explizit benennen möchte, bleibt 470 Tillschneider: Nicht ohne die nötige Traditionskritik. Die folgenden Zitate sind aus diesem Artikel vom 01.02.2013 entnommen. 238 unbeantwortet. Durch den Einsatz des Wortes „neutral“ wird Objektivität suggeriert, aber nicht eingelöst. Der Widerspruch, dem sich hier jedem aufmerksamen Leser aufdrängen muss, steckt in der Aussage, dass „nach islamischem Glauben“ etwas definiert wird, was aber der Wissenschaftler Tillschneider „aus neutraler Sicht“ ablehnen oder in Frage stellen möchte. Unterliegt diese Bewertung überhaupt seiner Deutungskompetenz als Wissenschaftler? Hier werden die Kompetenzüberschreitungen und die Verwechslung von Untersuchungskategorien und –ebenen deutlich. In welcher Instanz sieht sich hierbei der Forscher? Unterscheidet Tillschneider zwischen Glaube und Religion, zwischen Bekenntnis, Theologie und Wissenschaft? Welche Aufgaben weist er der Islamwissenschaft, also seiner eigenen Disziplin zu? Die Aufgaben der Islamwissenschaft Im Zusammenhang mit seiner Polemik findet Tillschneider zur Definition der Aufgaben der Islamwissenschaft. „Die Islamwissenschaft könnte hier einsetzen und die heiligen Texte der islamischen Tradition im Sinne kritischer Wissenschaft gegen die theologischen Interpretationsvorgaben lesen.“ Dieser vermessene Vorschlag hat für Tillschneider das Ziel, „(…) den Wahrheitsanspruch der geheiligten Texte irgendwann so zu relativieren, dass er sich mit unserem Wertegefüge kompatibel zeigt,“ An dieser Stelle konstruiert der Autor ein „Wir“ und „Ihr“ Gegensatz, dessen Definition er unterlässt. Ein diffuses, wenngleich überlegenes, Wir/Wertegefüge schimmert zwischen den Zeilen durch. Schließlich und endlich definiert er die Aufgabe der Islamwissenschaft: 239 „Wenn wir wollen, dass der Islam in Deutschland eine moderne Theologie ausbildet, müssen wir ihn herausfordern; wir müssen seine Kerndogmen als historisch bedingte Konstrukte durchsichtig machen; wir müssen seine Texttraditionen kritisieren und dekonstruieren; wir dürfen die Islamische Theologie von all den Prozeduren, die über unsere eigenen Tradition hinweggegangen sind, nicht verschonen. Ebendas ist die Aufgabe der Islamwissenschaft.“ Ein Vorschlag, der, wenn er von einem muslimischen Theologen oder Denker gekommen wäre, durchaus diskussionswürdig gewesen wäre. So aber sind die Thesen und Aussagen Tillschneiders exemplarisch für eine Position, die (mit den Muslimen) um die Deutungshoheit darüber streitet, was Islam sei und was sein Wesen ausmache. Sie hadert mit veränderten Vorzeichen, sei es in der eigenen Disziplin oder in Bezug auf globale Entwicklungen. Für seine Artikel und Thesen erhielt Tillschneider Unterstützung in Leserbriefen unter anderem durch den Arabisten Puin, für den Muslime immer noch in der „deutschen beziehungsweise europäischen Diaspora“ leben. Dies erscheint wie ein Abgesang auf veränderte Umstände, namentlich die Pluralisierung vor allem nichtislamischer Gesellschaften im Hinblick auf Religion, Ethnie und Sprache aber auch das Verschließen der Augen vor der Diversität, bedingt durch verschiedene Faktoren, wie etwa Migration und wirtschaftliche Mobilität, die die größte Herausforderung für viele Gesellschaften darstellt. Was nicht sein kann, darf auch nicht sein. Die Rolle des Wissenschaftlers als des normativen Fallbeils für die Islamwissenschaft kann keine Entwicklung im Erkenntnisprozess bringen, denn die normative Ab- und Bewertung als einziges Instrumentarium ist nicht zielführend. Dennoch hält sie sich offenbar hartnäckig in Teilen der Islamwissenschaft (selbiges gilt für die islambezogene Forschung und die populärwissenschaftliche Branche), trotz einer (zwar nur zäh) anlaufenden Selbstkritik. 240 Eine problemorientierte Reflektion des Faches und die Rolle seiner Vertreter bei der Schaffung eines spezifischen Islambildes, sei es in der Wissenschaft oder im populären Diskurs, wurde beispielsweise von Jung (2011) und Schulze (2010) unternommen. Andere Wissenschaftler wie etwa Varisco (2005) haben dies für die Anthropologie und Soziologie getan. Ihre Thesen und Forschungsergebnisse können hilfreich sein, um Positionen innerhalb der Islamwissenschaft und in der Forschung über den Islam theoretisch einzuordnen. Allen Diskursteilnehmern, auch den „AntiEssentialisten“, ist gemein, dass auch sie Antworten auf die Frage nach dem wahren Kern und Wesen des Islam suchen, selbst wenn sie dies nicht immer explizit formulieren. Ausgehend von Edward Saids Orientalism hat der Historiker und NahostWissenschaftler Dietrich Jung einen Perspektivwechsel versucht, indem er das Paradigma Islam versus Westen als essentialistisch infrage stellt und zu dekonstruieren versucht. Er geht davon aus, dass Islamisten und westliche „OrientForscher“ den Islam als allesumfassendes politisches, religiöses und soziales System verstanden und dargestellt haben.471 Jung diskutiert die Rolle der frühen Islamwissenschaftler bei der Entstehung eines essentialistischen Images des Islam („Islam as a Problem“), 472 die sie durch ihre Grundlagenwerke maßgeblich beeinflusst hätten. Dies ist für die Reflektion der Fachgeschichte ein wichtiger Beitrag. Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze hingegen hat sich konkret mit der Erforschung des Islam im Spannungsfeld von „Islamwissenschaft und Religionswissenschaft“473 beschäftigt. Dies ist insofern aufschlussreich, als dass beide Disziplinen sich als akademische Fächer ungefähr zur selben Zeit zwischen 471 Vgl. Jung: Orientalists. 2011. Jung: Orientalists. 157-213. 473 Schulze: Islamwissenschaft. In: Graf/Voigt: Religionen deuten. 2010. 81-202. 472 241 1900 und 1910 herum formierten.474 Über 80% der Begründer der Islamwissenschaft stammten aus dem protestantischen Milieu.475 Dies hatte bedeutende Folgen für die Disziplin und ihren Umgang mit ihrem „Forschungsobjekt“ Islam: „Das protestantische akademische Milieu, in denen die Islamwissenschaft und die Religionswissenschaft entstanden, bedingte, daß der Islam stets in Differenz zu den vorherrschenden protestantischen Selbstdeutungen gesehen wurde, die ihrerseits wieder die Transformation muslimischer theologischer Selbstdeutungen bestimmt hatten [342].“476 Diese Differenz greift bis heute über die Islamwissenschaft hinaus in andere benachbarte Fächer, die sich mit dem Islam, vor allem in der Gegenwart, beschäftigen, wie etwa die Politikwissenschaft oder Soziologie besonders im Hinblick der Theoriebildung. In der Religionswissenschaft, die nächstgelegene benachbarte Disziplin, so stellt Jung fest, spielte der Islam: „(…) kaum eine Rolle bei der Ausarbeitung einer systematischen Religionswissenschaft. (…) dabei fällt auf, dass wenn von Islam die Rede war, die religionsgeschichtliche Perspektive oftmals verloren ging. Islamische Dogmen erschienen (…) als zeitlose Normen, die das Wesen des Islam markierten [349].477 Diese Doktrin des zeitlosen, gar geschichtslosen und schließlich starren Islam findet sich ebenfalls in der Darstellung des Islam in der Gegenwart, wie nicht nur die Aussagen Tillschneiders zeigen. Jung stellt dazu fest, dass: „Die komplexe Beziehungsgeschichte zwischen Islamwissenschaft und Religionswissenschaft hat maßgeblich dazu beigetagen, einen Islambegriff zu generieren, der folgende Eigenschaften aufweist: (1) der Islam ist nicht nur Religion, sondern Welt, Weltanschauung, umfassende soziale Ordnung, Zivilisation, Kultur und/oder Staatsordnung; (2) der Islam ist in struktureller Opposition zur Moderne zu verstehen; (3) der Islam ist das, als was er gründungsgeschichtlich erkannt werden kann; (4) der Islam ist „eigengeschichtlich“ und „total“.478 474 Vgl. Schulze: Islamwissenschaft, 81. Vgl. Schulze: Islamwissenschaft, 151-4. 476 Schulze: Islamwissenschaft, 202. 477 Schulze: Islamwissenschaft, 201. 478 Schulze: Islamwissenschaft, 202. 475 242 Sicher führen Wielandt und Tillschneider ganz unterschiedliche Argumentationslinien, aber sie repräsentieren zwei populäre Perspektiven und Vorgehensweisen bei der Auseinandersetzung von Islamwissenschaftlern mit ihrem Forschungsobjekt. Eine problemorientierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Fach, wie es sie in jeder anderen geistes-, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Disziplin gibt, findet sich in der Ausbildung der Islamwissenschaftler flächendeckend kaum oder gar nicht. Die geringe Forschungsliteratur dazu spiegelt diesen Umstand wieder. Bis auf wenige Ausnahmen, die versucht haben, Erklärungsansätze und Denkmodelle zur Reflektion der eigenen Rolle als Islamwissenschaftler in Geschichte und Gegenwart zu liefern, bleibt das Thema virulent aber noch weitgehend unbearbeitet.479 479 Einige Autoren haben sich aus verschiedenen Disziplinen und Perspektiven unter Fokussierung verschiedener Fragestellungen an das Thema begeben. Allen Auseinandersetzungen voran steht das wegweisende Werk von Edward Said: Orientalism. 1978. Zur Diskussion von Saids umstrittener Orientalismus-These siehe Macfie (Ed.): Orientalism. 2000. In Bezug auf Südasien siehe Breckenridge (Ed.): Orientalism and the Postcolonial. 1993; Jung: Orientalists. 2011 befasst sich mit dem sogenannten Essentialismus bzw. dem essentialistischen Image des Islam. Jung geht zurück zu den „Urvätern“ der Islamwissenschaft, wie zum Beispiel Joseph Schacht. Dabei geht er vornehmlich der Frage nach, warum Islam – so nimmt er an – als holistisches System wahrgenommen wurde/wird, besonders für das Thema Islam als Studienobjekt siehe darin 157-213. Poya/Reinkowski (Eds.): Unbehagen. 2008; obwohl dieser Band eine Breite an recht gegensätzlichen methodischen und inhaltlichen Positionen zur Islamwissenschaft aus der Islamwissenschaft aufführt, setzt sich vor allem Sing problemorientiert und pointiert mit dem eigenen Fach auseinander. 171-192. Varisco: Islam Obscured. 2005; zwar eine Auseinandersetzung aus der Disziplin der Anthropologie, dennoch für die Beschäftigung mit dem Islam relevant. Besonders im Hinblick auf die Kapitel über Clifford Geertz (21-51) und Ernest Gellner (53-80), darüber hinaus wählt Varisco eine beinahe in Vergessenheit geratene prominente Diskursteilnehmerin zur genaueren Betrachtung eines ihrer Schlüsselwerke, Fatima Mernissi (81-113). 243 2. Fazit Muslimische Reformdenker, wie etwa Engineer, sind als religiöse Akteure im Diversitätsdiskurs ernstzunehmende Gesprächspartner. Meine Studie zeigt, dass der zeitgenössische Zugang zum Koran, den Engineer und ähnliche Denker entwickeln, nicht nur eine innerreligiöse Relevanz hat, sondern durchaus auf die Frage Antworten gibt, welche (normativen) Konzepte Muslime im Umgang mit Diversität entwickeln. Engineer bejaht, befürwortet und begründet koranisch, dass der, die, das Andere angenommen werden soll, damit es so einen gesellschaftlichen und im weitesten Sinn als langfristiges Ziel globalen Frieden geben kann. Dabei ist der Koran selbst für ihn ein starkes Argument. Ich habe eine Tiefenbohrung des Forschungsmaterial, als auch eine Betrachtung auf der Metaebene über die Rezeption dieses von mir untersuchten Phänomens durch die Wissenschaft vorgenommen. Zu diesem Zweck habe ich sowohl die Texte Engineers und seinen methodischen Zugang zum Koran untersucht und systhematisiert als auch über die Bewertung solch einer Herangehensweise durch die islambezogene Forschung reflektiert, die sich schwer tut, ausgetretene Pfade zu verlassen. Dies wird der Anstrengung und der Leistung, die durch Muslime in der Auseinandersetzung mit dem Koran, der Moderne und ihrer Tradition erbracht wird, nicht gerecht. Vielmehr werden Reformdenker häufig nur oberflächlich betrachtet oder nicht ernstgenommen, da ihre Legitimität und Autorität in Zweifel gezogen wird. So gelingt es nicht, die Motive offen zu legen und die Lösungsansätze dieser Denker inhaltlich zu diskutieren. In der modernen Gegenwart ergibt sich die Diversität weltweit durch globale Migration, kriegerische Auseinandersetzungen und wirtschaftliche Krisen. Engineers Koranlektüre lehnt exklusivistische Modelle des Zusammenlebens (sic!) und 244 solcherart normative Konzepte ab. Das muss auf Kritik stoßen, da er auf diese Weise bestehende Strukturen und Traditionen infrage stellt. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es hier nicht, die Entscheidung darüber zu treffen, ob solch ein Zugang zum Koran und die entsprechenden exegetischen Ergebnisse zulässig seien -diese Diskussion soll den Gläubigen selbst vorbehalten bleiben-, sondern, soweit möglich, den Erkenntnisweg und -prozess nachzuzeichnen und die Komplexität anerkennend, Folgen aufzuzeigen und kritisch zu reflektieren. Dass sich in die Kritik an solchen alternativen Zugängen zum Koran auch solche von Wissenschaftlern einreiht, konnte ich unter Diskussion der Stichworte Subjektivität und Selektivität aufzeigen. Entscheidend für die Beantwortung der übergeordenten Leitfrage ist, welches Ergebnis diese alternativen Zugänge und damit die Frage, ob sie konstruktive für das friedliche Zusammenleben entscheidende Beiträge entwickeln können, oder ob sie zu ganz anderen Ergebnissen gelangen. Für meine Untersuchung hatte ich einen Reformdenker gewählt, für den ersteres sein exegetisches Ziel war, zu dem er durch seinen subjektiven und selektiven Umgang mit den Heiligen Quellen des Islam gelangt. Die Selektivität bei der Textauswahl aus dem Heiligen Text, folgt unter anderem aus der Subjektivität, da für die eigene Position, innerhalb der Offenbarung Prioritäten gesetzt werden müssen. Schließlich ist nicht alles gleichermaßen relevant für die subjektive Religiosität. Engineer und andere Reformdenker wählen gezielt Koranverse, die das eigene Weltbild und Argument unterstützen, das heißt, folglich auch das eigene subjektive Religionsverständnis untermauern und andere ausklammern. Ich bezeichne diese Vorgehensweise, als relevanzorientierte Koranlektüre. Die eklektische Wahl der Referenzquellen bedingt sich ebenfalls aus dieser Herangehensweise an den Korantext. 245 Die Subjektivität einer eigenen Position kann nur durch eine differenzierte Abgrenzung gegenüber anderen (subjektiven) Positionen erfolgen, dazu gehört auch die Abgrenzung, so wie Engineer es tut, von negativen Islam-Stereotypen. Infolgedessen greift Engineer diese Stereotype auf und diskutiert, inwiefern sie zutreffen und was er diesen Stereotypen stattdessen entgegensetzt. Er liest den Korantext ausgerichtet auf diese Problemlösung. Dies entspricht sowohl einer traditionellen als auch einer modernen Position. Dies äußert sich in dem Wunsch, den Koran ohne die Vermittlung durch Ulama oder anderer „Mittler“ selber zu lesen. Der Gläubige soll sich selbst ein Bild machen, selbst reflektieren. Das Begriffspaar Religion und Moderne ist sehr ambivalent zu verstehen. Das gilt sowohl für das Verhältnis der Moderne zu Religion als auch in Bezug auf das Verhältnis der Religion zur Moderne: Wie soll der religiöse Mensch modernen Gütern und Errungenschaften entgegentreten? Soll er sie moralisch verdammen und wegen ihrer Gefahren ablehnen? Reagiert er positiv, weil diese modernen Güter das Bild und das Verständnis von Gott, Mensch und Welt entscheidend verändert haben? Diese Fragen finden sich in den Texten Engineers in verschiedener Ausprägung wieder. Einerseits reiht er sich bei bestimmten Themen in den Diskurs der Globalisierungskritik ein, andererseits betont er durch die starke Identifizierung mit dem indisch geprägten Säkularismuskonzept die modernen Errungenschaften, die ein Zusammenleben in einer pluralistischen Welt im Allgemeinen und einer Gesellschaft im Besonderen auf friedliche Art und Weise ermöglichen sollen und dies auch über kürzere oder längere Einheiten meistern. Die themen- und problemorientierte Herangehensweise an den Koran resultiert aus der Umkehrung des Lektüre- und Erkenntnisinteresses in Bezug auf den Koran. Statt den Koran um des Koran Willens zu verstehen, dominiert in der 246 Gegenwart das Bedürfnis, den Koran zu lesen, um die Welt zu verstehen. Diese von der bisher tradierten und etablierten Herangehensweise abweichende Methode steht gleichermaßen im Bezug zur Moderne und zur Tradition. Es geht schließlich darum, ein neues Verständnis, ein neues Narrativ zu etablieren, ohne den gesamten Koran zu interpretieren, sondern nur relevanzorientiert Verse zu lesen, um Fragen und Probleme der Gegenwart zu lösen, oder sie neu zu betrachten. Wenn man so will, die Tradition in der Moderne zu gestalten. In diesem Zusammenhang gehören Subjektivität und problemorientierte Herangehensweise an den Korantext zusammen. Schließlich empfindet nicht jeder etwas gleichermaßen als Problem, und nicht jeder misst demselben Problem gleichermaßen Bedeutung zu. Das stellt die Muslime, seien es Gelehrte, Reformdenker oder Laien, vor Herausforderungen im Hinblick auf das Aushandeln und Verhandeln der Relevanz und Problematisierung solcher Fragen. Nicht überall wird es die Bereitschaft zur Verhandlung geben. Unter denjenigen, die den Koran interpretieren oder als entscheidenden Referenzrahmen für sich gewählt haben, befinden sich solche, die Probleme und Fragen sehen, die es sozial oder politisch zu lösen gilt, die Andere hingegen als wesentlichen Kern des Islam wahrnehmen. Dieser wesentliche Kern wird von ihnen als unveränderbar und um jeden Preis schützenswert betrachtet, auch wenn dies schwerwiegende gesellschaftliche Probleme schafft wie beispielsweise im Falle bestimmter Vorstellung zu den Geschlechterrollen. In solchen Debatten und in einzelnen Auslegungen verhandeln und definieren die Diskursteilnehmer, was das Wesen des Islam sei. Sie machen implizit oder explizit Aussagen über die „Essenz“ des Islam und darüber, welche Teile sekundär zu betrachten seien, weil sie historisch oder sozial fixiert seien und welche davon flexibler Natur seien. Engineers Betonung von Werten sowie seine kritische Bewertung von Aussagen etablierter muslimischer 247 Gelehrter sowie die Ablehnung bestimmter religiöser Praxis als unqur’anic oder unislamic sind beispielhaft für diese unterschiedlichen Perspektiven. Die Reaktionen der islambezogenen Wissenschaft und Forschung auf dieses ambivalente und komplexe Gefüge sind bezeichnend. Nicht selten kommt es zu Kompetenzüberschreibungen bei der Bewertung und Einordnung dieser Phänomene, die nicht zuletzt der Annahme entstammen, den Islam an einem als gegeben angenommenen modernen („europäischen“, „abendländischen“, „christlichen“) Referenzrahmen zu messen. Dem Paradigma Moderne wird der Islam als Ganzes entgegengesetzt und außerhalb dessen betrachtet. Dass es dabei zu monokausalen Erklärungen kommen muss, ist nicht vermeidbar. Grundsätzlich, so scheint es, wird über Islam und Muslime in der modernen Gegenwart anders geschrieben als beispielsweise über Christen, da die modernen rationale Religionskritik sich in der protestantischen Tradition verortet und damit eine Deutungshoheit für sich herleitet. Aussagen von Muslimen über die Moderne, über Religion oder über Säkularisierung können innerhalb dieser Logik folglich nicht grundsätzlicher, sondern nur partieller Natur sein. Folgerichtig „dürfen“ Muslime zwar Aussagen über ihr eigenes Religionsverständnis oder Moderneverständnis machen, aber keine essentiellen Beiträge zur Theoriebildung oder zu grundsätzlichen Fragen liefern. Muslime bleiben damit vom sogenannten Zentrum ausgeschlossen, dem die „echte Denkarbeit“ vorbehalten bleibt. Die Peripherie kann Theorien aus dem Zentrum verwenden, aber nicht weiterentwickeln, wie beispielsweise die Anmerkung von Wielandt über Hasan Hanafi deutlich macht. 248 3. Ausblick In dieser Arbeit habe ich den Versuch unternommen, eine Stimme im Islamdiskurs der Gegenwart, exemplarisch die Positionen Asghar Ali Engineers, aufzuzeigen. Nicht alle Forschungsergebnisse haben der Stringenz geschuldet Eingang in die Arbeit finden können. Ebenso haben sich zahlreiche andere Fragen ergeben, deren Erforschung nicht nur für eine Ideengeschichte des Islam wünschenswert ist. Dazu gehört Engineers Verhältnis zum Sozialismus, das mithilfe einer Übersetzung oder Edition seiner Werke zum Thema aus dem Urdu erschlossen werden könnte. Die soziale Arbeit, zu der auch die religiöse Aufklärung und Bildung von Muslimen gehört, ist ein weiteres Feld, das sich vor allem für eine ethnologische Studie anbietet. Zur Zielgruppe dieser Sozialarbeit gehören verschiedene soziale Gruppen wie etwa Polizisten und Multiplikatoren in der AIDS-Aufklärung. Außerdem zielt die Arbeit des CSSS auf muslimische Frauen ab, deren Unkenntnis des Koran es zum Anlass genommen hat, Bildungs- und Aufklärungsarbeit in vernachlässigten sozialen Gegenden Mumbais und anderer Teile Indiens zu leisten. Dieser Thematik im Zusammenhang mit der Frage nach der Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft nachzugehen, wäre eine wertvolle Arbeit, die nicht nur für die Disziplin der Genderstudies interessant wäre. Aus der Disziplin der Wissensforschung wäre eine Wissenschaftskritik empfehlenswert, die einmal die Texte der EI² und EQ genau auf ihre Darstellung des Islam hin zum Untersuchungsgegenstand nehmen würde. 249 250 4. Bibliographie Primärquellen Abruf aller Weblinks zuletzt am 30.08.2014 Texte von Engineer, Asghar Ali Alle Texte, die mit csss und iis bezeichnet sind, finden sich auf diesen Websites: csss iis : www.csss-isla.com/archives.htm : www.csss-isla.com/iis-archives.htm Ein Werksverzeichnis findet sich auf der Website des CSSS: www.csss-isla.com/publication.htm Autobiographie A Living Faith. My quest for peace, harmony and social change. An autobiography of Asghar Ali Engineer. New Delhi [u.a.]: Orient Black Swan 2011. Monographien in Urdu Lukash aur marksī tanqīd (dt. Lukasz und die marxistische Kritik). Delhi: Dar alIsha’at Taraqqi. 1982. Qur’an main auratka daraja (dt. Die Stellung der Frau im Koran). 1985 Monographien in Englisch Islam and Liberation Theology. Essays on liberative elements on Islam. New Delhi: Sterling Publishers1990 251 Artikel The Allure of Sufism. In: DAWN Magazine Pakistan. In:www.dawn.com/news/747686/the-allure-of-sufism . 7.09.2012. Communal Riots 2003. In: Economic and Political Weekly. Vol. 39, Issue 1, Jan. 3-9, 2004. 21-4. The Concept of ‘Other’ in Islam. September 2001, iis. Divorce in Qur’an and Shariah. April 1-15, 2008, csss. Is Islam Compatible with Socialism? July 2011, csss. Is Progressive Islam Possible? September 2006, iis. Islam and Muslims in India. Problems of identity and existence. In: Oriente ModernoVol. 23 (84), Issue 1, 2004. 71-82. Muslims, Modernity and Change. June 1-15 2000, csss. Muslim Views of Hindus since 1950. In: Waardenburg, Jacques (Ed.): Muslim Perceptions of Other Religions. A historical survey. New York [u.a]: Oxford Univ. Press 1999. 263-9. Other World is Possible. What role religion can play. April 1-15, 2006, csss. Problems of Pluralism. August 2011, iis. Rape and Punishment. Conservatives exposed. January 16-31, 2013, csss. Religion and Poverty. April 2008, iis. Religion and Society. A note on dialectical relationship. November 2007, iis. Resolving Hindu-Muslim Problem: An approach. 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On Multiple Understanding of the Qur’an. September 2004, iis. On Normative and Contextual in Understanding the Qur’an. June 2006, iis. On Understanding the Qur‘an. June 2006, iis. Concept of Justice in Qur‘an and the Islamic World. April 2004, iis. Qur’an and Higher Morals. September 2011, iis. Modern Muslim Intellectuals and the Qur’an. October 2004, iis. The Opening Chapter of the Qur’an. Its ecological interpretation. August 2009, iis. 2) Themenkomplex Zusammenleben Nr. 1 Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 Nr. 5 Nr. 6 Nr. 7 Nr. 8 Nr. 9 Nr. 10 Armed Fight is not Jihad. March 2003, iis. Qur’an and other Religions. January 2006, iis. Islam and Punishment for Apostasy. April 2006, iis. On Kufr, Jihad and Cow Slaughter, and Dar al-Harb. July 2006, iis. Bomb Blast in Mumbai. Crossing the limits. July 16-31, 2006, csss. A Critical Look on Qur’anic Verses on War and Violence. July 2008, iis. Jihad? But what about other Verses in Qur’an? October 2008, iis. Centrality of Jihad in the post-Qur’anic Period. March 2009, iis. India is Darul Mr. Singhal. March 1-15, 2009, csss. Religion as I view it. February 2010, iis. 3) Themenkomplex Geschlechterdifferenz Nr. 1 On a Muslim Woman Leading the Congregational Prayer. May 2005, iis. Nr. 2 Women’s Plight in Muslim Society. November 1-15, 2006, csss. Nr. 3 Women’s Discourse in Qur’an. Right-based or duty-based? January 2007, iis. Nr. 4 Shari’ah, Women and Traditional Society. August 2005, iis. Nr. 5 Violence against Women and Religion. July 2009, iis. Nr. 6 Qur’an, Hadith and Women. February 2008, iis. Nr. 7 Women and Understanding of Qur’an. December 2007, iis. Nr. 8 Islam, Women and Gender Justice. January 2000, iis. Nr. 9 On Women’s Question in Islam. July 2010, iis. Nr. 10 Muslim ‘Ulama and Status of Women. May 1-15, 2007, csss. 253 4) Themenkomplex Säkularismus Nr. 1 Islam and Secularism. October 2000, iis. Nr. 2 Religion or Secularism? June 2009, iis. Nr. 3 Contemporary Challenges to Secularism and Democracy. A religious response. April 1-15, 2005, csss. Nr. 4 Religion, Law and Secular Governance. December 16-31, 2004, csss. Nr. 5 Religion, Religious Institutions and the State. December 1-15 2004, csss. Nr. 6 Education, Secularism and Human Values. October 1-15, 2004, csss. Nr. 7 Secularism in India. (Part 1) June 16-30, (Part 2) July 1-16, 2006, csss. Nr. 8 Indian Muslims and Secularism. October 16-31, 2003, csss. Nr. 9 Islam and the West. What Muslims should do? May 2008, iis. Nr. 10 Is Islam Compatible with Democracy and Modernity? August 2003, iis. 5) Themenkomplex Religion Nr. 1 Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 Nr. 5 Nr. 6 Nr. 7 Nr. 8 Nr. 9 Nr. 10 Meaning and Significance of Religion. September 2005, iis. Religion and Liberation. February 2005, iis. Religion as Faith and Religion as an Identity. January 2012, iis. Religion? What it means and what is practice? June 2012, iis. Modernity, its Discontent and Religion. February 2009, iis. Should Religion be Power Centred? March 2010, iis. Tradition and Modernity in Islam. July 2006, iis. Reform and Change in the Islamic World. October 2005, iis. Religion and Freedom of Conscience. February 2004, iis. Religion and Society. A note on dialectical relationship. November 2007, iis. 6) Reiseberichte Beyond Boundaries. My travels abroad. In: Engineer, Asghar Ali: A Living Faith. My quest for peace, harmony and social change. An autobiography of Asghar Ali Engineer. New Delhi [u.a.]: Orient Black Swan 2011. 111-333. My Latest Turkey Visit. December 1-15, 2010, csss. My Visit to Afghanistan. July 16 – August 15, 2011, csss. 254 Sekundärquellen Abdel Haleem, M.A.S.: Koranic ‘jihād’. A linguistic and contextual analysis. In: Journal of Qur’anic Studies 12 (2010), Issue 1-2. 147-66. AbuKhalil, Asad / Mahmoud Haddad. The Oxford Encyclopedia of the Islamic World. Oxford Islamic Studies Online. Abu-Rabi, Ibrahim (Ed.): The Blackwell Companion to Contemporary Islamic Thought. Malden [u.a.]: Blackwell 2006. Abu Zaid, Nasr Hamid: Mohammed und die Zeichen Gottes. 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