Heinz-Jürgen Bräuer Fächerübergreifender Unterricht in der Grundschule – Anmerkungen, Anfragen, Vorschläge aus musikdidaktischer Sicht Einleitung § § § § § § Sachkunde: Kreislauf des Wassers Mathematik: Flüssigkeitsmengen Deutsch: Erzählung „Eine Kanufahrt auf der Donau“ Religion: Taufe Jesu im Jordan Kunst: Malen eines Bildes mit Wasserfarben Musik: „Die Moldau“ von Friedrich Smetana Zugegeben, ein konstruiertes, in der Praxis aber so oder ähnlich anzutreffendes „Programm“ eines fächerübergreifenden Unterrichts zum Thema „Wasser“. Aber mit der Ansicht, hier handele es sich um ein Thema, fangen schon die Probleme an! „Wasser“ ist kein Thema, sondern ein isolierter Begriff, der nur über sein (zufälliges) Vorkommen in anderen Fächern künstlich Verbindungen zwischen Inhalten verschiedener Fächer herstellen soll. Nur aufgrund einer mangelhaften Themen- bzw. Problemstellung ohne klare Erkenntnisrichtung können die verschiedenen Fächer überhaupt nach ihren Beiträgen angefragt werden. Wir haben es mit einer tendenziell grenzenlosen Zusammenstellung von Gegenständen zu tun, deren ‚Bezüge‘ bzw. gemeinsame Strukturen nicht aufgewiesen werden. Und das könnte nur gelingen, wenn wir sie definieren. „Jede Definition (aber) bedeutet Eingrenzung und Ausgrenzung“1 . Zusammenhänge sind ohne Grenzziehungen nicht zu haben. Die Grenze ist der fruchtbare Ort sinnstiftender Erkenntnis. Ist Musik nicht aber das ganz Andere, mit Gegenständen und Vorgängen in der Natur (Teich, Kreislauf des Wasser ....) nicht vergleichbar? Lässt sie sich in (wissenschaftliche) Zusammenhänge einbinden, kann sie Anteil haben an den Bemühungen, Zusammenhänge herzustellen, Bedeutungen anzubieten, Sinn zu vermitteln? Der Artikel versucht, sich der angedeuteten Problematik immer wieder aus anderer Perspektive zu nähern; konkrete unterrichtspraktische Anregungen werden dabei nicht vorenthalten. Funktionen fächerübergreifenden Unterrichts in der Grundschule Der allseits auch für die Grundschule geforderte fächerübergreifende Unterricht kann je nach eingenommener Perspektive unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. § Propädeutische Funktion Als erste Stufe (Primarstufe) des allgemeinbildenden Schulwesens für eine grundlegende Bildung zuständig, kann sich die Grundschule den aktuellen Forderungen nach fächerübergreifendem Unterricht nicht entziehen. Sie wird – begründet durch Vorverständnis und Erfahrung der Kinder – komplexe Themen bzw. quer zu den Fächern liegende Fragestellungen aufgreifen und mit ihren Möglichkeiten aus unterschiedlicher (Fach-) Perspektive bearbeiten. § Lernpsychologische Funktion Interesse und Fragestellungen des Grundschulkindes sind in der Regel nicht oder nicht ausgeprägt gefächert. Margarete Götz verdeutlicht diese offene Fragehaltung am Beispiel der Fragen, die Drittklässler zum Thema „Auge“ haben2. Fachgrenzen sprengende Fragen konstituieren auf selbstverständliche Weise fächerübergreifenden Unterricht, da sie auf „Erklärungs-, Wirkungs- und Begründungszusammenhänge abzielen“, die aus einer Fachperspektive nicht aufgedeckt werden können3. Die lernpsychologische Bedeutung liegt in der intrinsischen Motivation, die selbstständiges Denken in Gang setzt und die Kinder zu einer Suchbewegung ermuntert, die – wenn Lernen richtig verstanden wird – nie beendet ist. § Adaptive Funktion Die fortschreitende Individualisierung und Differenzierung der kindlichen (Bildungs-)Profile zwingt zu mehrperspektivischem und aspektreichem Unterricht. Der kann eher gelingen, wenn sich die Schule als Institution 1 bzw. wenn sich die einzelnen Fächer „öffnen“ und einen Anpassungsprozess an die (zugegebenermassen) sehr heterogenen Alltagswelten der Kinder initiieren. Fachspezifische Methoden und Inhalte bzw. Lehrgänge verlieren dabei nicht ihre Bedeutung, werden aber aus ihrem Kanon herausgelöst und unter fächerübergreifenden Aspekten neu gewichtet und bewertet4. § Ordnende (orientierende) Funktion Vereinzelte Wissens-, Könnens- und Erfahrungsbestände sind für sich genommen unbedeutend. Bedeutung können sie für den Menschen nur erlangen, wenn sie unter bestimmten Fragestellungen verantwortlich aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden. Diese „Spezialisierung auf Zusammenhänge“5, diese Bedeutungszuweisung macht das Lernen nachhaltig und schafft immer wieder neue (andere) Ein- und Ausblicke. Additive bzw. integrative Konzeption fächerübergreifenden Unterrichts „Im Grundschulbereich ist ... die häufige Praxis zu kritisieren, dass es nicht genügen kann, eine Geschichte zu erzählen, ein Bild zu malen und ein Lied dazu zu singen“, um der Forderung nach fächerübergreifendem Unterricht gerecht zu werden6 . Beispiele aus Literatur und Praxis zeigen, dass fächerübergreifender Unterricht, in dem auch die Musik vertreten ist, in der Regel dieser additiven Art und Weise zuzurechnen ist7. Fächerübergreifender Unterricht dieser (additiven) Art ist mit zwei Mängeln behaftet: 1. Ohne eine präzise Fragestellung, d.h. ohne eine erkenntnisleitende Themenstellung werden Inhalte verschiedener Fächer unverbunden nebeneinandergestellt, ohne auf ihre strukturellen Eigenarten Rücksicht zu nehmen8. 2. Es kommt nicht selten zu einer Stoffanhäufung, in der die Kinder zu ertrinken drohen, ohne dass ihnen der Rettungsring „zusammenhangstiftende Erkenntnis“ zugeworfen würde9. Eine integrative Konzeption wird versuchen, ausgehend von einer einem bestimmten Fach zuzuordnenden Thematik den Blick auf Aspekte und Implikationen zu lenken, die das Bezugsfach übersteigen, zu dessen Bearbeitung Kenntnisse und Methoden anderer Fächer herangezogen werden müssen. Es werden damit Konsequenzen gezogen aus der Tatsache, dass Vorverständnis und Bildungsprofil der Kinder sich immer mehr individualisieren. Wenn ein Thema aspektreich und von unterschiedlichen Standpunkten aus angegangen wird, können sich Kinder mit ihren divergierenden Wissens- und Könnensbeständen in ihm wiederfinden und aus der Bearbeitung Gewinn für ihren eigenen Bildungsprozess ziehen10. Kann nun das Fach Musik die konzentrierende Funktion eines Leitfaches übernehmen? Ist das ein von der Sache und vom Musik-Curriculum der Grundschule her einzulösender Anspruch? Oder ist die Verwendung von Musik (immer) nur in einem additiven Kontext möglich? Könnte auch für sie der Satz von Martin Wagenschein gelten: „Je tiefer man sich in ein Fach versenkt, desto notwendiger lösen sich die Wände des Faches von selber auf und man erreicht die kommunizierende, die humanisierende Tiefe, in welcher wir als ganze Menschen wurzeln, und so ... verwandelt und also gebildet werden“11. Ein wichtiges fächerübergreifendes Lernziel ist heute das Einüben in die Fähigkeit, sich trotz unterschiedlicher sozialer, ethnischer bzw. religiöser Herkunft zu verständigen und solidarisch zu handeln. In Lehrplänen der Grundschule wird dieses Lernziel unter wechselnden Themenstellungen aufgegriffen12. Ein Beispiel aus der ZAUBERFLÖTE zeigt, wie Mozart die sich völlig fremd gegenüberstehenden Figuren TAMINO und PAPAGENO zu gemeinsamem Handeln führt. TAMINO und PAPAGENO sind von der dramatischen Konzeption des Librettos dazu ausersehen, eine Entwicklung in Gang zu setzen, an deren Ende ihrer beider Selbstfindung steht. Obwohl sie sich zunächst kaum als Menschen akzeptieren (PAPAGENO: „Wer ich bin? Ein Mensch wie du ....“, TAMINO: „... ich zweifle, ob du Mensch bist“.), machen sie sich gemeinsam auf den Lebensweg (PAPAGENO allerdings nur unter gewissem Druck). Mozart gestaltet den allmählichen Annäherungsprozess, bei dem jeder seine musikalische (melodische) Identität bewahrt, schrittweise: Takt 1 – 19: Beide Figuren werden mit unterschiedlichem melodischen Material vorgestellt (abwechselnd vier Takte). Takt 19 – 27: Sie kommen sich näher, ihre melodischen Einwürfe werden kürzer, der Dialog beginnt (wird intensiver). Takt 27 – 33: Beide singen gemeinsam unter Beibehaltung ihres jeweiligen melodischen Materials. Wolfgang Amadeus Mozart: Zauberflöte, Nr. 5 Quintett (Tamino, Papageno und die drei Damen)13. 2 Einige unterrichtspraktische Hinweise: § § § § § Handlung erzählen Figuren (Tamino, Papageno) vorstellen, malen Singübungen mit geschlossenem Mund (Papageno hatte für seine Lüge, er habe die Tamino bedrohende Schlange umgebracht, von den drei Damen der Königin der Nacht ein Schloss verpasst bekommen) Interpretation der beiden Figuren durch Modellierung eines Standbildes Szenische Gestaltung in Verbindung mit der Musik (Playbackverfahren) Die Verbindung von Musik und Szene (Spiel, Bewegung) ist ein zentrales Feld ästhetischer Produktion in Geschichte und Gegenwart (Musiktheater, Film, Tanz, Performance). In der Grundschularbeit spielt die Verklanglichung von „außermusikalischen“ Vorlagen (Text, Bild, Bildergeschichte, Handlung, Naturvorgang) als Beitrag des Faches zu fächerübergreifenden Themen eine zentrale Rolle. Dabei ist eine Integration in Prozesse affiner ästhetischer Ausdrucksmedien vergleichsweise selbstverständlicher zu leisten als eine strukturelle Verbindung zu Wissenschaftsfächern. Ein spannungsreiches Aufeinanderbezogensein von Bewegung (Sprache, Bild) und Musik kann zur Integration der Ausdrucksbereiche beitragen, wohingegen eine Beziehung, ein Zusammenhang zwischen Sinfonischer Dichtung und Wasser, zwischen „Moldau“ und einem Litermass schwer möglich bzw. schwer erträglich. Eine Verklanglichung sollte, ausgehend von und verweisend auf eine(r) ästhetische(n) Frage- bzw. Problemstellung, sich im Bezugsrahmen von Repräsentation, Funktion und Form bewegen. Repräsentation: Mit diesem Begriff sind hier die verschiedenen Spielarten der klanglichen Realisierung gemeint: - Imitation: Nachahmung von in der Vorlage benannten akustisch-musikalischen Ereignissen Analogie : akustisch-musikalische Entsprechung zum „außermusikalischen“ Äquivalent Symbolik: akustisch-musikalische „Vokabeln“, Figuren, die Gefühle, innere Bilder (Vorstellungen) repräsentieren Funktion: Die Musik kann u.a. szenische Vorgänge (einen Textausschnitt, ein Bild ...) klanglich verdoppeln, je nach verwendetem musikalischen Material eine Szene unterschiedlich kommentieren bzw. als eine Art Kommentar „quer“ zur Szene stehen. Form: Eine Verklanglichung wird keinesfalls bei einzelnen, vereinzelten, die Kinder schnell ermüdenden Klangaktionen stehenbleiben (Reiz-Reaktion-Schema), sondern versuchen, mit den instrumentalen, spieltechnischen und mentalen Möglichkeiten der Schüler eine Zusammenhang stiftende (integrierende!) Gestalt zu entwerfen. Wechselseitige Bezogenheit von fächerübergreifendem Unterricht und Fachunterricht Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass der fächerübergreifende Unterricht nicht auf den Fachunterricht verzichten kann. Aber es gilt auch das Umgekehrte: Fachunterricht kann fächerübergreifenden Unterricht nicht entbehren. Fachunterricht und fächerübergreifender Unterricht sind nicht als sich ausschliessende didaktische Arrangements anzusehen, sondern als solche, die sich gegenseitig bedingen und aufeinander angewiesen sind14[Linkà Anmerkungen]. Der Fachunterricht ist angewiesen auf fachbezogene Methoden, Inhalte und Sichtweisen, und fachspezifische, inhaltlich wie zeitlich begrenzte Lehrgänge erhalten ihre Legitimation aus der Einsicht in den Stellenwert eines zur Bearbeitung anstehenden fächerübergreifenden Themas. Wenn die Rolle der Fachaspekte im fächerübergreifenden Zusammenhang aber nicht klar und einleuchtend ist (wie bei additiven Ansätzen), dann kann der Lehrgang an Sinnhaftigkeit verlieren, was Konsequenzen für die Motivation haben muss. Dieses Wechselspiel des Denkens und Handelns sowohl in fächerübergreifenden Zusammenhängen als auch in fachlichen Bahnen lässt sich als didaktischer Prozess von Differenzierung (Fachaspekt) und Integration (fächerübergreifender Zusammenhang) verstehen. Am Beispiel eines Projektes „Straßenmusik“ soll versucht werden aufzuzeigen, wie sich beide didaktischen Arrangements verbinden lassen15. Der Autor des Projektberichts, Rainer Eckhardt, beschreibt ein Unternehmen, in dem verschiedene Aspekte bzw. unterschiedliche Fächer mit ihren Zielen und Inhalten zum Tragen kommen. Im Mittelpunkt steht der Kontakt zu Strassenm usikern. Aus ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit ergeben sich vielfältige Fragen zu Ort, Situation, Repertoire, sozialer Herkunft, Motivation, Wirkung auf Passanten, Geschäftswelt, Behörden ... 3 Aus der Sicht der Musikpädagogik werden folgende Intentionen genannt16: „Kenntnis der jeweiligen Instrumente mit ihren Klangfarben und Spielweisen; Verständnis für Strassenmusik als Form musikalischer Darbietung und musikalischen Ausdrucks; Einsicht in den Zusammenhang von musikalischer Form, Aufführungspraxis und situativen Bedingungen; Erweiterung der musikalischen Erfahrung und affektive Zugänge zu weniger bekannten Stilen; Umgang mit technischen Medien“. Aus musikdidaktischer Perspektive kann dieses komplexe soziokulturelle „Biotop“ durch folgende Lehrgangseinheiten erhellt bzw. transparent gemacht werden: 1. Sind unbekannte („exotische“) Instrumente im Spiel, werden anhand eines prägnanten Exemplars Geschichte, Spielweise (evtl. eigene klangliche Erprobung) und symbolische Bedeutung erarbeitet. 2. Mit Hilfe von zum Verkauf angebotenen Tonträgern wird ein Einblick in Besonderheiten und Wirkungsweisen von medial und live vermittelter Musik gegeben. 3. Handelt es sich um eine Folklore-Gruppe, ist die Beschäftigung mit der Musikkultur des Herkunftslandes denkbar, einschliesslich des Musizierens eines authentischen Stückes mit den Schülern zur Verfügung stehenden Instrumenten (Vergleich mit dem ursprünglichen Klangbild). 4. Zur medial präsentierten Musik (wesentlich anregender sind allerdings die im Klassenraum anwesenden Musiker; so auch in der Projektbeschreibung angedeutet) werden eine Bewegungsgestaltung, ein Tanz, ein Mit-Mach-Stück (Trommel-Gruppe!) erarbeitet. Musikalische (ästhetische) Fragen und Probleme formulieren und lösen Margarete Götz hat sehr eindrücklich dargelegt, welche didaktische Mehrfachbedeutung den Fragen von Grundschulkindern zukommt: Sie überschreiten die Fachgrenzen und fundieren den individuellen Lernprozess17. In ihrer Publikation über „Kinderfragen im Unterricht“ hat Gertrud Ritz-Fröhlich u.a. (auch) die Häufigkeit der Fragen bezogen auf Schulfächer statistisch ausgewertet. Danach schneidet der Musikunterricht insofern schlecht ab, als er nur ein sehr geringes Frageinteresse auslöst. Die Initialzündung für den fächerübergreifenden Unterricht geht aber – wie schon angedeutet wurde – von einer Fragestellung, einem (komplexen) Problem aus, zu deren Beantwortung (Lösung) Methoden und Wissensbestände verschiedener Fächer beitragen sollen. In der Übersicht zur „Verteilung der Fächerbezüge im fachübergreifenden Unterricht“ seiner Unterrichtsmodelle resümiert Moegling „die Dominanz der gesellschaftskundlichen Fächer und die Unterrepräsentanz der ... musisch-künstlerischen Fächer (Musik, Kunst)“18[Linkà Anmerkungen]. „Das Fach Musik hätte es nötig, sich aus seiner Isolation und daraus resultierend dem Zwang, sich selbst rechtfertigen zu müssen, durch Hinwendung zu anderen Fächern zu befreien“19. Soll Musik durch fächerübergreifende Einbindung aus ihrem vermeintlichen oder tatsächlichen Ghetto (mit der Folge von Bedeutungslosigkeit, ja Verzichtbarkeit) befreit und in praktische Handlungs- und Lebensvollzüge (re-) integriert werden? Oder sprengt Musik (die Kunst) das Selbstverständnis von Schule bzw. stellt es zumindest infrage? „Wir möchten so häufig wie möglich Inhalte aus der Musikpädagogik in unsere fächerverbindenden Themenbereiche einfließen lassen ...“20 . In Band 3 der FUNKELSTEINE werden unter dem „Thema“ FAMILIE („Die Familie als kleinste gesellschaftliche Zelle ist ein wichtiges Thema im Jahresplan des dritten Schuljahres ...“21) Töne (Noten) eines Liedes als Mitglieder einer „Töne-Familie“ bezeichnet, die „entweder auf einer Notenlinie oder in einem Zwischenraum wohnen"22. Der Vergleich mit einer sozialen Gruppe führt völlig in die Irre. Er ist nicht tragfähig und hilfreich, um in Probleme der Notation von Musik einzuführen. Einer spezifischen, sachbezogenen Auseinandersetzung mit Fragen der Verschriftlichung von Musik (Tönen, Klängen, Geräuschen) leistet er keinen Dienst. Die „Beziehungen“ zwischen den Tönen haben nichts mit Beziehungen zwischen Familienmitgliedern zu tun, und der Ton ‘a‘ kann die Wohnung nicht wechseln (es sei denn, er bekommt einen anderen Schlüssel). Fachliche Ansprüche (Aspekte) dürfen nicht auf dem Altar fächerübergreifenden Unterrichts geopfert werden. Die Bearbeitung von fächerübergreifenden Fragestellungen basiert auf dem Bemühen, Fachaspekte und –methoden zur Lösung heranzuziehen; das gilt auch (und gerade!) für den Umgang mit Musik. Eine brüchige metaphorische Verklammerung konstituiert kein fächerübergreifendes Arbeiten. Sprechen über Musik Überschrift und Inhalt des vorausgehenden Abschnittes legen es nahe, auf das Problem des Sprechens über Musik hinzuweisen. Allerdings können hier nur einige mögliche Hindernisse bzw. Vorurteile benannt werden, die einem vermehrten Sprechen über Musik in der Grundschule im Wege stehen23. Mit allen Sinnen lernen 4 Diesem (grundschul-)didaktischen Credo einer unmittelbaren sinnlichen Begegnung mit den Phänomenen ist grundsätzlich nicht zu widersprechen. Die Sprache sollte hierbei allerdings nicht ausgeklammert bleiben. Zwar führt die sprachliche Auseinandersetzung zu einer Distanz zu den Erlebnissen, die mit Musik verbunden sind, und sie kann auch – je nachdem wie intensiv sie „eingesetzt“ wird – diese Erlebnisse trüben bzw. beeinträchtigen24. Es hiesse aber einerseits den Bilder-, Gefühls- und Ausdrucksreichtum der Sprache verleugnen und andererseits ihre Bedeutung für eine diese Distanz überwindende und dann das Erlebnis vertiefende Kraft zu übersehen, wollte man das Sprechen über Musik vernachlässigen. „Verkopfung“ Musik ist eine begriffslose „Sprache“, deren Botschaft mit der Wortsprache letztlich nicht beizukommen ist. Als „Sprache der Innerlichkeit“ sei sie dem rationalen sprachlichen Zugriff entzogen, stehe mit ihm in Widerstreit. Ist schon „verkopfter“ Unterricht in anderen Fächern derzeit der Kritik ausgesetzt, um wieviel mehr gelte es dann, im Umgang mit Musik „Verkopfung“ zu vermeiden. Wenn von „verkopftem“ Unterricht die Rede ist, ist meines Erachtens ein bestimmter Typus von Sprache im Blickfeld: Eine Sprache, die abstrahiert, systematisiert und Begriffe definiert. Es gibt aber auch eine Sprache, die mit Assoziationen arbeitet, Bilder und Metaphern verwendet sowie individuelle Erfahrungen mitteilt. Und eine solche Sprache ist dem Umgang mit Musik besonders angemessen25. Wenn dem Schüler einer vierten Grundschulklasse beim Hören der „Gewittermusik“ aus Rossinis „Barbier von Sevilla“ (ohne dass der Titel bekannt ist) das Bild einer „Katze, die Mäuse fängt“ in den Sinn kommt, dann hat er die kompositorische Dramaturgie dieses kurzen Stückes durchaus verstanden. Vorrang des Tuns vor dem Denken / Sprechen Besonders für den Umgang mit Musik galt und gilt die didaktische Maxime, dass das eigene Tun den Königsweg zum Musikverständnis darstellt. Kinder aber können mehr verstehen, als sie praktisch ausführen können, so dass die Beschränkung auf reproduzierende Tätigkeit musikalische Erfahrungen und musikalisches Lernen verhindern kann. Und doch ist andererseits richtig, dass es „sprachliche und häufig der Sprache überlegene Medien“ gibt26 (Bewegung, Mimik, bildnerische Darstellung). Die Sprache kann als zentrales Medium angesehen werden, das zwischen Tun und Denken vermittelt. Unversehens trägt der Musikunterricht – wenn in ihm differenziert Sprache verwendet wird – zur Ausbildung sprachlichen Reichtums bei und erfüllt damit einen wichtigen fächerübergreifenden Auftrag. „Das ‘Unaussprechliche‘ der Musik ist eine besondere Herausforderung für die Sprache ....“27. Quellenangaben Literatur Alemann, U. v. (1999). Grenzen schaffen Frieden, ZEIT Nr. 6, 04.02.1999 Beck, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne 1986 Beidinger, W. / Meyerholz, U. / Schütte, H. (1997). Funkelsteine 2 –4. Fächerübergreifendes themenorientiertes Gestalten im Zusammenspiel von Musik, Kunst und Bewegung Brandstätter, U. (1990). Musik im Spiegel der Sprache. Theorie und Analyse des Sprechens über Musik Duncker, L. (1997). Vom Sinn des Ordnens, in: Duncker, L. / Popp, W. (Hrsg.). Über Fachgrenzen hinaus. Chancen und Schwierigkeiten des fächerübergreifenden Lehrens und Lernens. Bd. I Grundlagen und Begründungen Eckhardt, R. (1997). Wir erkunden die Straßenmusik, in: Musik und Unterricht , H. 47 Faust-Siehl, G. / Garlichs, A. / Ramseger, J. / Schwarz, H. / Warum, U. (1996). Die Zukunft beginnt in der Grundschule. Empfehlungen zur Neugestaltung der Primarstufe Götz, M. (1997). Die Fragen der Schüler und die Grenzen der Fächer, in: Duncker, L. / Popp, W. (Hrsg.). Über Fachgrenzen hinaus. Chancen und Schwierigkeiten des fächerübergreifenden Lehrens und Lernens. Bd. I Grundlagen und Begründungen Hintz, D. / Pöppel, K.G. / Rekus, J. (1993). Neues schulpädagogisches Wörterbuch Hopf, A. (1993). Grundschularbeit heute. Didaktische Antworten auf neue Lebensverhältnisse Kohls, E. (Hrsg.) (1994). Grundbegriffe zur Erziehung, zum Lernen und Lehren in der Grundschule Lammers, A. (1998). Zur Möglichkeit und Notwendigkeit fachüberschreitenden Unterrichts, in: Rekus, J. (Hrsg.). Grundfragen des Unterrichts. Bildung und Erziehung in der Schule der Zukunft 5 Moegling, K. (1998). Fächerübergreifender Unterricht – Wege ganzheitlichen Lernens in der Schule Nowak, A. (1997). Musikästhetik: in: Finscher, L. (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil Bd. 6 Popp, W. (1997). Die Spezialisierung auf Zusammenhänge als regulatives Prinzip der Didaktik, in: Duncker, L. / Popp, W. (Hrsg.). Über Fachgrenzen hinaus. Chancen und Schwierigkeiten des fächerübergreifenden Lehrens und Lernens. Bd. I Grundlagen und Begründungen Richter, Ch.. (1987). Die Sprache als Medium im Musikunterricht, in: Musik und Bildung, H. 7/8 Ritz-Fröhlich, G. (1992). Kinderfragen im Unterricht Schmitt, R. (1982). Fächerübergreifender Musikunterricht auf der Grundschule zwischen Utopie und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Musikpädagogik, H. 17 Wagenschein, M. (1970). Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken I Wallrabenstein, P. (1984). Fächerübergreifender Unterricht, in: Hopf, H. / Heise, W. / Helms, S.: Lexikon der Musikpädagogik Anmerkungen: 1 Alemann, U., 04.02.1999 Götz, M., 1997, S. 198 3 Götz, M., 1997, S. 199 4 Benner (Allgemeine Pädagogik. 1991) plädiert für eine Öffnung in drei Dimensionen: Methodisch, thematisch und institutionell; s. Hintz, D. u.a., 1993, S. 234 5 Ulrich Beck spricht in seinem Buch „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ von „Spezialisierung auf den Zusammenhang“ (1986, S. 295), um ein die spezialisierte Wissenschaftspraxis und die extrem arbeitsteilige industrielle Produktion korrigierendes Denkmodell anzubieten. Popp verwendet diesen Denkansatz als Instrument zu einer didaktischen Umstrukturierung der Fächer. Popp, W., 1997 6 Duncker, L., 1997, S. 127 7 Lammers, 1998: „Wasser“, Beitrag der Musik: „Regenschirmtanz“, „Wassertropfenlied“, „Wassermusik“ von Händel; „Baum“ in: Hopf 1993; „Gespenster“ in: Kohls 1994; „Pause“ in: Beidinger u.a.: Funkelsteine 2, 1997 8 Götz, M., 1997, S. 196 Popp, W., 1997, S. 149 9 Faust-Siehl, G. u.a., 1996, S. 60 10 Hintz, D. u.a. 1993, S. 161: Die Herausgeber gehen davon aus, dass angesichts des Verlustes einer einheitlichen (vereinheitlichenden) Bildungsidee der einzelne Mensch (Schüler) selbst als Subjekt verantwortlich ist für das einheitsstiftende ‚Prinzip‘ seiner Bildung. 11 Wagenschein, M., 1970, S. 229 12 Im Bildungsplan Grundschule von Baden-Württemberg aus dem Jahr 1994 heißt es z.B.: „Sie (die Grundschule, B.) erzieht zu sozialer Bewährung und zum selbstverständlichen Umgang mit Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft ....“ (S. 10) 13 Bearbeitung und Notensatz: Frank Schmidt 14 Popp verweist in seinem Artikel auf verschiedene (auch historische) Konzepte dieser Wechselwirkung; Popp, W., 1997, S. 145 ff. 15 Eckhardt, R., 1997 16 Eckhardt, R. ebd., S. 6 17 Götz, M., 1997 18 Moegling, K., 1998 19 Wallrabenstein, P., 1984, S. 75; s. auch Schmitt, R. 1982, S. 34 20 Beidinger, W. u.a., 1997, S. 55 21 Beidinger, W. u.a., ebd., S. 89 22 Beidinger, W. u.a., ebd., S. 14 23 Was aus der Sicht des Autors fehlt und von der Forschung aufgegriffen werden sollte, sind Untersuchungen über das Sprachverhalten von Grundschulkindern in der Begegnung und Auseinandersetzung mit rezipierter Musik. Sie könnten Aufschluss geben über ihr Sach- und Selbstverständnis im Spiegel der benutzten Sprache. 24 Richter, Ch., 1987 25 Vgl. auch Brandstätter, U., 1990; Musik und Unterricht 1992, H. 15 26 Richter, Ch. ebd., S. 569 27 Musik in der Geschichte und Gegenwart (MGG), 1997, Bd. 6, S. 986 2 6