1 Rachel Heuberger, M.A. Der "Glaube der ungläubigen Juden

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Rachel Heuberger, M.A.
Der "Glaube der ungläubigen Juden" - Die Wissenschaft des Judentums in Deutschland
Vortrag gehalten im Rahmen der Ausstellung „Kulturen im Kontext – Zehn Jahre Sammlung Deutscher Drucke“
am 10.12.2000 in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (Paulinerkirche)
Die Wissenschaft des Judentums ist heute als eigenständige und universitäre Disziplin anerkannt. Ihre
Zentren liegen vor allem an den Hochschulen in den USA und in Israel, sie hat sich aber mittlerweile
auch an den Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland wieder etabliert. Dies war in
Deutschland lange Jahre nicht der Fall und stellt eigentlich ein Novum in der Nachkriegsgeschichte
dar. Nach der Vertreibung und Ermordung der deutschen und europäischen Juden durch die
Nationalsozialisten herrschte in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende eine verständlicherweise
zögerliche und zurückhaltende Entwicklung, was Forschungsvorhaben zum Judentum anbetraf.
Deutschland war "ein Land ohne Juden" oder doch mit einem verschwindend geringen jüdischen
Bevölkerungsanteil - bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 60 Mill. lebten bis 1990 stets nur an die
30.000 Juden hier. Einerseits fehlten die jüdischen Wissenschaftler, die - soweit sie emigrieren
konnten - ihre Forschungen im Ausland weitergeführt haben; andererseits bestand kein Interesse der
Nichtjuden als tragende gesellschaftliche Schicht an der Thematik der jüdischen Studien.
Erst in den letzten Jahren ist in Deutschland eine radikale Veränderung eingetreten. Das Fachgebiet
der Judaistik so wie überhaupt die wissenschaftliche Beschäftigung mit den unterschiedlichsten
Aspekten des Judentums erlebt eine bemerkenswerte Phase der Expansion. Ohne Übertreibung
kann von einem "Boom" in der Entwicklung deutsch-jüdischer Forschungsschwerpunkte gesprochen
werden. Die Zahl der wissenschaftlichen Einrichtungen, die nun unter dem Namen : Seminare oder
Institute für Judaistik, Lehrstühle für jüdische Geschichte, jüdische Studien und
Antisemitismusforschung fingieren - ist stark angewachsen und es herrscht ein großes Interesse für
diese Thematik sowohl im universitären Bereich als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit. Dies wird
nicht nur durch die steigende Zahl von Studienprojekten belegt, die auf dem Gebiet des deutschen
Judentums und des Antisemitismus durchgeführt werden, (- waren es 1977 noch 258 Projekte, so
waren es 1992 - 867 Projekte), sondern auch durch die sprunghaft angestiegene Zahl
deutschsprachiger Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Wissenschaft des Judentums.
Damit scheint die Wissenschaft des Judentums zu ihren Wurzeln zurückgekehrt zu sein. Denn
Deutschland kann als das eigentliche Geburtsland der Wissenschaft des Judentums bezeichnet
werden. Deren Anfänge und frühe Entwicklungen im 19. Jahrhundert, die wichtigsten Personen und
ihre Konzepte, möchte ich Ihnen nun im folgenden Vortrag vorstellen. Doch zuvor möchte ich daran
erinnern, daß nach dem Holocaust in Deutschland nicht von einer nahtlosen Fortsetzung jüdischen
Lebens und jüdischer Forschung gesprochen werden kann. Dafür ist der Bruch, der mit der
Vernichtung der Juden und des Judentums in Deutschland herbeigeführt worden ist, zu groß. Dies
wird deutlich, wenn man die handelnden Kräfte vergleicht, vor 1933 waren Juden die Träger der
Wissenschaft des Judentums, heute sind es in der überwiegenden Mehrzahl nichtjüdische
Wissenschaftler, die die Forschungen durchführen, und ein nichtjüdisches Publikum, das es rezipiert.
Die neugegründeten Institutionen in der Bundesrepublik versuchen, sich auf ihre Vorgänger und
deren Leistungen zurückzubesinnen, um - unter veränderten Vorzeichen - an alte Traditionen
anknüpfen und diese für die Zukunft mit neuen Inhalten erfüllen zu können.
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Die ersten, die Gründer der Wissenschaft des Judentums, waren junge jüdische Männer, die
akademisch gebildet waren und sich als geistige Elite des modernen Judentums verstanden. Ihre
Namen lauteten David Friedländer und Lazarus Bendavid, Leopold Zunz und Eduard Gans, Isaac
Marcus Jost, Moses Moser, Heinrich Heine, Josef Hilmar, Joel Abraham List, Isaac Levin Auerbach
und Immanuel Wolf. Im November 1819 trafen sie sich in Berlin und gründeten den Verein für die
Cultur und Wissenschaft der Juden. Mit der Hinwendung zu den eigenen Wurzeln und die
Beschäftigung mit ausschließlich jüdischen Themen
gaben sie den entscheidenden Anstoß für eine systematische, modernen wissenschaftlichen Kriterien
verpflichteten Hinwendung an die jüdische Kultur in all ihren vielfältigen Erscheinungsformen.
Leopold Zunz und Eduard Gans waren die führenden Persönlichkeiten in der Gründung des Vereins.
Den aktuellen Anlaß und direkten Impuls zur Vereinsgründung hat Eduard Gans folgendermaßen
beschrieben:
"Es war gegen Ende des achtzehn hundert neunzehnten Jahres, als wir uns zum erstenmale
versammelten. In vielen Städten des deutschen Vaterlandes waren jene grausen Scenen vorgefallen,
die manchen eine unvorhergesehene Rückkehr des Mittelalters vermuten ließen. Wir kamen
zusammen, um zu helfen, wo es Noth täte, um über die Mittel, wie dem tief gewurzelten Schaden am
besten beizukommen sey, zu beratschlagen. Eine mehr ins Einzelne gehende Absicht hatten wir
nicht".
Gans schilderte hier die krawallartigen "Hep-Hep-Unruhen" gegen die Juden im Jahre 1819, die als
Welle antijüdischer Gewalttaten durch das Land gingen und bei denen Juden überfallen und getötet,
ihre Häuser geplündert wurden. Mit diesen Pogromen hatte die antijüdische Stimmung der politischen
Reaktion im nachnapoleonischen Deutschland ihren erstmaligen Höhepunkt erreicht.
Gleichzeitig erfolgte zu Beginn des 19. Jahrhunderts an den deutschen Universitäten die Abkehr vom
ahistorischen Aufklärungsrationalismus und die Hinwendung zur Philosophie Hegels und seiner
Wissenschaftslehre. Unter dem Einfluß der Romantik mit ihrem organischen Geschichtsverständnis
bedeutete diese Neuorientierung für die jüdischen Intellektuellen die Rückbesinnung auf die
Geschichte des jüdischen Volkes und die Suche nach den eigenen Wurzeln. Sie übernahmen Herders
Ideal des Volksgeistes, das jedem Volk einen ihm eigenen Wesenszug, einen Volksgeist zusprach
und wollten dementsprechend die Geschichte des
jüdischen Volksgeistes und das Wesen des Judentums erkennen. Ebenso wollten sie die Beziehungen
der jüdischen Minderheit und ihre Rolle in der europäischen Geschichte offenlegen. So entwickelte
sich in Anlehnung an die Werte der Aufklärungskritik und des Historismus ein neues jüdisches
Geschichtsbewußtsein, das die jüdische Geschichte als Teil der Weltgeschichte verstand. Das
Studium der jüdischen Vergangenheit sollte ein neues kollektives jüdisches Selbstverständnis
entstehen lassen, welches das identitätsstiftende Band aller Juden bilden würde.
Begonnen hatte die geistige Auseinandersetzung der Juden mit ihrer nichtjüdischen Umwelt bereits
Jahre zuvor mit der jüdischen Aufklärung - der Haskala - und den Lehren von Moses Mendelssohn,
welche mit ihren kritischen und emanzipatorischen Impulsen den Aufbruch des Judentums aus dem
Ghetto, aus seiner geistigen Abgeschlossenheit bewirkt und so die geistesgeschichtliche Grundlage
sowohl des Vereins als auch der Wissenschaft des Judentums insgesamt geschaffen hatte.
Mendelssohn hatte den Pentateuch ins Deutsche übersetzt (wohlgemerkt ist die deutsche
Übersetzung in hebräischen Lettern gedruckt) und damit den Beginn der Verdrängung des Jiddischen
als besondere Sprache der deutschen Juden eingeleitet. Immer mehr religiöse Texte, sogar FrauenGebetbücher, die traditionell in jiddisch, d.h. in hebräischen Lettern gedruckt worden waren,
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erschienen seither zweisprachig, auf hebräisch und deutsch. Die im Jahre 1799 in Rödelheim von
dem jüdischen Gelehrten Wolf Heidenheim eingerichtete und später von Lehrberger fortgeführte
Druckerei erstellte über Jahrzehnte peinlich akkurate hebräische Gebetbücher und andere liturgische
Texte, wie z. B. die Pessach-Haggada, mit deutscher Übersetzung. Die Rödelheimer Drucke waren
die am häufigsten genutzten Gebetbücher der deutschen Juden aller religiösen Strömungen, auch der
strenggläubigen, und werden noch heute als Vorlage für Nachdrucke verwendet.
Als der eigentliche Begründer der „Wissenschaft des Judentums“ im deutschsprachigen Raum gilt
Leopold Zunz. Im Jahre 1794 wurde er als Sohn eines Talmudlehrers in Detmold geboren, besuchte
die jüdische Samsonsche Freischule in Wolfenbüttel und danach als erster jüdischer Schüler das
dortige Gymnasium. Von 1815-1819 studierte er an der Berliner Universität Klassische
Altertumswissenschaften, Philosophie und Mathematik und promovierte 1821 an der Universität
Halle. In diesen Jahren gründete Zunz den Verein für die Cultur und Wissenschaft der Juden
und gab dessen Organ: die Zeitschrift der Wissenschaft des Judenthums heraus, in der er die
meisten und wichtigsten Aufsätze verfaßte. Dies war die erste jüdische wissenschaftliche Zeitschrift in
deutscher Sprache überhaupt, die allerdings nur in einem Jahrgang erschien. Auf dem Titelblatt dieser
Zeitschrift erschien auch zum ersten Mal die Bezeichnung Wissenschaft des Judentums . Nach
verschiedenen Tätigkeiten, u.a. als Prediger in der neuen liberalen Synagoge in Berlin, als Leiter der
dortigen jüdischen Gemeindeschule (1826-1829) und als Fremdsprachenredakteur einer Berliner
Tageszeitung, übernahm Zunz im Jahre 1840 die Leitung des neugegründeten Berliner jüdischen
Lehrerseminars. Im Vormärz engagierte er sich zunehmend in der revolutionären Bewegung und
übernahm zahlreiche politische Ämter, so u.a. als Wahlmann für den Landtag und die
Nationalversammlung. Mit der Auflösung des Lehrerseminars im Jahre 1850 verlor Zunz seinen
Posten und blieb fortan anstellungslos. Bis zu seinem Tod im Jahre 1886 lebte er von einer Pension
der jüdischen Gemeinde Berlin, widmete sich den Rest seines Lebens der wissenschaftlichen
Erforschung des Judentums und veröffentlichte zahlreiche programmatische und methodische
Abhandlungen, insbesondere über die jüdische Liturgie.
Als Präsident des Vereins fungierte Eduard Gans, Jurist und Historiker, Meisterschüler, Vertrauter
und Herausgeber der Schriften von Hegel. 1797 in Berlin geboren, studierte er seit 1816 an den
Universitäten Berlin, Göttingen und Heidelberg Rechtswissenschaften. Im Jahre 1819 kehrte er nach
Berlin zurück, wo ihm als Jude im damaligen Preußen die Anstellung an der Berliner Universität
verweigert wurde und er sich fortan rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Studien widmete.
Sein Engagement im Verein war Ausdruck seiner ganz persönlichen Situation und seiner existentiellen
Selbstzweifel bezüglich seiner jüdischen Identität. Ein Jahr nach der Auflösung des Vereins, im Jahre
1825 ließ sich Gans taufen und erhielt daraufhin bereits im März 1826 die Ernennung zum
außerordentlichen Professor, im Jahre 1828 die Ernennung zum Ordinarius für Völkerrecht,
Preußisches Recht und Kriminalrecht. Gans war einer der erfolgreichsten akademischen Lehrer
seiner Zeit und stand inmitten vielfältiger Aktivitäten, als er 1832 mit 42 Jahren einem Schlaganfall
erlag.
Sein Jugendfreund Heinrich Heine ( 1797-1856), der berühmte Dichter und Schriftsteller, war wohl
das heute bekannteste Vereinsmitglied. Seit August 1822 gehörte er offiziell dem Verein an und
fungierte zeitweilig als dessen Sekretär. Nach der Auflösung des Vereins nahm auch Heine die Taufe,
das Entreebillett in die christliche Gesellschaft, an.
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Das erklärte Ziel der Vereinsmitglieder war es, sich kritisch-wissenschaftlich mit dem Judentum und
seiner Geschichte auseinanderzusetzen und eine objektive und wertfreie Kenntnis der eigenen
Tradition zu erlangen, um den eigenen existentiellen Standort zu bestimmen. Damit stellten sie sich
bewußt in den Gegensatz zur traditionellen über all die Jahrhunderte ausgeübten jüdischen
Gelehrsamkeit. Für die Rabbiner in ihren religiösen Hochschulen, den Jeschiwoth, waren die
religiösen Schriften göttliche Verlautbarungen und ihr Studium stellte die Erfüllung eines göttlichen
Gebotes dar. Ihre Aussagen durften nicht angezweifelt werden. Zunz und seine Kollegen dagegen
wollten in ihrer Erforschung des Judentums keine Rücksicht auf religiöse Glaubensgrundsätze nehmen
und lehnten sakrale Deutungsmuster ab. Sie wollten das Judentum von der jahrhundertealten
Bevormundung durch die rabbinische Tradition befreien, denn nur auf diese Weise – so glaubten sie
- würde das Judentum wieder in der Gesamtheit seiner kulturellen und historischen
Erscheinungsformen begriffen werden. Wolf definierte es in der Zeitschrift für die Wissenschaft des
Judentums folgendermaßen:
”Wenn von einer Wissenschaft des Judenthums die Rede ist, so versteht es sich von selbst, das hier
das Judenthum in seiner umfassendsten Bedeutung genommen wird, als Inbegriff der gesammten
Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie,
Geschichte, Rechtswesen, Literatur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten;
nicht aber in jenem beschränkten Sinne, in welchem es nur die Religion der Juden bedeutet”.
Und Leopold Zunz formulierte die prinzipiell neue Art der Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit mit den Worten:
”Hier wird die ganze Literatur der Juden, in ihrem größtem Umfange, als Gegenstand der Forschung
aufgestellt, ohne uns darum zu kümmern, ob ihr sämmtlicher Inhalt auch Norm für unser eigenes
Urtheilen sein soll oder kann.”
Dementsprechend sprach sich Zunz ausdrücklich dafür aus, bislang vernachlässigte Themenbereiche
wie Geschichte, Sprachen, Geographie, Kunst, Recht, Soziologie, Psychologie oder etwa die
Astrologie, Geographie, Mathematik und Medizin zum Gegenstand der Forschung zu erheben. Er
war der Auffassung, daß auch diese Inhalte zu den Grundlagen des Judentums gehörten, und schloß
damit alle Werke nachbiblischer hebräischer Literatur und nicht nur die rabbinischen Schriften ein.
Zunz selbst konzentrierte sich auf die Erforschung der Geschichte der Synagoge, einer Institution, die
er als „Ausdruck jüdischer Nationalität und als Garantie ihrer religiösen Existenz“ betrachtete.
Zwangsläufig mußten in einem dermaßen weit gefaßten Verständnis von Judentum die Rabbiner, die
bislang die einzige legitime Autorität der Quelleninterpretation gewesen waren, ihre Bedeutung
verlieren. An ihre Stelle traten die Historiker, die allein auf Grund ihrer Ausbildung und Kenntnisse
fähig waren, die Entstehungsgeschichte und den Inhalt dieser so verschiedenartigen Quellen zu
erläutern. Das Judentum als Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung, die
”Verwissenschaftlichung” des Judentums war das angestrebte Ziel des Vereins, dessen Mitglieder
dem traditionellenm Judentum entfremdete Intellektuelle waren, die die Auslegungen der Rabbiner
ablehnten und selbst an der Universität studiert hatten. Sie bestanden darauf, daß das Judentum ”um
seiner selbst willen” erforscht werden und nicht als Mittel zu theologischen oder anderen
ideologischen Zwecken dienen sollte.
Gleichzeitig waren die Vereinsmitglieder davon überzeugt, daß nur durch die Anwendung
wissenschaftlicher Methoden auf die eigene Tradition eine unverzerrte und wahrheitsgetreue
Darstellung des Judentums erreicht werden konnte, in der die geistigen Leistungen des Judentums für
Juden wie Christen gleichermaßen objektiv herausgearbeitet würden. Mit der wissenschaftlichen
Erforschung des Judentums wollten die Vereinsmitglieder ihre Religion und Geschichte aus jüdischer
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Sicht ausführlich erläutern und auf diese Weise die kulturellen Errungenschaften der Juden und ihren
Beitrag zur Entwicklung der Menschheit unter Beweis stellen. Ein weiteres Handlungsmotiv der
Vereinsmitglieder war sicherlich auch die Tatsache, daß es zu Beginn des 19. Jahrhundert noch keine
eigenständige jüdische Forschung gab, um die damals vorherrschende Diskriminierung des
Judentums im wissenschaftlichen Bereich zu relativieren und aus jüdischer Perspektive
zurechtzurücken. Als ein Beispiel und symptomatischer Fall sei die Haltung der
Altertumswissenschaft erwähnt, die sich ausschließlich mit den Griechen und Römern befaßte und
das antike Judentum „akademisch wie auch philosophisch“ auf die primitive Stufe des Orients
degradierte.
Zunz und seine Vereinsfreunde glaubten, daß es notwendig sei, mit ausführlichen und fundierten
Darstellungen über das Judentum, die Nichtjuden "aufzuklären" und ihnen Kenntnisse über die
jüdische Kultur und ihre Werte zu vermitteln. Die Aufklärung würde die Vorurteile und falschen
Vorstellungen über die Juden widerlegen und damit ein besseres Verständnis der Juden und des
Judentums bei den Nichtjuden fördern. Zunz war davon überzeugt, daß nur die Anerkennung der
kulturellen Leistungen des Judentums in der Vergangenheit zu einer Anerkennung der lebenden Juden
als gleichwertige Bürger führen würde. Nur diese Anerkennung könnte ihre Diskriminierung beenden,
den Emanzipationsprozess beschleunigen und eine dauerhafte soziale Integration ermöglichen. In
seinem bereits zitierten Aufsatz hatte Wolf auch geschrieben, daß:
"die wissenschaftliche Kunde des Judenthums über den Werth und Unwerth der Juden, über ihre
Fähigkeit und Unfähigkeit, andern Bürgern gleich geachtet und gleich gestellt zu werden,
entscheiden..." würde. Zunz verstand die Hochachtung vor der jüdischen Kultur als eine
unverzichtbare Voraussetzung für die Akzeptanz der Juden als gleichberechtigte Bürger und forderte:
”So räume man denn dem Geiste sein Recht ein; der Anerkennung des Geistes wird die der
Personen folgen. ... Die Gleichstellung der Juden in Sitte und Leben wird aus der Gleichstellung der
Wissenschaft des Judenthums hervorgehen.”
Indem Zunz, Gans und seine Freunde mit diesem Verein auch die Ziele verfolgten, die politische und
soziale Integration der Juden in Deutschland voranzutreiben und antijüdische Vorurteile zu
widerlegen, verfolgten sie einen politischen Zweck und stellten die Wissenschaft des Judentums in
den Dienst des tagespolitischen Geschehens. Damit befanden sie sich von Anfang an in Widerspruch
zu dem von ihnen selbst deklarierten Ideal einer objektiven Wissenschaft, ein Widerspruch, der
unaufgelöst bestehen blieb.
Der Verein bestand nur knappe fünf Jahre und war von einer raschen Fluktuation der Mitglieder
gekennzeichnet. Nach seiner Auflösung im Jahre 1824 traten viele seiner Mitglieder unter dem Druck
der repressiven antijüdischen Gesetzgebung zum Christentum über, um ihre Karrieren fortsetzen zu
können. Zunz blieb dem Judentum und dem Grundsatz der Wissenschaft treu. Heinrich Heine hat ihn
Jahre später als jemanden beschrieben, der:
"fest, dauerhaft und unerschüttlich dastand, in einer Zeit des Umbruchs, des Zögerns und der
Unschlüssigkeit. Er, ein Mann der Worte und der Taten, arbeitete unaufhörlich, tat, was getan
werden mußte, in einer Zeit, in der andere sich in Träumen verloren und des Muts beraubt zu Boden
sanken."
Zunz verfolgte nach der Auflösung des Vereins ganz bewußt das Ziel, in die tagespolitische Debatte
für die Rechte der Juden in Deutschland einzugreifen. Zum einen veröffentlichte er 1832 in Berlin
seine Schrift mit dem Titel Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt
mit der er in die damals sehr umstrittene Frage, ob die Juden eine eigene Predigtliteratur besäßen,
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eingriff. Die preußische Regierung vertrat damals die Ansicht, daß das Abhalten von Predigten in der
Synagoge eine Neuerung sei, die sie nicht genehmigen wollte und verbat deshalb dem Rabbiner
während des Gottesdienstes in Deutsch zu predigen. Dagegen erbrachte Zunz den Nachweis, daß
die Juden eine homiletische Tradition besaßen und das Abhalten der Predigt in der jeweiligen
Landessprache im jüdischen Gottesdienst seine historische Berechtigung hatte. Auf diese Weise
versuchte er auch die Erneuerung der Predigt in moderner Form zu rechtfertigen. Zum zweiten
dokumentierte Zunz fünf Jahre später mit seiner, von der jüdischen Gemeinde in Berlin in Auftrag
gegebenen Untersuchung Die Namen der Juden, daß Juden auch in der Vergangenheit bereits
Namen getragen hatten, die ihrer jeweiligen kulturellen Umwelt entnommen waren. Dies geschah als
Reaktion auf einen geplanten königlich-preußischen Erlaß, der den Juden die Verwendung
christlicher Namen verbieten sollte. Im Kampf um die Gleichberechtigung spielte die Apologetik in
der Wissenschaft des Judentums eine ungeheuer wichtige Rolle und gab den Vereinsmitgliedern auch
nach der Auflösung des Vereins noch über Jahre die Themen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten vor.
Die Zielsetzungen des Vereins, das Judentum wissenschaftlich zu erforschen, die eigene Identität neu
zu definieren und die rechtliche und gesellschaftliche Integration der Juden in die deutsche
Gesellschaft voranzutreiben, wurden in den folgenden Jahren von zahlreichen Vertretern des
Judentums aufgegriffen und auf unterschiedlichste Weise weiterverfolgt.
Ursprünglich hatten die Gründer des Vereins für die Cultur und Wissenschaft der Juden eine
säkulare Geisteshaltung vertreten und wollten sich von jeglicher religiösen Einbindung befreien. Die
Kritik des traditionellen Talmudstudiums und der orthodoxen Autoritäten, insbesondere wie sie von
Zunz in seinen Schriften über den jüdischen Gottesdienst formuliert worden waren, diente jedoch
gleichzeitig als stärkste Begründung für die Reformierung der jüdischen Religion. Damit wurde die
Wissenschaft des Judentums zur Triebkraft der jüdischen Reformbewegung und lieferte die
theoretischen Grundlagen für deren religiöses Selbstverständnis.
Abraham Geiger (1810-1874), einer der herausragenden Vertreter der Wissenschaft des Judentums,
war gleichzeitig auch der wichtigste Theoretiker der jüdischen Reformbewegung in Deutschland.
Geiger unterschied zwischen den universalen Elementen der jüdischen Religion, wie sie in den
ethischen Grundsätzen und der Lehre der Propheten zum Ausdruck kamen und welche für ihn die
eigentlichen Inhalte des Judentums darstellten, und den historisch bedingten religionsgesetzlichen
Vorschriften des rabbinischen Judentums, die den Anforderungen der Zeit anzupassen wären. Das
Ritualgesetz verstand er nicht als Offenbarung Gottes, sondern lediglich als die von Menschen
geschaffene Hülle, um die Lehre zu bewahren. Er war von der Weiterentwicklung des Judentums im
Laufe der Jahrhunderte überzeugt und davon, daß nicht das jüdische Gesetz, sondern der jüdische
Geist für das Fortbestehen des Judentums sorgten. Deshalb trat er für eine ungehinderte
wissenschaftliche Erforschung der biblischen Schriften und der rabbinischen Texte, der Halacha, ein.
Mit diesen Ansichten formulierte er die theoretischen Grundlagen der Reformbewegung, die ein
neues Selbstverständnis des Judentums schuf. In der Praxis führte dies zu weitgehenden Reformen
des Judentums, die eine Abschaffung der strikten Regeln des jüdischen Religionsgesetzes und einer
Anpassung der jüdischen Religion an ihre christliche Umwelt herbeiführten. Hierzu zählten die
Einführung eienr Orgel in die Synagoge, die Übersetzung der Gebete in die Landessprache Deutsch
und die inhaltliche Veränderung der Gebettexte, in denen der Bezug auf Zion und die messianischen
Hoffnungen auf eine Rückkehr ins Gelobte Land verringert oder gänzlich entfernt wurde.
Ein weiterer wichtiger Vertreter der Wissenschaft des Judentums war der Reformrabbiner Samuel
Hirsch (1815-1889), Mitbegründer der jüdischen Reformbewegung in Deutschland und in den USA.
Er gehörte zu den systematischen jüdischen Theoretikern, die sich in ihren Schriften mit der
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deutschen Philosophie auseinandersetzten. In seinem wichtigsten Werk die Religionsphilosophie
der Juden versuchte er in kritischer Anlehnung an Hegel, den religiösen Wert des Judentums und
dessen universale Bedeutung zu begründen.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verlor die Wissenschaft des Judentums ihre einseitige Bindung an
die Reformbewegung und begann auch das Selbstverständnis der sich neu definierenden Strömungen
des positiv-historischen oder konservativen und des streng gesetzestreuen gleich neo-orthodoxen
Judentums zu beeinflussen. Zu den schöpferischsten Vertretern der Wissenschaft des Judentums im
19. Jahrhundert gehört der Pädagoge David Cassel (1818-1893). Er besaß zwar die Ordination als
Rabbiner, zog es jedoch vor als Lehrer und Forscher tätig zu sein und war u.a. zwanzig Jahre, von
1872-1892 als Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin tätig. Cassel
verfaßte zahlreiche Lehrbücher für Schüler und Lehrer zur jüdischen Geschichte und Literatur,
übersetzte die Apokryphen ins Deutsche und gab einige kritische Editionen klassischer Werke
heraus. Gemeinsam mit Moritz Steinschneider verfaßte er für die von Ersch und Gruber
herausgegebene Allgemeine Encyclopedie den Artikel über Juedische Typographie und
juedischer Buchhandel. Seinen Plan, mit Moritz Steinschneider eine Enzyklopädie des Judentums
zu veröffentlichen, konnte er jedoch nicht verwirklichen.
Moritz Steinschneider, der von 1816-1907 lebte, war ein jüngerer Zeitgenosse und Freund von
Leopold Zunz. Er ist der Begründer der Hebräischen Bibliographie und gilt bis heute ihr größter
Vertreter. In Mähren geboren, lebte er seit 1845 in Berlin und unterrichtete von 1859 an 48 Jahre
lang (bis zu seinem Tod 1907) an der wissenschaftlichen Lehranstalt der Jüdischen Gemeinde in
Berlin (der Veitel-Heine-Ephraimschen Lehranstalt). Von 1869 bis zu seinem Tode war er zudem als
Bibliothekar in der Orientabteilung der Königlichen Bibliothek in Berlin angestellt. Die Zahl seiner
bibliographischen Werke ist immens, am bekanntesten sind seine Kataloge von hebräischen
Handschriften und Drucken der großen europäischen Bibliothekssammlungen. Sein Meisterwerk ist
der Katalog der hebräischen Drucke der Bodleiana-Bibliothek in Oxford/England, der damals
größten und umfangreichsten Sammlung hebräischer Bücher und Handschriften überhaupt. Sein
besonderes Interesse galt den Beziehungen der mittelalterlichen Juden zu ihrer nichtjüdischen Umwelt
vor allem im islamischen Raum.
Der Wunsch der deutschen Juden nach gesellschaftlicher und kultureller Integration kam auch im
Bereich der Literatur und der darstellenden Künste zum Ausdruck. Jüdische Zeitschriften,
Sammelbände und Taschenbücher versuchten ihre jüdischen Leser an die Werke der Schönen
Künste, der Literatur und der Musik heranzuführen und ihnen Bildung zu vermitteln. Gabriel Riesser
(1806-1863) war für die deutschen Juden das Symbol eines selbstbewußten Juden und deutschen
Patrioten und genoß ihre besondere Verehrung. In Hamburg geboren, wurde ihm nach Jurastudium
und Promotion als Jude eine Stelle als Privatdozent und später das Praktizieren als Anwalt
verweigert. Riesser blieb dem jüdischen Glauben treu und setzte sich entschlossen für die
Gleichberechtigung der Juden ein. 1848 wurde er sowohl in das Frankfurter Vorparlament als auch
in die Nationalversammlung gewählt, als deren zweiter Vizepräsident er zeitweilig fungierte. Im Jahre
1860 wurde Riesser zum Obergerichtsrat in Hamburg ernannt und war damit der erste Jude, der in
Deutschland das Richteramt innehatte.
Berthold Auerbauch (1812-1882), heute weitgehend vergessen, war zu seinen Lebzeiten mit seinen
Schwarzwälder Dorfgeschichten einer der populärsten deutschen Schriftsteller überhaupt. Er
verfaßte auch spezielle Werke, in denen er sich intensiv mit der jüdischen Problematik
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auseinandersetzte, so den Roman „Dichter und Kaufmann“. In diesem Roman schilderte er das
Leben des deutsch-jüdischen Dichters Ephraim Moses Kuh und stellte den Übergang der Juden aus
der traditionellen geschlossenen Ghettogemeinschaft in die modernen Gesellschaft dar. Auerbach
fühlte sich zu gleichen Teilen als deutscher Patriot und stolzer Jude und trat in seinen Werken
unermüdlich für die Anerkennung der deutschen Juden ein. Dieses Anliegen findet sich naturgemäß
auch wieder in der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur, in welcher die Figur des „guten Juden“,
der als vorbildlicher Bürger seinem christlichen Mitbürger zu Hilfe kommt, eine zentrale Rolle spielte.
Moritz Daniel Oppenheim (1800-1882), der erste jüdische deutsche Maler, hat mit seiner Folge
„Bilder aus dem altjüdischen Familienleben“ wie kein Zweiter die Gefühle und Ideale der deutschen
Juden widergespiegelt. Das Original-Ölgemälde Die Rückkehr des Freiwilligen wurde Gabriel
Riesser von den badischen Juden im Jahre 1834 als Dank für seinen Einsatz für die Emanzipation
geschenkt. Mit dieser Darstellung eines harmonisch deutsch-jüdischen Zusammenlebens, in dem
deutscher Patriotismus und die religiösen Traditionen des Judentums in Einklang miteinander
bestehen, versuchte Oppenheim den Beweis für den Erfolg der Integration der Juden in die deutsche
Gesellschaft zu liefern. Die Anerkennung des Judentums und die Gleichstellung der Juden, zu Beginn
des 19. Jahrhunderts von der Begründern der Wissenschaft des Judentums angestrebt, verwirklichte
sich nur sehr langsam und blieb auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Bereichen die
Wunschvorstellung der deutschen Juden.
Nach der Katastrophe - der Schoah - wurde mit der Wiederbelebung der Wissenschaft des
Judentums in Deutschland auch die Frage nach den Zielen und Leistungen der Gründergeneration neu
gestellt. Einer der vehementesten Kritiker von Leopold Zunz und seinen Mitstreitern war der in
Deutschland geborene und seit den 20er Jahren in Jerusalem lebende große Kabbala-Forscher und
zionistische Gelehrte Gerschom Scholem. Scholem ist in Deutschland mit seiner grunsätzlichen
Ablehnung einer "deutsch-jüdischen Symbiose" einem weitem Publikum bekanntgeworden. Scholem
warf den drei führenden Protagonisten der Wissenschaft des Judentums - Leopold Zunz, Moritz
Steinschneider und Abraham Geiger - stellvertretend für alle anderen - vor, ihre religiösen
Forschungen seien ergebnislos und von “theologischer Nichtigkeit”. Er behauptete, daß sie als
Forscher nur Mittelmäßigkeit besessen und nichts Eigenständiges geschaffen hätten, daß sie einen
Weg der Selbstzerstörung des Judentums eingeschlagen und damit lediglich die bis dahin erhaltenen
Grundlagen der jüdischen Religion zerstört hätten. Er titulierte sie als "gelehrte Liquidatoren". Vor
allem aber prangerte er im Namen einer objektiven Wissenschaft an, daß die Begründer der
Wissenschaft des Judentums sich von Anfang an politisch für die Anerkennung der Juden eingesetzt
hätten, und daß sie mit ihrer Tätigkeit die rechtliche und gesellschaftliche Integration der Juden
vorantreiben wollten. Die Wissenschaft des Judentums wurde damit - laut Scholem - in den Dienst
der Emanzipation gestellt und für ein politisches Ziel instrumentalisiert, sie besaß einen apologetischen
Charakter und konnte deshalb nicht den Anspruch der Objektivität erfüllen.
Scholems Aussage der Selbstzerstörung des Judentums durch die herausragendsten Vertreter der
Wissenschaft des Judentums, die von einem radikal-zionistischen Standpunkt aus formuliert ist, ist in
den letzten Jahrzehnten widersprochen worden. In den neueren Forschungen werden die
konstruktiven Tendenzen der Wissenschaft des Judentums und ihre Bedeutung für die Entstehung
eines neuen jüdischen Selbstverständnisses als Grundlage des modernen Judentums herausgearbeitet.
Es wird aufgezeigt, wie jüdische Tradition in der wissenschaftlichen Vorgehensweise reflektiert und
zu jüdischem Wissen transformiert wurde. Die Wissenschaft des Judentums in ihrer ganzen
Bandbreite, vor allem aber die Disziplin der jüdischen Geschichte, ist an die Stelle der jüdischen
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Religion getreten und zum „Glauben der ungläubigen Juden" geworden, wie Yosef Hayim Yerushalmi
es bezeichnet hat. So konnte im 19. Jahrhundert unter den emanzipierten Juden ein historisches
Bewußtsein entstehen, das bis heute die Grundlage einer jüdischen Identität und kollektiven
Selbstbestimmung bildet. Dem Judentum, das seit der jüdischen Aufklärung damit beschäftigt war,
sich nicht nur religiös zu reformieren, sondern auch seine Kultur neu zu definieren, lieferte dieser neue
Glaube die Legitimität seiner religiösen Fortexistenz. In der identitätsstiftenden Wirkung und in der
“Erfindung einer Tradition”, die der jüdischen Überlieferung eine mit modernen aufgeklärten
Denkmethoden nachvollziehbare Fassung verlieh, liegen heute für die Forschung einer der wichtigsten
Beiträge der Wissenschaft des Judentums.
Der Zwang zur Neubestimmung jüdischer Identität angesichts des Akkulturations- und
Säkularisierungsprozesses, der für die deutschen Juden mit der Emanzipation und dem Eintritt in die
christliche Gesellschaft begann, ist heute wieder zu einer der wichtigen Fragen für die jüdische
Minderheit in Deutschland geworden. Im 19. Jahrhundert mündete der Reflektionsprozess der
eigenen religiösen Tradition in der Ausbildung eines neuen jüdischen Selbstbewußtseins, das sich auf
wissenschaftliche Erkenntnisse begründen konnte. Welche Entwicklung die Wissenschaft des
Judentums im 21. Jahrhundert nehmen wird, bleibt abzuwarten.
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