hilfreiche literatur zur diskussion um islam und islamismus

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HILFREICHE LITERATUR ZUR DISKUSSION
UM ISLAM UND ISLAMISMUS
Henner Kleinewefers
2016
Dieser Text steht auch auf der Website www.hennerkleinewefers.ch zur Verfügung.
Inhaltsverzeichnis
Seite
1. Überblick
1
2. Heinz Halm, Der Islam. Geschichte und Gegenwart
5
3. Hartmut Bobzin, Der Koran: Eine Einführung
16
4. Thomas Schirrmacher, Koran und Bibel:
Die grössten Religionen im Vergleich
23
5. Christine Schirrmacher, Die Scharia: Recht und Gesetz im Islam
32
6. Christine Schirrmacher, Islamismus. Wenn Religion zu Politik wird
38
7. Christine Schirrmacher, Islam und Demokratie: Ein Gegensatz?
46
8. Hamed Abdel-Samad, Mohamed: Eine Abrechnung
53
9. Necla Kelek, Himmelsreise. Mein Streit mit den Wächtern des Islam
65
10. Ayaan Hirsi Ali, Reformiert Euch! Warum sich der Islam ändern muss
78
1. Überblick
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es eine stetig zunehmende Einwanderung von
Muslimen nach Europa gegeben, zunächst in die ehemaligen Kolonialmächte
England und Frankreich, dann in wirtschaftlich erfolgreiche Länder wie
Deutschland, die Niederlande, Belgien und die skandinavischen Länder und
schliesslich auch in die ehemaligen Auswanderungsländer Südeuropas. Von den
Wirtschaftsmigranten wurde angenommen, sie würden nach einigen Jahren wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Für ihre Integration wurde daher seitens
ihrer Gastländer wenig bis nichts getan, und auch sie selbst blieben wegen der
beabsichtigten Rückkehr sowie aus sprachlichen und religiös-gesellschaftlichen
Gründen weitestgehend unter sich. Als man schliesslich bemerkte, dass die Annahme einer baldigen Rückkehr falsch war, hatten sich in den Ballungsgebieten
bereits muslimische Parallelgesellschaften1 gebildet, deren Integration kaum noch
gelang und die mit der andauernden Zuwanderung immer autonomer wurden.
Spätestens seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde diese Situation überall in zunehmendem Mass als problematisch empfunden, in England
und vor allem in Frankreich aus den für diese beiden Länder spezifischen historischen Gründen allerdings schon früher. Und seit den Terroranschlägen vom
11.9.2001 ist die Anwesenheit und Zuwanderung von Muslimen ein vielfach mit
Besorgnis oder gar Angst verbundenes Dauerthema der öffentlichen Debatte, was
nicht zuletzt mitursächlich für gravierende Veränderungen in den Parteienstrukturen und damit in den aktuellen oder potentiellen politischen Machtverhältnissen
in allen westeuropäischen Ländern ist.
Parallel dazu ist eine inzwischen bereits umfangreiche und noch ständig zunehmende Literatur zum Thema Islam und Islamismus in Europa entstanden. 2 Das
Angebot hat, wie üblich, ein sehr unterschiedliches Niveau und richtet sich auch
an sehr verschiedene Leser. Wer sich ohne Wegweiser auf die Reise durch die
1
Die Schweiz als Land der Dörfer und der Kleinstädte mit einer sehr dezentralisierten Wirtschaft der Klein- und Mittelbetriebe ist bis heute nur an wenigen Orten mit Ansätzen von Parallelgesellschaften konfrontiert. Die Integrationsfähigkeit ist aber auch hier zweifellos angespannt und könnte bei einer weiterhin starken muslimischen Zuwanderung bald einmal überfordert werden.
2
Mit „Islam“ wird hier und im folgenden die Religion bezeichnet, mit Islamismus hingegen
eine politisch-gesellschaftliche Ideologie, die die Errichtung einer Gesellschaft und eines
Staatswesens nach dem überlieferten Vorbild von Mohammeds Stadtstaat in Medina anstrebt.
Dabei sind die Inhalte dieser Ideologie und die Vorstellungen über die Art ihrer Durchsetzung
in muslimischen Ländern bzw. ihre Ausdehnung auf bisher nicht muslimische Länder nicht
einheitlich. Insbesondere wird von gemässigten Islamisten Gewaltanwendung in einem mehr
oder minder breiten Rahmen abgelehnt.
1
Literatur begibt, riskiert, wie der Autor dieses Überblicks selbst erfahren hat, Umwege und Zeitverluste. Aus diesem Grund wird hier über nach meiner Meinung
lesenswerte Literatur berichtet. Die Auswahl richtet sich an interessierte „Laien“
ohne wesentliche einschlägige Vorbildung und mit begrenztem Zeitbudget. Sie ist
das Ergebnis von gut einem Jahr intensiver Lektüre durch einen ebensolchen „Laien“. Der Auswahl liegt also keine fachwissenschaftliche Kompetenz zugrunde,
und es wird selbstverständlich auch keine umfassende Literaturkenntnis beansprucht. Um der aktuellen Debatte möglichst nahe zu sein, wurde nur Literatur
aus den letzten Jahren in deutscher Sprache oder Übersetzung berücksichtigt. Das
ist eine wesentliche Beschränkung. Denn die neuesten Bücher sind nicht immer
die besten, und vor allem in englischer und französischer Sprache gibt es wegen
der sehr viel längeren und intensiveren Kontakte und Erfahrungen mit der muslimischen Welt eine sehr umfangreiche und hochstehende einschlägige Literatur.
Wer sich dafür interessiert, findet allerdings in den hier angegebenen Büchern die
entsprechenden Literaturhinweise.
In der Reihenfolge, in der die Bücher besprochen werden, sollten sie auch gelesen
werden. Es beginnt mit zwei Standardwerken, die von ausgewiesenen Fachwissenschaftern für genau das Publikum geschrieben wurden, welches hier angesprochen wird. Beide sind kurz, sehr verständlich geschrieben und mit genügend Hinweisen auf weiterführende Literatur versehen; und beide verstehen sich als Basisund Hintergrundinformation für die gegenwärtigen Debatten und nicht als Teilnahme an oder gar Positionsbezug in diesen Debatten. Halm orientiert über Geschichte und Gegenwart des Islam, während Bobzin in das heilige Buch der Muslime, den Koran, einführt. Eine solche Einführung ist unerlässlich, weil die unvorbereitete Lektüre des Korans zu unüberwindbaren Verständnisproblemen führt.
Es wäre in diesem der Basis- und Hintergrundinformation dienenden Teil auch
vertretbar gewesen, eine Mohammed-Biographie zu besprechen, z. B. diejenige
von Jansen3. Denn das überlieferte Leben des Propheten gilt gläubigen Muslimen
als in jeder Hinsicht vorbildlich und nachahmenswert und ist Hintergrund, um
nicht zu sagen Bestandteil der formellen und informellen Ordnung des individuellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens und damit für die Lebenspraxis bei
weitem umfassender, detaillierter und daher auch relevanter als der Koran. Obwohl ich die neutrale Biographie von Jansen sehr schätze, habe ich hier auf ihre
3
H. Jansen, Mohammed. Eine Biographie, München 2008. Es sei an dieser Stelle nicht versäumt, auch auf das gewaltige Werk von T. Nagel, Mohammed. Leben und Legende, München
2008 hinzuweisen, aus dem auch das später zu besprechende Werk von Abdel-Samad geschöpft
hat. T. Nagel gilt als Doyen der deutschen Islamwissenschaft und hat zahlreiche grundlegende
Publikationen vorgelegt, die Interessenten für eine wesentliche Vertiefung sehr empfohlen werden können.
2
Besprechung verzichtet, weil das Buch vom Umfang her diesen Rahmen sprengt
und im übrigen die wesentlichen Aspekte in anderen hier besprochenen Werken
zur Sprache kommen, insbesondere demjenigen von Abdel-Samad, dort allerdings in einer nicht-neutralen, jedoch höchst interessanten Deutung.
Die nächsten vier Bücher stammen aus der Reihe „Kurz und bündig“, herausgegeben von Thomas Schirrmacher im Hänssler Verlag. Das Ziel der Reihe ist, auf
jeweils etwa hundert Seiten durch einen fachwissenschaftlich gebildeten Autor
die wesentlichen Aspekte eines wichtigen Themas allgemein verständlich darzustellen.4 Das gelingt einmal besser und neutraler und einmal weniger gut und
weniger neutral, vor allem bei einem inzwischen so aufgeladenen Thema wie dem
Islam und dem Islamismus. Jedoch scheinen mir die hier ausgewählten Titel für
den vorliegenden Zweck durchaus geeignet.
Thomas Schirrmacher vergleicht den Koran und die Bibel bzw. „den“ Islam und
„das“ Christentum. Das ist, wie man unmittelbar einsieht, ein mutiges, um nicht
zu sagen tollkühnes Unternehmen, mit dem man eigentlich nur scheitern kann.
Dennoch ist es in einer so antagonistischen Debatte notwendig, die grundlegenden
Annahmen und Schlussfolgerungen jenseits aller Details klarzustellen; und dazu
leistet das Buch seinen Beitrag und wenn es nur der wäre, diese Notwendigkeit in
Erinnerung zu rufen und zum eigenen Nachdenken über allenfalls zutreffendere
Charakterisierungen der beiden Religionen anzuregen.
In den drei Büchern von Christine Schirrmacher geht es um drei zentrale Themen
der aktuellen Diskussion: das Recht im Islam (Scharia), den politischen Islam
(Islamismus) und die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam. Die Vermittlung
von sachlichem Wissen steht auch in diesen Büchern im Mittelpunkt, obwohl die
Autorin gelegentlich auch wertet und ihre eigene Meinung zum Ausdruck bringt.
Die drei folgenden Bücher führen hingegen ins intellektuelle Zentrum der aktuellen Debatten. Mit dem Rüstzeug der sechs zuvor behandelten Bücher sollte die
Lektüre für den Leser problemlos und sehr anregend sein. Abdel-Samad ist ein
(ursprünglich muslimischer) ägyptisch-deutscher Wissenschafter und Publizist,
der in der deutschsprachigen Diskussion über Islam und Islamismus sehr präsent
ist. Sein hier zu besprechendes Buch „Mohamed: Eine Abrechnung“ hat in
Deutschland scharfe Kontroversen ausgelöst und dem Autor eine Klage wegen
4
Solche Reihen kurzer, allgemein verständlicher Sachbücher haben im englischen und auch im
französischen Sprachraum schon eine längere Tradition. Es ist erfreulich, dass sich die Wissenschaft auch im deutschen Sprachraum schliesslich dieser Vermittlungsaufgabe angenommen hat.
3
„Volksverhetzung“ eingetragen, die von der Berliner Staatsanwaltschaft sogar
entgegengenommen wurde. Was daraus wird, bleibt abzuwarten. In dem Buch
geht es um eine Beschreibung und psychologisch-medizinische Deutung von Mohammeds Leben, der von ihm empfangenen Offenbarungen und der daraus folgenden Konsequenzen für sein Handeln. Dies sind wegen der Vorbildlichkeit und
Nachahmungswürdigkeit des Lebens des Propheten die zentralen Inhalte des Islam bis heute. Die Besprechung soll den Leser davon überzeugen, dass sich die
Lektüre lohnt und das Buch die Grenzen des Anstands und der Meinungsfreiheit
nach nicht-muslimischem Verständnis keineswegs überschreitet.
Zwei weitere Bücher stammen von (ursprünglich muslimischen) Autorinnen, der
Deutschtürkin Necla Kelek und der amerikanisch-niederländischen Somalierin
Ayaan Hirsi Ali. Frauen sind in der Debatte über Islam und Islamismus weltweit
und so auch in Deutschland5 sehr präsent, was angesichts ihrer schweren Benachteiligung und Missachtung nicht verwunderlich ist, aber grossen Mut erfordert.
Kelek ist Deutschland sehr bekannt, vor allem durch ihre Analysen des deutschtürkischen Milieus und seines anatolischen Hintergrundes. Das hier zu besprechende Buch setzt sich mit den Glaubensinhalten des Islam auseinander, zeigt
anhand vieler konkreter Fälle deren mangelnde Kompatibilität mit einer nach
westlichen Vorstellungen freien und demokratischen Gesellschaft und weist auf
notwendige Reformen hin. Letzteres ist das zentrale Anliegen des Buchs von Ali.
Es gibt daher zwischen den beiden Bücher mancherlei Parallelen. Das liegt in der
Natur der Sache. Trotzdem lohnt sich die Lektüre beider Bücher, weil sie in der
gewählten Perspektive und Systematik, im angesichts der Vielfalt des Islam wichtigen persönlichen Hintergrund und in den empfohlenen Reformen eben doch sehr
verschieden sind und sich dadurch gut ergänzen.
Manche Leser dieses Literaturüberblicks mögen - und dies durchaus mit Recht Literaturhinweise und allenfalls Besprechungen für die islamische und insbesondere die islamistische Perspektive vermissen. Für den deutschen Sprachraum kann
man hierzu vor allem die Bücher des deutschen Konvertiten Murad W. Hofmann
empfehlen, ferner Übersetzungen der wichtigsten älteren islamistischen Hauptwerke von Sayyid Abu Ala Maududi, Hassan al-Banna und Sayyid Qutb sowie
aus zeitgenössischer Sicht Tariq Ramadan. Ihre Besprechung hätte den vorliegenden Rahmen gesprengt. Sie wird möglicherweise später einmal erfolgen.
5
Zu nennen wären z.B. Seyran Ates, Serap Cileli und Sabatina James, die mit ihren Publikationen vor allem auf die Lage der Frauen im Islam eingehen und ein grosses Publikum gefunden
haben. Mir schien das hier ausgewählte Buch von Kelek inhaltlich am vielfältigsten zu sein und
daher am besten in diesen Literaturüberblick zu passen.
4
2. Heinz Halm, Der Islam. Geschichte und Gegenwart
10. Auflage, München 2015, 112 S.
Hier besprochen und zitiert nach der Kindle e-book Ausgabe.
Das Buch von Halm besteht wie im Titel angedeutet aus zwei Teilen. Der erste
Teil „Die historischen Grundlagen des Islam“ reicht von der Entstehungszeit des
Islam bis zur Neuzeit, während der zweite Teil „Der Islam im Alltag“ die wichtigsten Organisationsstrukturen und individuellen Glaubenspflichten im Islam
heute beschreibt.
Die historischen Grundlagen des Islam
Etwa ein Viertel der Menschheit sind Muslime. Der Islam ist eine streng monotheistische Offenbarungsreligion mit dem Propheten Mohammed als dem Empfänger und Verkünder der göttlichen Offenbarungen, die im heiligen Buch Koran
niedergelegt sind.
Der Monotheismus ist das konstituierende Element des Islam und richtet sich
zunächst gegen den vorislamischen Polytheismus in der mekkanischen Heimat
des Propheten, dann gegen jede andere Form des Polytheismus und im speziellen
auch gegen den christlichen Trinitätsglauben gemäss den Konzilen von Nicäa
(325) und Konstantinopel (381), auf denen der lange innerchristliche Streit über
die Natur der Dreifaltigkeit mit einer Lösung beendet wurde, welche aus muslimischer Sicht jedenfalls nicht ihrem strengen Monotheismus entspricht. Vielgötterei
gilt dem Islam als die schwerste Sünde.
Mohammed sieht sich als unwiderruflich letzten Propheten in der Nachfolge der
biblischen Propheten der Juden, zu denen auch Jesus gehört. Jedoch wurde den
früheren Propheten Gottes Wort nicht vollständig offenbart, und die Adressaten
(Juden und Christen) haben es teilweise auch nicht richtig verstanden oder gar
verfälscht. Deshalb wurde Mohammed als letztem Propheten das endgültige und
einzig authentische Wort Gottes offenbart. Die Juden und Christen sind aufgefordert, dies anzuerkennen und sich ebenfalls zum Islam zu bekennen. Wenn sie dies
nicht tun, werden sie als uneinsichtig und sündig betrachtet. Da aber ihre Gemeinden durch von Mohammed anerkannte frühere Propheten gegründet wurden, werden sie mit einem minderen Status im muslimischen Staat und in der muslimischen Gesellschaft geduldet. Aus dem Islam später entstandene Sekten, die sich
auf nach muslimischer Überzeugung unmögliche spätere Propheten berufen, werden nicht als islamisch anerkannt und geniessen weder Schutz noch Toleranz.
5
Dem Koran liegt die Vorstellung eines im Himmel bei Gott aufbewahrten Buches
zugrunde, dessen Inhalt der Engel Gabriel im Auftrag Gottes im Laufe vieler Jahre
(ca. 610-622 in Mekka, 622-632 in Medina) dem Propheten mündlich offenbarte.
Schriftlich wurde die mündliche Überlieferung erst durch den Kalifen Uthman
(644-656) aus verstreuten Aufzeichnungen der Zeitgenossen Mohammeds (ca.
570-632) zum Koran6 zusammengestellt. Der Koran gilt auch der grossen Mehrheit nichtmuslimischer Islamwissenschafter, der sich Halm anschliesst, ohne auf
abweichende Meinungen einzugehen, als authentisch in Bezug auf Entstehungszeit und Inhalt.
Hingegen wurde die erste Biographie des Propheten erst gut hundert Jahre nach
seinem Tod von Ishaq auf Grund mündlicher Überlieferungen verfasst. Sie ist
aber nur in einer Bearbeitung von Ibn Hischam (gest. 830) überliefert. Sammlungen von Mohammeds Taten und Aussprüchen (Hadithe) stammen zum Teil
aus noch späterer Zeit und ihre Quellen galten teilweise auch innerhalb des Islam
als zweifelhaft, was zu nach anfechtbaren Verfahren bereinigten und dann als
authentisch geltenden Sammlungen Anlass gab. Im Hinblick auf die grosse praktische Bedeutung der Hadithen für den gelebten Islam ist dies problematisch.
Im weiteren skizziert Halm das Leben Mohammeds entsprechend der Tradition
von den Jahren in Mekka (570-622) über die Auswanderung (Hidschra, 622) bis
zu den Jahren in Medina (622-632) mit ihrer Staatsbildung und der Unterwerfung
der gesamten arabischen Halbinsel. Entscheidend dabei ist die Ersetzung oder
besser Überwölbung der Clan- und Stammesidentität durch die religiöse Identität
der Muslime. Hierdurch wurde die Ausdehnung des Reiches unter den Nachfolgern bzw. Stellvertretern (wörtlich: Kalifen) des Propheten in Konkurrenz zu den
beiden bestehenden Imperien (Byzanz, Persien) und in zunehmender Unabhängigkeit von seinen arabischen Wurzeln möglich, der Halm nun nachgeht.
Die Jahre 632-661 unter den ersten vier Kalifen, die alle zu den frühesten Anhängern Mohammeds und im engeren oder weiteren Sinn zu dessen Familie gehörten, gelten vielen Muslimen als Goldenes Zeitalter eines authentischen und
schnell expandierenden Islam, dessen Herrschaftsgebiet am Ende von Ägypten
bis Persien reichte. Das Goldene Zeitalter wurde durch einen innerislamischen
Bürgerkrieg beendet, der über die Frage der legitimen dynastischen Nachfolge im
Kalifenamt zur Spaltung zwischen Sunniten (heute ca. 90%) und Schiiten (ca.
10%) führte, die allerdings theologisch und lebenspraktisch nur von relativ geringer Bedeutung ist.
6
Näheres dazu im 3. Kapitel, um Wiederholungen möglichst zu vermeiden.
6
Es folgte die Dynastie der Umayyaden in Damaskus (661-750), unter denen sich
die rasche Expansion im Westen bis nach Marokko und auf die iberische Halbinsel (711) fortsetzte und ihr definitives Ende an den Pyrenäen erst durch die
Niederlage bei Tours und Poitiers (732) fand. Im Osten führte die Expansion bis
Anatolien, Innerasien und Indien. In kurzer Zeit war ein arabisch dominiertes
Weltreich entstanden. Diese beispiellose Expansion innerhalb von nur 120 Jahren
seit dem Tode des Propheten ist nicht nur „ein erklärungsbedürftiges Phänomen“,
wie Halm schreibt und das er dann auch behandelt.
Sie ist vor allem, und diesen Hinweis hätte man bei Halm gerne gesehen, tief in
das Welt- und Selbstverständnis der Muslime eingegangen, da das theologisch
begründete Überlegenheitsgefühl durch die politisch-militärischen Erfolge aufs
Eindrucksvollste bestätigt wurde. Endgültige oder zumindest zeitweilige Rückschläge wie die Reconquista in Spanien und Portugal, der Verlust Siziliens (1091),
die Kreuzzüge (1095/99-1291) und das zweimalige Scheitern vor Wien (1529,
1683) sind mit diesem Verständnis ebenso wenig vereinbar wie die lange Zeit des
relativen und teilweise sogar absoluten Niedergangs und Machtverlusts. Sie haben
in der muslimischen Welt immer wieder zu zwei sehr verschiedenen Reaktionen
geführt: Anpassung an die überlegene Moderne auf der einen und Rückbesinnung
auf das Goldene Zeitalter auf der andern Seite. Heute erleben wir im Islamismus
und in extremer Form im „Islamischen Staat“ als dritte Möglichkeit eine Kombination dieser beiden Reaktionen, in der mit technisch höchst modernen propagandistischen und politischen sowie gegebenenfalls auch militärischen Methoden
versucht wird, die Gesellschaft des Goldenen Zeitalters (bzw. was man sich darunter vorstellt) wiederherzustellen.
Nach dem Sturz der Umayyaden durch die Abbasiden (750-1258) verlagerte sich
der Mittelpunkt des bisher vor allem arabisch geprägten Reichs von Damaskus
ins neu gegründete Bagdad. Es wurde dadurch multiethnisch unter einer vor allem
persisch geprägten Oberschicht. Der äusserste Westen (Maghreb, iberische Halbinsel) ging dem Reich verloren, blieb aber (im Fall der iberischen Halbinsel: noch)
unter muslimischer Herrschaft. Während das Reich der Abbasiden die meiste Zeit
intern eher schwach und zersplittert war und die Expansion des Islam weitgehend
7
stagnierte, war es kulturell und wissenschaftlich eine Blütezeit7, die mit der Eroberung Bagdads durch die Mongolen (1258) abrupt zu Ende ging, wovon sich
die islamische Welt nie mehr ganz erholen konnte.8
Halm übergeht (leider) weitgehend die allgemeine kulturelle Blüte, die der toleranten Herrschaft, dem besonderen Interesse einiger Herrscher und der multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft zu verdanken war9, und konzentriert sich
stattdessen auf die parallel laufende Herausbildung einer islamischen Theologie,
die angesichts des zunehmenden zeitlichen Abstands zu den Gründergenerationen
einerseits und zur Konsolidierung des riesigen Reiches anderseits notwendig wurde. Man darf dabei nicht vergessen, dass das islamische Reich der Erbe zweier
hochkultivierter Reiche war, Byzanz und Persien. Dieses Erbe war durch die muslimische Eroberung keineswegs ausgelöscht worden, und die politischen und kulturellen Eliten des islamischen Reiches waren zu einem guten Teil konvertierte
oder auch nicht-konvertierte, aber tolerierte Mitglieder der alten Eliten. Die Entwicklung einer islamischen Theologie fand daher in einer höchst lebendigen Auseinandersetzung mit den früheren religiösen und philosophischen Traditionen
statt. Halm skizziert zunächst die Diskussion um einige wichtige Grundkonzepte
wie „Willensfreiheit“ und „Verantwortung“ einerseits, „Gottes Allmacht“ und
„Vorherbestimmung“ anderseits, ferner „Schöpfung“ und „Ewigkeit“, „Rationalität“ und „Glaube“ sowie „Ursache“ und „Wirkung“ und „unbegreiflicher Ratschluss Gottes“. In diesen Auseinandersetzungen behielten im Ergebnis die antirationalistischen Traditionalisten die Oberhand. Man erführe allerdings gerne
mehr darüber, warum. Ihre Position wird zusammenfassend von Al-Ghazali
(1058-1111) vertreten, der auch heute noch den meisten gläubigen Muslimen als
verehrungswürdige Autorität, den wenigen säkularen Reformern hingegen als
schwer zu überwindendes Hindernis gilt. Angesichts seiner grossen Bedeutung
und der Vermutung, dass der Sieg seiner theologischen Position ein wesentlicher
Grund für die jahrhundertelange islamische Stagnation sein könnte, hätte man
7
Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass diese kulturelle Blütezeit (aus
europäischer Sicht) unter den Abbasiden mit Ausstrahlung bis ins ferne Spanien und ins übrige
Europa nicht identisch ist mit dem Goldenen Zeitalter (aus konservativer muslimischer Sicht)
des authentischen Islam und der Expansion unter den unmittelbaren Nachfolgern Mohammeds.
8
D. Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, 4. Auflage, Berlin
2015 scheint diese Aussage mit Hinweis auf die besten Zeiten des Osmanischen Reiches zu
relativieren.
9
Ein schönes Buch zur kulturellen Blüte in Bagdad ist J. Al-Khalili, Im Haus der Weisheit. Die
arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur, Frankfurt/M 2013. Dass Bagdad und
dementsprechend auch die Wissenschafter zu jener Zeit multiethnisch und multikonfessionell
waren, tut der Bezeichnung als islamische Hochblüte keineswegs Abbruch; denn es war das
muslimische Abbasidenreich, welches hierfür, wie man heute sagen würde, die geeigneten
Rahmenbedingungen schuf und garantierte.
8
erwartet, dass er im Buch nicht nur en passant erwähnt, sondern genauer behandelt
würde.
Die Traditionalisten argumentierten, eben, mit der Tradition. Es war daher notwendig diese Tradition inhaltlich zu definieren und zu fixieren. Bezüglich des
Korans war dies bereits seit Ishaq geschehen. Bezüglich des Lebens, der Taten,
der Aussprüche und der Regeln des Propheten und seiner Gefährten (Hadithe)
wurde dies nun durch Sammlung und kritische Auswertung der mündlichen Überlieferungen getan. Es entstanden zahlreiche Hadithensammlungen, von denen
einige bis heute als authentisch und massgebend angesehen werden. In ihrer Gesamtheit gilt Überlieferung als Sunna bzw. vorbildliche und nachahmenswerte
Tradition und zusammen mit dem Koran als Anleitung, die das Leben eines frommen Muslim leiten soll.
Von der moralischen Empfehlung zum verbindlichen Recht ist es kein grosser
Schritt. Die Hadithe und der Koran sind daher die Grundlagen der islamischen
Rechtsordnung. Der Entstehung der verschiedenen Rechtsschulen in dieser Zeit
geht Halm im weiteren nach, und erklärt auch die beiden wichtigsten Instrumente
für die Weiterentwicklung der Scharia auf neue Rechtsgebiete bzw. die Anpassung an veränderte Umstände: den Analogieschluss und den Konsens der islamischen Gemeinschaft (Umma) bzw. wohl realistischer: der anerkannten Theologen
und Rechtsgelehrten, die einander nirgends so nahe stehen bis hin zur Personalunion wie im Islam. Halm versäumt es allerdings darauf hinzuweisen, dass diese
beiden Instrumente, die in ähnlicher Form auch in den westlichen Rechtsordnungen angewendet werden, durchaus ein emanzipatorisches Potential beinhalten, wenn sie nicht nur in traditionalistischem Geist gehandhabt werden. Die weitere Entwicklung vor allem von Politik und Wirtschaft hat auch in den muslimischen Ländern längst zu einer umfangreichen Gesetzgebung geführt, auf die die
Scharia meist nur einen eher indirekten Einfluss aus dem allgemeinen religiösen
und moralischen Hintergrund hat. Dies wird von den Islamisten beanstandet, die
die Scharia als explizite Grundlage des gesamten Rechts islamischer Staaten
verlangen.
Mit der schriftlichen Fixierung des Korans, der Hadithen und damit der Scharia
und dem Sieg der traditionalistischen Auslegung des Korans und der Tradition
war die inhaltliche Entwicklung des Islam vor rund achthundert Jahren weitgehend abgeschlossen - so erstaunlich dies auch aus westlicher Sicht erscheinen
mag, wenn man bedenkt, was in diesen achthundert Jahren in Europa und der
übrigen christlichen Welt alles geschehen ist.
9
Die weiteren achthundert Jahre der Geschichte des Islam kann Halm daher auf
wenigen Seiten abhandeln, denn sie ist im wesentlichen nicht mehr eine Geschichte des Islam, sondern eine Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs der
islamischen Staaten, insbesondere der drei muslimischen Grossreiche in Indien
(Moghulreich), Persien (Safaviden) sowie östlich und südlich des Mittelmeers
(Osmanisches Reich). Ein wichtiger Punkt ist die Trennung von weltlicher Herrschaft (Sultanat) und geistlicher Führerschaft (Kalifat) im Gefolge der Machtübernahme durch die (türkischen) Seldschuken in Bagdad (1055). Dies scheint
die verbreitete Meinung, die gerade auch von islamischen Theologen propagiert
wird, zu relativieren, dass die politische und die religiöse Sphäre im Islam nicht
zu trennen seien. Auch in der islamischen Gesellschaft hat sich mit der Zeit eine
gewisse funktionale Ausdifferenzierung ergeben. Sie ist allerdings nie so weit gegangen wie im Westen und von den Theologen nie wirklich akzeptiert worden,
was ein weiterer wichtiger Grund für die Stagnation der islamischen Welt sein
dürfte, da Entwicklung eben notwendigerweise mit Ausdifferenzierung verbunden ist.
Ein eigenes Kapitel widmet Halm der islamischen Mystik: den Sufis, Derwischen
und Fakiren, der Heiligenverehrung und den Wallfahrten zu ihren Gräbern - und
der Verfolgung, der die Mystiker und der Volksglauben seitens der strenggläubigen Traditionalisten immer wieder ausgesetzt waren und sind.
Der Islam im Alltag
In diesem Teil beschäftigt sich Halm zunächst mit zwei Punkten, die im Westen
oft nicht oder nicht richtig verstanden würden. Erstens sei es nicht wahr, dass es
eine Trennung zwischen Staat und Religion nicht gebe; und er verweist als Beleg
auf die Türkei in den letzten zweihundert Jahren, auf Persien unter dem Schah
und auf den arabischen Sozialismus von den fünfziger Jahren des vorigen bis in
dieses Jahrhundert. Dazu stellt sich die Frage: War, wie Halm meint, die Säkularisierung vieler muslimischer Staaten im zwanzigsten Jahrhundert und zum Teil
schon vorher der Trend, der gegenwärtig nur temporär - was heisst das genau? unterbrochen ist? Oder ist es umgekehrt: War die Säkularisierung die temporäre
Unterbrechung und erleben wir nun die Rückkehr zum Trend, d.h. zur Stagnation
in der Tradition? Die Fragen hätten eine nähere Diskussion verdient. Aber es ist
in der aufgeregten Gegenwart schon verdienstvoll, sie aufgeworfen zu haben.
Der zweite Punkt ist, dass es im Islam (ausser in der relativ kleinen Minderheit
der Schiiten) keine umfassende Organisation der Religion und ihrer Anhänger
gibt. So gesehen gibt es „den“ Islam nicht und auch niemanden, der für „die“
10
Muslime sprechen und handeln kann. Und man kann auch nicht irgendeinen
Muslim für etwas verantwortlich machen, was andere angeblich im Namen „des“
Islam tun. Mitverantwortung entsteht erst durch Mittäterschaft, offene oder stille
Zustimmung und mangelnden Widerstand. Trotz des Fehlens einer umfassenden
Organisation sind die grundlegenden Glaubensinhalte bei den meisten Muslimen
rund um die Welt aber erstaunlich einheitlich. Das bedeutete bis in die jüngere
Vergangenheit nicht, dass es nicht lebhafte theologische, juristische und ethische
Diskussionen gegeben hätte oder dass es nicht von Land zu Land mehr oder weniger deutliche Unterschiede im religiösen und gesellschaftlichen Leben gäbe. Aber
die Umma, die Gemeinschaft aller Gläubigen rund um die Welt, ist keine Fiktion,
sondern mindestens im Religiösen eine Realität. Wie weit die Einheitlichkeit auch
im politischen, rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich gehen
muss, ist nach wie vor heftig umstritten.
Im weiteren widmet sich das Buch den fünf wichtigsten Glaubenspflichten der
Muslime (fünf Säulen des Islam) gemäss dem Koran: dem Glaubensbekenntnis;
den täglich fünfmaligen rituellen Gebeten und bei dieser Gelegenheit der Moschee, dem Klerus und der Freitagspredigt; dem Fasten im Ramadan und bei dieser Gelegenheit dem islamischen Mondjahr; der Armensteuer und bei dieser Gelegenheit einigen weiteren Aspekten des Steuerwesens; und schliesslich im Detail
der Pilgerfahrt nach Mekka wenigstens einmal im Leben. Diese Pflichten werden
inhaltlich näher erläutert. Auch einzelne Konflikte mit westlichen Vorstellungen
von Menschenrechten werden angesprochen, so insbesondere die Tatsache, dass
es zwar sehr einfach ist, zum Islam überzutreten, dass es aber keine Möglichkeit
gibt, sich von ihm abzuwenden, auch nicht wenn jemand nach seinem Willen gar
nie gefragt worden ist, weil er von Geburt an als Muslim gilt, wenn sein Vater
Muslim war. Apostaten riskieren schwere Strafen bis hin zur Todesstrafe.
Nun sind die fünf Säulen des Islam gewissermassen nur die Spitze eines Eisbergs
von Regeln für buchstäblich jede Lebenslage und Lebensäusserung eines frommen Muslim. Die Gesamtheit dieser Regeln ist die Scharia, deren Grundlage der
Koran und die Sunna bzw. die Hadithe sind. Nun gibt es allerdings, wie bereits
erwähnt, etliche Sammlungen von Hadithen, wobei sich vor allem, aber nicht nur
die sunnitische und die schiitische Tradition unterscheiden. Ausserdem kann auch
das ausführlichste Rechtssystem niemals alle denkbaren Fälle voraussehen und
regeln. Es muss also Regeln für die Anwendung der Scharia auf den konkreten
Einzelfall geben. Diese Regeln unterscheiden sich je nach Rechtsschule, und dementsprechend unterscheidet sich auch die konkrete Anwendung der Scharia in Zeit
und Raum, was von Halm anhand von vielen Beispielen gezeigt wird.
11
Die Anwendung des Rechts geschah traditionellerweise in der Vergangenheit
durch die Ulamas, die Rechtsgelehrten des religiösen Rechts. Durch die Ausdifferenzierung des Rechtswesens in der Neuzeit haben sie ihren direkten Einfluss
als Richter (Kadi) in vielen Rechtsgebieten verloren. Ihr indirekter Einfluss auf
dem Weg religiöser Gutachten (Fatwa) auf der Basis der muslimischen Tradition
(Sunna) ist aber in vielen Ländern immer noch sehr gross und hat letzthin im Zug
der Rückbesinnung auf diese Tradition und durch die Verbreitung der Fatwa mittels der modernen Medien wieder zugenommen.
Ein spezielles Kapitel widmet Halm der rechtlichen Stellung der Frau im Islam.
Sie bemisst sich nach den Verhältnissen einer patriarchalischen, altarabischen
Stammesgesellschaft im 7. Jahrhundert und ist sofern vielleicht der deutlichste
Beleg für die Stagnation des Islam. Zwar wird, auch von Halm, oft darauf hingewiesen, dass der Koran die Frau besser gestellt habe, als es der damaligen vorislamischen Tradition entsprach. Ob dies, wenn es wahr wäre, geeignet ist, die Akzeptanz der die Frauen auf vielfältige Weise missachtenden, einengenden und benachteiligenden Regeln in der heutigen Zeit zu erhöhen, ist aber eine andere Frage. Da hilft auch der Hinweis Halms nicht viel, dass in der Praxis die Stellung
einer Frau natürlich auch von dem sozialen Milieu abhängt, in dem sie lebt, und
dass es in vielen Ländern eine deutliche „Spaltung der Gesellschaft in ein traditionell-konservatives und ein modernes, liberales Segment“ (Pos. 1344) gibt. Denn
erstens gilt im Konfliktfall das Recht, zweitens umfasst das moderne, liberale Segment nur eine (kleine) Minderheit, und drittens können sich die Ansichten in diesem Segment im Einzelfall je nach Interessenlage auch sehr schnell ändern.
Zwei weitere Kapitel beschäftigen sich mit den aktuellen Themen Islamismus und
Dschihad. Der Islamismus wird als politische Ideologie auf islamischer Basis definiert. Solche Ideologien gibt es seit mehr als zweihundert Jahren. Als erster Auslöser wird oft der Modernisierungsschock in Ägypten durch den Einfall Napoleons (1798-1801) angegeben. Solche Modernisierungsschocks hat es im 19. und
20. Jahrhundert in muslimischen Ländern immer wieder gegeben oft in Kombination mit Ressentiments wegen kolonialistischer Fremdherrschaft oder anderen
Formen der Abhängigkeit und Fremdbestimmung. In den europäischen Einwanderungsländern der letzten gut fünfzig Jahre wird der Islamismus auch von sozialer Deklassierung und den Schwierigkeiten eines strenggläubigen muslimischen
Lebens in der Diaspora angetrieben. Wichtige Aspekte islamistischer Ideologien
sind der Wunsch nach (Wieder)Einführung der Scharia, um ein islamisches Leben
in Familie und Alltag zu garantieren, die Erinnerung an vergangene Grösse und
damit die Förderung eines Überlegenheitsgefühls, die Betonung der Einheit der
islamischen Welt (Umma), um die Bewegung zu stärken, und zum selben Zweck
12
die Nutzung moderner Technik. Islamistische Ideologien gab es zuerst und lange
Zeit nur in islamischen Ländern, wo sie vielfach brutal unterdrückt wurden. Ihr
Auftreten in westlichen Ländern ist an die Einwanderung von Muslimen gebunden. Islamisten sind sich sehr häufig im Detail keineswegs einig bezüglich des
Inhalts ihrer Vorstellungen und bezüglich der Methoden, sie in der Praxis durchzusetzen. Schwere Auseinandersetzungen bis hin zum Bürgerkrieg können die
Folge sein. Denn da jede Gruppe sich auf ihre einzig richtige Interpretation des
Islam beruft, ist die Kompromissfähigkeit gering.
Hinsichtlich des Dschihad erinnert Halm zunächst daran, dass dieses Wort viele
Bedeutungen haben kann und dass der kriegerische Einsatz für den Islam nur eine
davon ist und historisch keineswegs die geläufigste. Seit einiger Zeit ist dies anders, und die Formel vom „heiligen“ Krieg für den Islam bzw. für Gott ist zur
Legitimationsetikette für viele Formen von Gewalt geworden, die anders nicht
legitimierbar wären, auch nicht in der Gemeinschaft der Gläubigen (Umma).
Demselben Zweck dient die Verherrlichung der Opfer in den eigenen Reihen als
Märtyrer für den Glauben. Ihre Rekrutierung und ihre Bereitschaft zum Kampf
wird zusätzlich durch das Versprechen des direkten Zugangs ins Paradies erleichtert und gefördert.10
Die beiden letzten Kapitel des Buchs beschäftigen sich mit dem Islam in der
Diaspora im allgemeinen und dem Islam in Deutschland im besonderen.
Das Leben als Minderheit in einer völlig anders verfassten Gesellschaft ist für
Muslime aus mehreren Gründen besonders problematisch. Grundsätzlich verträgt
sich die Minderheitsposition nicht mit dem religiös begründeten und daher tief
eingewurzelten Überlegenheitsgefühl der Muslime. Dazu kommt, dass der Islam
das gesamte tägliche Leben des einzelnen Muslim und alle Aspekte seines familiären, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Daseins
regelt. Dies ist in einer völlig anders verfassten Gesellschaft nicht wirklich möglich, woraus sich unzählige tägliche Reibungen und Konflikte ergeben, die von
den Muslimen als schmerzlich und auch als erniedrigend oder beleidigend empfunden werden, während sie von der Mehrheitsgesellschaft oft nicht einmal bemerkt oder verstanden werden. Selbst wenn sie bemerkt und verstanden werden,
bedeutet das keineswegs, dass es immer möglich wäre, Abhilfe zu schaffen. In
der Demokratie entscheidet letztlich die Mehrheit der Bürger bzw. ihrer gewählten Vertreter über die Gesetze, und diese gelten dann für alle. Dass damit in den
Die Parallelen von alledem zur Propaganda für die Kreuzzüge und viele andere Kriege „für
Gott und Vaterland“ sind unübersehbar.
10
13
Augen der Muslime Menschengesetze über Gottesrecht gesetzt werden, ist der
Mehrheitsgesellschaft wohl nur selten bewusst und würde sie vermutlich auch
nicht sonderlich beeindrucken, wenn es ihr bewusst wäre. Zu lange liegt in den
westlichen Gesellschaften die Zeit zurück, in der die Religion eine vergleichbare
Bedeutung besass.
Probleme ergeben sich auch daraus, dass der Islam nicht über eine kirchenähnliche Organisation verfügt. Muslime in der Diaspora müssen sich daher selbst in
Vereinen, meist auf landsmannschaftlicher und/oder konfessioneller Basis, organisieren. Der Organisationsgrad ist aber in der Regel gering, was nicht nur die
Vertretung nach aussen beeinträchtigt, sondern auch die Beschaffung der notwendigen Mittel zur Finanzierung von religiösen Räumlichkeiten und Personal erschwert. Dies wiederum bringt die Vereine in Abhängigkeit von externen Geldgebern und externem Personal. Bei den externen Geldgebern handelt es sich oft um
staatliche oder staatsnahe Institutionen der Herkunftsländer und/oder um reiche
Stiftungen oder Einzelpersonen, die häufig in den reichsten und zugleich radikalsten islamischen Ländern ansässig sind. Aus den Herkunfts- und/oder Stiftungsländern wird auch häufig das externe Personal geschickt. Last but not least spielen
in den Zeiten der weltweiten Kommunikation das Internet und das Fernsehen der
islamischen Herkunftsländer gerade auch für die religiöse Unterweisung eine
wichtige Rolle. Alles das erschwert die aus sprachlichen, sozialen und wirtschaftlichen Gründen ohnehin problematische Integration der Diasporamuslime in die
Mehrheitsgesellschaften und begünstigt eher die Separation in Parallelgesellschaften.
Das Buch wird beschlossen durch eine Zeittafel der islamischen Geschichte, Literaturhinweise, Hinweise zur Aussprache, ein ausführliches Register und eine
Übersichtstafel über die verschiedenen islamischen Konfessionen.
Abschliessende Bemerkungen
Das Buch von Halm ist eine äusserst nützliche Einführung in Geschichte und
Gegenwart des Islam, die den Kriterien für diesen Literaturüberblick genau entspricht. Der knappe Raum wird inhaltlich sehr gut genutzt. Es steht nichts Überflüssiges oder Unwichtiges in diesem Buch. Die Darstellung ist, wie man bei einer
10. Auflage auch erwarten kann, sprachlich und redaktionell tadellos und sehr
verständlich, so dass der dichte Inhalt auch aufgenommen werden kann.
Natürlich wird jeder aufmerksame Leser auch kritische Anmerkungen und vor
allem weitergehende inhaltliche Wünsche haben. Das ist ein wesentliches Ziel
14
eines solchen Buchs, und daran erkennt man, ob es seinen Zweck erfüllt oder
nicht. Die Reaktion auf solche Anmerkungen und Wünsche muss daher nicht von
Auflage zu Auflage die stetige Vermehrung von Inhalt und kritischer Diskussion
im Buch selbst sein. Damit würde früher oder später der Zweck einer kompakten
Einführung für den interessierten Laien verfehlt. Der normale Weg solche Anmerkungen und Wünsche weiterzuverfolgen, ist die weitere Lektüre, wozu das Buch
auch die entsprechenden Anregungen gibt.
Deshalb sei nur ein einziger Punkt hier noch einmal erwähnt, über den im Buch
mehr Klarheit geschaffen werden sollte. Die Geschichte der ersten fünfzig Jahre
(610-661) ist inhaltlich für den Islam von derartiger Bedeutung (Offenbarung des
Koran, Hadithe, Sunna) und zugleich historisch derartig schwach dokumentiert,
dass man m.E. auch in einer Einführung nicht einfach der muslimischen Tradition
folgen und kritische Stimmen mit ein paar Worten abfertigen kann. Die Modernisierung des Islam wird nur gelingen, wenn seine Geschichte und seine heiligen
Schriften wissenschaftlich-kritisch aufgearbeitet werden, so wie dies mit den
christlichen Traditionen und der Bibel auch geschehen ist. Ansätze dazu hat es in
der islamischen Geschichte bereits gegeben. Al-Ghazalis Bannfluch wird nicht
das letzte Wort bleiben - weder in der westlichen Wissenschaft noch in der
Umma.
15
3. Hartmut Bobzin, Der Koran: Eine Einführung
9. Auflage, München 2015, 143 S.
Hier besprochen und zitiert nach der Kindle e-book Ausgabe.
Inhalt
Das Buch von Bobzin beginnt mit der Rezeptionsgeschichte des Korans im
christlichen Osteuropa. Während der Koran im byzantinischen Reich, in dessen
unmittelbarer Nachbarschaft der Islam entstanden war und mit dem es schon im
siebten Jahrhundert die ersten konkreten Erfahrungen gemacht hatte, bald einmal
bekannt wurde, dauerte es in Westeuropa wesentlich länger, bis man vom Koran
Kenntnis nahm. Dass die ersten bekannten Übersetzungen ins Griechische (im 9.
Jahrhundert nachgewiesen) und dreihundert Jahre später ins Lateinische (1142/
43) so spät erschienen sind, ist angesichts des rasanten Aufstiegs des islamischen
Reichs zu einer Weltmacht ziemlich erstaunlich. Es dürfte auch damit zu tun haben, dass weder die östliche noch die westliche Kirche ein Interesse an einer grösseren Verbreitung des heiligen Buchs einer konkurrierenden Religion hatten.
Die Aufnahme des Korans in den christlichen Ländern war entsprechend feindselig. Schon die äussere Form des Korans, in dem die Reihenfolge der einzelnen
Suren keinem inhaltlichen oder historischen Zusammenhang folgt, missfiel den
christlichen Theologen, die an den historischen Ablauf, wie er in der Bibel geschildert wird, gewöhnt waren. Noch grösser war die Ablehnung des Inhalts. Moniert wurden die Heterogenität des Inhalts und diverse offenkundige Widersprüche insbesondere zwischen mekkanischen und medinensischen Suren (vgl. unten
S. 17), worüber bis heute innerhalb und ausserhalb der Islam diskutiert wird. Da
im Koran viele Geschichten aus der Bibel ebenfalls vorkommen, lag es nahe, die
beiden Versionen genau zu vergleichen. Dabei stellten sich teilweise gravierende
Abweichungen heraus, die den Koran als Plagiat und gleichzeitige Verfälschung
der Bibel erscheinen liessen. Erst recht erbitterte den christlichen Klerus, dass der
Koran die Trinitätslehre nicht akzeptierte und damit Gräben aufriss, die auch nach
dem Machtwort des Konzils von Konstantinopel (381) noch für Jahrhunderte keineswegs endgültig geschlossen waren. Vor allem in Byzanz vermutete man deshalb lange, der Islam könnte eine neue antitrinitarische Sekte sein - eine Version
der Entstehungsgeschichte des Islam, die auch heute noch von manchen westlichen Historikern in Betracht gezogen wird. Nicht zuletzt machten sich die christlichen Theologen über die höchst unwahrscheinliche(n) Offenbarungsgeschichte(n) lustig, was eigentlich etwas verwunderlich ist, gibt es dergleichen und andere
Wundergeschichten doch auch in der Bibel und in den Heiligenlegenden.
16
Wie auch immer, der Koran und Mohammed wurden zur Zielscheibe von Schmähungen aller Art, was angesichts der auch innerchristlichen Intoleranz und angesichts der rund tausendjährigen politischen und militärischen Bedrohung durch
das islamische Reich und seine Nachfolgestaaten auch nicht weiter verwunderlich
ist. Erst mit der Aufklärung begann die Einstellung sich langsam zu ändern.
Bobzin zitiert hierzu einige bemerkenswerte Aussagen von Voltaire. Ein erster
Durchbruch zur Anerkennung des Korans als ganz eigenständiges Werk von
hohem spirituellem und literarischem Wert wird dem deutschen Theologen Möhler (1796-1838) zugeschrieben.
Im zweiten Kapitel werden die Bedeutungen des Wortes „Koran“ und einige andere Grundbegriffe erklärt. Unter Koran ist sowohl der Vortrag bzw. die Lesung
als auch das Gelesene also das Buch zu verstehen, was auf die grosse Bedeutung
der mündlichen Offenbarung, Überlieferung und Rezitation verweist. Die Worte
„Sure“ und „Vers“ können nicht einfach als Kapitel oder eben Vers übersetzt werden. Dafür fehlt ihnen oft die inhaltliche Einheitlichkeit. Es handelt sich vielmehr
um mittlere und kleine Vortragseinheiten, was einmal mehr auf die mündliche
Rezitation verweist. Suren und Verse sind von sehr unterschiedlicher Länge. Suren haben Namen, was das Memorieren für den mündlichen Vortrag erleichtert.
Im Koran sind die Suren im wesentlichen nach ihrer Länge angeordnet und nicht
nach ihrem Inhalt oder der Reihenfolge in der Offenbarung. Man sieht aus diesen
formalen Eigenschaften des Korans, die die christlichen Kritiker so irritierten,
dass hier eben etwa grundlegend anderes als die Bibel beabsichtigt ist und auch
vorliegt.
Im weiteren geht es um die Interaktion zwischen Mohammed und dem Koran.
Der Koran selbst sagt unmittelbar kaum etwas über Person und Leben des Propheten. Es ist jedoch die Überzeugung der meisten muslimischen Interpreten, dass
die Offenbarungen jeweils aus einem konkreten Anlass in Mohammeds Leben
erfolgten. So lassen sich die Offenbarungen Ereignissen der Biographie Mohammeds zwischen 610 und 632 zuordnen, die aus anderen Überlieferungen als bekannt gelten. In diesem Zusammenhang ist der Bruch in Mohammeds Leben von
Bedeutung, der sich als Flucht aus Mekka nach Medina (622) manifestiert. Während Mohammed in Mekka weitgehend vergeblich versuchte, die Mekkaner von
dem neuen monotheistischen Glauben zu überzeugen, warteten in Medina auch
konkrete Aufgaben als Staatschef und Oberkommandierender auf ihn. Dementsprechend haben es die mekkanischen Suren vor allem mit spirituellen und theologischen Fragen zu tun, während es in den medinensischen Suren vor allem um
politische, militärische, administrative und rechtliche Fragen im weiteren Sinn
geht. Aus dieser unterschiedlichen Zielsetzung resultieren vermutlich auch die
17
von den Kritikern monierten Widersprüche. Die Standardantwort hierauf ist das
sogenannte Abrogationsverfahren, nach dem die späteren Regeln die früheren Regeln ausser Kraft setzen.11 Da Mohammed sich mit zunehmender Macht radikalisierte, sind die medinensischen Suren häufig rigoroser als die mekkanischen.
Deshalb möchten manche moderne Interpreten des Korans bei Widersprüchen
lieber die gemässigteren mekkanischen Suren gelten lassen. Das wird ohne eine
Aufgabe der bisher dominierenden engen zeitlichen Verknüpfung der Offenbarungen mit Ereignissen aus Mohammeds Leben kaum möglich sein. Für eine
solche nicht-historisierende Auslegung des Korans spricht sich auch Bobzin aus
und gibt ein ausführliches Beispiel, wie dies konkret geschehen könnte.
Im vierten Kapitel geht es um die Hauptthemen der frühen koranischen Botschaft.
Es beginnt mit der Beschreibung der koranischen Eschatologie, also des Weltenendes, des Gerichts und der Belohnung im Paradies und der Bestrafung in der
Hölle. Für seine mekkanischen Zuhörer war dies etwas gänzlich Neues, da sie
weder an eine Auferstehung noch an ein Leben nach den Tod glaubten. Diese
Vorstellung ist jedoch für die religiöse Disziplinierung von unschätzbarem Wert.
Es ist deshalb wichtig zu wissen, welche Taten und Verhaltensweisen mit welchen
positiven oder negativen Sanktionen im Jenseits verbunden sind. Mit der Eschatologie werden daher im Koran zugleich auch die grundlegenden Pflichten der Gläubigen formuliert.
Die mekkanischen Zuhörer glaubten Mohammed nicht und beschuldigten ihn, ein
Zauberer, ein Besessener oder auch nur ein Dichter zu sein. Dies führte zu einer
grösseren Anzahl von Offenbarungen, in denen die Rolle des Propheten (Mohammed) und seiner Vorgänger in der monotheistischen Tradition, insbesondere Moses und Abraham, beschrieben wird. Wiederkehrende Themen dabei sind der
Kampf gegen den Polytheismus und der absolute Gehorsam der Propheten gegenüber Gott, die nichts interpretieren, der Offenbarung nichts hinzufügen und nichts
weglassen und so die Authentizität ihrer Botschaft garantieren. Dem steht der Unglaube bzw. Ungehorsam ihrer Adressaten gegenüber, die die Zeichen Gottes
nicht sehen wollen und dafür früher oder später schwer bestraft werden.
Zu den theologischen Aussagen des Korans gehören die wichtigsten Glaubensinhalte: der eine Gott, die Engel, die Offenbarungsbücher, die Propheten, das
Weltenende und das Gericht. Der Monotheismus ist das beherrschende Thema.
Dass es daneben auch Engel als überirdische Wesen bzw. Diener oder Gehilfen
Gottes gibt, ist erstaunlich. Im Verhältnis zum Propheten ist der Engel Gabriel
11
Diese Maxime gilt seit eh und je auch in unserem Recht: lex posterior abrogat legi priori.
18
gewissermassen der Mittler und Distanzhalter; denn Gott kommuniziert nicht unmittelbar mit einem Menschen. Die Engel sind Boten und können den Menschen
auch helfen, z.B. im Kampf. Sie dürfen aber nicht verehrt oder gar angebetet werden. Zu den Offenbarungsbüchern gehören ausser dem Koran die Thora, der Psalter und das Evangelium. Jedes dieser Bücher ist mit einem Propheten verbunden
(Moses, David, Jesus). Auch diese früheren Bücher sind Argumente der islamischen Theologie. Denn Ankündigungen in früheren Büchern bestätigen die
Authentizität des Korans. Aber die Juden und die Christen haben diese Ankündigungen nicht verstanden oder wollten sie nicht verstehen. Damit haben sie die
früheren Schriften verfälscht, und man kann ihrer Argumentation auf der Basis
der Bibel grundsätzlich nicht trauen.
Der Koran enthält nicht nur die grundlegenden theologischen Lehren des Islam,
sondern auch konkrete rechtliche Bestimmungen bzw. Vorschriften und Empfehlungen für die richtige Lebensführung. Eine weitere Konkretisierung erfolgte
dann durch die Hadithe. Es geht neben den religiösen Vorschriften im engeren
Sinn (“fünf Säulen des Islam“), um Zivilrecht, Strafrecht und die soziale Ordnung
insgesamt. Im siebten Kapitel werden einige dieser Regeln an Hand von Textbeispielen und ihrer Interpretation behandelt.
Manche Vorschriften sind sehr detailliert und lassen wenig Interpretationsspielräume z.B. Vorschriften für die rituellen Gebete; die Speisegesetze, insbesondere
das Alkoholverbot, das zwar in den mekkanischen Suren noch nicht enthalten ist,
wohl aber sehr klar in den medinensischen Suren; ferner die Vorschriften über das
Fasten, die Ehe und Ehescheidung sowie das Erbrecht. Die Definition einer ganzen Reihe von Delikten und der dafür auszufällenden Strafen scheint auf den ersten Blick ziemlich klar. Gleichwohl gibt es Interpretationsspielräume, die sich in
den Unterschieden des heutigen Strafrechts auch in solchen Staaten spiegeln, die
sich auf die Scharia als Grundlage berufen. Andere Vorschriften sind eher vage
eventuell sogar widersprüchlich und lassen dementsprechend grössere Interpretationsspielräume, die auch durch die Hadithe nicht immer ausgeschöpft wurden,
so dass die Diskussion bis heute bis zu einem gewissen Grad offen ist. Relativ
offen ist z.B. die Interpretation der Aussagen über die Verschleierung der Frau
und die Vielehe. Hinsichtlich des Dschihad ist Bobzin der Meinung, dass damit
in den medinensischen Suren eindeutig der heilige Krieg gemeint ist und nicht nur
irgendein Einsatz zugunsten des Islam, wie eine spätere Interpretation den Wortgebrauch ausgedehnt habe. Der Kampf richtet sich, um das Herrschaftsgebiet des
Islam auszudehnen, vor allem gegen die Ungläubigen, aber auch gegen Muslime,
die vom rechten Glauben abweichen. Bobzin erwähnt weitere Vorschriften sowie
19
die Sure 17:22-39 mit einem Katalog von „zwölf Grundgeboten“ … „die eine
gewisse Nähe zum Dekalog zeigen“ (Pos. 1730).
Das achte Kapitel geht auf die sprachliche und literarische Form des Korans ein.
Die Sprache des Korans ist Altarabisch, das sich deutlich von dem daraus entstandenen modernen Hocharabischen unterscheidet und noch viel mehr von den heutigen umgangssprachlichen Dialekten der arabischen Welt zwischen Marokko und
dem Irak. Bobzin ist der Meinung, dass dies für die Masse der Araber kein Problem sei, da sie in den Medien genügend mit dem modernen Hocharabisch konfrontiert würden, um von daher auch das Altarabische des Korans zu verstehen.
Ein Problem besteht aber vor allem für diejenigen, die das Arabische nicht beherrschen und den Koran gleichwohl nur auf Arabisch rezitieren dürfen.12 Bobzin
vergleicht auch die altarabische (also zeitgenössische) Dichtung mit dem Koran
und stellt bedeutende Unterschiede fest, die dem Koran eine herausgehobene Sonderstellung verleihen. Weitere Ausführungen gelten dem Reim und der Verwendung von Gleichnissen. Alles das wird mit vielen Textbeispielen aus der RückertÜbersetzung illustriert, die auch dem deutschsprachigen Leser eine Ahnung von
dem vermitteln, wovon die Rede ist.
Im neunten Kapitel wird die Textgeschichte des Korans behandelt also „die Frage,
wie der Koran seine gegenwärtige Form erhalten hat.“ (Pos. 2015) Es geht dabei
um die zunächst mündliche Sammlung und Überlieferung der Offenbarungen und
die späteren schriftlichen Fixierungen, wobei das Problem der Authentizität im
Vordergrund steht. Daneben spielen Fragen wie die Anordnung der einzelnen Suren und Verse eine Rolle. Die erste vollständige Ausgabe des Korans wurde unter
dem dritten Kalifen Uthman noch von Zeitgenossen Mohammeds angefertigt.
Gleichzeitig liess Uthman offenbar andere zirkulierende Handschriften vernichten, um die Einheitlichkeit des heiligen Buchs zu bewahren. Gleichwohl sind einige alternative Fragmente erhalten, die teilweise erhebliche Unterschiede zum uthmanischen Text aufweisen. Die Einheitlichkeit des Textes und seines Verständnisses war aber auch deswegen noch nicht garantiert, weil die Schreibweise des
Altarabischen zur Zeit Uthmans noch ohne manche Konsonanten und Vokale und
ohne diakritische Zeichen auskam und daher vielfach mehrere inhaltliche Deutungen zuliess, die im Verlauf der Jahrhunderte von den islamischen Gelehrten „geklärt“ und kanonisiert wurden. Bobzin berichtet im weiteren über eine Reihe historisch bedeutsamer Koranausgaben, die mit der Kairoer Ausgabe von 1923 endet, die in der islamischen Welt heute noch als massgebend anerkannt ist.
12
Für das Volk unverständliche Sakralsprachen sind oder waren bekanntlich auch in anderen
Religionen üblich, und sind insofern nichts Ungewöhnliches.
20
Im zehnten Kapitel geht es um die Geschichte der Kommentare zum Koran. Bobzin greift damit den beim Leser längst entstandenen Eindruck auf, dass der Koran
ohne Anleitung kaum zu verstehen ist. Der Punkt ist von grösster praktischer Relevanz, behaupten doch vor allem Sektierer und Fundamentalisten gerne, der Koran sei nicht nur das authentische und letzte Wort Gottes, sondern auch für jeden
Gutwilligen ohne weiteres verständlich. Wem dies mangels entsprechender Bildung nicht gelingt, dem wird eine Interpretation als die einzig offenkundige und
mögliche gegeben und jede andere Interpretation als Gott beleidigende und daher
streng verbotene Verfälschung erklärt.13 Demgegenüber zeigt Bobzin, dass der
Koran tatsächlich von Anfang an auch für die Muslime und ihre Gelehrten schwer
zu verstehen war und daher Gegenstand einer umfangreichen Kommentarliteratur
wurde. Dabei ging und geht es einerseits um philologische und literarische Fragen
im Anschluss an die Ausführungen des achten und neunten Kapitels, also um die
genaue (zeitgenössische) Bedeutung und Relevanz vieler Worte, grammatischer
und syntaktischer Strukturen und Erzählweisen, anderseits um die damit im Gesamtzusammenhang beabsichtigte Aussage. Dabei wurde und wird von den muslimischen Gelehrten auch auf die Hadithe und die Autorität früherer Gelehrter
Bezug genommen. Bobzin nennt dazu einige der wichtigsten und einflussreichsten Kommentare aus einer Interpretationsgeschichte von bald tausendvierhundert Jahren.
Was es hingegen in der muslimischen Kommentartradition nicht gibt, sind historisch-kritische Analysen, die den Menschen Mohammed und seine Lehren in
einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang stellen und daraus erklären würden.
Dies würde den grundlegendsten Dogmen des islamischen Offenbarungsglaubens
widersprechen. Der Leser lernt aus diesem Kapitel, dass es Interpretationsspielräume im Islam gibt, dass diese aber wegen der Autorität der Tradition, wozu auch
die bisherige Interpretationsgeschichte gehört, und des Verbots der historisch-kritischen Analyse jedenfalls bisher begrenzt waren. Es gibt keine absolute Stagnation, aber das Gewicht der Tradition ist sehr gross, und Rückschläge in der Anpassung an die historische Entwicklung sind immer möglich.
Das elfte und letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der Koranübersetzungen. Dies ist aus muslimischer Sicht deswegen ein besonderes Problem, weil ja
der Koran als unmittelbares Wort Gottes gilt. Dieses Wort Gottes ist allerdings,
wie die zahlreichen Textproben und dann systematisch die Kapitel acht bis zehn
13
Dieses Vorgehen findet sich natürlich auch bei Sektierern und Fundamentalisten in anderen
Religionen.
21
gezeigt haben, schwer verständlich. Nun weiss jeder, der selbst schon einmal etwas anspruchsvollere Texte übersetzt hat, dass solche Texte nicht wörtlich übertragen, sondern eigentlich nur „sinngemäss nacherzählt“ werden können, wenn
sie für den Leser verständlich sein und ausserdem auch minimalen literarischen
Anforderungen genügen sollen. Damit ist Übersetzung immer zugleich auch Interpretation, und die Interpretation des Übersetzers ist nicht mehr Gottes Wort.
Die frühe und schnelle Expansion des Islam über den arabischen Sprachraum hinaus machte Übersetzungen gleichwohl schon früh nötig. Sie gelten jedoch bis
heute nicht als authentisch, selbst wenn sie von muslimischen Gelehrten stammen.
Ein häufig verwendeter Behelf sind daher zweisprachige Ausgaben mit dem autorisierten arabischen Text und daneben der Übersetzung, die aber nicht als äquivalent, sondern nur als Erklärung des arabischen Inhalts angesehen wird. Theologisch und rechtlich gilt nur der arabische Text. Deutsche Übersetzungen des Korans werden im Text und zwei Anhängen genannt und teilweise kommentiert.
Abschliessende Bemerkungen
Was hier inhaltlich in aller Kürze zusammengefasst wurde, wird von Bobzin mit
zahllosen Textbeispielen illustriert. Diese Beispiele geben einen schönen Eindruck von Inhalt und Formulierung des Korans. Sie sollten den profanen Leser
auch davon überzeugen, dass er ohne Anleitung kaum eine Chance hat, den Koran
einigermassen zutreffend zu verstehen. Wer sich dem Koran noch mehr nähern
möchte, sei deshalb auf das Buch von H. und K. Bobzin „Der Koran: Die wichtigsten Texte“ (München 2015) verwiesen, dass jeweils ausführliche Erklärungen
enthält. Schliesslich sei auch Bobzins Koranübersetzung (Der Koran, 2. Auflage,
München 2015) empfohlen.
Das Buch dürfte für alle, die sich noch nie mit dem Koran beschäftigt und auch
nie eine interpretierende Wissenschaft studiert oder betrieben haben, durchaus
eine Herausforderung sein. Aber die Einführung erfolgt behutsam und umfassend,
indem nicht nur der Inhalt des Korans in wesentlichen Teilen abgehandelt wird,
sondern auch die Rezeptions- und Editionsgeschichte, die sprachliche und literarische Form, die Interpretationsprobleme sowie die mit alledem eng zu zusammenhängende Problematik und Geschichte der Koranübersetzung. Es handelt sich um
ein sehr gelungenes Werk, dass niemand versäumen sollte, der sich selbst ernsthaft mit dem Islam auseinandersetzen möchte und/oder zuverlässige Hintergrundinformationen für die aktuellen Debatten um den Islam sucht.
22
4. Thomas Schirrmacher, Koran und Bibel:
Die grössten Religionen im Vergleich
Holzgerlingen 2013, 101 S.
Hier besprochen und zitiert nach der Kindle e-book Ausgabe.
Der Vergleich Schirrmachers von Islam und Christentum anhand ihrer heiligen
Bücher, Koran und Bibel14 besteht inhaltlich aus zwei Teilen und einem nützlichen Anhang mit ausführlichen und gut gegliederten Literaturhinweisen, die
angesichts der Vielschichtigkeit des Themas und der Kürze der Darstellung besonders willkommen sind.
Das Buch beginnt, mit einer langen, aber notwendigen Vorrede darüber, was alles
nicht darin behandelt wird, obwohl es relevant wäre. Dazu gehören insbesondere
die im Christentum sehr grossen, aber auch im Islam nicht zu vernachlässigenden
internen Unterschiede, ferner die Vernachlässigung der jüdischen Perspektive
und, was den Islam betrifft, die Vernachlässigung der Hadithe, die für die Interpretation und als Ergänzung des Korans von fundamentaler Bedeutung sind. Was
das Christentum angeht, wird für den Vergleich sehr häufig der dogmatische Konsens vor dem Aufkommen der historisch-kritischen Erforschung der Bibel und
ihres Verständnisses unterstellt. Dies ist ein wichtiger Hinweis. Denn die historisch-kritische Forschung relativiert vieles, ist genau deswegen im Islam verpönt
und tendiert daher dazu, die Differenzen zu vergrössern. Ausserdem gäbe es eine
Vielzahl von inhaltlichen Kriterien für den Vergleich von Koran und Bibel, die in
diesem Buch nicht behandelt werden, von denen hier aber immerhin einige beispielhaft genannt werden.
Nach dem Ausschluss möglicher Inhalte wird skizziert, was tatsächlich in diesem
Buch zu erwarten ist: Der Vergleich beschränkt sich auf den Koran und die Bibel.
Dabei werden innerislamische und innerchristliche Unterschiede ausgeblendet.
Der Vergleich betrifft thematisch den Stellenwert der beiden Bücher in den beiden
Religionen, der im ersten Teil nach verschiedenen Kriterien abgehandelt wird,
und das Verhältnis des Menschen zu Gott gemäss diesen beiden Büchern, das Gegenstand des zweiten Teils ist. „Mein Anliegen ist es, zu zeigen, dass die Unterschiede zwischen Islam und Christentum bereits im Verständnis der heiligen Bücher und ihrer ‚gläubigen‘ Verwendung liegen.“ (Pos. 139/140)
14
Damit sind, wie üblich, das (jüdische, aber auch von den Christen anerkannte) Alte und das
(christliche) Neue Testament gemeint.
23
Bibel und Koran als „Gottes Wort“
Die Charakterisierung des Korans und der Bibel als „Wort Gottes“ bedeutete
bereits vor der historisch-kritischen Forschung in den beiden Religionen etwas
sehr Unterschiedliches, und nur deswegen konnte im christlichen Bereich die
historisch-kritische Forschung überhaupt entstehen - und den Unterschied noch
einmal wesentlich vergrössern. Die Unterschiede werden anhand von sechzehn
Kriterien aufgezeigt, indem jeweils zwei Thesen zur islamischen bzw. christlichen
Sicht vorangestellt und dann näher erläutert werden. Das Vorgehen ist der beabsichtigten Kürze des Buchs geschuldet und mag plakativ erscheinen. Es hat aber
den Vorteil, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Wer es genauer wissen will,
findet in den Anmerkungen und im Anhang genügend weiterführende Hinweise.
Die sechzehn Thesenpaare werden im folgenden (teilweise zusammengefasst)
genannt, um dem Leser einen Eindruck vom Inhalt dieses Teils zu vermitteln:
1. (und 8. und 9.) Der Koran ist zeitloses Gotteswort. Es wurde Mohammed
von Gott offenbart mit dem Auftrag, es wortgetreu, also unverändert und
unveränderbar, weiter zu verkünden. Mohammed ist nicht der Verfasser,
sondern der Überbringer des Korans. – Die Bibel ist als Werk zahlreicher
Autoren im Lauf von weit mehr als tausend Jahren entstanden, von Gott
inspiriert, aber Menschenwerk in Zeit und Ort.
2. (und 7.) Der Koran ist ein zeitlich, sprachlich, literarisch, historisch, geographisch und ethnologisch einheitliches Buch. – „Die Bibel ist . . . eine
Sammlung von 66 unterschiedlichen Schriften . . . aus verschiedensten
Zeiten und Regionen“ (Pos.232).
3. Das koranische Altarabisch gilt als unmittelbares und authentisches Gotteswort und daher als sprachlich vollkommen und unübertrefflich. Es ist
theologisch allein massgeblich und zulässig. – Die biblischen Sprachen
sind Hebräisch, Aramäisch und Griechisch unterschiedlicher Verfasser auf
unterschiedlichen Entwicklungsstufen und Sprachebenen der jeweiligen
Sprachen.
4. Die rituelle Rezitation des Korans in seiner altarabischen Sprache ist der
eigentliche Gottesdienst. Es ist nicht erforderlich, dies auch sprachlich und
inhaltlich zu verstehen. – Die christliche Verkündigung der Bibel erfolgt in
den Sprachen der Adressaten und zielt auf das inhaltliche Verständnis.
24
5. Übersetzungen des Korans gelten eigentlich als unmöglich. Sie sind nicht
Gottes Wort, waren deshalb lange Zeit nicht erlaubt und gelten auch heute
nur als nicht authentischer, nicht massgebender und eigentlich auch unerwünschter Notbehelf. – Wegen des auf das inhaltliche Verständnis zielenden universellen Missionsauftrags sind Bibelübersetzungen fast so alt wie
die Bibel selbst. Sie sind ebenso Gottes Wort wie der Urtext.
6. Gottes Wort ist unveränderlich und endgültig. Der Koran ist daher in seiner
Sprache und für alle Zeiten wörtlich zu verstehen. Es gibt hinter dem Wortlaut keinen „eigentlichen“ Sinn, mit dem der Wortlaut je nach den Umständen auch in Konflikt geraten könnte. – Im Christentum wird gerade vor der
wörtlichen Interpretation der Bibel gewarnt, da sie dem Gesamtzusammenhang und dem Geist der Botschaft widersprechen könnte. „Eine buchstäbliche Auslegung garantiert also nicht, dass man die Botschaft Gottes richtig
verstanden hat“ (Pos. 370), und „über der korrekten Äusserlichkeit (ist
nicht) die eigentliche Botschaft zu vernachlässigen“ (Pos. 374).
7.
8.
9.
10.Im Koran spielen Zeit und Geschichte keine Rolle. Man kann aus ihm kaum
etwas über das Leben des Propheten15 und seine Zeit entnehmen. Wo der
Koran auf frühere Offenbarungen und Propheten verweist, geht es nicht um
deren Geschichtlichkeit, sondern um den Nachweis, dass sie sich ihrer Vorläuferschaft bewusst gewesen seien und auf das Kommen des letzten Propheten Mohammed hingewiesen hätten. – Die Bibel ist über lange Zeit
hinweg entstanden und dokumentiert dies durch zahllose historische Ausführungen und Anspielungen, die im Prinzip historisch-kritisch überprüfbar und tatsächlich seit langem Gegenstand der historischen Forschung
sind.
11.Der Zeitlosigkeit des Korans entspricht die Zeitlosigkeit16 seiner Gebote
und Verbote. Eine Anpassung an Ort, Zeit und Umstände ist im Prinzip
Schirrmacher zitiert Neuenhausen in Fussnote 23: “Allah entwarf das Buch so, dass es genau
zu Mohammeds Leben passen würde“. Zur islamischen Prädeterminationslehre wie auch zur
zeitlosen Ewigkeit des Korans würde die umgekehrte Version besser passen. Das Ergebnis ist
natürlich dasselbe.
16
Hier wäre auf den Unterschied zwischen den mekkanischen und den medinensischen Suren
und das Abrogationsprinzip einzugehen. Schirrmacher erwähnt die Abrogation später en passant in einem anderen Zusammenhang.
15
25
nicht möglich.17 – Die Geschichtlichkeit der Bibel gilt auch für die Offenbarung. „Für das Verständnis von Bibeltexten ist immer zu berücksichtigen, in welcher politischen Struktur und Umwelt etwas gesagt wurde“ (Pos.
534). Daher ist bei veränderten Umständen auch zu fragen, welche Regeln
nun sinngemäss zu gelten haben.
12.Jedes Exemplar des Korans ist für Muslime ein sakraler Gegenstand. – Die
Bibel ist hingegen als Buch ein Gebrauchsgegenstand, sakral ist für den
gläubigen Christen höchstens der Inhalt.
13.Der Koran verkündet die Überlegenheit der Muslime über die Ungläubigen
und sagt ihnen ihren endgültigen Sieg voraus. „Kritik an der eigenen Geschichte? Undenkbar, eine Blasphemie! Sie würde der Offenbarung die
Grundlage entziehen. Sie wäre Beleidigung des Propheten.“ (Pos. 613/618)
– Die Bibel ist sehr selbstkritisch in Bezug auf die religiösen und moralischen Eigenschaften der Juden im AT und der Christen im NT. „Warum
siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken im eigenen
Auge bemerkst du nicht?“ (Matthäus 7.3 EU) „In der Bibel beginnt der
Glaube mit der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit.“ (Pos. 609) Dies
gilt auch im Verhältnis zu Nicht-Christen – heute jedenfalls.
14.„Im Koran sind Zweifel und Klagen an Gott und an der koranischen Offenbarung ausgeschlossen und werden als unmittelbarer Angriff auf Gott
verstanden.“ (Pos. 623) Zweifel und Klagen würden die geforderte Demut
und Unterwerfung unter Gottes Willen vermissen lassen und können gar
als blasphemische Kritik an Gott ausgelegt werden. – „In die Bibel sind
ganze Bücher mit Zweifeln und Klagen aufgenommen worden.“ (Pos. 623)
Die Auseinandersetzung, sogar das Hadern mit Gott und die Suche nach
dem Sinn von Aussagen, Regeln und Ereignissen sind biblische und christliche Traditionen mit hohem Aktivitäts-, aber auch Toleranzpotential.
15.(und 16.) Die Wissenschaft habe für den Koran nur eine apologetische Rolle, meint Schirrmacher. Das dürfte zwar etwas übertrieben sein. Aber zweifellos bewegen sich die erlaubten Fragestellungen und Methoden und daher
17
Das gilt in dieser Absolutheit nicht wirklich. Auf der Basis des Korans und der Hadithe haben
die muslimischen Gelehrten mittels Analogieschluss und Berufung auf die gemeinsame Überzeugung durchaus eine gewisse Entwicklungsfähigkeit in der praktischen Anwendung erreicht.
Aber die Flexibilität ist begrenzt, da man Gottes ewiges Wort im Prinzip nur einmal interpretieren und nicht laufend den Umständen anpassen kann.
26
auch die möglichen Antworten in einem sehr engen Rahmen. Dies gilt insbesondere für die Textkritik, die seit der als authentisch geltenden, schriftlich fixierten ersten Koranausgabe von Uthman ja ein Hinterfragen von
Gottes Wort wäre. – Dieser Rahmen ist heute im Christentum im Prinzip
beliebig weit gesteckt. Es gibt ausser dem individuellen Gewissen keine
Instanz mehr, die irgendeine Frage oder Methode verbieten und die gefundenen Antworten unterdrücken könnte. Das war in der Geschichte natürlich
nicht immer so. Aber grundsätzlich ist die Geschichte des Christentums
eine Geschichte fortlaufender Auseinandersetzungen um die jeweils richtige Auslegung, wobei Textkritik immer eine bedeutende Rolle gespielt hat
und auch die Meinungen früherer Autoritäten der Kritik unterlagen.
Das Verhältnis zu Gott
Der zweite Teil hat es mit zentralen theologischen Unterschieden von Islam und
Christentum zu tun, die naturgemäss weniger leicht konkret festzumachen sind
als diejenigen im ersten Teil. Das redaktionelle Vorgehen ist jedoch dasselbe wie
zuvor, indem jeweils je eine These für einen Glaubenssatz aus islamischer bzw.
christlicher Perspektive formuliert und dann näher diskutiert wird. Dem Leser
werden dabei zwei miteinander zusammenhängende Punkte auffallen. Erstens ist
die islamische Theologie bedeutend einfacher und transparenter, allerdings auch
viel strikter als die christliche Theologie. Das mag ein Grund für die Attraktivität
und den Missionserfolg des Islam sein. Zweitens sind die Erläuterungen Schirrmachers zu den einzelnen Thesen aus christlicher Sicht wesentlich umfangreicher
als zu den Thesen aus islamischer Sicht. Das resultiert natürlich teilweise aus dem
ersten Punkt. Aber es geht zu weit. Die Erläuterungen zu den islamischen Thesen
sind verschiedentlich knapper als erforderlich, während die Erläuterungen zu den
christlichen Thesen weiter gehen als nötig und vielfach dennoch nicht zu Klarheit
führen, weil hier Klarheit ohne Glauben offenbar nicht möglich ist. Nicht zuletzt
sind wie auch im ersten Teil etliche Wiederholungen und unscharfe Abgrenzungen zu kritisieren. Deren Eliminierung würde der Klarheit dienen und zugleich
Platz für zusätzlich Erläuterungen da schaffen, wo sie nötig sind.
1. Der Mensch weiss über den Gott des Korans, dass er einer und nur einer
ist sowie was er vom Menschen erwartet und wie er reagieren wird, wenn
der Mensch den Erwartungen nicht entspricht. Mehr weiss er nicht, und er
soll sich auch keine Vorstellung und schon gar kein Bild von Gott machen.
Gott ist abstrakt und transzendent. Es gibt keine Beziehung zwischen dem
Menschen und Gott. – In der Bibel schuf Gott den Menschen nach seinem
Ebenbild und hat sogar seinen Sohn auf die Welt geschickt. Gott offenbart
27
nicht nur seine Gebote und Verbote, sondern auch sich selbst. Religion ist
eine direkte Beziehung zwischen Gott und Mensch.
2. Glaube ist die unbedingte Anerkennung des Korans als ewiges und endgültiges Wort Gottes. Dazu gehören insbesondere der strikte Monotheismus,
die Anerkennung der Propheten und Mohammeds als des letzten in ihrer
Reihe, das Ende der Welt und das Gericht sowie die demütige Unterwerfung unter Gottes Willen, also unter die im Koran niedergelegten Gebote
und Verbote. – In der Bibel schliesst die Beziehung des Menschen zu Gott
den Glauben und die Befolgung der Gebote und Verbote ein. Aber Gott
hilft dem Menschen, und das Vertrauen des Menschen auf Gott beruht auf
der Verlässlichkeit, Liebe, Versöhnungsbereitschaft und Hilfe Gottes auch
dann, wenn der Mensch den Willen Gottes nicht tut.
3. Der Gott des Korans ist „absolut, souverän und unabhängig“ (Pos. 861).
Gott hat alles im Voraus bestimmt. Er kann die Naturgesetze gelten lassen
oder auch nicht. Er ist dem Menschen zu nichts verpflichtet. Menschliche
Vorstellungen von Folgerichtigkeit haben vor Gott keinen Bestand. – Auch
der Gott der Bibel ist allmächtig. Aber Willkür ist ihm fremd. Er steht zu
seinem Wort, ist zuverlässig und treu.
4. Der Gott des Korans prüft die Menschen. Aber dem Menschen steht es nicht
zu, den Gott des Korans zu prüfen. – Der Gott der Bibel fordert selbst die
Menschen immer wieder auf, seine Zuverlässigkeit zu prüfen.
5. Der Gott des Korans kann gegenüber denen, die ihm gehorchen, gnädig
sein und sie belohnen; er kann auch barmherzig sein und verzeihen. Aber
darauf gibt es keinen Anspruch und keine Garantie. Umgekehrt kann er
auch zürnen und die Menschen bestrafen. – Der Gott der Bibel liebt die
Menschen und bemüht sich auch und gerade um diejenigen, die den Weg
zu ihm noch nicht gefunden haben.
6. Der Gott des Korans steht niemals mit dem Menschen auf einer Ebene. Er
lässt nicht mit sich handeln und verpflichtet sich zu nichts. – Gott ist den
Menschen in Liebe und Freundschaft als Vater und Bruder verbunden.
7. Mohammed ist Prophet, Gesetzgeber, Staatsmann und Kriegsherr zugleich.
Es gibt keine Trennung zwischen Religion, Recht, Gesellschaft und Politik.
– Jesus hält sich von der Politik und jeder Gewalt fern. Kirche und Staat
28
sind voneinander getrennt. Die Christen sind aufgefordert, auch dem nichtchristlichen Staat gegenüber loyal zu sein.
8. Mohammed erhält von Gott die Macht, den Islam durchzusetzen und sein
Territorium zu erweitern. Sein Erfolg bestätigt seine Sendung. – Die Geschichte von Jesus ist eine Geschichte von Machtlosigkeit und äusserstem
Scheitern. Erst das Selbstopfer ermöglicht den Neubeginn des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen.
9. Das im Koran genau festgelegte rituelle Gebet in der Gemeinschaft mit
anderen ist eine zentrale Pflicht und zeigt den Glauben. Gott antwortet nicht
auf die Gebete der Gläubigen. – Das christliche Gebet ist eine individuelle
Zwiesprache mit Gott ohne feste Formen.
10.Im Islam hat Gott den Menschen den Koran gesandt. Das ist vergleichbar
mit dem Empfang der zehn Gebote im AT. Gott ist der einzige und allmächtige Herrscher. Im strikten Monotheismus kann er keinen Sohn haben. Er
braucht ihn auch nicht und würde sich niemals auf eine Ebene mit dem
Menschen begeben. – Im Christentum hat Gott nach den früheren Offenbarungen des AT seinen Sohn gesandt, um die Beziehung (den Bund) mit den
Menschen zu erneuern.
11.Mohammed ist nur Mensch und steht wie jeder Mensch unter dem Gesetz
des Korans. – Jesus ist Gott und Mensch zugleich und steht als Gott über
dem Gesetz der Bibel und als Mensch zugleich unter den menschlichen Gesetzen.
12.Wie sehr der Koran im Mittelpunkt des Islam steht, erkennt man auch daran, dass er im Mittelpunkt der höchsten Feiertage steht, während es für den
Propheten keine offiziellen Feiertage gibt. – Im Christentum ist es genau
umgekehrt. Die höchsten Feiertage beziehen sich auf das Leben und Sterben von Jesus. Für die Bibel existiert kein Feiertag.
13.(und 14.) Jesus ist im Koran ein Prophet und damit nur Mensch. Er ist als
Vorläufer nicht vom gleichen Rang wie der letzte Prophet, Mohammed,
und steht wie alle Menschen unter dem koranischen Gesetz. Die Trinitätslehre gilt dem Islam als Vielgötterei und schwere Sünde. – In der Bibel ist
Jesus im Rahmen der Dreieinigkeit Gott und Mensch zugleich. Die Beziehungen innerhalb der Dreieinigkeit sind Gegenstand einer komplexen
Theologie.
29
14.
15.Da es im Koran kein auf Gegenseitigkeit beruhendes Verhältnis zwischen
Gott und dem Menschen gibt, richtet sich die Sünde letztlich gegen den
Sünder selbst. Gott wird dadurch nicht berührt. – Im Christentum bewirkt
die Sünde immer auch eine Störung des Verhältnisses zwischen dem Menschen und Gott.
16.Im Koran ist der Mensch nicht grundsätzlich sündig. Es gibt keine Erbsünde und daher auch keine Erlösung davon. Es ist an dem Menschen, zu
glauben und die Sünde zu unterlassen, und nicht an Gott, ihm dabei zu
helfen. Gott ist fern. Er lässt seine Engel die Taten der Menschen registrieren; aber er rechnet erst beim letzten Gericht ab. – In der Bibel ist der
Mensch wegen der Erbsünde grundsätzlich sündig. Die einzelne Sünde ist
nur eine Folge der Erbsünde. Das Unterlassen dieser einzelnen Sünde ändert daher nichts an dem grundsätzlich gestörten Verhältnis zu Gott, das
nur mit Gottes Hilfe durch das Opfer von Jesus erneuert werden kann.
17.Der Übertritt zum Islam erfolgt durch die Rezitation des islamischen Glaubensbekenntnisses vor zwei muslimischen Zeugen. Dies bedeutet die Unterwerfung unter den Willen Gottes, also unter seine Gebote und Verbote.
Der Akt ist irreversibel. Ein Austritt ist nicht möglich, d.h. er wird von der
muslimischen Gemeinschaft nicht anerkannt. – Durch den Übertritt zum
Christentum entsteht das individuelle zweiseitige Verhältnis zu Gott in dem
neuen Bund jenseits der Erbsünde.
18.Die Offenbarung des Korans gibt den Gläubigen die Möglichkeit, sich Gott
zu unterwerfen und damit vielleicht der Verdammnis durch das letzte
Gericht zu entgehen. – In der Bibel geht es um die Errettung des Menschen
von der Erbsünde und die Herstellung des neuen Bundes mit Gott.
19.Im Koran kann der Sünder nur auf Vergebung hoffen, indem er seine Sünde
unterlässt. Dabei hilft ihm Gott nicht, er muss und kann es allein tun. – In
der Bibel kann der Mensch ohne die Hilfe Gottes keine Vergebung erlangen. Aber diese Hilfe ist ihm immer angeboten, er muss sie nur annehmen.
20.Da der Mensch im Koran niemals eine direkte gegenseitige Beziehung zu
Gott haben kann, bleibt ihm nur die bedingungslose Unterwerfung. – In der
Bibel steht die individuelle Beziehung zu Gott im Zentrum, wenn der
30
Mensch an Gott glaubt und diese Beziehung pflegt, kann er immer wieder
auf Hilfe und Versöhnung hoffen.
Abschliessende Bemerkungen
Der Leser wird bemerkt haben, dass man dieses Buch nicht lesen kann, ohne über
einigermassen solide Kenntnisse des Islam im allgemeinen und des Koran im
besonderen und natürlich auch der christlichen Religion zu verfügen. Deswegen
empfiehlt sich die Lektüre, wie hier vorgeschlagen, an dritter Stelle.
Die von Schirrmacher gewählte Auswahl „Charakterisierung und Stellenwert des
heiligen Buchs“ und „Verhältnis zu Gott“ betrifft tatsächlich sehr zentrale Unterschiede zwischen meisten Varianten des Islam und des Christentums18. Sie bringt
dem Leser daher zusätzliche Erkenntnis.
Das redaktionelle Vorgehen mit der Gegenüberstellung und Erläuterung von
Thesen ist sehr schulmässig und damit zwar klar, aber nicht unbedingt schön. Die
nicht seltenen Wiederholungen sind störend und sollten eliminiert werden. Kürzungen würden an vielen Stellen die Erläuterungen zur christlichen Position vertragen, während die Erläuterungen zur islamischen Position an einigen Stellen
eindeutig zu kurz sind.
Was fehlt, ist eine zusammenfassende Charakterisierung der beiden Religionen
im Hinblick auf die beiden gewählten Themen. Ein solches Resümee wäre durchaus möglich und nützlich, würde aber möglicherweise mehr als jede Einzelaussage des Buchs zu Diskussionen Anlass geben. Warum auch nicht?
18
Ziemlich abweichend dürfte z.B. das Verständnis der islamischen Mystik von dem hier charakterisierten islamischen Verhältnis zu Gott sein. Auf der andern Seite haben z.B. fundamentalistische Strömungen im Christentum ein ähnliches Verhältnis zum heiligen Buch wie die
Muslime. Aber genau das hat Schirrmacher mit seiner Einleitung über die Schwierigkeiten,
„den“ Islam und „das“ Christentum zu charakterisieren, gemeint.
31
5. Christine Schirrmacher, Die Scharia: Recht und Gesetz im Islam
4. Auflage, Holzgerlingen 2015, 96 S.
Hier zitiert und besprochen nach der Kindle e-book Ausgabe.
Das Buch von Schirrmacher besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil geht es unter
dem Titel „Was ist Scharia?“ um eine Erklärung der Wortbedeutung, um die
islamischen Rechtsquellen und Auslegungsmethoden sowie um die Scharia in der
Praxis. Im zweiten Teil werden die „Hauptinhalte der Scharia“ abgehandelt, nämlich das Ehe- und Familienrecht und das islamische Strafrecht. Die Autorin hätte
allerdings besser den Titel „Die derzeit am meisten diskutierten Teile der Scharia“
gewählt. Denn es fehlen z.B. das öffentliche Recht, das Wirtschaftsrecht und das
Sozialrecht sowie das sehr wichtige Prozessrecht. Wenn man das Buch nicht
durch die Behandlung allzu vieler Rechtsgebiete ausdehnen möchte, könnte man
stattdessen einen Abschnitt einfügen, der an Beispielen aufzeigt, wie die Scharia
aus dem Hintergrund alle Rechtsgebiete beeinflusst. Der dritte Teil „Scharia auch
in Deutschland?“ geht auf die muslimische Einwanderung der letzten fünfzig Jahre nach Deutschland und deren unerwartete Folgen ein, zu denen nicht zuletzt der
tatsächliche Gebrauch der Scharia in den muslimischen Parallelgesellschaften und
die Forderung nach deren offizieller Anwendung auf bestimmte Fälle in einzelnen
Rechtsgebieten gehören. Ausführliche und gut gegliederte Literaturangaben und
Anmerkungen vervollständigen das Buch und regen zum weiteren Studium an.
Was ist Scharia?
Das Buch startet mit einigen prägnanten Sätzen, was die Scharia nicht ist:
Gesetzbuch, Gesetzsammlung, Strafrechtskatalog, und was sie tatsächlich ist: Gesamtheit der zum Teil interpretierbaren Vorschriften und Empfehlungen für ein
gottgefälliges islamisches Leben.
Die Scharia geht zurück auf die Lehren und das Leben des Propheten Mohammed
(570-632). Die Grundlage ist die im Koran niedergelegte göttliche Offenbarung.
Dazu kommen die Worte und Taten des Propheten und seiner nächsten Gefährten,
die für alle Menschen als vorbildlich und nachahmenswert gelten und über die in
den Hadithen berichtet wird. Die Hadithe konkretisieren und ergänzen die relativ
wenigen direkt im Koran niedergelegten Vorschriften aus dem Geist der Offenbarung so, wie es von Mohammed vorgelebt und entschieden wurde. Da Mohammed Prophet bzw. Religionsstifter, Staatsmann, Heerführer und Gesetzgeber, aber
auch Kaufmann und Familienoberhaupt war, betrifft die Scharia alle Bereiche des
individuellen und gesellschaftlichen Lebens und damit alle Rechtsgebiete und
darüber hinaus auch individuelle und gesellschaftliche Sitten, Normen und
32
Gebräuche. Dabei gilt nicht jedes von der Tradition abweichende Verhalten als
justiziabel. Dies ist nur der Fall, wenn es dazu aus der Zeit des Propheten bereits
Entscheidungen und Sanktionen gibt.
Die Scharia ist von Gott offenbartes Recht, nicht von Menschen erlassenes staatliches Gesetz, dem sie vielmehr aus muslimischer Sicht vorgeht, was in der Praxis
zu Konflikten führen kann. Die Verschränkung von göttlichem Recht und staatlichem Gesetz bewirkt eine ebensolche Verschränkung von Theologie und Jurisprudenz. Eine Trennung von Religion, Staat, Wirtschaft usw. gibt es nicht. Die
Religion durchdringt alle Lebensbereiche. Ein Verstoss gegen auf der Scharia beruhendes Recht ist zugleich eine Sünde. Es gibt im Prinzip auch keine Trennung
von privater und „amtlicher“ Durchsetzung der Scharia. Jeder Muslim ist nicht
nur gehalten, selbst die Scharia zu befolgen, er ist auch verpflichtet, seine Glaubensgenossen dazu anzuhalten. Dabei dürfen irdische Effizienz- oder Nützlichkeitserwägungen keine Rolle spielen, denn das Leben des gläubigen Muslim ist
auf das Jenseits und die dort auf ihn wartenden ewigen Belohnungen oder Strafen
hin orientiert. Auch die persönliche, individuelle Freiheit ist nicht von Bedeutung.
Die Freiheit im Glauben ist die Unterwerfung unter Gott, bzw. unter die Scharia,
und das Einswerden mit der Gemeinschaft der Gläubigen, der Umma. Kritik an
der Scharia oder deren Befolgung nach individuellem Gutdünken wäre Kritik an
und Ungehorsam gegenüber Gott.
Der umfassende Anspruch der Scharia, die in den Hadithen durchaus enthaltenen
Widersprüche und der Umstand, dass niemand jede irgendwann einmal auftauchende religiöse, moralische und rechtliche Frage im Voraus kennen und regeln
kann, bewirken, dass die Scharia Interpretationsspielräume hat, die im Lauf der
bald tausendvierhundertjährigen Geschichte sukzessive geschlossen werden
mussten. Die wichtigsten Interpretationshilfen für die Offenbarung (Koran) und
die Tradition (Hadithe) sind der Analogieschluss und die gemeinsame Überzeugung der Umma, d.h. konkret: der Theologen und Rechtsgelehrten. Von besonderer Bedeutung sind dabei die ersten drei Jahrhunderte nach der Offenbarung.
Wo die Tradition einschliesslich der wichtigen frühen Interpretationen eindeutig
ist, ist es im Prinzip nicht möglich, davon abzuweichen. Gottes Wort mag interpretationsbedürftig sein. Aber die Interpretation einfach den jeweiligen Umständen anzupassen, würde bedeuten, Gottes Wort zu verfälschen. Interpretationen
können gleichwohl im Detail voneinander abweichen, so dass auch die Gesetzgebung und die Rechtspraxis auf der Basis des gemeinsamen göttlichen Rechts der
Scharia im einzelnen unterschiedlich sein können. Aber der Spielraum ist nicht
beliebig gross. Wo die Scharia mit den vorgeblichen Erfordernissen der Moderne
33
in Konflikt gerät, ist deshalb nicht die Scharia an die Moderne, sondern die
Moderne an die Scharia anzupassen. Und das bedeutet gegebenenfalls, auf die
Moderne zu verzichten. Oder anders: Die Anpassung des islamischen Rechts an
moderne Vorstellungen im nicht-muslimischen Bereich gerät sehr leicht in den
Verdacht und unter den Vorwurf des Unglaubens und der Ketzerei, worauf unter
der Scharia schwere Strafen stehen.
Die islamische Rechtsgeschichte kann in vier Phasen eingeteilt werden. Die erste
Phase umfasst die Zeit der Offenbarung und die darauf folgenden Jahrzehnte der
schnellen Expansion, also etwa die Zeit von 610 bis um 800. In dieser Zeit verhinderte die schnelle Expansion eine einheitliche und folgerichtige Entwicklung
des Rechts in den eroberten Gebieten. Die zweite Phase dauerte etwa bis zum
Jahre 1000 und kann in rechtlicher Hinsicht als Zeit der Konsolidierung, Verschriftlichung und Systematisierung bezeichnet werden. In dieser Zeit entstanden
die Rechtsschulen und ihre Interpretationsmethoden. Die dritte Phase ist eine Zeit
weitgehender Stagnation und dauerte bis zum Kontakt der muslimischen Welt mit
der westlichen Welt nach der Aufklärung. Als Schlüsselereignis gilt hierfür häufig
der Einfall Napoleons in Ägypten (1798-1801). Die vierte Phase ist die Zeit der
Auseinandersetzung der Scharia mit modernen westlichen Rechtsauffassungen
und dauert unter starken Schwankungen zwischen den Extremen der einfachen
Übernahme westlichen Rechts und des kompromisslosen Beharrens auf Schariarecht bis heute. Ein Urteil über die Anpassungsfähigkeit der Scharia und damit
der islamischen Gesellschaft und ihres Rechts an die westliche Moderne ist daher
noch nicht möglich.
Hauptinhalte der Scharia
Die Autorin beschränkt sich in diesem Teil, wie erwähnt, auf das Ehe- und Familienrecht und das Strafrecht. Tatsächlich sind dies die am detailliertesten ausgearbeiteten und für das praktische Leben der meisten Menschen wichtigsten Teilgebiete des Schariarechts. Dies erklärt sich daraus, dass die Rechtswirklichkeit zur
Zeit der Entstehung des Schariarechts vor weit über tausend Jahren eben vor allem, allerdings nicht ausschliesslich, diese beiden Rechtsgebiete aufwies.
Das Ehe- und Familienrecht der Scharia ist weitgehend das Recht einer patriarchalischen arabischen Stammesgesellschaft des siebten Jahrhunderts, auch wenn der
Koran und die Hadithe die Frau in einigen Punkten besser stellten als das überkommene Recht. Aber Frauen sind den Männern bei weitem nicht gleichgestellt,
und ihr Handlungs- und Entscheidungsspielraum ist nach wie vor sehr eng. Das
34
gilt insbesondere im sexuellen Bereich mit Ausstrahlungen in alle übrigen Lebensbereiche. Die Autorin geht hier auf zahlreiche einzelne Regelungen ein und
skizziert auch die Versuche, im Rahmen der Scharia zu einer Besserstellung der
Frauen zu kommen. Diese Versuche stossen nicht nur bei konservativen Männern,
sondern auch bei gläubigen Frauen auf Widerstand, die die Verhältnisse in den
westlichen Gesellschaften nicht für erstrebenswert halten und der Forderung nach
Gleichstellung die Behauptung entgegensetzen, im Islam gebe es stattdessen eine
Gleichwertigkeit unter Berücksichtigung der natürlichen Ungleichheit.19 Was
Kritiker als Benachteiligung der Frauen ansähen, diene in Wahrscheit zu ihrem
Schutz und sei daher für sie von Vorteil. Mit dieser Formel sind in der Praxis
allerdings mannigfaltige Formen von tatsächlicher Ungleichheit und Unterdrückung verbunden, die nach westlicher Auffassung nicht mit dem natürlichen Unterschied begründet werden können. Ausserdem werden „natürliche Unterschiede“ vorgegeben, die sich bei näherer Betrachtung als unzutreffend erweisen, so
die angeblich schwächere Konstitution, die geistige Unterlegenheit und die höhere Emotionalität der Frauen, verglichen mit den Männern.
Das islamische Strafrecht mit seinen, aus westlicher Sicht, barbarischen Strafen
für, wiederum aus westlicher Sicht, mindere Vergehen bzw. für Akte der Wahlund Entscheidungsfreiheit, die aus westlicher Sicht gar keine Vergehen darstellen,
verliert viel von seiner Exotik, wenn man es mit dem Strafrecht anderer Kulturen
zur Zeit seiner Entstehung vergleicht. Der Unterschied besteht in der westlichen
Rechtsentwicklung seit der Aufklärung, die das Strafrecht früher erfasst hat als
das Ehe- und Familienrecht. Im Unterschied zum westlichen Strafrecht dominieren in der Scharia die Prinzipien der Abschreckung und der Vergeltung, die in
manchen Fällen durch Wiedergutmachung vermieden werden können. Die Resozialisierung ist kein Ziel.
Der Katalog der Verbrechen ist lang und enthält im Prinzip drei Kategorien: diejenigen Verbrechen, die mit schweren Körperstrafen oder der Todesstrafe bedroht
werden, diejenigen Verbrechen, die mit äquivalenter Vergeltung bedroht sind,
welche aber durch Geldzahlungen abgelöst werden kann, und schliesslich die Verbrechen, bei denen die Strafe nicht durch die Scharia vorgeschrieben, sondern in
das Ermessen des Richters gestellt ist. Sie liegt zwar normalerweise unterhalb der
zuvor genannten Strafen, kann aber durchaus hart ausfallen. Die wesentlichen
Punkte sind hier, dass erstens die Einschätzung der Schwere von Verbrechen nach
islamischem Verständnis häufig gänzlich anders ausfällt als nach westlichem Verständnis, wobei der Scharia, wie bereits erwähnt, vielfach Handlungsweisen als
19
Das Argument war und ist in westlichen Gesellschaften keineswegs unbekannt.
35
Verbrechen gelten, die nach westlichem Verständnis keineswegs Verbrechen,
sondern einfach Ausdruck der persönlichen Handlungsfreiheit sind. Zweitens sind
die ausgefällten Strafen nach westlichem Verständnis häufig unverhältnismässig
und barbarisch. Und drittens entspricht das Prozessrecht in keiner Weise westlichen Vorstellungen und ermöglicht ein hohes Mass von Willkür.
Die Kritik am Strafrecht der Scharia ist an der Praxis in muslimischen Ländern
nicht spurlos vorübergegangen. Grundlegende offene Reformen sind aber schwierig, weil damit menschliche Gesetze an die Stelle von göttlichem Recht gesetzt
würden, was eine schwere Sünde wäre. Also versucht man in liberaleren Ländern,
sich mit theologischen und juristischen Finten und Kniffen aus den gröbsten Problemen herauszuwinden, während in fundamentalistischen Ländern im Gegenteil
in den letzten fünfzig Jahren eine Rückkehr zur strengen Anwendung der Scharia
zu beobachten ist.
Scharia auch in Deutschland?
In diesem Teil skizziert die Autorin zunächst die Geschichte der muslimischen
(vor allem türkischen) Immigration nach Deutschland in den letzten fünfzig Jahren. Hinter den heutigen Problemen stehen drei krasse Fehleinschätzungen. Der
erste Fehler bezieht sich auf die vermutete Zahl der muslimischen Einwanderer.
Während man ursprünglich mit einigen Tausend oder allenfalls einigen Zig-Tausend rechnete, sind es mittlerweile zwischen vier und fünf Millionen mit im Zuge
der Flüchtlingsströme stark steigender Tendenz. Während man, zweitens, ursprünglich erwartete, dass die Wirtschaftsimmigranten jeweils nach ein paar Jahren in ihre Heimat zurückkehren würden, so dass eine Integration weder erwünscht noch notwendig sei, blieben die meisten Immigranten für lange Zeit oder
für immer. Damit stellte sich das Problem des Familiennachzugs. Und hier geschah der dritte Irrtum. Man vermutete, die erste Generation der Einwanderer
würde sich bei dauerhaftem Aufenthalt in die deutsche Gesellschaft wenigstens
funktional integrieren, die zweite Generation würde mehr oder weniger problemlos in beiden Kulturen leben und ab der dritten Generation würde der religiöse
und kulturelle Hintergrund der Herkunftsgesellschaft langsam verblassen. Das
Gegenteil war der Fall, es bildeten sich Parallelgesellschaften, in denen die Traditionen der Herkunftsgesellschaften eine Renaissance erleben und die der deutschen Mehrheitsgesellschaft teilweise ablehnend, um nicht zu sagen feindlich gegenüberstehen. Dabei ist der Islam ein wesentliches Identifikationsmerkmal.
36
Das zentrale Problem ist, dass der Islam keine Trennung von religiöser und profaner Lebenssphäre kennt. Wer als Muslim in einer nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft lebt, wird bei genauer Beachtung der islamischen Regeln ständig mit
den Regeln, Gewohnheiten, Ansichten und Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft zusammenstossen. Ein Ausweg besteht in der Separierung und Selbstorganisation in Parallelgesellschaften, die nach ihren angestammten islamischen Regeln leben und den Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft minimieren. Genau dies
ist geschehen.
Damit kommt das Thema Scharia in Deutschland auf doppelte Weise ins Spiel.
Innerhalb der Parallelgesellschaften besteht, erstens, eine Tendenz zum Leben
nach den Regeln der Scharia, insbesondere in Ehe und Familie. Unter den dadurch
Benachteiligten, insbesondere Frauen und Mädchen, gibt es natürlich auch solche,
die damit einverstanden sind. Aber diejenigen, die es nicht sind, wagen häufig
nicht, den Schutz des Rechtsstaats in Anspruch zu nehmen, auch wenn sie darauf
einen Anspruch hätten. Zweitens wird unter Berufung auf die Religionsfreiheit
seitens der muslimischen Verbände, aber auch durchaus von einzelnen Muslimen
ganz offiziell die Möglichkeit verlangt, in Deutschland nach den Regeln der Scharia zu leben und als Muslim auch nach diesen Regeln beurteilt zu werden. Die
Autorin zitiert hier viele praktische Fälle, deren Gemeinsamkeit darin besteht,
dass die muslimische Minderheit vor allem auf juristischem Weg, aber auch durch
politische Propaganda und Einschüchterung versucht, für sich einen eigenen schariarechtlichen Rechtsraum20 zu erlangen. In anderen Ländern mit grösseren muslimischen Minderheiten sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten.
Tatsächlich ist ja die Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht. Allerdings gelten die einzelnen Grundrechte nicht absolut. Die eigentliche Problematik
liegt in der Abwägung, wenn mehrere Grundrechte miteinander in Konflikt geraten, und dies ist beim vorliegenden Thema zweifellos sehr oft der Fall. Sollten die
Gerichte, wie dies bisher in Deutschland und anderen Ländern nicht selten zu
beobachten ist, der Religionsfreiheit ein grösseres Gewicht als anderen wichtigen
Grundrechten einräumen, wird das erhebliche Konsequenzen haben.
20
Interessanterweise könnten sich die Muslime hierbei darauf berufen, dass die Gläubigen der
Religionen des Buchs, also Juden und Christen, in den muslimischen Ländern jahrhundertelang
und theoretisch teilweise heute noch eine Art religiöser und zivilrechtlicher Selbstverwaltung
hatten. Ansonsten genossen sie zwar mindere Rechte als die Muslime und mussten eine spezielle Steuer zahlen, standen dafür aber unter deren Schutz. Theoretisch jedenfalls.
37
6. Christine Schirrmacher, Islamismus. Wenn Religion zur Politik wird
Holzgerlingen 2010, 96 S.
Hier besprochen und zitiert nach der Kindle e-book Ausgabe.
Das Buch von Schirrmacher beginnt mit dem Versuch einer Begriffsklärung. Der
Islam hatte von allem Anfang an auch eine politische Seite. Mohammed war
Prophet, Staatsmann, Gesetzgeber, Heerführer, Kaufmann und Familienoberhaupt zugleich, und alle diese Lebensäusserungen und Aktivitäten entsprachen
den Anweisungen des Korans und dienten der Verbreitung und Festigung des
muslimischen Glaubens und seiner umfassenden Regelung aller Lebensbereiche.
Im Christentum sind die Trennung von Religion und Politik, Kirche und Staat und
die Ablehnung von Gewalt bereits bei seinem Gründer, Jesus, nachweisbar, wenn
sie auch in der Geschichte des Christentums häufig krass missachtet und selten
konsequent eingehalten wurden. Man könnte daher mit einer gewissen, wenn auch
unhistorischen Berechtigung sagen, dass politisches Christentum mit dem ursprünglichen, „eigentlichen“ Christentum nichts zu tun habe. Im Fall des politischen Islam kann man das nicht.
Zwar gibt und gab es immer rein spirituelle Strömungen im Islam wie den Sufismus, und zwar kann man davon ausgehen, dass viele praktizierende und erst recht
viele nicht praktizierende Muslime ihre Religion unpolitisch interpretieren, das
ändert allerdings nichts daran, dass die politische Seite von Anfang ein untrennbarer Teil des Anspruchs und der Tradition des Islam war und immer noch ist. Dieser
Umstand ist natürlich auch den „unpolitischen“ Muslimen bewusst und neben
Einschüchterung der Hauptgrund dafür, dass sie sich mit der Distanzierung vom
politischen Islam so schwer tun. Schirrmacher scheint vorzuschlagen, zwischen
unpolitischem und politischem Islam zu unterscheiden und bei letzterem zwischen einer nicht notwendigerweise gewalttätigen Variante (Islamismus) und
einer gewalttätigen Variante (Dschihadismus). Das könnte eine zweckmässige
Sprachregelung sein, wobei allerdings klar sein muss, dass alle Übergänge fliessend sind, insbesondere derjenige zwischen Islamismus und Dschihadismus.
Im übrigen vermisst man eine Bemerkung zu den Begriffen Traditionalismus und
Fundamentalismus. Diese sind nicht identisch mit dem politischen Islam. Zwar
beruft sich der politische Islam wohl immer auf den integralen Islam der ersten
Jahrhunderte und ist insofern traditionalistisch oder fundamentalistisch. Aber es
hat immer auch Traditionalisten und Fundamentalisten gegeben, die innerhalb
ihrer Gemeinschaften den integralen Islam der ersten Jahrhunderte leben, aber
nicht nach aussen wirken wollen.
38
Nach der Einleitung wird das Thema in drei Teilen abgehandelt:
Was versteht man unter Islamismus?
Die Entstehung des Islamismus
Lösungswege zur Entschärfung des Islamismus
Ein nützliches Literaturverzeichnis und Anmerkungen beschliessen das Buch.
Was versteht man unter Islamismus?
Nach einigen weiteren terminologischen Erörterungen kommt Schirrmacher zu
folgender Definition (Pos. 174): „Islamismus meint also eine gesellschaftlichpolitische Ideologie unter Zuhilfenahme einer religiösen Rechtfertigung. Ziel ist,
dass Koran und Scharia in vollkommener Weise umgesetzt werden und so die
‚urislamische‘ Gesellschaft wieder etabliert wird.“ Auf Grund der vorherigen
Erörterungen wäre dem zweierlei hinzuzufügen: Erstens sind sich die Islamisten
über die Details der angestrebten islamischen Gesellschaft nicht wirklich einig
und in dieser Hinsicht auch untereinander höchst intolerant. Klar ist jedenfalls,
dass diese Gesellschaft die Individuen umfassend prägt und kontrolliert und dass
sie, weil vollkommen, nicht mehr veränderbar und damit aus beiden Gründen
totalitär, undemokratisch und statisch ist. Und zweitens wird Gewalt im allgemeinen nicht ausgeschlossen, da sie ja auch in der Tradition des Urislam bekanntlich
reichlich angewendet worden ist. Man könnte vielleicht in Anspielung auf das
berühmte Dictum von Clausewitz sagen: „Die Gewalt ist die Fortsetzung islamistischer Politik mit anderen Mitteln, wenn die Ziele nicht anders erreicht werden
können oder das bereits Erreichte in Gefahr gerät.“
Im weiteren wird das Programm des Islamismus in zehn Punkten dargestellt:
1. Es wird die Einheit der muslimischen Gemeinschaft (Umma) angestrebt.
Das bedeutet die Aufhebung aller internen religiösen, rechtlichen, institutionellen und politischen Unterschiede, womit auch die Staatsgrenzen zwischen muslimischen Ländern obsolet werden, die ohnehin mehrheitlich im
19. und 20. Jahrhundert von nicht-muslimischen Mächten gezogen worden
sind. Damit kann das Kalifat des goldenen Zeitalters des Islam wiedererstehen. Es bedarf keiner langen Ausführung, um auf das enorme interne Konfliktpotential dieses Plans für die islamische Welt selbst hinzuweisen. Tatsächlich spielen sich die heftigsten Auseinandersetzungen mit und unter
den Islamisten auch dort ab und nicht etwa in Europa.
2. (und 5.) Alle Aspekte der Moderne sollen gemäss den Vorgaben aus Koran
und Überlieferung theologisch-juristisch behandelt und beurteilt werden.
39
Gemäss dem Motto der Muslimbruderschaft „Der Islam ist die Lösung!“
ist der Islam allumfassend und ausreichend, um alle Fragen und Herausforderungen in sämtlichen Bereichen des Lebens zu beantworten. Das heutige
Nebeneinander von modernen und traditionellen Elementen in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Recht soll im islamischen Staat also verschwinden.
3. (und 4.) Damit würde die Scharia wieder ganzheitlich durchgesetzt und die
Trennung von Religion und Politik aufgehoben. Es entstünde ein Gottesstaat unter Führung eines Kalifen nach dem Vorbild der Epoche der ersten
vier „rechtgeleiteten Kalifen“ nach Mohammeds Tod (632-661). Dem Kalifen stünden die gelehrten Theologen-Juristen zur Seite. Die Gesetze entstünden durch Auslegung von Koran und Hadithen, nicht durch einen demokratischen Prozess. Davon erhoffen sich die Islamisten nicht nur die interne Einheit und Gottgefälligkeit, sondern auch eine Erhöhung der aussenpolitischen Macht.
4.
5.
6. „Der Islamismus ist weder anti-modern noch mittelalterlich. Er nutzt die
wissenschaftlichen Errungenschaften der Moderne intensiv“ (Pos. 224),
aber im Rahmen einer theokratischen Gesellschaftsordnung auf der Basis
von Koran und Sunna. „Ziel ist nicht die Europäisierung des Islam . . .,
sondern die Islamisierung der Moderne bzw. Europas.“ (Pos. 224-229)
7. „Der Islamismus bewältigt die Gegenwart und die Zukunft durch seine
Ausrichtung an der Vergangenheit.“ (Pos. 229) Man könnte auch sagen,
dass aus der Sicht der Islamisten das Niveau und die Fortschritte der Naturwissenschaften und der Technik nicht die von ihnen abgelehnte westliche
Gesellschafts- und Staatsordnung bedingen. Deren Beseitigung und die
Errichtung einer islamischen Ordnung nach traditionellem Vorbild ist nach
ihrer Meinung ohne Gefährdung des naturwissenschaftlichen und technischen Niveaus und Fortschritts möglich und wird sogar erst der wahre Fortschritt sein. Damit stehen sie allerdings in eklatantem Widerspruch zu der
Ergebnissen der politisch-ökonomischen Wachstums- und Entwicklungsforschung, die freiheitliche Institutionen als Grundvoraussetzung für Entwicklung ansieht.
40
8. (und 10.) Der Islamismus richtet sich (zunächst) in erster Linie gegen die
Verhältnisse in den muslimischen Ländern selbst, deren beklagenswerter
Zustand auf die Abweichung der Machthaber vom wahren Islam zurückgeführt wird. Erst wenn die Umma unter dem wahren Islam im Kalifat vereint
und stark ist, kann realistischerweise die Islamisierung der westlichen Welt
angestrebt werden. Das schliesst selbstverständlich nicht aus, dass auch
jetzt schon alle Gelegenheiten zu ergreifen sind, um die muslimische
Position im Westen zu stärken.
9. (und 10.) Der Islamismus tritt in zahlreichen Varianten auf. Seit langem
einflussreich ist die 1928 in Ägypten entstandene, aber längst nicht mehr
auf Ägypten beschränkte Muslimbruderschaft, die eine höchst wechselhafte Geschichte mit radikaleren und weniger radikalen Phasen und mehr oder
weniger intensiver Verfolgung durch den Staat hinter sich hat. Nach dem
arabischen Frühling 2011 gewann sie die Parlaments- und Präsidentenwahlen und begann mit der Umgestaltung Ägyptens im islamistischen Sinn.
Sie wurde aber Ende 2012 durch einen Putsch des Militärs gestürzt und
wird seither wieder verfolgt. Zu den bekanntesten radikalen Islamisten gehören die Salafisten, die ihrerseits unterschiedliche Varianten aufweisen,
und die Wahhabiten, deren äusserst puritanische Variante des Islam in Saudi-Arabien Staatsreligion ist. Eine schiitische Variante eines islamistischen
Staats ist Iran seit der Revolution von 1979. Die radikalsten sunnitischen
Islamisten sind Terrororganisationen wie Al-Kaida, die Taliban oder der
Islamische Staat, die ihre vorgeblichen Ziele mit Gewalt (Dschihad) zu erreichen suchen.
In westlichen Ländern versuchen islamistische Gruppen die Führung der
muslimischen Immigranten zu übernehmen und streben ihre Anerkennung
als deren alleinige Vertreter an. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil
der Organisationsgrad der immigrierten Muslime im allgemeinen gering
und deswegen völlig unklar ist, wieviel Unterstützung islamistische Anliegen in der Gesamtheit der immigrierten Muslime geniessen, sind sie mit
dieser Strategie oft sehr erfolgreich.
10.
Der Islamismus weist starke Ähnlichkeiten mit anderen Utopien auf. Typisch sind
z.B. die äusserste Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Wirklichkeit und die
Rückorientierung an einem vorgeblich „goldenen Zeitalter“. Während die Wirklichkeit - heute mehr denn je - komplex ist, sind utopische Lösungen einfach.
41
Sie werden alle Probleme beseitigen und alle Gutwilligen zufrieden stellen. Da
damit erneut ein goldenes Zeitalter anbricht, sind weitere Änderungen nicht mehr
nötig und auch nicht erlaubt. Utopien sind daher statisch und totalitär. Typisch für
Utopisten ist ihre interne und externe Intoleranz, die meist mit grosser Härte ausgetragen wird. Zwar sind Utopisten zumeist eine kleine Minderheit; aber da sie
alles versprechen und vorerst für nichts den Beweis antreten müssen, können sie
bei einem genügenden Mass an Not, Frustration und Hass in der Bevölkerung
durchaus an die Macht kommen. Zur Kritik, dass sie dann nicht liefern können,
wird niemand mehr zugelassen.
Die Entstehung des Islamismus
In diesem Teil wird die Geschichte des Islamismus nachgezeichnet. Sie ist eng
verbunden mit der seit der Aufklärung und der naturwissenschaftlichen und industriellen Revolution immer deutlicheren technischen, wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit Europas und später Amerikas über die stagnierende muslimische Welt. Diese Entwicklung wurde von den Muslimen umso stärker empfunden
als sie ein starkes religiöses Überlegenheitsgefühl gegenüber den Christen haben.
Eine typische Reaktion religiös geprägter Menschen auf Unglück und Niederlagen ist die Vermutung, man habe den rechten Weg verlassen und dadurch
Schuld auf sich geladen, wofür man von Gott bestraft werde. Dieser Vorwurf richtet sich nicht nur gegen die einfachen Gläubigen, sondern vor allem gegen die
Machthaber, die von den islamistischen Reformern oft heftig angegriffen wurden
und darauf mit Repression und Verfolgung reagierten. Aber alles kann wieder gut
werden, wenn man auf den rechten Weg zurückkehrt. Diese Argumentation zieht
sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Islamismus seit seinen Vorläufern im 19. Jahrhundert und kann auch schon früher in schweren Zeiten der islamischen Welt, so z.B. nach dem Mongolensturm, beobachtet werden. Religiöse
„Reform“ bedeutet dann nicht Anpassung der überlieferten Religion bzw. ihrer
für das praktische Leben relevanten Vorschriften an gewandelte Umstände, sondern im Gegenteil Rückkehr zu den Ursprüngen.
Diese Reaktion ist im Fall des Islam aus zwei Gründen besonders verständlich.
Erstens war er in seiner Anfangszeit historisch äusserst erfolgreich; es liegt also
tatsächlich ein „goldenes Zeitalter“ als Referenzzeitraum vor. Und zweitens ist
die Veränderung des überlieferten Verständnisses vom Islam besonders schwierig, weil der Koran das endgültige Wort und Gesetz Gottes ist, dessen konkrete
Interpretation durch die Worte, Taten und Regeln des Propheten und seiner engsten Gefährten in den Hadithen bereits vorliegt. Die Sammlung, Auswertung und
42
Kanonisierung der Offenbarung und der Hadithen haben bereits in den ersten
Jahrhunderten der islamischen Geschichte stattgefunden. Daran etwas zu ändern,
steht immer unter dem Verdacht des Abfalls vom endgültigen Wort Gottes bzw.
vom wahren Glauben, was mit schwere Strafen bedroht wird.
Religiöse Reform bedeutet also im Islam normalerweise Rückkehr zu den authentischen Ursprüngen. Religiöse Reform als Änderung der Interpretation und Anpassung an veränderte Umstände steht bis auf den heutigen Tag unter dem Generalverdacht der Apostasie. Es gibt solche Reformer, aber sie haben wenig positive
Resonanz und leben gefährlich.
Neben der Rückkehr zum authentischen Islam findet man bei den „Reformern“
von Anfang auch die Empfehlung, von den westlichen Errungenschaften diejenigen zu übernehmen, die nach religiöser Prüfung unbedenklich erscheinen, und das
ist insbesondere die Technik und die dafür erforderliche Ausbildung. Schirrmacher ist der Ansicht, dass dieses Programm, das im Prinzip auch heute noch dem
Islamismus zugrunde liegt, das Ziel, die muslimischen Länder im Weltmassstab
wieder konkurrenzfähig zu machen nicht erreicht habe und insofern gescheitert
sei. Mit einer solchen Verallgemeinerung muss man wohl vorsichtig sein. Zu verschieden sind die einzelnen Spielarten des Islamismus, zu langwierig sind alle
grundlegenden Reformprozesse und zu verschieden ist auch die heutige Situation
der einzelnen muslimischen Länder. Zu analysieren wären z.B. die vergleichsweise erfolgreichen Länder Malaysia und Indonesien im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen der theologisch-rechtlichen Entwicklung einerseits und
der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung anderseits.
In der langen Frist dürfte auch der Iran ein sehr interessantes Beispiel sein.
Substantielle Reformen von Staat und Gesellschaft wurden allerdings in der Regel
nicht von islamistischen Theologen-Juristen, sondern von säkularen Diktatoren
durchgeführt, die ihre Länder schnell und notfalls mit Gewalt in die Moderne
zwingen wollten. Diese Reformen, so insbesondere der arabische Sozialismus der
fünfziger bis achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und die Modernisierungsdiktatur des Schahs, sind gescheitert. Ob dies am Ende auch das Verdikt
über die Reformen von Mustafa Kemal (Atatürk) in der Türkei sein wird, ist heute
offener als auch schon. Sie sind jedenfalls von grossen Teilen des Volks nicht
wirklich akzeptiert worden und werden gegenwärtig von einer islamistischen Regierung teilweise zurückgenommen.
Die Autorin behandelt eher kursorisch die Vorläufer des Islamismus im 19. Jahrhundert und dann im Einzelnen die Muslimbruderschaft, die, ausgehend von
43
Ägypten, inzwischen im gesamten arabischen Raum, aber auch unter den europäischen Muslimen grossen Einfluss ausübt, und ihre wichtigsten Vordenker, alBanna und Qutb. Ein Abschnitt beschäftigt sich mit dem Pakistaner Maududi,
dem Gründer der Jamaa at-i Islami, der seinerseits einen grossen Einfluss auf die
Muslimbruderschaft hatte. Mehrere Abschnitte gehen den internen Auseinandersetzungen in der Muslimbruderschaft und den daraus entstandenen neuen Gruppierungen nach. Schliesslich wird eine grössere Anzahl von islamistischen Gruppen erwähnt, die aus den Tagesaktualitäten der letzten zwanzig Jahr bekannt sind.
Das grosse Gewicht, das die Autorin auf die Darstellung der Ideologie, Geschichte, Verbreitung und Strategie der Muslimbruderschaft legt, ist berechtigt und die
entsprechenden Abschnitte sind sehr lesenswert. Denn die Muslimbruderschaft ist
nicht nur die älteste, grösste und einflussreichste islamistische Bewegung, sie ist
auch paradigmatisch. Wer das Verhalten islamistischer Bewegungen und Organisationen, auch in Europa, verstehen und richtig einordnen will, kommt an einem
Studium der Muslimbruderschaft nicht vorbei.
Der Teil wird abgeschlossen durch eine Beurteilung des Islamismus aus nichtislamischer Sicht. Die Autorin akzeptiert die Überzeugung der Islamisten, die einzig richtige Interpretation des Islam und die einzig richtige Vision einer muslimischen Gesellschaft zu haben. Aber sie akzeptiert nicht ihren Umgang mit Andersdenkenden und ihre Methoden zur Durchsetzung ihres religiösen, rechtlichen
und politischen Programms.
Die Quintessenz des Umgangs mit anderen ist, dass sie nicht anders denken
dürfen, wenn sie nicht unter ein abgestuftes System von minderen Rechten und
Strafen fallen wollen. Die Durchsetzungsmethoden sind letztlich totalitär und
schliessen Gewalt nicht aus, weder nach innen noch nach aussen. Es gibt keine
Gewaltenteilung, keine Menschenrechte, keine Demokratie und kein Rechtswesen jeweils im westlichen Sinn.
Lösungswege zur Entschärfung des Islamismus?
Dass der Islamismus aus nicht-muslimischer Sicht in Europa unerwünscht ist, ist
kaum zu bezweifeln. Dabei muss man im Auge behalten, dass natürlich auch die
Islamisten zwischen strategischen Zielen und taktischem Vorgehen zu unterscheiden wissen, und zwar erfahrungsgemäss sehr gut. Sie werden darin übrigens von
der Sunna nachhaltig unterstützt, die ausführlich über alle möglichen Täuschungen, Tricks und Finten des Propheten auf seinen Eroberungszügen berichtet und
sie damit vorbildlich und nachahmenswert macht. Die Islamisten sind, solange
dies in einem Land erforderlich ist, durchaus bereit, sich moderat zu geben und
44
Gewalt abzulehnen, wenn dies ihrer Sache dienlich ist, und die legalen Wege zu
benutzen, wenn sie auch so zum Ziel gelangen. Dafür gibt es sehr viel Evidenz.
Wenn sie dies in einem Land nicht (mehr) für nötig halten, legen sie ihre Zurückhaltung aber auch ebenso bereitwillig (wieder) ab. Auch dafür gibt es Evidenz.21
Daraus resultierende Probleme sind unter anderen die Entwicklung von Parallelgesellschaften und das Schüren von pauschalem gegenseitigem Misstrauen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Muslimen, wie es in Umfragen immer
wieder deutlich wird und was die Kommunikation nur weiter erschwert. Ein spezielles, aber nicht nur damit zusammenhängendes Problem ist die Radikalisierung
vor allem von Jugendlichen bis hin zur Teilnahme an Attentaten oder am Dschihad. Wie diese Radikalisierung typischerweise abläuft, wird von der Autorin ausführlich beschrieben. Die Schlussfolgerung ist, dass von islamistischen Drahtziehern die mannigfaltigen Probleme der betroffenen Jugendlichen geschickt ausgenutzt werden, um sie zu indoktrinieren und gegebenenfalls zum Bomben- oder
Kanonenfutter bei Anschlägen oder im Dschihad zu machen.
Nur der letzte Abschnitt widmet sich tatsächlich den Lösungswegen. Das ist nicht
viel und leider bezeichnend für eine immer noch von viel Ratlosigkeit charakterisierte Situation. Der Ausbau der Sicherheitssysteme, Überwachung und Repression kann nur ein Aspekt der Lösung sein. Jeder weiss inzwischen, dass damit nur
eine begrenzte Sicherheit erreicht werden kann und dass die Kosten nicht nur in
Geld, sondern vor allem in der Form der Beeinträchtigung anderer Grundrechte
und Werte hoch sind. Prävention wäre erforderlich. Dafür muss erst einmal ein
Problembewusstsein existieren. Dies war in vielen Ländern, so insbesondere auch
in Deutschland, worüber die Autorin hier schreibt, lange Zeit hindurch nicht vorhanden, womit wichtige Zeit verloren und die Schwierigkeiten nur vergrössert
wurden. Ob das Problembewusstsein inzwischen ausgeprägt genug ist, wird sich
mancher angesichts des Verhaltens in der Flüchtlingskrise 2015/2016 vielleicht
immer noch fragen. Immerhin lauten nun die empfohlenen Rezepte auf der einen
Seite „Akzeptanz, Integration, Chancengleichheit, Bildung und Förderung bei
eigenem Bemühen“, auf der andern Seite „keine Sonderrechte, Durchsetzung des
Rechts, Überwachung der kleinen Minderheit von Islamisten und ihren Drahtziehern“. Einen solchen Katalog diktiert der gesunde Menschenverstand. Ihn konkret gegen alle Widerstände durchzuführen, ist das eigentliche Problem.
21
Dem islamistischen türkischen Präsidenten Erdogan, dem wir viele bemerkenswert offene
Aussagen über Ziele, Strategie und Taktik des Islamismus verdanken, wird auch folgender Satz
zugeschrieben: „Die Demokratie ist wie eine Strassenbahn. Wenn man am Ziel ist, steigt man
aus.“
45
7. Christine Schirrmacher, Islam und Demokratie: Ein Gegensatz?
Holzgerlingen 2013, 112 S.
Hier besprochen und zitiert nach der Kindle e-book Ausgabe.
Als um die Jahreswende 2010/2011 in Tunesien der arabische Frühling ausbrach,
bald auf den ganzen arabischen Raum, insbesondere auf Ägypten, übergriff und
weit in die übrige muslimische Welt ausstrahlte, hofften viele in den betroffenen
Ländern, aber auch im Westen, dies werde dort der Beginn einer Demokratisierung sein, die bisher mit wenigen zeitweiligen Ausnahmen immer gescheitert war.
Diese zeitweiligen Ausnahmen sind der Libanon, die Türkei, Pakistan, Malaysia
und Indonesien.22 Der Libanon ist das einzige arabische und inzwischen mehrheitlich muslimische Land darunter, und keines dieser fünf Länder kann auch nur auf
eine stabile demokratische Entwicklung von fünfzig Jahren zurückblicken. Dies
war für Schirrmacher der Anlass, in dem vorliegenden Buch in vier Teilen 23 der
Frage nachzugehen, wie es grundsätzlich um das Verhältnis zwischen Islam und
Demokratie steht.
Fünf Jahre nach dem arabischen Frühling muss man feststellen, dass die Demokratisierung dort einmal mehr weitgehend gescheitert ist. Nur in Tunesien hält sie
sich noch, allerdings in einem prekären Zustand ständiger Gefährdung.
Kennzeichen einer Demokratie
Wesentliche Elemente einer Demokratie nach westlichem Muster sind der durch
gleiche, freie, allgemeine und geheime Wahlen geregelte friedliche Machtwechsel, die Gewaltenteilung, ein stabiler institutioneller Rahmen durch eine selbstbestimmte Verfassung und die Garantie von grundlegenden Menschen- und Freiheitsrechten. Dazu gehören unter anderem die Glaubens- und Meinungsfreiheit,
die Freiheit der Meinungsäusserung sowie die Presse- bzw. Medienfreiheit, ferner
die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, ohne die es keinen politischen
Wettbewerb geben kann. Fundamental sind auch verschiedene Aspekte des Prinzips der Gleichheit, so insbesondere vor dem Gesetz und zwischen den Geschlechtern, und der Schutz vor staatlicher Willkür. Jede Verfassung einer westli-
22
Ein spezieller Fall ist der Iran mit seiner eigenartigen Kombination von theokratisch-diktatorischen Elementen und diesen untergeordneten demokratischen Elementen. Ob es dort mit der
Zeit eine stabile Emanzipation der Demokratie von der Theokratie geben wird, ist einstweilen
nicht vorhersehbar.
23
Dazu kommt noch ein ausführliches Literaturverzeichnis.
46
chen Demokratie enthält einen ausführlichen Grundrechtskatalog. Darüber orientieren auch die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN Charta der
Menschenrechte.24
Die westliche Demokratie ist in Europa nach jahrhundertelangem Ringen zwischen Monarchen, Adel und Kirche und am Ende auch dem Volk entstanden. Sie
wurde durch die amerikanische (ab 1763) und die französische (ab 1789) Revolution erstmals in grossen Ländern durchgesetzt und ist im Lauf der letzten zweihundert Jahre überall im Westen zum normativen und grösstenteils auch tatsächlichen Standard geworden. Allerdings gehören bis heute etwa 90% aller bestehenden Demokratien zum westlich-europäischen Kulturraum, nur 10% sind erfolgreiche Implantate ausserhalb dieses Raums.
Sind die Menschenrechte und die Demokratie eine christliche Veranstaltung und
ist die UN Charta der Menschenrechte Ausdruck einer fortdauernden postkolonialistischen europäisch-amerikanischen Weltdominanz? Das sind Fragen, die
ausserhalb des Westens nicht nur gestellt, sondern auch oft bejaht werden und auf
die vom Westen eine Antwort verlangt wird.
Die Autorin weist auf eine Reihe grundlegender Parallelen zwischen Menschenrechten und Demokratie einerseits und Christentum anderseits hin. So zieht das
Prinzip der Machtbeschränkung durch Verfassung und politischen Wettbewerb
die Konsequenz aus der grundsätzlichen Fehlbarkeit des Menschen und der daraus
resultierenden Gefahr des Machtmissbrauchs. Die Gleichheit vor dem Gesetz hat
ihr Äquivalent in der biblischen Gleichheit vor Gott. Auch die Trennung von Kirche und Staat ist bereits im NT angelegt. Die Grundfreiheiten entsprechen dem
Prinzip der individuellen Verantwortung vor Gott, die darüber hinaus auch eine
Mahnung an die Mächtigen ist. Die Vorstellung, der Mensch sei Gottes Ebenbild,
wird durch die umfassende Idee von der Menschenwürde säkularisiert.
Dass grundlegende Aspekte von Demokratie und Menschenrechten von den religiösen Traditionen ihres Entstehungsraums beeinflusst sind, kann kaum bestritten werden. Man sollte den Zusammenhang aber auch nicht überstrapazieren.
24
Die arabischen Staaten haben mehrfach betont, dass das westliche Menschenrechtsverständnis nicht mit dem Islam vereinbar sei, und daher eigene Menschenrechtskataloge formuliert,
die äusserlich grosse Ähnlichkeit mit der UN Charta der Menschenrechte haben, diese aber
unter die Scharia stellen und damit de facto wieder aufheben. Kritik am westlichen Verständnis
von Menschenrechten und Demokratie wird auch von vielen anderen (undemokratischen) Staaten geäussert.
47
Schliesslich sind die Menschenrechte und die Demokratie theoretisch in den Auseinandersetzungen der Aufklärung mit der Tradition und praktisch in blutigen Revolutionen gegen das ancien régime und die Macht der Kirchen durchgesetzt worden. An den Auswirkungen auf das Leben des einzelnen gemessen, war der Bruch
viel bedeutsamer als die Kontinuität, und das christliche Europa vor der Aufklärung war der muslimischen Welt sehr viel ähnlicher als das sich säkularisierende
Europa nachher. Dass Demokratie und Menschenrechte tatsächlich nicht notwendig auf eine christliche Tradition angewiesen sind, zeigen die erfolgreichen Implantationen in aussereuropäischen Kulturen, wenn sie auch noch nicht sehr zahlreich sind.
Islam und Demokratie: Ein Gegensatz?
Zu Beginn dieses Teils weist die Autorin darauf hin, dass die Epoche der einheitlichen religiösen und weltlichen Führung aller Muslime (Umma) unter dem Propheten bzw. unter seinen Gefährten und unmittelbaren Nachfolgern, den vier
„rechtgeleiteten Kalifen“, tatsächlich nur knapp dreissig von den knapp tausendvierhundert Jahren islamischer Geschichte gedauert hat. Die weitere Geschichte
ist voller Machtkämpfe zwischen verschiedenen muslimischen Dynastien und
ihren Staaten sowie zwischen weltlicher und religiöser Macht und nicht zuletzt
auch zwischen verschiedenen Varianten des Islam. So gesehen, war das ursprüngliche Herrschaftsmodell historisch nicht gerade erfolgreich, und eine Neuauflage
unter völlig veränderten Verhältnissen empfiehlt sich nicht unbedingt. Ob dieser
Hinweis die Islamisten, die genau davon träumen, sehr beeindruckt, ist eine andere Frage.
Anknüpfungspunkte für eine demokratische Entwicklung gibt es im Koran und in
den Hadithen kaum, wenn man von der Aufforderung im Koran absieht, sich zu
beraten. Beraten ist nicht entscheiden, und tatsächlich haben die beratenden Versammlungen (Schura) bisher nirgendwo den Charakter von in politischem Wettbewerb frei gewählten Parlamenten als Vertretungen des souveränen Volks angenommen. Da harrt der Reformer noch viel Interpretationsarbeit.
Im weiteren zeichnet die Autorin den „arabischen Frühling“ bis zum Erscheinen
dieses Buchs (2013) nach und kommt anschliessend auf die Gründe zu sprechen:
soziale und wirtschaftliche Not, Korruption und Unterdrückung, fehlende Freiheitsrechte und Perspektiven und das alles vor dem Hintergrund der in den Zeiten
des Internets grenzenlosen Information über das Leben in Europa. Es war ein Auf-
48
stand aus der Not. Aber profitiert haben davon, solange die Aufstände nicht niedergeschlagen wurden, vor allem die Islamisten, insbesondere die Muslimbrüder,
nicht säkulare, nach dem Westen orientierte Reformer. Warum?
Die Autorin erinnert zunächst daran, dass zwar aus europäischer Sicht die arabischen Länder islamisch sind, dass aber viele gläubige Muslime, die Regime, unter
denen sie leben müssen, durchaus nicht als islamisch, sondern zumindest partiell
als verwestlicht und ungläubig empfinden. Reform bedeutet für sie Rückkehr zum
ursprünglichen Islam des goldenen Zeitalters und nicht Übernahme westlicher
Menschenrechte und Regierungsformen. Der Westen und die arabische Welt haben eine lange Geschichte gegenseitiger Feindschaft. Dass der Westen dabei in
den letzten gut zweihundert Jahren eindeutig die Oberhand behielt, hat hier (bis
vor kurzem) die Furcht und damit auch die Feindschaft verringert, in der arabischen Welt aber eher vergrössert. Die prinzipienlose Unterstützung arabischer Potentaten hat den Westen zusätzlich viel Glaubwürdigkeit gekostet25, und vor allem
wird die Implantation Israels von den Arabern als permanenter westlicher Stachel
im eigenen Fleisch empfunden.
Die seit langem weitverbreitete Skepsis oder Feindschaft gegenüber dem Westen
ist das eine. Sie sorgt dafür, dass säkulare Reformer in den arabischen Ländern
dünn gesät sind. Die Tradition der auf das goldene Zeitalter zurückschauenden
„Reformer“, also der Islamisten, ist das andere. Die Muslimbruderschaft existiert
inzwischen seit knapp neunzig Jahren, und sie ist in vielen Ländern seit mehr als
fünfzig Jahren eine ernstzunehmende Kraft. In den Zeiten der Unterdrückung haben die Muslimbrüder wirtschaftliche und soziale Basisarbeit geleistet sowie für
Bildung in ihrem Sinn gesorgt und damit im Volk eine hohe Reputation erworben.
Als der arabische Frühling begann, waren sie bereits da und konnten ihre ohnehin
schwachen und im Volk wenig verwurzelten säkularen Konkurrenten auch an den
Urnen leicht aus dem Feld schlagen. Wo sie zumindest zeitweise durch Wahlen
an die Macht kamen, nutzten sie dieses Mandat sofort, um eine Umgestaltung des
Staats im islamistischen Sinn einzuleiten, und zwar nicht nur in Bezug auf die
laufenden Politik, sondern auch und gerade in Bezug auf die institutionelle Grundordnung bzw. Verfassung, die auf die Basis der Scharia gestellt werden sollte.
Dabei wurde mit dem Mandat der Mehrheit auf Minderheiten mit abweichenden
25
Aus westlicher Sicht war die Wahl zwischen den Islamisten und der Armee in Ägypten 2013
eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Dass der Westen dann den Putsch der Armee gegen den
gewählten Präsidenten Mursi toleriert und vermutlich insgeheim unterstützt hat, dürfte sein Ansehen in der muslimischen Welt und damit die Position säkularer Reformer nicht verbessern.
Erklärte und auch eingehaltene Äquidistanz zu den Muslimbrüdern und den Militärs wäre das
Mindeste gewesen, um die eigene Glaubwürdigkeit vor weiterem Schaden zu bewahren.
49
Meinung keine Rücksicht genommen. Islamisten sind ohne weiteres bereit, ein
demokratisches Mandat zur Einschränkung oder gar Abschaffung der Demokratie
nach westlichem Verständnis zu nutzen. Das gilt nicht nur in bereits muslimischen
Ländern, sondern auch bei der angestrebten Islamisierung Europas.
Der entscheidende Grund, warum die Koexistenz zwischen Islam auf der einen
und Menschenrechten und Demokratie auf der andern Seite schwierig ist, liegt in
der Scharia als Inbegriff eines umfassenden Normen- und Rechtssystems für alle
Lebensbereiche in der Tradition des goldenen Zeitalters. Die Ideen von Menschenrechten und Demokratie waren der damaligen altarabischen patriarchalischen Stammesgesellschaft ebenso fremd wie den zeitgenössischen Europäern
oder irgendjemandem sonst auf der damaligen Welt.
Nun ist aber die Scharia für die Muslime im allgemeinen und die Islamisten im
besonderen mehr als altarabisches patriarchalisches Stammesrecht, nämlich Gottes eigenes und endgültiges Wort im Koran und seine zeitgenössische Illustration
durch das Leben, die Worte, Regeln und Taten des Propheten und seiner engsten
Gefährten, gesammelt und interpretiert vor allem in den folgenden zweihundert
Jahren durch die muslimischen Gelehrten. Es ist deshalb nicht möglich, „einfach“
nicht mehr Passendes zu streichen, anderes neu zu interpretieren und Fehlendes
hinzuzufügen. Das wäre nicht nur ein Abfall vom Glauben, sondern würde auch
dem entsprechen, was in vielen arabischen Staaten in den letzten Jahrzehnten effektiv gemacht worden ist und womit die Völker sehr schlechte Erfahrungen gesammelt haben. Die partielle Implantation von westlichem Gedankengut hat sich
hier wie in vielen andern Fällen als sehr heikel erwiesen, und die integrale Implantation wäre einer Revolution gleichgekommen, die die kemalistische Revolution
in der Türkei noch um einiges übertroffen hätte. Damit ist in den arabischen Ländern nicht zu rechnen, und selbst in der Türkei ist die Dauerhaftigkeit der kemalistischen Revolution noch keineswegs erwiesen.
Im weiteren geht die Autorin auf wesentliche Aspekte der Scharia und des von ihr
inspirierten muslimischen Verständnisses von Menschenrechten ein, das von dem
westlichen Verständnis erheblich abweicht, und schildert die einschlägige Realität in verschiedenen muslimischen Staaten. Man kann hierzu auf das Buch der
Verfasserin über die Scharia verweisen, welches im fünften Kapitel dieses Literaturüberblicks behandelt wurde. Demokratie und Menschenrechte nach westlichem Verständnis scheinen in muslimischen Ländern jedenfalls solange ausgeschlossen, wie sich das religiöse Mehrheitsverständnis nicht grundlegend wandelt
und diese Mehrheit auch die Möglichkeit und den Willen hat, ihr gewandeltes
Verständnis politisch durchzusetzen. Solche Veränderungen sind höchstens in der
50
sehr langen Frist zu erwarten. Wichtige Hindernisse sind der niedrige Bildungsstand, die auch deswegen fehlende Zivilgesellschaft und der nach wie vor überwältigende Einfluss der traditionellen Theologen-Juristen mit ihrer statischen und
totalitären Sichtweise des Islam und der Scharia. Es mag durchaus sein, dass Säkulare, nichtpraktizierende Muslime und tolerante praktizierende Muslime bereits
heute einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung in den muslimischen Ländern
(und der muslimischen Bevölkerung in Europa) ausmachen, aber ihr Einfluss ist
bisher gering. Im übrigen ist auch bei vielen von ihnen mit beträchtlichen Ressentiments gegen den Westen und insofern mit Sympathie oder Toleranz gegenüber
den Islamisten zu rechnen. Von der Kritik an den eigenen Verhältnissen zur Kollaboration mit dem „Feind“ ist ein langer und gefährlicher Weg.
Positionen muslimischer Intellektueller zur Demokratie heute
Die Autorin sieht unter muslimischen Intellektuellen grundsätzlich drei Positionen gegenüber der (westlichen) Demokratie: die integrale Ablehnung durch konservative Theologen-Juristen und Islamisten, eine vordergründige Zustimmung,
soweit nicht grundlegende Glaubenssätze des Islam verletzt werden, und schliesslich die unbedingte Zustimmung durch säkulare Reformer. Die erste Position ist
in den muslimischen Ländern im allgemeinen tonangebend. Die zweite Position
kommt in vielen Nuancen vor und schliesst auch durchaus substantielle Reformen
ein. Von Islamisten in Europa wird sie allerdings häufig nur aus taktischen Gründen eingenommen, um die Skepsis der Mehrheitsgesellschaft zu überwinden. Das
kostet nichts, solange man den Tatbeweis nicht antreten muss. Die säkularen Reformer sind innerhalb der muslimischen Länder Randerscheinungen mit geringen
Wirkungsmöglichkeiten und einer prekären Existenz. Früher oder später bleibt
ihnen häufig nur die Emigration in den Westen.
Die Autorin stellt im weiteren wichtige Vertreter der einzelnen Positionen vor.
Für die integrale Ablehnung der westlichen Vorstellungen von Menschenrechten
und Demokratie zitiert sie den sehr einflussreichen Pakistaner Maududi und in der
Nachfolge von Maududi den ägyptischen Theoretiker der Muslimbruderschaft,
Qutb.
Zur Gruppe der bedingten Befürworter von Reformen zählt sie erstaunlicherweise
den äpyptischen Theologen Al-Qaradawi, der durch die systematische Nutzung
der modernen Medien sehr bekannt und einflussreich geworden ist. Er ist vor allem auch bei Diaspora-Muslimen beliebt, weil er ihnen für die Zeit ihrer Minderheitsposition eine Anpassung an das Recht und die Gewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft erlaubt, soweit dies nötig ist, um existentielle Probleme und Konflikte
51
zu vermeiden. Zugleich sollen sie aber an der muslimischen Umgestaltung ihrer
Gastländer mitarbeiten, soweit dies möglich ist. Das langfristige Ziel ist also nicht
die Integration oder gar das Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft, sondern deren
Umgestaltung. Erwähnt, jedoch nicht im Detail vorgestellt wird hier auch der
deutsche Konvertit Murad Hofmann.
Die säkularen Reformer sind keineswegs alle Agnostiker oder Atheisten. Das
würde ihre Wirkungsmöglichkeiten wahrscheinlich auch auf null reduzieren.
Vielmehr handelt es sich gerade in den bekannteren Fällen um gläubige Muslime,
die jedoch gegen die äusserst begrenzten Interpretationsmöglichkeiten und die
daraus folgende Statik und Stagnation im Islam argumentieren und erweiterte Interpretationen vorschlagen, um eine Vereinbarkeit von (westlicher) Demokratie
und Menschenrechten mit dem Islam möglich zu machen. Die Autorin nennt als
Beispiele den sudanesischen Theologen Taha und die iranischen Theologen Shabestari, Kadivar und Suroush.
Hat die Demokratie in islamisch geprägten Ländern eine Chance?
„Wenn die Scharia als ein Kompendium von Geboten aus der Zeit des 7. Bis 10.
Jahrhunderts der Arabischen Halbinsel von der etablierten Theologie weiter als
unaufgebbares Gottesgesetz gelehrt wird, und wenn Muhammad weiterhin als
nicht hinterfragbares zeitloses Vorbild, nicht nur in religiösen Belangen, sondern
auch in seiner Funktion als Gesetzgeber und Heerführer betrachtet wird, dann
wird es weiterhin schwierig bleiben, dass Meinungs- und politische Freiheiten,
Gleichberechtigungsrechte von Frauen und Männern, Muslimen und Nicht-Muslimen, die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit und die Gewissens- wie Religionsfreiheit in islamisch geprägten Ländern gedeihen.“ (Pos. 1129/1133) Eine
Lösung dieser Blockade ist ohne ein Umdenken in der islamischen Theologie
nicht zu erwarten. Es wird auch weiterhin aus der Not der Zeit zu Unruhen und
Aufständen kommen, aber ohne einen neuen spirituellen und intellektuellen Überbau werden sie das grundlegende Problem nicht lösen können. Ebenso wenig ist,
nach gemachten Erfahrungen, mit einem nachhaltigen Erfolg rein säkularer Revolutionen von oben in der Art von Mustafa Kemal (Atatürk), des Schahs Reza Pahlavi oder der arabischen Sozialisten zu rechnen, wenn sie denn wieder stattfinden
sollten.
Die Meinung der Autorin ist fundiert und nachvollziehbar. Optimistisch stimmt
sie nicht.
52
8. Hamed Abdel-Samad, Mohamed26: Eine Abrechnung
München 2015, 240 S.
Hier besprochen und zitiert nach der Kindle e-book Ausgabe.
Über den Propheten Mohammed und seine historische Rolle gibt es verschiedene
Lesarten. Die gewissermassen offizielle muslimische Version ist, dass Mohammed wirklich gelebt hat, wirklich während gut zwanzig Jahren vom Engel Gabriel
die göttliche Offenbarung des Korans erhalten hat und wirklich alle die Taten
vollbracht und Worte gesagt hat, die ihm die Hadithe zuschreiben. Die Mehrheitsversion nicht-muslimischer Historiker ist ebenfalls, dass Mohammed wirklich gelebt hat, dass der Koran wirklich über Mohammed in die Welt gekommen ist und
dass die Hadithe einen historischen Hintergrund haben. Allah, der Engel Gabriel
und die Offenbarungsgeschichten fallen gewissermassen nicht in ihre Kompetenz,
deshalb schweigen sie sich darüber ganz oder weitgehend aus. Damit entfällt für
sie auch die Frage der religiösen Verbindlichkeit der Offenbarung und des Vorbilds Mohammed. Minderheitsversionen nicht-muslimischer Historiker klammern diese Frage nicht aus, sondern versuchen, auch die Offenbarungsgeschichten historisch, also ohne Allah und den Engel Gabriel zu erklären.27 Das ist brisant, denn damit könnte die religiöse Verbindlichkeit des Korans als unmittelbares
Wort Gottes und des Vorbilds Mohammed entfallen.
Abdel-Samads Buch ist ein solcher Versuch. Er „wendet sich Mohamed zu. Nicht
einem ‚Propheten‘, einem Menschen, der Gott nahestand und dessen Wort verkündet haben soll.“ Er „trägt zusammen, was man über den historischen Mohamed weiss. Er beschreibt einen wenig einnehmenden Menschen, frauenfeindlich,
26
Abdel-Samad schreibt diesen Namen immer mit einem m in der Mitte. Diese Schreibweise
wird auch in wörtlichen Zitaten aus seinem Buch beibehalten. Im Text bleibt es bei der üblichen
Schreibweise mit zwei m.
27
Andere Minderheitsversionen nicht-muslimischer Historiker verneinen überhaupt die historische Existenz Mohammeds und damit natürlich auch die Offenbarungsgeschichte des Korans
und die Hadithe. Nach ihrer Meinung hat sich der Islam im Laufe des siebten und achten Jahrhunderts in Syrien aus antitrinitarischen christlichen Sekten entwickelt. Die Legenden um den
Entstehungsraum (Mekka und Medina) sowie um den Propheten, seine Offenbarungsgeschichte
und sein Leben seien im Zuge der Emanzipation von dem ursprünglich christlichen Kontext
gewissermassen „hinzuerfunden“ worden. - Das geht den allermeisten Historikern eindeutig
zu weit. Dass der Islam in Kenntnis und Kontakt mit dem Judentum und dem Christentum entstanden ist, geht aus dem Koran und den Hadithen selbst hervor, und dass die innerchristlichen
Konflikte um die Trinitätslehre den frühen Muslimen bekannt waren, kann man vermuten.
Ebenso ist plausibel, dass die ausserordentlich schnelle Expansion des Islam auf zuvor byzantinischem Gebiet auch damit zusammenhängen könnte, dass die dort ansässigen, zu einem guten
Teil anti-trinitarischen Christen vom trinitarischen Kaiser unterdrückt wurden und den streng
monotheistischen Islam als nicht sehr fremd empfanden. Aber von diesen Vermutungen bis zur
Leugnung der historischen Existenz Mohammeds ist ein weiter Weg.
53
machtbewusst, in hohem Masse gewaltbereit.“ (Vorspann) Und er interpretiert das
Geschehen bei den Offenbarungen des Propheten medizinisch als Halluzinationen
während epileptischen Anfällen und das für die Muslime vorbildliche und nachahmenswerte Leben Mohammeds, insbesondere sein Selbstbild als Prophet, sein
Verhältnis zur Gewalt und sein Verhältnis zu den Frauen, psychologisch als Folge
frühkindlicher Traumata und späterer Kränkungen und Misserfolge.
Die Konstruktion des Islam durch die Umayyaden und die Abbasiden
Im ersten Kapitel beschreibt Abdel-Samad den Übergang von den ersten vier
„rechtgeleiteten“ Kalifen (632-661) zur aus Mekka stammenden Umayyadendynastie (661-750) und die fundamentale Wandlung, die der Islam und das rückschauende Bild der Muslime von Mohammed in der Umayyadenzeit erfuhren.
Aus einem von Wüstenstämmen beherrschten und von Medina aus regierten arabischen Gottesstaat wurde ein von seinen byzantinischen und persischen Vorgängern geprägtes multiethnisches und multireligiöses Weltreich mit der glanzvollen
Hauptstadt Damaskus. Aus der Umayyadenzeit stammen die ersten schriftlichen
Belege für den Namen Mohammed und das Wort Islam sowie die ersten Hadithe
über die Kriege des Propheten, die sich als Vorbild für die Eroberungszüge der
Umayyaden verwenden liessen. Andere Hadithe wenden sich gegen den Ungehorsam gegen den Propheten und waren den Umayyaden nützlich gegen wiederholte
Revolten.
Durch eine dieser Revolten wurden sie aber schliesslich doch gestürzt, und es kam
die ebenfalls aus Mekka stammende Abbasidendynastie an die Macht (750), die
ihre Hauptstadt zwölf Jahre später ins neu gegründete Bagdad verlegten. Die
Abbasiden führten ihren Stammbaum und damit auch ihre Legitimität als Kalifen
auf al-Abbas, den Onkel des Propheten zurück. Auch um vom Glanz dieser Abstammung möglichst zu profitieren, gab der Kalif al-Mansur bei dem Hadithgelehrten Ibn Ishaq die erste vollständige Biographie des Propheten in Auftrag –
etwa 130 Jahre nach dessen Tod.
Diese 130 Jahre sind zwar eine lange Zeit, aber nach der Meinung der meisten
Historiker in einer an die mündliche Überlieferung gewöhnten Gesellschaft keine
zu lange Zeit, um ein einigermassen authentisches Bild vom Leben des Propheten
zu vermitteln. Die Mohammed-Biographie von Ibn Ishaq ist in einer gekürzten
Version (um 860) von Ibn Hisham erhalten und gilt Muslimen heute noch als
authentisch. Auch Abdel-Samad benutzt diese Biographie neben den Hadithensammlungen und anderen Quellen und beurteilt sie wie folgt: „Es handelt sich um
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eine ursprünglich arabische Geschichte, die durch jüdische und christliche Erzählungen sowie altpersische Mythen ausgeschmückt, erweitert bzw. umstrukturiert
wurde.“ (Pos. 371)
Die Frage, ob man auf der Basis solcher Quellen einigermassen sicher sein könne,
dass Mohammed tatsächlich gelebt hat, beschäftigt auch Abdel-Samad. Er skizziert die Argumente der wichtigsten Kritiker dieser Quellen aus den letzten rund
150 Jahren, geht aber gleichwohl auf Distanz: „So wie die islamische Erzählung
einen perfekten Plan Gottes hinter der Entstehung des Islam sieht, setzen“ die
Thesen der Kritiker „eine Verschwörung voraus“. (Pos. 423) Eine Verschwörung
zur Geschichtsfälschung, die „jahrhundertelang und flächendeckend aufrechterhalten (werden) konnte – trotz Spaltung der Muslime in Schiiten und Sunniten
und trotz mehrerer innerislamischer Kriege.“ (ebenda) „Die Gelehrten dieser Zeit
bildeten keineswegs eine homogene Einheit, die mit der herrschenden Elite kollaborierte, um die grösste historische Fälschung der Geschichte vorzunehmen.“
(ebenda). Für Abdel-Samad hat die Mohammed-Biographie von Ishaq und haben
die Hadithe einen historischen Kern, um den herum es durchaus auch Legenden
aus späterer Zeit geben mag, der aber im wesentlichen eben doch authentisch ist.
Eine andere Sache ist, was die islamische Theologie daraus gemacht hat. „Nicht
Mohamed und der Koran sind Erfindungen der Umayyaden und der Abbasiden,
sondern die islamische Theologie. Ihre Erfindung war notwendig, um die neuen
Herausforderungen in diesem so enorm ausgedehnten Reich zu bewältigen.“ (Pos.
502) Zu diesen Herausforderungen gehörten eben auch die Vereinheitlichung und
Verschriftlichung der Religion zur Verhinderung von Glaubenskämpfen, zur
Schaffung einer überethnischen Identität und nicht zuletzt für administrative
Zwecke.
Aus diesen Überlegungen zu den Quellen ergeben sich für Abdel-Samad „drei
Mohameds“ . . . „Der erste bildet den historischen Kern des Islam“ (Pos.506). Der
zweite ist der vollkommene und nachzuahmende Mythos, den die Theologen des
siebten und achten Jahrhunderts aus ihm gemacht haben. Und der dritte „ist die
Person, die in fast allen Biographien verschwiegen wird. Der Prophet aus der
Sicht seiner zeitgenössischen Gegner und Kritiker.“ (Pos. 518) Dieser dritten Person gilt das Interesse Abdel-Samads, und er versucht, aus dem Koran, aus den
Hadithen und aus den Mohammed-Biographien möglichst viel vor allem über das
zu erfahren, was die Hagiographen nicht interessiert hat und was sie daher auch
übersehen haben, obwohl es für die Interpretation wichtig sein könnte und, so das
Ergebnis von Abdel-Samad, tatsächlich ist.
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Die Konstruktion von Mohammeds Stammbaum
Im zweiten Kapitel beschreibt Abdel-Samad Mohammeds Leben als „Geschichte
einer Identitätskrise“. In einer patrilinearen Stammesgesellschaft ist die unzweifelhafte Herkunft aus einem angesehenen Stamm von ausserordentlicher Bedeutung. Entsprechend legten Mohammed und seine Biographen den grössten Werten
auf den Nachweis einer lückenlosen Ahnenreihe bis zurück zu Abraham bzw.
letztendlich zu Adam. Genauso interessiert daran waren diejenigen seiner Nachfolger, die ihre Abstammung und dadurch auch ihre Autorität auf Mohammed und
damit ebenfalls bis auf Abraham zurückführen wollten. Abdel-Samad untersucht
die Texte daraufhin, was sie zu dieser Abstammung sagen, und findet, dass Mohammeds Abstammung von den Mekkanern immer wieder angezweifelt wurde
und dass es um diese Frage in der Überlieferung zahlreiche Ungereimtheiten gibt.
Nun hätte man erwarten können, dass Mohammed gegenüber den Zweiflern seine
Abstammung bewiesen hätte, was in einer patrilinearen Stammesgesellschaft
durch die Überlieferung möglich sein sollte, da dieser Frage eine so grosse Bedeutung zukommt. Stattdessen weicht Mohammed zunächst aus und sagt, der Wert
eines Menschen hänge nicht von seiner Abstammung ab, sondern von seinem
Glauben an Allah. Nach Abdel-Samad haben ihn aber die Zweifel an seiner Herkunft immer wieder beschäftigt, und als er die Macht dazu hatte, pochte er auf
seine edle Abstammung. Er scheint aber auch persönlich bei seinem Stamm, den
Quraisch, und seinem Clan, den Hashimiten, nicht in besonders hohem Ansehen
gestanden zu haben, was sich ebenfalls erst änderte, als er Mekka unterworfen
hatte. Angesichts der Bedeutung der Abstammung in der Stammesgesellschaft
glaubt Abdel-Samad, dass diese Zweifel Mohammed sehr belastet haben und eine
mögliche Erklärung für seinen Charakter und sein Verhalten sind.
„Was macht ein Mensch, der von seiner Gemeinde nicht anerkannt wird? Er sucht
die Zugehörigkeit zu einer anderen Gemeinschaft, die viel grösser oder bedeutender ist als seine ursprüngliche.“ (Pos. 716/719). „Mohamed war ein Fremder im
eigenen Land. Seine Sippe hatte ihn verkannt und gekränkt. Er begab sich auf eine
metaphysische Flucht, auf die Suche nach einer grösseren Identität.“ (Pos. 727)
Die Rückführung der eigenen Abstammung bis zu Abraham war dabei nicht zufällig. Die Araber sehen sich selbst als die Nachkommen Ismaels, des erstgeborenen Sohnes von Abraham mit Hagar, der in der Bibel im Unterschied zu Isaak,
dem zweiten Sohn Abrahams mit Sara, keine grosse Rolle spielt. In der Bibel ist
es Isaak, der von Abraham geopfert werden soll, im Koran hingegen Ismael. Und
dass Gott dann dieses Opfer verhindert, nachdem Abraham seinen absoluten und
unbedingten Gehorsam gezeigt hat, weist auf den göttlichen Plan hin, aus den
Arabern seinen letzten Propheten, Mohammed hervorgehen zu lassen. Allerdings
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waren die Quraisch von dieser Version der biblischen Geschichte und ihrer Abstammung nicht sehr beeindruckt, solange Mohammed nicht die Macht hatte, sie
zum Glauben zu zwingen.
Mohammeds historische Bedeutung
Im dritten Kapitel erklärt Abdel-Samad zunächst die religiöse und politische Situation Mekkas in der vorislamischen Zeit. Die Stadt war wegen der Kaaba ein
Pilgerzentrum und lag an einer wichtigen Karawanenstrasse. Sie war daher seit
langem sowohl innerhalb der arabischen Halbinsel mit den übrigen Stämmen vertraut und vernetzt als auch mit den ausserhalb der arabischen Halbinsel liegenden
byzantinischen und persischen Gebieten und ihren Kulturen und Religionen. Die
grosse historische Leistung von Mohammed sieht Abdel-Samad einerseits in der
Stiftung einer neuen Religion, die jedoch ältere Elemente aus dem Judentum und
dem Christentum sowie aus der altarabischen Tradition übernahm und dadurch
zunächst weniger eigenständig schien als sie später, an der Macht, durch die rigorose Interpretation der Theologen wurde. Anderseits hat Mohammed die Stämme
der arabischen Halbinsel, zum grossen Teil durch Gewalt, geeinigt und damit ein
Projekt realisiert, das schon früher verschiedentlich geplant gewesen war. Die beiden Aspekte gehören eng zusammen, da die neue Religion mit ihrem für alle gemeinsamen Gründungmythos und ihrer für alle gemeinsamen Sprache zur entscheidenden Identifikationskraft für die Araber wurde.
„Mohamed wird von Muslimen nicht nach moralischen und ethischen Kriterien
bewertet; sie verehren ihn, weil sie ihn für den Empfänger der letzten Botschaft
Gottes halten und weil es ihm gelungen war, die Araber zu einen und zu einer
Weltmacht zu machen. Wie diese Einigung zustande kam und warum der Islam
binnen weniger Jahre so mächtig wurde, wird oft verklärt und kaum kritisch bewertet.“ (Pos.916) Dass Mohammed zum erfolgreichen Staatsmann und Heerführer werden könnte, war in den mekkanischen Jahren seiner Offenbarungen (ca.
610-622) nicht absehbar. Denn er wurde kaum ernst genommen und hatte nur wenige Anhänger. Die offizielle Version seiner Flucht aus Mekka nach Medina ist,
dass er in Mekka immer mehr angefeindet worden und schliesslich, an Leib und
Leben bedroht, geflohen sei. Abdel-Samad glaubt demgegenüber, dass Mohammed, frustriert über die Erfolglosigkeit seiner Predigten, nach Verbündeten gesucht habe, um seine Lehre mit Gewalt durchzusetzen. Dies ist jedenfalls, was
dann mit grossem Erfolg geschah. „Das Schwert hatte offenbar eine grössere Wirkung als das Wort an sich.“ (Pos. 1053)
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Was die offizielle muslimische Geschichtsschreibung vom Ergebnis her, der
Ausdehnung des muslimischen Machtbereichs, glorifiziert, behandelt Abdel-Samad aus der Perspektive der üblen Methoden, mit denen dieses Ergebnis erzielt
wurde und die, wie er bemerkt, gegenwärtig vom sog. Islamischen Staat getreulich nachgeahmt werden. „Das grundsätzliche Problem liegt nicht in dem, was
Mohamed damals getan und für richtig befunden hat. . . . Das Problem liegt
darin, dass Mohamed und sein Tun in Medina für viele Muslime bis heute als
Vorbild dient. . . . Jenseits von Zeit und Raum wollen Islamisten die Urgemeinde
Mohameds in jedem Detail wiederherstellen.“ (Pos. 1089/1093) Der Nachfolger
Mohammeds, Abu Bakr, musste zunächst in einem blutigen Bürgerkrieg den Zerfall der mit Gewalt geeinigten Stämme verhindern, bevor der nächste Kalif, Omar,
die Ausdehnung des muslimischen Machtbereichs gegen die bereits geschwächten Grossreiche, Byzanz und Persien, fortsetzen konnte. Zugleich bestärkten der
gemeinsame Feind und die Erfolge im Krieg die prekäre Einheit der Araber.
Im weiteren zieht Abdel-Samad in einigen Abschnitten Parallelen zwischen dem
frühen islamischen Staat Mohammeds und seiner ersten Nachfolger und der Mafia. Angesichts der archaischen Strukturen, Regeln und Verhaltensweisen der
Mafia lassen sich solche Parallelen natürlich finden. Aber es bringt für die Argumentation keinen Mehrwert und dem Autor nur Probleme. Man kann diese Abschnitte einfach übergehen. Der Autor sollte auf sie verzichten.
Mohammed und die Frauen
Im vierten Kapitel geht es um „Mohameds Probleme mit den Frauen“ (Pos. 1278).
Frauen haben in Mohammeds Leben auf sehr unterschiedliche Weise eine wichtige Rolle gespielt und damit seine eigene Einstellung und die Regeln des Islam
gegenüber den Frauen wesentlich beeinflusst. Die psychologische Deutung von
Mohammeds Leben und damit der Regeln des Islam wird hier auf interessante
Weise fortgesetzt. Der erste Punkt war die Stiftung einer neuen religiösen Identität
als Folge einer bezweifelten Stammesidentität, der zweite der Griff zur Gewalt als
Folge des friedlichen Scheiterns. Der dritte Punkt, das Verhalten gegenüber und
die Vorschriften für Frauen als Folge persönlicher Erfahrungen, wird nun hier
abgehandelt.
Wichtige Frauen für Mohammeds Leben waren zunächst seine fehlende Mutter,
Amina, die ihn einer Pflegemutter übergab und selbst verstarb, als er sechs Jahre
alt war, und seine erste Frau Khadidscha, die, wesentlich älter als er, in gewisser
Weise zum Mutterersatz wurde. Nach ihrem Tod veränderte sich das Verhältnis
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Mohammeds zu den Frauen grundlegend. Hierfür steht vor allem das Verhältnis
zu seiner Lieblingsfrau Aischa.
Das Verhältnis zur Mutter ist aus zwei Gründen gestört, zum einen wegen der
Zweifel an seiner ehelichen Geburt und zum andern weil sie ihn weggab und nicht
für ihn da war. Plakativ könnte man sagen, dass Amina Misstrauen und Verlustängste in Mohammed angelegt hat.
Khadidscha war eine fünfzehn Jahre ältere Witwe und Handelsunternehmerin, bei
der Mohammed als Karawanenführer angestellt war. Als sie ihn heiratete, war er
fünfundzwanzig Jahre alt. Sie war, solange sie lebte, seine einzige Frau und zugleich seine erste Anhängerin und eine wichtige Beraterin. Als sie starb (619),
war sie vierundsechzig und er neunundvierzig Jahre alt. Ihr Tod war für ihn ein
schwerer Schlag, der ihn sehr veränderte. Khadidscha erfuhr zuerst von den Offenbarungen und war verschiedentlich dabei zugegen. Aus den Beschreibungen
in den Quellen schliesst Abdel-Samad, dass es sich dabei um eine spezielle Art
von epileptischen Anfällen mit Halluzinationen gehandelt haben könnte. Während Mohammed anfangs an seinem Verstand zweifelte, bestärkte ihn Khadidscha
in dem Glauben an Offenbarungen und versicherte ihm, er habe keineswegs den
Verstand verloren, was nach den Anfällen auch offenkundig nicht der Fall war.
Das Verhältnis zu Khadidscha war von Zuneigung und Achtung geprägt, die sich
auch in den mekkanischen Suren über die Frauen niedergeschlagen haben.
Nach dem Tod von Khadidscha und in der bald darauf beginnenden Lebensphase
in Medina ist Mohammeds Verhältnis zu den Frauen durch Überlegenheit, Herrschaft, Verfügbarkeit, Misstrauen und Gewalt geprägt. Ein Beispiel hierfür ist sogar die Beziehung zu Aischa, auch wenn dort nicht über Gewalt berichtet wird.
Von Gewalt ist dafür umso mehr bei seinen übrigen Frauen die Rede, die Mohammed nun im Halbjahresrhythmus heiratete, und bei den Kriegsgefangenen bzw.
Sklavinnen, die seinen Haushalt zusätzlich bevölkerten. Aischa war die sechsjährige Tochter seines langjährigen Freundes und frühen Anhängers Abu Bakr, als
Mohammed sie, neunundvierzigjährig, heiratete. Die Ehe wurde mit der neunjährigen Aischa vollzogen. Auch wenn Aischa Mohammeds Lieblingsfrau wurde,
war das Verhältnis niemals eines auf gleicher Ebene, vielmehr dasjenige eines
alternden Patriarchen und Machthabers zu einem unmündigen Kind. In seinen
späteren Jahren kamen Misstrauen und Eifersucht dazu. Viel offener und nicht
abgeschwächt durch die Zuneigung, die Aischa immerhin genoss, zeigen sich diese Eigenschaften im Verhältnis Mohammeds zu seinen übrigen Frauen und Sklavinnen. Abdel Salam berichtet darüber in etlichen weiteren Abschnitten und zeigt
wie Mohammeds Einstellung Eingang in die medinensischen Suren des Korans
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und vor allem in die Überlieferung seines Lebens gefunden hat und dadurch für
die Muslime vorbildlich und empfehlenswert geworden ist. Im Detail versucht er,
auch die Behauptung zu wiederlegen, der Islam habe die Stellung der Frauen im
Vergleich zur vorislamischen Zeit wesentlich verbessert.
Man mag dieses Kapitel des Buchs ob seiner Länge ermüdend, zu ausführlich und
zu drastisch finden, aber es ist wichtig. Denn das durch den Koran und Mohammeds Vorbild geprägte Verhältnis der muslimischen Männer zu den Frauen, also
zur andern Hälfte der menschlichen Gesellschaft, ist wahrscheinlich das grösste
Problem für die Integration von Muslimen in westliche Gesellschaften. Dort ist
man nach einer langen eigenen Geschichte der Ungleichheit der Geschlechter in
einem langen Prozess des Umdenkens zu der Überzeugung der Gleichheit gelangt
und dabei, diese auch in der Wirklichkeit durchzusetzen.
Quellen und Inspirationen für den Koran
Das fünfte Kapitel nimmt das Thema der Offenbarung wieder auf, dass bei der
Besprechung des Verhältnisses zu Khadidscha bereits einmal angesprochen wurde. Dazu geht Abdel-Samad zunächst näher auf Kontroversen in der westlichen
Wissenschaft um die Entstehung des Korans und die Rolle Mohammeds ein, die
teilweise auch schon in der Einleitung zu diesem Aufsatz und im ersten Kapitel
über die Rolle der Umayyaden und Abbasiden erwähnt worden sind. Seine zusammenfassende Schlussfolgerung ist, „dass es drei Korane gab: den Koran vor dem
Koran (jüdische, christliche, persische und vorislamische arabische Überlieferungen, aus denen der Koran geschöpft hat; HK), den Koran aus Mohameds Zeit und
den Koran nach dem Koran (was die muslimischen Historiker und Theologen in
der Zeit der Umayyaden und Abbasiden als Koran ‚überliefert‘ haben; HK).“
(Pos.1945/1949) Was Abdel-Samad hier interessiert, ist die Frage der Offenbarung, also wie es von den älteren Überlieferungen zu Mohammeds Koran kam.
Abdel-Samad geht davon aus, dass es Mohammed gegeben hat und „dass er überzeugt war, Botschaften Gottes empfangen zu haben.“ Er selbst glaubt allerdings
nicht, „dass Gott zu Mohamed – oder zu sonst jemandem – jemals sprach. Ich
glaube auch nicht, dass Mohamed selbst den Text verfasste, noch dass er einen
fertigen Text entdeckt, geschweige denn übersetzt hatte. Wie löst man dann dieses
Rätsel auf?“ (Pos. 1952) „Mohamed war ein Mensch zwischen Genie und Wahnsinn . . . Er konnte . . . Botschaften aufspüren, die ihm sowohl Zuflucht vor und
zugleich radikale Lösungen für . . . Missstände und persönliche Probleme anboten: religiöse Botschaften, Weisheiten, Gedichte, alte Mythen, apokalyptische
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Visionen. Er hatte die grosse Begabung, all das aufzunehmen und zu einem Ganzen zu verschmelzen. In einem Inspirationsanfall gab er das Verdaute als eine
beeindruckende Einheit wieder. Die Texte hatten unterschiedliche Quellen, doch
fast jeder Text reflektierte ein Problem Mohameds oder seiner Umgebung.“ (Pos.
1963/1967)
Im weiteren Verlauf des Kapitels werden zunächst diese inspirierenden Quellen
im einzelnen betrachtet. Das sind einerseits die jüdischen, christlichen, persischen
und vorislamischen arabischen Überlieferungen, aus denen der Koran geschöpft
hat und von denen man annehmen kann, dass Mohammed mit ihnen aus Mekka
vertraut war oder ihnen als Karawanenführer vor allem in Syrien begegnet ist.
Diese Überlieferungen haben die, wenn man so will: spirituellen, mekkanischen
Suren geprägt. Abdel-Samad zeigt dann anderseits, wie sich Stil und Inhalt der
medinensischen Suren von den mekkanischen Suren unterscheiden. (Pos. 2208/
2226) Die medinensischen Suren haben es mit praktischen Fragen der Gesetzgebung, insbesondere des Strafrechts, der Stellung der Frauen und des Kriegs zu
tun, und die Inspiration dazu kommt aus den konkreten Problemen der Zeit. Aber:
„Viele (heutige Muslime; HK) verstehen (die medinensischen Suren) nicht als
Spiegel ihrer Entstehungszeit, nicht als Reaktion auf bestimmte Situationen im 7.
Jahrhundert, sondern als eine Richtlinie und Handlungsaufforderung für alle Zeiten. Denn der Sprecher ist Gott höchstpersönlich, und der Koran ist sein letztes,
direktes Wort, sein endgültiges Manifest an die Menschheit.“ (Pos. 2226/2230)
Beide Teile des Korans zusammen zeigen ihn als ein „widersprüchliches Buch . .
. , das nur die Entwicklung einer Gemeinde über 23 Jahre beschreibt, die friedlich
war, als sie keine Waffen besass, und gewalttätig wurde, als sie über militärische
Macht verfügte. Allein das disqualifiziert den Koran gänzlich als moralische Orientierungshilfe für Menschen im 21. Jahrhundert. . . . Nicht eine zeitgemässe
Interpretation des Korans kann die Lösung sein, sondern eine Emanzipation von
der Übermacht seines Textes.“ (Pos. 2258/2262)
Im sechsten Kapitel wird die Widersprüchlichkeit des Korans am Beispiel des
Verhältnisses zu den Juden vorgeführt, welches von Bewunderung und Übernahme wichtiger Überlieferungen und Traditionen in bedingungslose Feindschaft
umschlägt. In diesem Kapitel finden sich auch längere Passagen, in denen das
mörderische Verhältnis des medinensischen Mohammed zu den Juden mit demjenigen Hitlers verglichen wird. Man kann nicht einfach sagen, dass diese Parallelen
an den Haaren herbeigezogen seien, wenn sie auch übertrieben erscheinen. Aber
es gilt dasselbe wie für den früheren Vergleich mit der Mafia: Es bringt für die
Argumentation keinen Mehrwert und dem Autor nur Probleme. Man kann auch
diese Abschnitte einfach übergehen, und der Autor sollte auf sie verzichten.
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Die Krankheit des Propheten
Dass Mohammed unter epileptischen Anfällen gelitten habe, wird, wie Abdel-Samad nachweist, bereits in sehr frühen Quellen vermutet und seine „Besessenheit“
gehörte später zum Standard-Repertoire der Verunglimpfungen von Seiten christlicher Eiferer. Abdel-Samad stellt fest, dass es eine ganz bestimmte Form der Epilepsie gibt, die „besonders mit Hyperreligiosität und Visionen verbunden ist, nämlich die Temporallappenepilepsie (TLE).“ (Pos. 2435) Und er zeigt, dass es gemäss zahlreichen zeitgenössischen Zeugnissen bei Mohammed „eine Menge
Symptome (gibt), die der Prophet während des ‚Empfangens‘ der Offenbarungen
hatte, die auch bei Patienten vorkommen, die unter TLE leiden.“ (Pos. 2460/2466)
Symptome gibt es aber nicht nur im unmittelbaren Zusammenhang mit den Anfällen. Dazu gehört auch die sog. Hypergraphie oder Schreibwut, bei Mohammed
die Rezitation von viel ‚offenbartem‘ Text unmittelbar nach den Anfällen.
Neben der Epilepsie vermutet Abdel-Samad psychische Erkrankungen bei Mohammed, die aus seinem Lebenslauf erklärbar seien. Narzissmus und Grössenwahn liessen sich auf mangelnde Erfahrung von Liebe und Anerkennung zurückführen. „Narzissmus hat oft sowohl mit Selbstüberschätzung als auch mit Minderwertigkeitskomplexen zu tun. Narzissten zeichnen sich dadurch aus, dass sie nach
einer Sonderbehandlung und nach unbedingtem Gehorsam verlangen.“ (Pos.
2563/2568) Hinter den sehr zahlreichen und detaillierten Verhaltensanweisungen
an seine Anhänger und ihrer genauen Kontrolle vermutet Abdel-Samad eine
Zwangsstörung. Das Fatale daran ist, dass das Leben Mohammeds bis heute für
gläubige Muslime als vorbildlich gilt und daher nicht nur alle diese Verhaltensanweisungen, sondern auch die Aufforderung zur gegenseitigen Kontrolle heute
noch gelten. „Um ein guter Muslim zu sein, muss der Gläubige den Propheten auf
Schritt und Tritt nachahmen. Selbstbestimmung, Flexibilität und Kreativität sind
nicht vorgesehen; heutigen Islamgelehrten eröffnet sich dadurch die Möglichkeit,
ihrerseits mehr Macht über die Muslime und ihren Alltag zu gewinnen.“ (Pos.
2596/2600) Zu diesem Krankheitsbild passen schliesslich auch Paranoia und Kritikunfähigkeit. Der Prophet sah sich, wie die heutigen Muslime, von Feinden umgeben, die bekämpft und ausgerottet werden mussten, und ein Feind war auch
jeder, der es wagte Kritik zu üben, negativ über den Propheten zu reden oder gar
von ihm abzufallen.
Die Schlussfolgerung von Abdel-Samad ist: „Das, woran die islamische Welt
krankt, kann nur geheilt werden, wenn Muslime sich von den multiplen Krankheiten des Propheten lösen. . . . Fundamentalismus und Intoleranz sind nicht eine
Folge der Fehlinterpretation der Texte, sondern eine Folge ihrer Überhöhung. Die
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Reform des Denkens beginnt, wenn Muslime es wagen Mohamed aus dem Käfig
der Unantastbarkeit zu entlassen und ihn Mensch werden zu lassen.“ (Pos. 2718/
2722)
Epilog aus Anlass des Anschlags auf Charlie Hebdo
Gläubige Muslime reagieren äusserst empfindlich und häufig auch gewalttätig auf
tatsächliche oder angebliche Kritik, Schmähungen, Witze oder andere Beleidigungen ihrer Religion, des Korans oder des Propheten. Aus Anlass des Anschlags
auf die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo erinnert Abdel-Samad daran, dass
in den Hadithen darüber berichtet wird, dass einige Gefährten Mohammeds Menschen umbrachten, die sich abfällig über den Propheten geäussert hatten. Da nun
aber das Leben des Propheten und seiner engsten und frühesten Gefährten für die
Gläubigen Vorbild ist, gehören die aussergewöhnliche Empfindlichkeit und die
gewalttätige Reaktion auf Kritik bis hin zur Selbstjustiz gewissermassen zu den
Pflichten strenggläubiger Muslime. Die ausführenden Fanatiker können daher bei
vielen Gläubigen mit Verständnis und sogar Zustimmung rechnen. Das dürfte im
Westen trotz inzwischen reichlich gemachter Erfahrungen den meisten so nicht
bewusst sein.
Nun kann man im konkreten Fall sicherlich häufig den schlechten Geschmack von
Satiren und Karikaturen beklagen. Aber von hier aus bis zum Verbot und gar dem
Fememord ist noch ein weiter Weg, den im Westen nach einer Güterabwägung
der verfassungsmässigen Grundrechte Religionsfreiheit auf der einen und Meinungsäusserungsfreiheit auf der andern Seite niemand leichtfertig gehen würde.
Abdel-Samad erinnert daran dass „die Geschichte der Satire in Europa . . . die
Geschichte der Befreiung von Göttern und somit die Geschichte der Aufklärung“
ist (Pos. 2758), und zitiert seit der Renaissance viele Beispiele hierfür. „Humor
kann eine Kultur entkrampfen. Sie (die Satire; HK) kann absolute Wahrheiten
relativieren und Menschen ermutigen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit
herauszutreten. Deswegen reagieren Despoten oft so allergisch auf Satire, weil
Humor den Untertanen die Angst vor den Machthabern nimmt.“ (Pos. 2775) „Im
Laufe der islamischen Geschichte wurde immer der Vorwurf der ‚Beleidigung des
Propheten‘ von den Herrschern als Vorwand benutzt, um ihre politischen Gegner
zu beseitigen.“ (Pos. 2779) „Der Anschlag auf Charlie Hebdo sollte für Muslime
ein Anlass sein, die Tabuisierung der Mohamed-Kritik zu beenden. Denn nichts
ist heiliger als ein Menschenleben, nichts ist wertvoller als Freiheit und Menschenrechte.“ (Pos. 2782/2786)
63
Abschliessende Bemerkungen
Das Buch von Abdel-Samad führt mitten hinein in die im westlichen Sinn wissenschaftliche Islamdiskussion und leistet dazu auch einen höchst anregenden
psychologisch-medizinischen Beitrag. Man kann die Lektüre deshalb m.E. sehr
empfehlen.
Schade ist, dass Abdel-Samad es seinen Kritikern allzu leicht macht, ihn mit ein
paar Schlagworten a priori zu disqualifizieren und dadurch potentielle Leser von
der Lektüre abzuhalten. Es beginnt bereits mit dem Titel des Buchs. Statt „Mohamed: Eine Abrechnung“ wäre inhaltlich ein Titel wie „Mohamed: Eine psychologisch-medizinische Interpretation“ viel aussagekräftiger und würde viele
Abwehrreflexe vermeiden. Überflüssig sind auch die Vergleiche mit der Mafia
und Hitler. Sie tragen zur Argumentation nichts bei, lassen den Autor in offene
Messer rennen, werden interessierte Leser abschrecken und dadurch auch viele
wichtige inhaltliche Diskussionen verhindern. Wo war hier eigentlich das Lektorat?
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9. Necla Kelek, Himmelsreise. Mein Streit mit den Wächtern des Islam
3. Auflage, Köln 2010, 272 S.
Hier besprochen und zitiert nach der Kindle e-book Ausgabe.
Die Autorin dieses Buchs ist in Istanbul geboren und kam mit neun Jahren nach
Deutschland, wo sie seither lebt. Sie hat dort die Schulen besucht, eine Lehre als
technische Zeichnerin absolviert sowie später Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert und dieses Studium mit der Doktorpromotion abgeschlossen. In
zahlreichen Büchern beschäftigt sie sich mit der muslimischen Einwanderung vor
allem aus der Türkei nach Deutschland und insbesondere mit den Problemen rund
um das Entstehen muslimischer Parallelgesellschaften in Deutschland. Kelek hält
die deutsche Integrationspolitik für gescheitert. Sie wendet sich gegen die „MultiKulti-Romantik“ und die Überinterpretation und Überbewertung der Religionsfreiheit gegenüber anderen verfassungsmässigen Grundrechten und fordert, dass
alle Gesetze für alle gelten und auch tatsächlich durchgesetzt werden. Sie hat damit immer wieder für engagierte Diskussionen und Polemiken in Fachkreisen und
Öffentlichkeit gesorgt. Dieses Buch aus dem Jahre 2010 ist eine Art Zwischenfazit der persönlichen Erfahrungen der Autorin und ihrer früheren Verarbeitung in
anderen Büchern. Es führt mitten in die aktuelle Diskussion, wie sie nicht nur in
Deutschland geführt wird.
Die Wächter des Islam
Von Anfang an wendet sich die Autorin dezidiert dagegen, ungesetzliche Verhaltensweisen zu tolerieren, nur weil sie aus muslimischer Perspektive erlaubt, üblich
oder gar geboten seien. „Im harten integrationspolitischen Alltag ist eine solche
‚verstehende‘ Haltung faktisch eine Kapitulationserklärung vor jeder Freiheitsenteignung, die sich auf ‚religiöse Gebote‘ beruft.“ (Pos. 59) Die Deutungshoheit
über den Inhalt der Religionsfreiheit und über ihre relative Position gegenüber
anderen Grundrechten wird damit den Muslimen überlassen, genauer gesagt: den
wenig repräsentativen muslimischen Organisationen und unter ihnen den tonangebenden Islamisten.
Nach der innerislamischen Definition ist Muslim, wer dem Islam beigetreten ist
oder von einem muslimischen Vater abstammt. Einen Austritt gibt es nicht. 28
28
Versteht man die Religionsfreiheit als individuelles Recht, einer Religionsgemeinschaft anzugehören oder nicht, handelt es sich hier um einen klaren Verstoss gegen ein durch die Verfassung garantiertes Grundrecht. Interpretiert man die Religionsfreiheit hingegen als die Freiheit
65
Nach dieser Definition gibt es in Deutschland inzwischen etwa 5 Millionen Muslime mit stark steigender Tendenz wegen des Flüchtlingszustroms. Kelek schätzt,
dass weniger als die Hälfte der so definierten Muslime praktizierend ist und das
von dieser Hälfte etwa ein Achtel, also gut 6% der in Deutschland lebenden Muslime islamischen Vereinen angehört oder sich von ihnen vertreten fühlt. Dieses
Achtel verteilt sich zwar weiter auf unterschiedliche Glaubensrichtungen und ethnische Zusammenschlüsse. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass es sich dabei
in der Regel um strenggläubige konservative Muslime handelt und nicht um Angehörige der mehr oder weniger distanzierten Mehrheit. Die tatsächliche Repräsentativität muslimischer Organisationen entspricht also keineswegs ihrem Vertretungsanspruch und ihrer damit einhergehenden Macht innerhalb der muslimischen Gemeinschaft und gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Diese Macht wird
weiter durch finanzielle und personelle Unterstützung aus den muslimischen Ländern gestärkt.
Wenn die selbsternannten Repräsentanten schon nicht „die“ Muslime vertreten,
vertreten sie dann wenigstens „den“ Islam? Es ist Mode geworden zu sagen: Den
Islam gibt es nicht. Kelek meint dazu: „Das stimmt und stimmt auch nicht. Einerseits kann ein Muslim seine Beziehung zu Allah selbst definieren, andererseits ist
die Gemeinschaft als Autorität eingesetzt zu bestimmen, ‚was recht ist‘ und ‚was
verwerflich ist‘. Eine Unzahl von Richtungen und Sekten nimmt für sich beides
in Anspruch: zu definieren, was der Islam ist, und anderen das Muslimsein zu
bestreiten. Aber sich auf diese Weise aus der Verantwortung zu stehlen für das,
was im Namen des Islam passiert, hilft nicht. Denn es gibt ‚den Islam‘ als soziale
Realität.“ (Pos. 90) „Es gibt den Islam. Er ist das, was im Namen der Religion
gelebt wird.“ (Pos. 94) Der springende Punkt dabei ist, dass der Islam nicht nur
eine spirituelle Beziehung des Menschen zu Gott ist, sondern im Prinzip ein
äusserst umfassendes Regelwerk für alle individuellen und gemeinschaftlichen
Lebensäusserungen, eine „soziale Realität“ eben. Was dieses Prinzip im konkreten Einzelfall des Lebens in einer modernen Gesellschaft bedeutet, ist aber durchaus umstritten und „das islamische Dilemma (besteht) auch darin, dass im Namen
des Islam alles behauptet und alles bestritten werden kann.“ (Pos.100) Diese Unklarheit ist ein Einfallstor für Machtausübung im Namen der Religion durch
selbsternannte „Wächter des Islam“, und Keleks Anliegen ist es, der Mehrheitsgesellschaft diese nicht-legitimierte und häufig gesetz- und verfassungswidrige
Machtausübung vorzuführen und den Staat an seine verfassungsmässige Verpflichtung zu erinnern, die von dieser Machtausübung Betroffenen zu schützen.
einer Religionsgemeinschaft nach ihren eigenen Regeln zu leben, sieht die Sache unter Umständen ziemlich anders aus, je nachdem wie weit man dieses Recht der Religionsgemeinschaft
definiert.
66
Strenggläubige konservative Muslime haben nicht nur Probleme, ihren Glauben
mit seinem äusserst umfassenden Regelungsanspruch für alle Lebensäusserungen
in einer anders oder auch gar nicht gläubigen Mehrheitsgesellschaft zu leben. Sie
fühlen sich auch durch die völlig andere Lebensart der Mehrheitsgesellschaft
ständig herausgefordert. Der vorläufige Ausweg ist die Parallelgesellschaft mit
der Machtfrage, wer dort die Regeln setzt. Der endgültige Ausweg wäre die Islamisierung der Mehrheitsgesellschaft, die vom politischen Islam als Fernziel ernsthaft angestrebt wird. Im Kern geht es bei der Auseinandersetzung mit dem politischen Islam, also den Islamisten, um die Machtfrage. Über spirituelle Themen
und Fragen würde man vielleicht interessiert und engagiert miteinander diskutieren. Aber das wäre in einer freien und toleranten Gesellschaft kein Problem.
Ein Problem entsteht erst dann, wenn verschiedene Machtansprüche aufeinander
stossen und damit Religion politisch relevant wird.
Islam als Glaube
Dieser Teil des Buchs besteht aus zwei Kapiteln. Im ersten dieser beiden Kapitel
geht es zunächst um die Entstehungsgeschichte des Korans und die Frage nach
der Existenz Mohammeds. Kelek referiert hier die bekannten Zweifel einer Minderheit nicht-muslimischer Wissenschafter an der einheitlichen, arabischen Entstehung des Korans zur Zeit Mohammeds. Dass diese Zweifel aus muslimischer
Sicht lästerlich sind, versteht sich. Kelek geht aber auch nicht auf die Gegenargumente der Mehrheitsmeinung unter den nicht-muslimischen Wissenschaftern ein.
Sie wendet sich dann kritisch dem Inhalt des Korans zu, wobei sie die Suren vier
Perioden zuteilt, drei mekkanischen Perioden und einer medinensischen Periode,
in denen jeweils sehr unterschiedliche Inhalte im Vordergrund stehen und zwischen denen verschiedentlich auch Widersprüche auftreten. Ihr Hauptinteresse
gilt der zunehmenden Politisierung der Botschaft, die bereits in der spätmekkanischen Sure über die „Himmelsreise“ Mohammeds deutlich und dann in der medinensischen Periode dominierend wird. Der Islam wird zum Herrschaftssystem sowohl in spiritueller als auch in weltlicher Hinsicht. Der Gläubige kann Gott nicht
erkennen, aber er muss sich ihm unterwerfen. Diese Unterwerfung ist nicht seine
verborgene Privatangelegenheit, sondern geschieht im Rahmen der muslimischen
Gemeinschaft durch die Einhaltung des umfassenden Regelwerks für das individuelle und gesellschaftliche Leben aus dem Koran und den Hadithen. Zur Überwachung dieser Unterwerfung und zur Sanktionierung von Abweichungen ist jedes Mitglied der Gemeinschaft allen andern gegenüber berechtigt und verpflichtet.
67
Die Politisierung des Korans folgt der Politisierung Mohammeds. Kelek berichtet
auch hier über die Zweifel an der Existenz Mohammeds und, wenn er tatsächlich
gelebt haben sollte, an den Einzelheiten, die über dieses Leben überliefert worden
sind. Sie übernimmt aber für die weiteren Ausführungen die Überlieferung gewissermassen als Arbeitshypothese. Die Argumentation läuft im Prinzip wie
folgt: Wenn es Mohammed gegeben hat und wenn der Koran von ihm stammt,
dann wurden die ganze Offenbarungsgeschichte und ihre sukzessiven Inhalte von
Mohammed für seine politischen Ambitionen instrumentalisiert. Der politische
Islam der heutigen Islamisten ist nicht ihre Erfindung, sondern dieses Verständnis
steht bereits am Anfang der Geschichte des Islam. Das ist übrigens für die Islamisten nichts Neues. Es bestärkt sie vielmehr in ihrem Tun, da ja das Leben und die
Taten Mohammeds den gläubigen Muslimen als vorbildlich und nachahmenswert
gelten. Dies wird allerdings immer wieder von denen „vergessen“, die die politische Seite und damit die Islamisten von dem „eigentlichen“ spirituellen Islam
trennen wollen mit dem vielzitierten Satz: „Das hat mit dem Islam nichts zu tun.“
„Doch es hat, und zwar von Anfang an“, könnte man die Gegenposition von Kelek
zusammenfassen.
Das zweite Kapitel dieses Teils behandelt die (wenigen) grundlegenden Glaubenssätze des Islam und die (zahlreichen) Vorschriften, Normen und Gesetze, die
alle Einzelheiten des Lebens der Gläubigen regeln. Wer sich bereits mit dem Koran beschäftigt hat, wird dieses Kapitel als selektiv zusammenfassende Rekapitulation für die Zwecke dieses Buchs schätzen. Wer allerdings das Buch ohne Vorkenntnisse liest, erhält nur einen ziemlich unvollkommenen Überblick. Das hätte
die Autorin vielleicht selbst sagen sollen.
Islam im Alltag
Der dritte und längste Teil des Buchs führt den Leser sehr konkret, begleitet von
den kundigen Kommentaren der Autorin, an den Islam im deutschen Alltag heran
und damit mitten in die aktuellen Kontroversen. Es besteht aus fünf Kapiteln.
Im ersten Kapitel charakterisiert die Autorin die soziale Realität des Islam „als
ein in sich geschlossenes System . . . , das beansprucht, das Leben der Menschen
zu regeln.“ (Pos. 703) Der historische Hintergrund dieses Systems ist die altarabische, patriarchalische, patrilineare Stammesgesellschaft des 7. Jahrhunderts. Das
Spirituelle, der Glaube, spielt im Alltagsislam eine relativ geringe Rolle. Denn der
Islam ist vor allem eine Gesetzesreligion. Wichtig ist die Unterwerfung unter den
einen Gott und die Befolgung seiner ganz konkreten Vorschriften. Der historische
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Hintergrund bewirkt deutliche Unterschiede in der grundlegenden Wertorientierung der eingewanderten Muslime gegenüber der heutigen nicht-muslimischen
europäischen Mehrheitsgesellschaft. Die Menschen sind aus muslimischer Sicht
nicht alle gleich. „Frauen, Ungläubige, Juden und Christen sind schlechter gestellt
als Muslime.“ (Pos. 707) Und zahlreiche normative Begriffe haben für eingewanderte Muslime eine andere Bedeutung als für die nicht-muslimische europäische
Mehrheitsgesellschaft, wie die Autorin im weiteren mit vielen konkreten Beispielen zeigt, von denen hier die wichtigsten kurz erwähnt werden.
„Respekt“ bedeutet die Anerkennung der traditionellen Hierarchie in Familie und
Gesellschaft. Sie ist gewissermassen gottgegebenen und kann nicht in Frage gestellt, kritisiert oder gar aufgehoben werden. Die Positionen in dieser Hierarchie
sind durch Geschlecht, Alter und Verwandtschaftsgrad vorgegeben. Respekt erwirbt man durch die Anerkennung und Verteidigung dieser vorgegebenen Ordnung der Gemeinschaft, nicht durch herausragende individuelle Eigenschaften.
„Die Familie ist ein Kollektiv, und in diesem Kollektiv ist der Älteste der
Souverän oder Diktator. Er bestimmt die Regeln. Das ist auch der Grund, warum
sich niemand in ‚fremde Angelegenheiten‘ einmischt.“ (Pos. 797)
„Ehre“ ist ein Derivat des Ansehens der Familie, des Clans und des Stamms. Sie
hat nichts mit besonderen beruflichen oder moralischen individuellen Leistungen
zu tun. Die Ehre ist ein Besitz der Familie, an dem der einzelne partizipiert und
den zu verteidigen er unbedingt verpflichtet ist. Der wichtigste Aspekt der Familienehre ist die Unbescholtenheit ihrer Frauen und Mädchen. Darunter ist in erster
Linie die sexuelle Unbescholtenheit zu verstehen, aber auch die unbedingte Anerkennung der Hierarchie in der Familie und der absolute Respekt gegenüber den
in dieser Hierarchie höher Stehenden. Der Verlust der Ehre hat schwere Sanktionen zur Folge bis hin zum Ehrenmord, und um die Gefahr eines Ehrverlusts zu
minimieren, werden Frauen und Mädchen in allen ihren Freiheiten drastisch eingeengt.
„Achtung und Liebe“ sind an die Hierarchie gebunden. Ältere bzw. Höherstehende haben einen unbedingten Anspruch auf Achtung, auch wenn sie sich diese nach
europäischen Begriffen keineswegs verdient haben. Dafür lieben, d.h. beschützen
sie die Jüngeren bzw. Tieferstehenden, die wiederum darauf einen unbedingten
Anspruch haben, auch wenn ihre Schutzbedürftigkeit selbstverschuldet ist. „Die
Schuldfrage ist unwichtig, nur die Zusammengehörigkeit der Gruppe zählt.“ (Pos.
816) Es geht nicht um Gefühle, sondern um einen geregelten Austausch.
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Als Folge des zuvor Gesagten hat die muslimische Gesellschaft eine höchst empfindliche „Beleidigungskultur“. Dies gilt sowohl für die Beziehungen innerhalb
muslimischer Gemeinschaften von der Familie bis zur Parallelgesellschaft als
auch besonders für die Beziehungen nach aussen zu Nicht-Muslimen bzw. nichtmuslimischen Gemeinschaften. Dabei muss man sich daran erinnern, dass sich
Muslime den Nicht-Muslimen grundsätzlich übergeordnet fühlen, da sie die einzig wahre Religion haben. Leidtragende dieser „Beleidigungskultur“ sind bei den
internen Beziehungen vor allem die Schwächsten in der Hierarchie, die Frauen
und Mädchen, die ausserdem auch noch ausschlaggebend für die Ehre der Familien und damit am leichtesten angreifbar sind. Da ausserdem in diesen Gemeinschaften eine „Schweigekultur vorherrscht, die nichts nach aussen dringen lässt“
(Pos. 843), können sie kaum auf Hilfe rechnen. In den Beziehungen zu nichtmuslimischen Gemeinschaften erweist sich das ständige „Beleidigtsein“ als wirksames Mittel, dem anderen ein schlechtes Gewissen einzureden und die eigene
Verhandlungsposition zu verbessern.
Einen speziellen Abschnitt widmet die Autorin der Rolle der Mutter in der traditionellen muslimischen Familie, die sie wie folgt zusammenfasst: „Frauen kommt
mit ihrer auf Kinder und Haushalt reduzierten Rolle eine entscheidende Bedeutung für die Verfasstheit der muslimischen Gesellschaft zu. Sie machen die Jungen zu ‚Prinzen‘, verwöhnen sie und lassen sie nicht erwachsen werden. Sie weisen den Mädchen (und Schwiegertöchtern; HK) die Rolle als dienende Wesen zu.
Sie, die selbst in dem patriarchalischen System gefangen sind, erfinden es immer
wieder neu.“ (Pos. 894/899) Dies ist nicht das einzige Paradoxon in der Stellung
der Mutter innerhalb der Familie. Aber es zeigt, dass zur Modernisierung der
menschlichen Beziehungen in der muslimischen Familie und Gesellschaft nicht
nur die Emanzipation der Frauen von den Männern, sondern auch die Emanzipation der Kinder von ihren Eltern nötig ist.
Ein Abschnitt behandelt das Thema „Homosexualität“, die im Islam grundsätzlich
abgelehnt wird und schwere Strafen bis hin zur Todesstrafe nach sich zieht. Auch
hier gelten für Frauen strengere Regeln als für Männer. Die Autorin sagt dazu:
„Es hat in der muslimischen Community nie auch nur die Andeutung einer sexuellen Revolte gegeben. Über Sexualität wird überhaupt nicht offen gesprochen,
deshalb beherrscht sie auch die Köpfe der Menschen.“ (Pos. 950)
Weitere Abschnitte haben die Beschneidung, gewisse Speisegesetze (Alkoholverbot und Schweinefleischverbot) und Festbräuche zum Thema, die teilweise aus
vorislamischer Zeit übernommen wurden und von der Autorin als identitätsstiftende Traditionen ohne religiösen Sinn interpretiert werden. Dabei lehnt sie vor
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allem die Beschneidung, insbesondere die sehr viel gravierendere der Mädchen,
als Eingriff in die körperliche Integrität der Kinder strikt ab. Auch die Art der
Bekleidung kann sowohl bei Männern, als auch bei Frauen bewusst als Merkmal
zur Hervorhebung der muslimischen Identität benutzt werden.
Im zweiten Kapitel dieses Teils berichtet die Autorin über Moscheebesuche in
Deutschland. Es geht ihr dabei um die Frage, ob die staatliche Förderung des Baus
von Moscheen, zu denen meist auch ein Gemeindezentrum und eine Umgebung
mit muslimischen Läden, Handwerkern, Reisebüros und anderen Dienstleistungen gehört, tatsächlich die Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft erleichtert und fördert, was die offizielle Zielsetzung ist. Es ist hier nicht der Ort,
auf diese Episoden im einzelnen einzugehen. Der Gesamteindruck ist jedoch ernüchternd. Die Moscheen und Gemeindezentren werden durch die muslimischen
Vereine und die hinter ihnen stehenden islamistischen Geldgeber beherrscht und
haben nicht die bei der Förderung mit deutschen Steuergeldern auch beabsichtigte
Funktion von Begegnungsorten zwischen muslimischen Einwanderern und Einheimischen anderer Religionen oder auch Religionslosen. Sie dienen vielmehr als
orthodoxe Zentren einer Parallelgesellschaft, die sich nicht öffnet, sondern abschliesst und durch diese Zentren zusätzlich an Autonomie gewinnt, die sie nicht
zuletzt auch zur Missionierung sowie zur Beeinflussung und Disziplinierung der
eigenen Gemeinschaft in islamistischen Sinn benutzt. Die Autorin fragt denn
auch, warum die hierfür ausgegebenen Steuergelder nicht für Massnahmen eingesetzt wurden und werden, von denen tatsächlich ein Integrationsbeitrag erwartet
werden kann, so insbesondere die Förderung der Deutschkenntnisse, die frühkindliche Bildung und die Förderung der Gleichberechtigung der Frauen.
Das dritte Kapitel dieses Teils beschäftigt sich, wiederum anhand von ganz konkreten Fällen mit der türkischen Einwanderung nach Deutschland. Gegenwärtig
leben in Deutschland etwa fünf Millionen Muslime, davon rund drei Millionen
Türken, in der Europäischen Union sind um die 25 Millionen Muslime. Die Zahlen werden trotz der verschärften Einwanderungspolitik wegen der Flüchtlingsströme und wegen der wesentlich höheren Geburtenraten der muslimischen Frauen weiterhin stark zunehmen. „Die Auseinandersetzung mit dem, was Islam ist
und wie er gelebt wird, berührt also den Kern der europäischen Zukunft.“ (Pos.
1659) Diese Auseinandersetzung findet gewissermassen auf zwei völlig verschiedenen Ebenen statt. Die eine Ebene sind die türkischen bzw. türkisch-stämmigen
Funktionäre und Politiker in der Türkei und in Deutschland, die andere Ebene sind
die Migranten selbst.
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Die Funktionäre und Politiker pflegen einen Opfermythos, nach dem sich die Einwanderer für die Entwicklung Deutschlands verausgabt, aber niemals die hierfür
geschuldete Anerkennung erhalten hätten. Statt sie mit allem Respekt für ihre
Sprache, Religion und Lebensart zu integrieren, habe die deutsche Mehrheitsgesellschaft sie ausgegrenzt und damit die weit verbreitete Frustration und Abneigung der Einwanderer und die in manchen Fällen daraus resultierende Radikalisierung selbst verschuldet. Integration wird hier als reine Bringschuld der Einheimischen gegenüber den Einwanderern betrachtet. Die konkrete Forderung an den
Staat ist im allgemeinen einerseits mehr Geld, das die Funktionäre und Politiker
dann verwalten und verteilen können und anderseits mehr Autonomie, was, wie
das vorherige Kapitel gezeigt hat, in der Praxis die Integration eher behindert als
fördert.
Nun ist Integrationsbereitschaft sicherlich auch eine Verpflichtung für die Einheimischen. Sie lässt sich aber nur realisieren, wenn die Einwanderer ebenfalls integrationsfähig und -bereit sind und von ihrer eigenen Gemeinschaft und deren
Führern nicht von der Integration abgehalten werden. Genau daran fehlt es aber
vielfach, und zwar nicht nur auf der individuellen Ebene des Einwanderers, sondern auch auf der Ebene der Funktionäre und Politiker. Dennoch haben sich viele
Einwanderer mehr oder weniger gut integriert, und die Hoffnung, dass bei ihren
Kinder und Enkeln dereinst „die familiäre Zuwanderungsgeschichte irgendwann
keine Rolle mehr für ein erfolgreiches Leben in der Gesellschaft spielt“ (Pos.
1717), ist durchaus realistisch. Aber allzu viele erfüllen die Voraussetzungen der
Integrationsfähigkeit und -bereitschaft nicht, bleiben in der Parallelgesellschaft
gefangen und folgen den Parolen integrationsfeindlicher Führer. Die geglückte
und misslungene Integration wird mit nach Meinung der Autorin exemplarischen
Fallbeispielen ausführlich illustriert.
Im vierten Kapitel wird ausführlich die Situation der Frauen und Mädchen in der
muslimischen Familie und Gesellschaft geschildert. Dies ist notwendig. Denn:
„Die konfliktsreichsten Unterschiede (zwischen der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft und den muslimischen Einwanderern) betreffen fast immer das
Verhältnis von Männern und Frauen.“ (Pos. 1985) Die beiden grundlegenden Probleme, aus denen alles weitere folgt, sind die folgenden: „Tief hat sich das Bild
von der Frau als Verführerin, als Abgesandte des Teufels und Sünderin ins muslimische Bewusstsein eingegraben. Die Frau als Versucherin muss überwacht und
kontrolliert - in der Diktion muslimischer Männer heisst es: ‚beschützt‘ - werden.“ (Pos. 1999) Dazu kommt, dass die Frauen in der familiären und gesellschaftlichen Hierarchie auf der untersten Stufe stehen und das bedeutet: dienen und gehorchen. Da die Mädchen wiederum unter den älteren Frauen stehen, werden sie
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nicht nur von allen männlichen, sondern auch von den älteren weiblichen Mitgliedern der Familie unterdrückt und mit den Mitteln der „schwarzen Pädagogik“ abgerichtet. Was das konkret bedeutet, wird von der Autorin im Detail und mit
zahlreichen Beispielen geschildert, wobei die „Ehre der Familie“, die daraus folgende sexuelle Unterdrückung und der damit einhergehende Verlust von Autonomie und Freiheit im Vordergrund stehen.
Ein spezielles fünftes Kapitel widmet die Autorin dem Streit um das Kopftuch.
Das Tragen des Kopftuchs kann sehr Unterschiedliches bedeuten. Wenn es von
anderen erzwungen wird, ist es ein Symbol für die Unterdrückung der Frau im
traditionellen Islam. Wenn es von der Frau freiwillig getragen wird, kann sie damit ihre Religiosität, d.h. ihre Unterwerfung unter ihren Glauben zeigen und/oder
ihre muslimische Identität in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft sichtbar machen. Es kann auch ein Protest gegen die lockeren Bekleidungssitten in der Mehrheitsgesellschaft sein. Kelek akzeptiert das freiwillig getragene Kopftuch, gibt
aber zu bedenken, dass dies der Integration nicht förderlich ist, weil ja der Aussenstehende das konkrete Motiv einer konkreten Kopftuchträgerin nicht kennt und
daher nicht wissen kann, ob Zwang und Unterdrückung oder eigene bewusste Distanzierung von der Mehrheitsgesellschaft dahinter stehen.
Im übrigen zeigt Kelek, dass die religiöse Begründung des Kopftuchs auf schwachen Beinen steht und dass tatsächlich während annähernd hundert Jahren bis zur
iranischen Revolution von 1979 in vielen muslimischen Ländern die Verschleierung ungebräuchlich wurde. Erst im Gefolge der iranischen Revolution hat die
Verschleierung wieder stark zugenommen. Beides dürfte inzwischen allgemein
bekannt sein, beeindruckt aber die Islamisten in keiner Weise, da sie nur ihre eigene Interpretation des Korans, der Hadithen und der Scharia gelten lassen.
Vehement wendet sich die Autorin gegen die Verschleierung bzw. das Kopftuch
für Mädchen. Wenn man die Erziehung in traditionellen muslimischen Familien
in Betracht ziehe, könne man nicht davon ausgehen, dass Kinder frei darüber entscheiden könnten, ob sie das Kopftuch tragen wollen oder nicht. Die Entscheidung
einfach den Eltern zu überlassen und mit deren Religionsfreiheit zu begründen,
sei nicht akzeptabel. Erstens sei nämlich nicht nachweisbar, dass es sich überhaupt
um eine religiöse Pflicht handle, und zweitens stünden hier Elternrecht und Kindeswohl bzw. verschiedene Grundrechte einander gegenüber, und man könne
nicht einfach das Elternrecht und die Religionsfreiheit a priori dem Kindesrecht
auf Integration und eine Entwicklung zu Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung überordnen. Wenn ein Kind nach einer solchen Entwicklung selbst
das Kopftuch tragen wolle, sei dies zu akzeptieren. Aber diese Entscheidung dürfe
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nicht durch die Eltern vorweggenommen werden. Kelek schlägt vor, den Mädchen die Entscheidung mit der Erreichung der Religionsmündigkeit, also in
Deutschland mit vierzehn Jahren, zu überlassen, und das Kopftuch für jüngere
Mädchen zu verbieten.
Islam und Politik
Der vierte Teil des Buchs behandelt das Verhältnis von Islam und Politik. Im
ersten Kapitel wird historisch weit ausgeholt und die Stagnation des islamischen
Denkens seit neunhundert Jahren erklärt, die auch von vielzitierten heutigen „Reformern“ nicht wirklich überwunden wird. Man kann die europäische Entwicklung der letzten zweitausend Jahre als eine Geschichte der Trennung von Religion
und Wissenschaft sowie von Kirche und Staat beschreiben. Auch im Islam hat es
nach den grossen Eroberungen des 7. und 8. Jahrhunderts in der kulturellen Hochblüte des 9. und 10. Jahrhunderts vor allem in Bagdad und Cordoba Ansätze für
eine Trennung von Wissenschaft und Religion gegeben, die zu einem kulturellen
Niveau führten, welches das damalige Europa bei weitem übertraf. In Bagdad
wurde diese Blüte durch den Einfall der Seldschuken (1055) beendet, in Cordoba
später durch innere Streitigkeiten bei den Muslimen und den Druck der Reconquista.
In dieser schwierigen Wendezeit richtete Al-Ghazali (1058-1111) im Osten den
Blick nach innen auf ein gottgefälliges Leben und zurück auf den Koran und die
Hadithen, aus denen er die Anleitung dazu bezog. Die Wissenschaft, die er zuvor
selbst intensiv betrieben hatte, lehnte er nun als nutzlos für die eigentliche
Bestimmung des Menschen ab. Seine Schrift „Wiederbelebung der Wissenschaft
von der Religion“ enthält auch „einen Leitfaden für eine an der Scharia orientierte
wahrhaft muslimische Lebensführung“ . . . eine „Art Katechismus eines gottgefälligen Lebens.“ (Pos. 2610) Nur wenig später konnte Ibn Ruschd (Averroes.
1126-1198) im Westen immer noch die Trennung von Wissenschaft und Religion
propagieren. Während er damit in Europa bekannt wurde und die weitere europäische Entwicklung wesentlich beeinflusst hat, „erregte (er) mit seinen Schriften
das Missfallen der Ulemma“ . . . und „der Kalif, der ihre Unterstützung im Kampf
gegen die christliche Reconquista brauchte . . . folgte ihrem Urteil. Er verbannte
Ibn Ruschd und liess seine Werke verbrennen.“ (Pos. 2625) Ibn Rushds Position
verschwand aus dem muslimischen Denken. Die Position des bis heute von den
Muslimen hochverehrten Al-Ghazali blieb und führte in eine Stagnation, aus der
der Hauptstrom des muslimischen Denkens bis heute nicht wirklich herausgefunden hat. Dies zeigt die Autorin, nicht ohne Polemik, am Beispiel von drei heutigen
„Reformern“: Mohammed Abed Al-Jabri, Fethullah Gülen und Tariq Ramadan.
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Im zweiten Kapitel dieses Teils geht es um die Deutschen und den Islam. Und hier
holt die Autorin nun definitiv viel zu weit aus. Es hätte genügt, die für die Deutschen wie für alle West- und Mitteleuropäer wesentlichen Stichworte kurz zu erklären, so insbesondere: die religiöse Feindschaft gegen den Islam, die Kreuzzüge, die Reconquista, das osmanische Reich auf der religiösen und gewissermassen aussenpolitischen Seite, Renaissance, Reformation und Aufklärung auf
der geistesgeschichtlichen Seite und die Trennung von Kirche und Staat auf der
innenpolitischen Seite. Zusätzlich wäre darauf hinzuweisen, dass das deutsche
Verhältnis zu der Herkunftsregion der muslimischen Einwanderer in den letzten
zweihundert Jahren wesentlich weniger belastet war als dasjenige der ehemaligen
Kolonialmächte England und Frankreich. Alles das kommt in diesem Kapitel auch
tatsächlich irgendwo vor. Aber die Darstellung ist zu wenig fokussiert, auch wenn
sie je nach den Interessen des Lesers durchaus lesenswert sein mag. Das Ziel dieses Kapitels müsste eine Erklärung des politischen Verhaltens der deutschen
Mehrheitsgesellschaft bzw. ihrer Politiker vis-à-vis ihrem politischen Gegenüber,
den muslimischen Einwanderern bzw. ihren selbsternannten Vertretern, sein.
Diese selbsternannten Vertreter sind der Gegenstand des dritten Kapitels mit dem
sprechenden Titel: Die Islamverbände zwischen Demokratie und Scharia. Die
Autorin zeichnet zuerst die historische Entwicklung der Islamverbände nach. Da
es im Islam keine kirchenähnliche Organisation gibt, aber gleichwohl die Gemeinschaft der Gläubigen von fundamentaler Bedeutung ist, gründeten die Einwanderer Moscheevereine auf konfessioneller und ethnischer Basis, deren interner
Führungs- und externer Vertretungsanspruch sehr umfassend war und ist, da ja
der Islam keine Trennung der einzelnen Lebensbereiche kennt bzw. akzeptiert.
Da die Einwanderer selbst die erforderlichen personellen und materiellen Mittel
nicht aufbringen konnten, suchten und fanden sie die Unterstützung ihrer Heimatländer sowie von reichen religiösen Stiftungen, Machthabern und Geschäftsleuten, vorwiegend mit traditioneller und streng religiöser Prägung, die auch einen
entsprechenden Einfluss auf die Vereine und Verbände ausüben.
Die Autorin lässt dann, wiederum nicht ohne Polemik, die wichtigsten Islamverbände und ihre Politik Revue passieren. Der Eindruck, den der Leser gewinnt, ist
erstens derjenige einer sehr grossen Vielfalt. „Innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gibt es fast über jede Frage des religiösen Lebens Streit.“ (Pos. 3944)
„Es gibt keinen Konsens unter Muslimen, wie ihre Religion gelebt werden soll.
Letztlich ist der Islam immer das, was der einzelne Imam predigt.“ (Pos. 3954)
Zweitens scheinen bei allem internen Streit die Islamisten doch den vergleichsweise stärksten Einfluss auszuüben, was nicht zuletzt auf die externen Einflüsse
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auf die Islamverbände zurückzuführen sein dürfte. Und drittens scheinen die Vertreter der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft mangels genügender Sachkenntnis, gehemmt durch die Schatten der deutschen Vergangenheit und eine moralisierende veröffentliche Meinung und natürlich demokratisch uneinig eher
schwache Verhandlungspartner zu sein.
In einem kurzen letzten Kapitel ruft die Autorin zu einer grundlegenden Reform
des Islam auf. Die Trennung von Religion und Wissenschaft sowie von Religion
und Politik und die Anerkennung der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung müssen die Ausgangspunkte für eine solche Reform sein. Die Religion ist
die Basis der individuellen Spiritualität und nicht ein Regelwerk für alle Lebensbereiche und -äusserungen. Die Anerkennung des westlichen Menschenrechtsverständnisses und die Treue zur Verfassung müssen ohne Abstriche verlangt und
gelebt werden. Das erst wird die Muslime innerhalb ihrer Organisationen wie
auch innerhalb des Staats demokratiefähig machen. „Es gilt der Grundsatz, dass
Religion Teil der Freiheit ist und nicht über ihr steht.“ (Pos. 4096)
Abschliessende Bemerkungen
Möglicherweise würden sich viele Leser, die dieses letzte Kapitel des Buchs läsen, ohne zuvor alles andere von vorne an gelesen zu haben, darüber wundern,
dass solche Forderungen heute mitten in Europa überhaupt nötig erscheinen. Das
würde beweisen, dass solche Bücher, von denen es ja inzwischen etliche, und
zwar bezeichnenderweise vor allem von (ursprünglich) muslimischen Frauen
gibt, notwendig sind. Die konkrete Erfahrung und das konkrete Beispiel zeigen
eine lebensweltliche Relevanz, die sich aus rein theoretischen und erst recht aus
rein dogmatischen Information nicht ohne weiteres erschliesst. Und die gelegentliche Polemik ist nicht nur angesichts der geschilderten Tatsachen nachvollziehbar, sondern bringt die Dinge auch auf den Punkt, was für die weitere Diskussion
durchaus nützlich ist.
Einige Schwächen des Buchs wurden bereits angesprochen. Hier sei ein letzter,
m.E. sehr wichtiger Punkt abschliessend erwähnt. Persönliche Erfahrung ist gut,
repräsentative empirische Aussagen wären besser. Daran scheint es zwar in bedauerlich hohem Mass zu fehlen, wofür nicht zuletzt die Existenz von Parallelgesellschaften und ihre interne Unfreiheit mitverantwortlich sein dürften. Aber was
es an repräsentativen empirischen Ergebnissen gibt, hätte systematisch in das
Buch eingearbeitet und referenziert werden müssen, und Anregungen zu Fragestellungen und Forschungsdesign weiterer notwendiger Untersuchungen wären
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ebenfalls willkommen. Vor dem Hintergrund ihrer Ausbildung und ihrer Kenntnisse und Erfahrungen wäre die Autorin dazu in der Lage gewesen. Das leichte
Argument, dass ihre Beispiele nicht repräsentativ und in der grossen Mehrheit
aller Fälle die Verhältnisse völlig anders seien, würde ihren Gegnern dann etwas
schwerer fallen.
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10. Ayaan Hirsi Ali, Reformiert Euch! Warum sich der Islam ändern muss
München 2015, 304 S.
Hier besprochen und zitiert nach der Kindle e-book Ausgabe.
Einleitung - Ein Islam, drei muslimische Gruppierungen
Bereits die ausführliche Einleitung des Buchs von Hirsi Ali hat es in sich. Die
Autorin scheut sich nicht, von ihrem Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit Gebrauch zu machen - trotz massiver Drohungen militanter Islamisten und trotz
indignierter Ausgrenzung durch auf ihre Weise ebenso militante „politisch Korrekte“ und „Tolerante“ im Westen. Ich habe es deshalb für geboten gehalten, die
Autorin mit möglichst vielen wörtlichen Zitaten selbst zu Wort kommen zu lassen.
Rund um die Welt werden täglich im Namen des Islam grauenhafte Verbrechen
an Menschen begangen, die nach nicht-islamischen Vorstellungen unschuldig
sind. Diese Verbrechen werden nicht selten in mehrheitlich islamischen Gesellschaften von den Massen als Verteidigung des Islam bejubelt und von islamischen
Theologen mit Verweis auf den Koran und die Hadithe gerechtfertigt. Im Westen
hingegen weigern sich die tonangebenden Interpreten, die Urheber dieser Verbrechen im Namen des Islam beim Wort zu nehmen. Sie behaupten vielmehr, der
Islam sei eine Religion des Friedens, und die Verbrechen hätten mit dem „eigentlichen“ Islam nichts zu tun. Stattdessen sucht man die Gründe in mangelnder Integration, sozialer und wirtschaftlicher Ausgrenzung und der gegenwärtigen und bis
zu den Kreuzzügen zurückreichenden westlichen Politik gegenüber dem Islam.
Führer der Muslime in der westlichen Diaspora sprechen ganz einfach von Islamophobie und scharen damit eigenartige Koalitionen von politisch Korrekten und
Toleranten aller Art hinter sich, die nicht verstehen, dass sie selbst am meisten
von einem militanten Islam zu befürchten haben.
Gegenüber der tonangebenden Meinung im Westen sind zunächst einige offenkundige Tatsachen anzuführen, mit denen sich Hirsi Ali allerdings nicht aufhält,
da es ihr um Grundsätzlicheres geht. So findet die Masse der Verbrechen im Namen des Islam in mehrheitlich islamischen Ländern statt, wo die Argumentation
mit der Schuld des Westens nicht weiterhilft. Das gilt zweitens weitgehend auch
bezüglich derjenigen islamistischen Verbrechen, die im Westen, jedoch innerhalb
der muslimischen Gemeinschaft begangen werden. Drittens ist bei denjenigen islamistischen Verbrechen, die sich im Westen gegen Nicht-Muslime richten zwischen den Ausführenden und den Drahtziehern zu unterscheiden. Nur bei den
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Ausführenden können die Argumente mangelnder Integration, sozialer und wirtschaftlicher Ausgrenzung usw. in vielen Fällen mit einiger Berechtigung ins Spiel
gebracht werden, viel weniger oder gar nicht bei den Drahtziehern und bei den
offen oder schweigend Zustimmenden. Was schliesslich die westliche Politik gegenüber dem Islam seit den Kreuzzügen angeht, darf man immerhin darauf hinweisen, dass hier mit zweierlei Mass gemessen wird. Die westliche Hälfte des
muslimischen Reiches seit den Omayyaden von Damaskus bis Cordoba und seit
den Osmanen von Anatolien bis zur Balkanhalbinsel war vor der islamischen Eroberung christlich. Die Rückeroberung der iberischen Halbinsel, Siziliens und der
Balkanhalbinsel sowie der Versuch zur Rückeroberung Palästinas sind nur dann
ein Frevel, wenn man a priori die höhere Wahrheit und Würde des Islam gegenüber allen anderen Religionen unterstellt. Ohne diese Prämisse sind die mittelalterlichen und neuzeitlichen Kriege der Christen gegen die Muslime ebenso gerechtfertigt oder abscheulich wie die Kriege der Muslime gegen die Christen. Was
sich im Lauf der Zeit änderte, war nur die militärische Überlegenheit.
Zurück zu Hirsi Ali. „Es ist schlicht töricht zu behaupten, . . . die Gewaltakte
radikaler Islamisten liessen sich von den religiösen Idealen trennen, von denen sie
inspiriert sind. Wir müssen vielmehr erkennen, dass hinter diesen Gewaltakten
eine politische Ideologie steht, eine Ideologie, die im Islam selbst verwurzelt ist,
in dessen heiligem Buch, dem Koran, sowie in den ‚Hadith‘ genannten Überlieferungen über das Leben und die Lehren des Propheten Mohammed. . . . Der
Islam ist keine Religion des Friedens.“ (Pos. 61) Und: „Das grundlegende Problem ist, dass die Mehrheit der ansonsten friedlichen und gesetzestreuen Muslime
nicht bereit ist einzugestehen, dass die theologische Rechtfertigung für Intoleranz
und Gewalt in ihren eigenen religiösen Texten verwurzelt ist, und schon gar nicht,
sich von diesen Texten zu distanzieren.“ (Pos. 208) Aber: „Offenbar ist es heutzutage ein Verbrechen, die Wahrheit über den Islam zu sagen. ‚Hassrede‘ ist das
moderne Wort für Häresie. Und in der derzeitigen Stimmung wird alles, was den
Muslimen Unbehagen bereitet, als ‚Hass‘ gebrandmarkt.“ (Pos. 61/72) „Ich plädiere für nichts Geringeres als eine Reformation des Islam. Ohne fundamentale
Veränderungen einiger Kernkonzepte des Islam werden wir meiner Meinung nach
die brennenden und zunehmenden globalen Probleme der im Namen dieser Religion ausgeübten politischen Gewalt nicht lösen.“ (Pos. 72/77) Damit ist das Programm für das Buch umrissen.
Die Frage ist natürlich, welche Chancen eine solche Reformation des Islam haben
könnte. Um dies abzuschätzen, teilt Hirsi Ali die muslimische Gemeinschaft in
drei Gruppen auf. Die erste Gruppe sind die Fundamentalisten, die den Koran und
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die Hadithe wörtlich nehmen und mittels des Abrogationsprinzips bei Widersprüchen die jüngeren medinensischen Suren auch und gerade dann für massgebend
halten, wenn sie totalitär und gewalttätig sind. Hirsi Ali nennt sie daher die Medina-Muslime. Von den Medina-Muslimen ist keine Bereitschaft zu Reformen im
Sinne von Hirsi Ali zu erwarten. Sie verstehen unter Reform vielmehr die integrale Rückkehr zum medinensischen Islam des 7. Jahrhunderts.
Die zweite Gruppe sind die Mekka-Muslime. Sie halten sich persönlich an das
Glaubensbekenntnis und die fünf Säulen des Islam und versuchen auch sonst, den
Vorschriften und Traditionen ihrer Religion nachzuleben. „Doch die MekkaMuslime haben ein Problem. . . . Die rationalen säkularen und individualistischen
Werte der Moderne wirken sich stark zersetzend auf traditionelle Gesellschaften
aus, vor allem auf Hierarchien, die auf Geschlecht, Alter und ererbtem Status basieren.“ (Pos. 276) In einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft ist es zwar
bis zu einem gewissen Grad möglich, religiöse und gesellschaftliche Traditionen
beizubehalten und gleichwohl moderne Technologie zu benutzen. „Doch im Westen, wo der Islam eine Minderheitsreligion ist, leben Muslime in einem Zustand,
der sich am besten mit kognitiver Dissonanz beschreiben lässt.“ (Pos. 282) „Viele
vermögen diese Spannung nur aufzulösen, indem sie sich in selbst geschaffene
(und zunehmend autonome) Enklaven zurückziehen.“ (Pos. 287) Aber diese zweideutige Lösung erweist sich häufig nicht als nachhaltig. Früher oder später stellt
sich für manche eben doch die Frage nach einer eindeutigen Lösung, sei es in der
Form der Abkehr vom Islam, sei es in der Rückkehr zum integralen medinensischen Islam. Hirsi Ali glaubt, dass es eine dritte Lösung gäbe, nämlich einen
grundlegend reformierten Islam, der eine Bewahrung der spirituellen und kulturellen Traditionen des mekkanischen Islam und eine tolerante und produktive Interaktion mit der modernen westlichen Gesellschaft ermöglicht. Die Adressaten
dieses Angebots sind die Mekka-Muslime. „Ich habe die Hoffnung, diese zweite
Gruppe von Muslimen, die Mekka näherstehen als Medina, in einen Dialog über
die Bedeutung und Ausübung ihres Glaubens verwickeln zu können.“ (Pos. 293)
Die dritte Gruppe sind die muslimischen Dissidenten oder Reform-Muslime, zu
denen sich Hirsi Ali zählt. „Die Mehrheit der Dissidenten sind Gläubige, die für
eine Reform eintreten - unter ihnen Geistliche, die erkannt haben, dass ihre Religion sich ändern muss, wenn deren Anhänger nicht zu einem endlosen Kreislauf
politischer Gewalt verdammt sein sollen.“ (Pos. 298) Allerdings: „In den Augen
der Medina-Muslime sind wir alle Häretiker, weil wir es wagen, die Anwendbarkeit von Lehren aus dem 7. Jahrhundert auf die Welt des 21. Jahrhunderts anzuzweifeln.“ (Pos. 304) Die Reform-Muslime sind, auch im Westen, zumindest in
der öffentlichen Wahrnehmung noch wenige, und sie leben gefährlich, während
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umgekehrt die Medina-Muslime sowohl in den muslimischen Ländern als auch
im Westen die öffentliche Wahrnehmung beherrschen und an Zahl und Bedeutung
zunehmen. Dies ist eine grosse Gefahr für alle Andersdenkenden gerade auch in
den muslimischen Ländern und für die grundlegenden Menschenrechte nach
westlicher Interpretation. Diese Gefahr kann nicht durch Appeasement, Integration und wirtschaftliche Entwicklung gebannt werden. Nötig ist eine grundlegende Reform des Islam, wie sie von den Reform-Muslimen angestrebt und in dem
Buch im weiteren vorgestellt wird.
„Wir (Reform-Muslime; HK) machen uns vor, unsere grössten Feinde (die Medina-Muslime; HK) würden nicht durch die Ideologie angetrieben, zu der sie sich
offen bekennen. Und wir setzen unsere Hoffnungen auf eine Mehrheit (die Mekka-Muslime; HK), der es sichtbar an einer glaubhaften Führung mangelt und die
für die Argumente der Fanatiker offensichtlich empfänglicher ist als für jene der
Dissidenten.“ (Pos. 415) Deshalb: „In diesem Buch zeige ich, dass Glaubenslehren (und nicht nur wirtschaftliche, soziale und politische Umstände; HK) von Bedeutung sind und reformiert werden müssen.“ (Pos. 399) „Ich habe fünf für diesen
Glauben zentrale Konzepte identifiziert, die ihn resistent gegen historischen Wandel und Anpassung machen. Erst wenn diese fünf Konzepte als gefährlich erkannt
und abgelehnt sowie für nichtig erklärt werden, wird eine wahre muslimische Reformation erreicht sein. Die fünf Konzepte, die reformiert werden müssen, sind:
1. Mohammeds Status als Halbgott und Unfehlbarer sowie die wörtliche Auslegung des Korans, vor allem jener Teile, die in Medina offenbart wurden.
2. Die Ausrichtung auf das Leben nach dem Tod statt auf das Leben vor dem
Tod.
3. Die Scharia, die aus dem Koran abgeleiteten Rechtsvorschriften, die Hadithen sowie der Rest der islamischen Rechtslehre.
4. Die Praxis, Einzelne dazu zu ermächtigen, das islamische Recht durchzusetzen, indem sie das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten.
5. Die Notwendigkeit, den Dschihad beziehungsweise den ‚heiligen Krieg‘ zu
führen.“ (Pos. 426/431)
„Wir dürfen nicht länger Einschränkungen in Bezug auf die Kritik am Islam akzeptieren. Wir müssen die Vorstellung zurückweisen, dass nur Muslime über den
Islam sprechen dürfen und jede kritische Überprüfung desselben grundsätzlich
‚rassistisch‘ ist.“ (Pos. 485)
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Die Geschichte einer Häretikerin. Meine allmähliche Abkehr vom Islam
Im ersten Kapitel beschreibt Hirsi Ali ihren religiösen Lebenslauf von ihrer Kindheit als Mekka-Muslimin in Somalia (1969-1977), über ihre langsame Radikalisierung zur Medina-Muslimin in Saudi-Arabien (1977-1978), Äthiopien (19781980) und dann vor allem in Kenia (1980-1992) bis zur Wiederkehr von Fragen
schon in Kenia und dann vor allen in den Niederlanden (1992-2007) und schliesslich zur völligen Lösung vom tradierten Islam in den Niederlanden und zur Formulierung der Reformen in diesem Buch in den USA (ab 2006/2008). Es ist hier
nicht der Ort, über diese aussergewöhnliche Biographie im einzelnen zu berichten. Hirsi Ali meint zwar, ihre religiöse Entwicklung sei nicht wirklich ungewöhnlich. Viele andere hätten Ähnliches erlebt. Das mag für einzelne Etappen zutreffen. Aber das Ungewöhnliche an diesem Lebenslauf besteht gerade darin, dass
darin alle möglichen Einstellungen zur Religion vorkommen, und das wiederum
ist der intellektuellen Begabung, der Ernsthaftigkeit und schliesslich dem überragenden Mut der Autorin geschuldet.
Diese Konsequenz fehlt vielen zweifelnden Muslimen. „Im Islam ist man entweder ein Gläubiger oder ein Nicht-Gläubiger. Es gibt dort keinen Raum für das
Konzept des Agnostizismus. Meine Familie und einige meiner muslimischen
Freunde und Bekannten stellten mich einfach vor die Wahl: Entweder bist du eine
von uns und hörst auf, deine Gedanken über den Islam zu äussern, oder du bist
eine Ungläubige und verlässt den Islam (mit den dafür angedrohten Folgen; HK).“
(Pos. 832) Es sind diese Folgen, die die meisten Mekka-Muslime letztlich immer
wieder vor den Medina-Muslimen einknicken lassen. „Das Problem ist, dass derzeit zu viele junge Muslime Gefahr laufen, von den Predigten der Medina-Muslime verführt zu werden. Die Zahl der Mekka-Muslime mag zwar grösser sein,
doch sie sind zu passiv und träge und haben vor allem nicht den intellektuellen
Impetus, der nötig ist, um den Medina-Muslimen die Stirn zu bieten. Wenn Menschen von Predigern, die zum Dschihad aufrufen, aus ihrer Mitte weggelockt werden und dann ,Allahu akbar‘ brüllend eine Gewalttat begehen, erstarren die Mekka-Muslime in Verleugnung und erklären, die Gewalttat habe nichts mit dem Islam zu tun.“ (Pos.871) Die Autorin vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass dieses
Argument, welches „das Prinzip von seinem logischen Ergebnis“ (ebenda) trennt,
inzwischen nicht nur bei politisch nicht-korrekten Nicht-Muslimen, sondern wegen des Abrogationsprinzips auch bei den Medina-Muslimen nur noch verspottet
werde.
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Warum der Islam sich nie reformiert hat
Im zweiten Kapitel steht die Frage der Veränderungsresistenz des Islam zur Diskussion. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ein erster Grund liegt darin, dass es
im Islam keine Trennung von Spirituellem und Säkularem und daher auch keine
Trennung zwischen Moschee und Staat gibt. Wenn die Religion mit ihren detaillierten Vorschriften alle Lebensbereiche durchdringt und diese Vorschriften
dadurch eben auch religiös überhöht sind, wird jede aus nicht-muslimischer Sicht
vielleicht unwichtige oder rein praktische Frage und Änderung sehr leicht zu einer
religiösen Grundsatzfrage und die vorgeschlagene Änderung zu einem Angriff
auf den Glauben, worauf schwere Strafen stehen. „Diese Verschmelzung von
Geistlichem und Weltlichem bietet eine erste Erklärung, warum es bisher noch
keine muslimische Reformation gegeben hat. Es war nämlich in hohem Mass die
Trennung von Kirche und Staat im frühneuzeitlichen Europa, welche die christliche Reformation erst ermöglichte.“ (Pos. 982) „Die Geistlichen haben Angst,
dass selbst die kleinste Frage zu Zweifel und dieser Zweifel zu weiteren Fragen
führen werde und der fragende Geist schliesslich nicht nur Antworten, sondern
auch Neuerungen verlangen wird. Eine solche Neuerung würde dann einen Präzedenzfall schaffen. Andere Fragende würden sich auf diese Präzedenzfälle berufen und weitere Zugeständnisse fordern.“ (Pos. 965) „Jeder Geistliche, der für die
Trennung von Moschee und Staat eintritt, wird sofort mit einem Bann belegt. Er
wird zu einem ‚Abtrünnigen‘ erklärt, und seine Schriften werden aus den Bücherregalen entfernt. Genau dies unterscheidet den Islam auf fundamentale Weise von
den anderen monotheistischen Religionen des 21. Jahrhunderts.“ (Pos. 970)
Für den Erfolg der protestantischen Reformation spielten drei Faktoren eine wichtige Rolle: die Druckerpresse, die zunehmende Bildung vor allem der Stadtbevölkerung und die Machtkonkurrenz zwischen den europäischen Staaten untereinander und mit dem Papsttum. Ihr Ergebnis war die durchgehende Alphabetisierung vor allem in den protestantischen Ländern, die wissenschaftliche Revolution,
die Aufklärung, die industrielle Revolution und die amerikanische und französische Revolution. „Die Befreiung des individuellen Bewusstseins von hierarchischer und religiöser Autorität (sorgte) dafür, dass sich in jedem menschlichen Betätigungsbereich ein kritisches Denken entwickeln konnte. Jahrhunderte später
hat der Islam immer noch keine vergleichbare Erweckungsbewegung erlebt.“
(Pos. 1010) „Der Islam ist zwar bereit, die technologischen Erzeugnisse des Westens zu nutzen, aber er verweigert sich den zugrunde liegenden Werten, die diese
erst hervorgebracht haben.“ (Pos. 1010/1021)
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Hirsi Ali führt dies letztlich auf den Sieg der äusserst rigorosen Aschari-Schule
im mittelalterlichen innerislamischen Theologen-Juristen-Streit zurück.29 Gegen
diese Tradition sind die liberalen muslimischen Reformer, die es seit dem Beginn
des 20. Jahrhunderts durchaus gegeben hat und von denen Hirsi Ali einige nennt,
letztlich nicht angekommen. Den Sieg haben bisher einmal mehr die rückwärtsgewandten „Reformer“, insbesondere die Muslimbruderschaft, in der Tradition
Al-Ascharis und Al-Ghazalis davongetragen. „Dabei bezogen sie sich in allen
Fällen auf den Koran. Da dieser (als unmittelbares Gotteswort und nicht Menschenwerk; HK) unveränderlich, zeitlos und vollkommen sei, dürfe dessen Inhalt
auf keinen Fall kritisiert, geschweige denn verändert werden. Dies erklärt auch,
warum der Begriff ‚Reform‘ im Islam noch nie positiv besetzt war und alle Neuerungen um jeden Preis verhindert werden müssen.“ (Pos. 1092) „Die Hadithen
(schreiben Mohammed) die Aussage zu, dass seine Generation die beste von allen
sei. Die Generation, die ihm nachfolgen werde, sei die zweitbeste, und so gehe es
weiter abwärts bis zum Ende der Zeiten. Dies ist das genaue Gegenteil der westlichen Fortschrittserzählung.“ (Pos. 1098) Und es erklärt, warum die Muslime und
ihre „Reformer“ in der Not zurückschauen statt nach vorn und die Vergangenheit
zu kopieren suchen, statt etwas Neues zu wagen.
Ein interessantes Phänomen ist die Tatsache, dass „der Islam die dezentralisierteste und gleichzeitig rigideste Religion der Welt (ist). Jeder fühlt sich berechtigt,
jede freie Diskussion abzulehnen.“ (Pos. 1127) „In keiner anderen modernen Religion sind abweichende Meinungen heute noch ein Verbrechen, das mit der Todesstrafe geahndet wird.“ (Pos. 1142/1149) Unter diesen Umständen haben im Westen viele die Hoffnung auf eine islamische Reformation aufgegeben. Hirsi Ali widerspricht. Die drei wichtigsten Erfolgsbedingungen für die protestantische Reformation in Europa, seien heute auch in der muslimische Welt gegeben: die moderne Informationstechnologie, die Urbanisierung und Alphabetisierung und die
Konkurrenz vieler islamischer Staaten. Dazu kommt die weltweite muslimische
Diaspora. Diese Faktoren sind bisher nicht unbedingt als Quellen einer islamischen Erneuerung aufgefallen - eher im Gegenteil. Aber bei näherem Nachdenken bemerkt man doch das grosse Potential, das in ihnen vorerst noch schlummert
und auf das Hirsi Ali vertraut. Sie sieht auch den arabischen Frühling (2011) nicht
als endgültig gescheitert an. Es habe sich um einen Aufstand der Städter gegen
korrupte Diktatoren gehandelt. Als dann die Revolution durch die Medina-Muslime unterwandert und instrumentalisiert worden sei, hätten sich die Städter auch
gegen diese gewendet. Auch wenn die Ziele vorerst nicht erreicht worden seien,
29
Al-Aschari (873-935) ist der Gründer dieser Theologen-Juristen-Schule, zu der auch AlGhazali (1058-1111) gehörte, der in der Literatur meist mit dem Ende des liberalen Denkens
und der kulturellen Blüte im islamischen Bagdad assoziiert wird.
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sei der Geist des Widerspruchs aus der Flasche entwichen und werde nicht wieder
dort eingeschlossen werden können. „Die Unruhe in der heutigen muslimischen
Welt ist weder allein auf die despotischen politischen Systeme noch ausschliesslich auf die Wirtschaftskrise und die durch sie hervorgerufene Armut zurückzuführen. Vielmehr geht sie auf den Islam selbst und die Unvereinbarkeit einiger
Kernelemente des muslimischen Glaubens mit der Moderne zurück.“ Es handelt
sich auch um eine „Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die diese Unvereinbarkeiten bis zum bitteren Ende verteidigen wollen, und jenen, die bereit sind,
sich diesem Problem zu stellen.“ (Pos. 1225/ 1231) Zu den Letzteren zählt sich
Hirsi Ali, und ihre Vorschläge sind die fünf grossen Reformen, die in der Einleitung bereits genannt wurden und in den nächsten Kapiteln näher erklärt werden.
Mohammed und der Koran. Wie die bedingungslose Verehrung des Propheten
und seines Buches Reform verhindert.
„Ein Hauptproblem des heutigen Islam lässt sich in drei einfachen Sätzen zusammenfassen (Pos. 1345):
Die Christen verehren einen Menschen, der vergöttlicht wurde.“ Aber die Bibel
insbesondere das Neu Testament mit seinen verschiedenen Evangelien ist Menschenwerk. Darüber darf man (heute) streiten.
„Die Juden verehren ein Buch.“ Aber die Propheten sind Menschen, und auch das
Alte Testament ist Menschenwerk. Auch darüber darf man streiten.
„Und die Muslime verehren beides.“ Aber das Buch ist unmittelbar Gottes Wort,
und der Prophet wird vergöttlicht. Über beides darf man nicht im geringsten streiten. Wer es dennoch tut, beleidigt Allah, den Koran und den Propheten und ist ein
Häretiker, der, nicht nur nach Meinung von Extremisten, schwer bestraft werden
muss.
Eine Reformation des Islam ist nur möglich, wenn „die Muslime . . . Mohammed
als einen echten Menschen im Kontext seiner Zeit und den Koran als einen historisch konstruierten Text und nicht als eine göttliche Gebrauchsanweisung für das
heutige Leben begreifen.“ (Pos. 1367)
Der erste Abschnitt dieses Kapitels beschäftigt sich mit dem Leben und der Person
Mohammeds, der im Unterschied zu Jesus und den früheren Propheten eben nicht
nur Prophet, sondern auch Staatsoberhaupt und Heerführer war und für den ihm
offenbarten Koran und seine eigene Person absoluten Gehorsam verlangte und
durchsetzte. Aus den umfassenden geistlichen und weltlichen Funktionen Mohammeds folgt, dass der Islam nicht nur eine spirituelle Anleitung zur Verehrung
Gottes ist, sondern auch der durch die Hadithen sehr detaillierte Entwurf einer
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Gesellschaftsordnung mit vielen Anleihen aus der zeitgenössischen altarabischen
Stammesgesellschaft des 7. Jahrhunderts. In ihrer Absolutheit, Detailliertheit und
Unwandelbarkeit und in ihren Durchsetzungsmethoden hat diese religiöse und
weltliche Ordnung totalitären Charakter. „Aus der Sicht eines muslimischen Reformers ist es ein Hauptproblem des Islam, dass die militärischen und patriarchalischen Werte seines Stammesursprungs als geistliche Werte verankert wurden,
die man deshalb auf Dauer einhalten muss.“ (Pos. 1464/1471)
Was früher Stammeskriege und Raubzüge waren, werden jetzt Kriege zwischen
Muslimen und Ungläubigen, die als religiöse Pflichterfüllung (Dschihad) überhöht werden, aber den traditionellen Regeln für Stammeskriege und Raubzüge
folgen. „Diese zahlreichen Regeln einer Stammeskultur sind ausgesprochen wichtig. Selbst wenn man den Islam reformieren sollte, werden sie wahrscheinlich
weiterexistieren. Eine Trennung von Religion und Staat – eine Unterscheidung
zwischen Mekka und Medina – würde die Probleme nicht beseitigen, die diese
überkommenen Stammesregeln aufwerfen.“ (Pos. 1490)
„Zu den wichtigsten Merkmalen des Stammessystems, das durch den Islam institutionalisiert wurde, gehört das Konzept der Ehre.“ (Pos. 1495) Damit beschäftigt sich der zweite Abschnitt dieses Kapitels. Dieses Konzept der Ehre hängt aufs
Engste mit der Familienstruktur einer patriarchalischen patrilinearen Stammesgesellschaft zusammen und hat mit dem individualistischen westlichen Konzept
nichts zu tun. Die Ehre hängt am Stamm, am Clan und an der Familie, nicht am
Individuum, das nur als funktionales Mitglied der Gemeinschaft eine Rolle spielt.
„Mohammed selbst wird in seiner Doppelrolle als Gottesgesandter und Gründer
des islamischen ‚Superstamms‘ als unangreifbare Quelle der Weisheit und für alle
Zeiten gültiges Vorbild verehrt. Seine Autorität auf irgendeine Weise (z.B. durch
abweichende Meinungen; HK) infrage zu stellen, wird als untragbare Beleidigung
der Ehre des Islam selbst betrachtet.“ (Pos. 1551) Wegen dieser Tabus, was man
sagen und was man nicht sagen darf . . . , sind wir gegenwärtig gar nicht fähig,
eine offene Diskussion . . . zu führen.“ (Pos. 1556)
„So, wie Mohammed einzigartig unter den Propheten war, ist auch der Koran
beispiellos unter den religiösen Schriften. Die Muslime lehrt man bis heute, dass
der Koran eine vollständige und endgültige Offenbarung ist, die weder abgeändert
werden kann noch darf: Er ist buchstäblich Gottes letztes Wort.“ (Pos. 1562) Und
das bedeutet: „Erst wenn der Islam tut, was das Judentum und Christentum bereits
getan haben, nämlich seine heiligen Schriften zu hinterfragen, zu kritisieren und
schliesslich zu modernisieren, können sich die Muslime von einer ganzen Fülle
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anachronistischer und manchmal sogar tödlicher Glaubenssätze und Praktiken befreien.“ (Pos. 1568) Im Vordergrund einer solchen Diskussion müssten, wie Hirsi
Ali in diesem Abschnitt zeigt, das Verhältnis von göttlicher Allmacht und
menschlicher Freiheit und die Frage nach der religiösen Rechtfertigung von Gewalt stehen. Doch eine solche Diskussion „kann nur beginnen, wenn man anerkennt, dass der Koran von Menschen verfasst wurde und zahlreiche innere Widersprüche aufweist.“ (Pos. 1639)
Gläubige Muslime ziehen die Offenbarungsgeschichte des Korans nicht in Zweifel und haben an archäologischen, philologischen, historischen und religionswissenschaftlichen Untersuchungen im besten Fall kein Interesse. Im weniger günstigen Fall werden sie verboten und mit Strafen belegt. Jedoch werden von vorwiegend nicht-muslimischen Wissenschaftern diese Forschungsansätze, die sich bei
der historisch-kritischen Arbeit an der jüdischen und christlichen Tradition bewährt haben, zunehmend auch auf den Koran und die Hadithen angewendet.
Hierüber berichtet Hirsi Ali im nächsten Abschnitt dieses Kapitels. Angesichts
der bisherigen Ergebnisse „ist es . . . schwierig zu leugnen, dass es einen menschlichen Einfluss bei der Zusammenstellung dessen gab, was heute als Koran bekannt ist.“ (Pos. 1685) Ein Beispiel hierfür sind die Aussagen im Koran über die
religiöse Gewalt, die mit zunehmender militärischer Macht des Propheten in seinem medinensischen Staat immer aggressiver werden. Dieses Thema wird im folgenden Abschnitt näher betrachtet. Denn: „Die wörtliche Auslegung des Korans
spielt bei der Anstachelung zu dem blutigen Dschihad, der gegenwärtig in Syrien
und dem Irak (und nicht nur dort; HK) stattfindet, eine grosse Rolle.“ (Pos. 1780)
Damit ist am Ende dieses Kapitels das Leitmotiv wieder angesprochen, die Frage
nach der wörtlichen oder sinngemässen Auslegung des Korans und damit natürlich auch die Frage, wie und von wem eine sinngemässe Auslegung vorgenommen werden könnte. Es ist der Streit zwischen den Literalisten und den Rationalisten, der in der kulturellen Blütezeit des Islam intensiv geführt wurde und am
Ende von den Literalisten für sich entschieden wurde. Der Schlusspunkt war die
Kritik Al-Ghazalis an den Philosophen und die Empfehlung: „Der blinde Gehorsam gegenüber Gott ist der beste Nachweis unseres Islam.“ (Pos. 1808) „Seitdem
sind 900 Jahre vergangen, und trotzdem kommt für viele Muslime Al-Ghazali
immer noch direkt nach Mohammed.“ (Pos. 1813) Aber es gibt „keinen guten
Grund, warum Al-Ghazali . . . bei der Definition des Islam das letzte Wort haben“
sollte. (Pos. 1819) Dazu muss erst einmal anerkannt werden, dass der Prophet ein
fehlbarer Mensch und der Koran das seiner Zeit verhaftete Werk fehlbarer Menschen ist.
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Die den Tod lieben. Die fatale Ausrichtung des Islam auf das Jenseits
„Der Hauptzweck des Lebens liegt in der Vorbereitung auf den Tod. Der Tod ist
das Ziel, das eigentlich wichtige Ereignis, weil nach ihm die Belohnung des ewigen Lebens winkt. Viele Muslime glauben dies mit einer Inbrunst, die aufgeklärte
Menschen im Westen schwer nachvollziehen können. Dagegen wissen die Führer
des IS und ähnlicher Organisationen genau, wie sie sich diese Überhöhung des
Todes zunutze machen können.“ (Pos. 1980/1986)
Natürlich gibt es die Belohnungen im Jenseits nur für ein gottgefälliges Leben im
Diesseits. Besonders hilfreich ist das Martyrium, also der Tod im Dienste Allahs
bzw. im Dschihad und nicht zuletzt im Selbstmordanschlag. Mit letzterem hatte
die islamische Theologie anfangs etwas Mühe, weil der Koran den Selbstmord
verbietet. Die Lösung des Problems ist der Unterschied zwischen dem Selbstmord
mit dem einzigen Zweck der Selbstzerstörung und dem Selbstopfer bzw. Martyrium im Dienste einer guten Sache.
Die Vorstellungen der Muslime vom Paradies und ebenso auch von der Hölle sind
sehr konkret und überraschend weltlich. Sie können sich dabei auf den Propheten
berufen, dem das alles von Gott selbst offenbart wurde und der es bei seiner Reise
in den Himmel mit eigenen Augen gesehen hat.
Die für einen Eroberer des 7. Jahrhunderts ebenso wie für einen heutigen Guerillaoder Sektenführer äusserst praktische Geringschätzung des diesseitigen Lebens
und Erwartung reicher Belohnung im Jenseits hat aber auch noch eine wichtige
nicht-militärische Seite. „Warum sich bemühen, wenn unser Blick nicht auf dieses
Leben, sondern auf das Jenseits gerichtet ist?“ (Pos. 2208) Gemeinsam mit dem
Glauben an die Vorherbestimmung erstirbt so jeder Anreiz sich im Hinblick auf
selbstgesetzte Ziele anzustrengen. Dieser religiös verankerte Fatalismus ist zusammen mit der grundsätzlichen Abneigung gegen Neuerungen auch ein wesentlicher Grund für das jahrhundertelange Zurückbleiben der muslimischen Welt.
Dass dies dann allerdings nicht mit ebensolchem Fatalismus hingenommen wird,
sondern Anlass zu Neid, Hass und allerlei Verschwörungstheorien ist, lässt sich
nicht religiös, sondern nur mit allzu menschlicher Inkonsequenz begründen.
Hier besteht also dringender Reformbedarf. „Erst wenn der Islam seine Fixierung
auf das Jenseits aufgibt, wenn er sich von der verführerischen Legende vom Leben
nach dem Tod befreit, wenn er aktiv für das irdische Leben eintritt und aufhört,
den Tod zu verherrlichen, werden die Muslime mit dem Leben in dieser Welt
zurechtkommen. (Pos. 2260) Hirsi Ali hält dies für möglich. Der Islam habe in
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seinen Schriften wie auch in seiner Vergangenheit und Gegenwart durchaus auch
eine praktische und tätige Seite. Dort müsse man anknüpfen und zugleich die Imame daran hindern, die Gläubigen zu Fatalismus und Martyrium zu verführen.
In den Fesseln der Scharia. Was die Muslime im 7. Jahrhundert gefangen hält
Die Scharia ist die Gesamtheit aller Gebote, Verbote, Empfehlungen und sonstiger Vorschriften, die sich aus dem Koran und den Hadithen für ein gottgefälliges
Leben ergeben. Rechtsgebiete und -probleme, die es im 7. Jahrhundert noch nicht
gab, werden durch Analogieschluss und die gemeinsame Überzeugung der Theologen-Juristen auf der Basis der Scharia entwickelt und entschieden. Auch wo die
Scharia nicht explizit in das staatliche Recht eingegangen ist, ist sie gewissermassen Gewohnheitsrecht und Hintergrund allen rechtlichen und moralischen Denkens. Die Scharia gilt, da gottgegeben und unveränderbar, bis heute unverändert.
Berüchtigt ist die Scharia vor allem einerseits durch ihre nach nicht-muslimischer
Auffassung barbarischen Strafen für Taten, die ebenfalls nach nicht-muslimischer
Auffassung vielfach gar keine Vergehen darstellen oder jedenfalls nicht derart
unverhältnismässige Sanktionen verdienen, und anderseits für ihre massive Benachteiligung der Frauen.
Während das Judentum und das Christentum mit der Trennung von Religion und
Staat die staatlichen Gesetze auch dann als verbindlich anerkennen, wenn sie
ihren eigenen religiösen Gesetzen nicht entsprechen, steht aus islamischer Sicht
die Scharia als gottgegebenes Recht über jedem von Menschen gemachten staatlichen Recht und geht diesem vor. Es bedarf keiner langen Ausführungen, um zu
verstehen, welches Konfliktpotential hierin nicht nur in der muslimischen Diaspora, sondern auch in sich modernisierenden muslimischen Staaten liegt; und
dieses Konfliktpotential wird nicht kleiner sondern grösser. „Die Schere zwischen
dem Rechtssystem des Islam und dem des Westens schliesst sich keineswegs,
sondern klafft vielmehr immer weiter auseinander. Denn die Scharia ist weltweit
auf dem Vormarsch“ (Pos. 2486) und stösst „in der islamischen Welt auf fast universelle Akzeptanz“ (Pos. 2518). „Darüber hinaus ist die Scharia nicht mehr auf
Länder mit muslimischen Mehrheiten beschränkt. In Fragen des Familienrechts
und in Erbschaftsangelegenheiten, in die Muslime involviert sind, wird im Westen
immer öfter auf sie Bezug genommen.“ (Pos. 2529)
Ein besonderes Problem liegt in der islamischen Erlaubnis und Aufforderung zur
gegenseitigen Überwachung und zur Selbstjustiz nach den Regeln der Scharia,
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mit der ein zivilisiertes Rechtssystem jederzeit praktisch unterlaufen werden kann
und tatsächlich auch unterlaufen wird.
Hirsi Ali plädiert als Mindestforderung dafür, dass im Westen keinerlei Konzessionen an die Scharia gemacht werden und Muslime, die hier leben, ausschliesslich nach hiesigem Recht behandelt werden. Es dürften auch keinerlei Parallelgesellschaften geduldet werden, in denen die Scharia halboffiziell oder in der Form
der sozialen Kontrolle und Selbstjustiz angewendet wird. Das scheint wenig, aber
angesichts der Appeasement-Stimmung im Westen wäre es schon viel, und es ist
ja auch nicht ausgeschlossen, dass die Erfahrung von vielen Millionen DiasporaMuslimen mit einem funktionierenden Rechtssystem auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte Denk- und Reformprozesse bei ihnen und über sie hinaus in
der gesamten Umma auslösen könnte.
Soziale Kontrolle beginnt zu Hause. Wie das Gebot, das Rechte zu gebieten und
das Verwerfliche zu verbieten, die Muslime auf Linie hält
In diesem Kapitel wird das koranische Gebot, das Rechte zu gebieten und das
Verwerfliche zu verbieten im Detail und anhand von vielen konkreten Beispielen
behandelt. Diese Form von sozialer Kontrolle, Selbstjustiz und Denunziation ist
fundamental für die Durchsetzung der Scharia mit ihren umfassenden und detaillierten Regelungen aller Lebensbereiche und -äusserungen. „Die Macht des muslimischen Systems basiert darauf, dass die Obrigkeit die soziale Kontrolle nicht
übernehmen muss. Soziale Kontrolle beginnt zu Hause.“ (Pos. 2826) „Es ist fast
immer die engste Familie, die damit beginnt, Freidenker zu verfolgen, das heisst
jene, die Fragen stellen oder etwas Neues vorschlagen.“ (Pos. 2821/2832) Der
potentiell und oft genug tatsächlich totalitäre Charakter muslimischer Gesellschaften basiert auf der Scharia und dieser Form der sozialen Kontrolle und
Selbstjustiz. Dabei ist die Anwendung des Gebots, das Rechte zu gebieten und
das Verwerfliche zu verbieten, immer mehr ausgedehnt worden, so dass es eine
Privatsphäre, wie sie im Mittelalter noch bestand, heute schariarechtlich nicht
mehr gibt. Besonders stark betroffen von alledem sind einmal mehr die Frauen.
Diese Form von sozialer Kontrolle und Selbstjustiz ist wie die Scharia unvereinbar mit den allgemeinen Menschenrechten, insbesondere mit dem Recht auf eine
Privatsphäre und auf persönliche Freiheit in allen ihren Facetten. Sie darf im
Rechtsstaat nicht geduldet werden, und eine Reform des Islam muss sie aufgeben.
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Dschihad. Warum der Aufruf zum „heiligen Krieg“ kein Freibrief für Terror ist
Der Dschihad findet zwar immer noch hauptsächlich innerhalb der muslimischen
Welt statt, hat aber in der Form von Terroranschlägen auch die nicht-muslimische
Welt längst erreicht. Der 11. September 2001 war ein Fanal, aber nicht der Beginn
und schon gar nicht das Ende.
Besondere Aufmerksamkeit finden im Westen Terroranschläge und Kriegsteilnahme von im Westen geborenen und aufgewachsenen Diaspora-Muslimen und
einheimischen Konvertiten. Die politisch korrekte Erklärung dafür sind wirtschaftliche und soziale Probleme, schwierige Familienverhältnisse, Identitätsund Integrationsprobleme, insbesondere junger Männer, und nicht zuletzt gegenwärtige und historische politische Konflikte zwischen dem Westen und der muslimischen Welt bis zurück zu den Kreuzzügen. Aber mit dem Islam als Religion
habe das nichts zu tun. Hirsi Ali weist diese Erklärungen zurück. Denn: „Das Gebot, den Dschihad zu führen, ist im Islam selbst verankert. Der Dschihad ist religiöse Pflicht. Doch die Tatsache, dass die Zahl der Dschihadisten steigt, spiegelt
auch den Einfluss der Strategen hinter dem weltweiten Dschihad wieder.“ (Pos.
3257) Das ist nicht zu bezweifeln. Wie der Islamismus nicht nur im Selbstverständnis der Islamisten zum Islam gehört, so auch der Dschihad; und das gilt insbesondere für die Führer und Ideologen. Bei den Ausführenden mögen im Einzelfall zusätzlich die zuvor genannten Erklärungen mitspielen oder sogar überwiegen.
Hirsi Ali geht auch auf die Behauptung ein, mit dem Dschihad sei eigentlich das
innere Bemühen des Muslims um eine getreuliche Befolgung seiner Religion gemeint. Das ist sicher auch eine mögliche Interpretation. Aber Hirsi Ali gibt zu
bedenken, dass die innere Vervollkommnung sehr leicht in äussere Intoleranz und
Kampfbereitschaft umschlagen könne. Ausserdem zeigt sie anhand konkreter
Texte aus dem Koran, dass der Aufruf zum heiligen Krieg dort tatsächlich und in
eindeutig militärischer Bedeutung zu finden ist, was ja angesichts der Entstehungsgeschichte des Korans und ihrer Parallelität zur militärischen Expansion des
medinensischen Staats auch nicht verwunderlich ist.
Die Leichtigkeit, mit der Interessenten für den Dschihad heute rekrutiert werden
können, hängt nicht nur mit seiner religiösen Verankerung im Koran und den
Hadithen, mit der Jenseitsorientierung des Islam und den versprochenen Belohnungen im Paradies zusammen. Dazu kommt, dass potentielle Interessenten heute
sehr leicht über die sozialen Medien erreichbar sind, und ihrerseits durch die sozialen Medien die Möglichkeit haben, ganz diesseitig zu Aufmerksamkeit und
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Ruhm zu gelangen, was gemeinsam mit der Attraktion der Machtausübung weitere Interessenten anzieht. So gesehen, mag der Dschihad tatsächlich für manche
Dschihadisten neben und im Einzelfall auch vor dem religiösen Motiv noch etliche andere Motive befriedigen. Hirsi Ali ist aber der Meinung, das aufs Ganze
gesehen auch bei den Ausführenden und erst recht bei den Führern und Ideologen
das religiöse Motiv dominiert. Ein wichtiger Beleg dafür ist die zunehmende Unterdrückung und zumindest partielle Vertreibung christlicher Minderheiten in
mehrheitlich muslimischen Ländern, die im Westen erstaunlich wenig Beachtung
findet und an die Hirsi Ali hier erinnert.
„Während das Christentum von Beginn an mit Staaten und Reichen koexistierte
(wenn diese es tolerierten), strebte der Islam von Anfang an danach, Kirche, Staat
und Reich zu sein. . . . Letztlich besteht das Ziel des Islam darin, die Weltherrschaft zu erringen.“ (Pos. 3394) Das klingt absurd, ist es aber nicht. Denn
nach dem Koran wird das Ende der Geschichte dadurch gekennzeichnet sein, dass
alle Menschen Muslime sind. Dann braucht es keinen Dschihad mehr, und der
Islam ist eine Religion des Friedens.
Die politisch korrekte Leugnung des religiösen Motivs der islamistischen Terroristen und Dschihadisten und seiner Verankerung im Koran und den Hadithen
führt zu einer falschen Gegenstrategie. Pointiert gesagt, ist das nicht ein Problem
für Sozialarbeiter. Erforderlich ist zunächst eine intensive Aufsicht über die Religionsvermittlung und -ausübung. Aber das genügt nicht. Die Religion selbst
muss reformiert werden, und dazu müssen die Reformer geschützt und unterstützt
werden. Und alle politischen und religiösen Führer in der muslimischen Welt und
in der Diaspora müssen dazu gebracht werden, endlich eindeutig Stellung zu beziehen und den Dschihad für religiös verboten (haram) zu erklären.
Toleranz im Zwielicht
„Solange Muslime Mohammeds Lehren in Medina so auslegen, dass sie diesen
mehr Loyalität schulden als dem Staat, dessen Bürger sie sind, schwebt über dem
Islam der Verdacht, dass er die Sicherheit dieses Staats gefährdet. Die Kernfrage
für die westliche Zivilisation lautet . . . : Was genau dürfen wir nicht tolerieren?“
(Pos. 3871)
Die Autorin konstatiert, dass nach einer Phase von mehreren Jahrzehnten zunehmender relativer Liberalität in der muslimischen Welt seit den achtziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts die Rechte der Frauen wieder auf dem Rückzug seien.
Dabei gehe es nicht nur um die alltägliche Praxis. Zusätzlich bestehe die Tendenz,
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„den Status der Frauen als Bürger zweiter Klasse rechtlich zu zementieren.“ (Pos.
3888) „Neben den Frauenrechten (sind) auch viele Grundrechte eingeschränkt.
Auf Intoleranz stossen nicht nur Homosexualität und andere Religionen, sondern
vor allem auch freie Meinungsäusserungen gegenüber dem Islam.“ (Pos. 3894)
Statt an grundlegenden Reformen zu arbeiten, die den Islam mit den allgemeinen
Menschenrechten und der modernen Welt kompatibel machen würden, beschäftigen sich die muslimischen Theologen mit spitzfindigen Details schariakonformen
Lebens in der heutigen Zeit. Demgegenüber beharrt die Autorin darauf, „dass
nicht wir in der westlichen Welt auf muslimische Empfindlichkeiten Rücksicht
nehmen müssen. Vielmehr müssen sich Muslime an die freiheitlichen Ideale des
Westens anpassen.“ (Pos. 3919) Tatsächlich ist ja zumindest die grosse Mehrheit
der Diaspora-Muslime äusserlich mehr oder weniger gut an die Mehrheitsgesellschaft angepasst. Aber das Enttäuschende aus der Sicht der Autorin ist die Tatsache, dass diese Mehrheit die freiheitlichen Ideale, von denen auch sie profitiert,
keineswegs verinnerlicht hat, sondern die Zumutungen der islamistischen Minderheit im allgemeinen hinnimmt oder passiv unterstützt statt sie gemeinsam mit
der Mehrheitsgesellschaft aktiv zu bekämpfen.
Aber auch die Mehrheitsgesellschaft versagt angesichts der Bedrohung ihrer fundamentalsten Ideale. „Inzwischen ist das ideologische Selbstvertrauen, das die
westlichen Politiker während des Kalten Krieges ausgezeichnet hat, einem kraftlosen Relativismus gewichen.“ (Pos. 3976) Das ist leider wahr und hat seine eigenen Gründe. Aber auf die diversen NGOs, auf die Hirsi Ali ihre Hoffnungen setzt,
ist vermutlich noch weniger Verlass. Denn zu jeder NGO, die allenfalls bereit
wäre, sich für grundlegende Ideale und Menschenrechte einzusetzen, findet sich
mindestens eine andere, die dem Westen Kultur- und Rechtsimperialismus vorwirft und für die Tolerierung von Parallelgesellschaften eintritt. In einer Demokratie kann es auf die Dauer keinen Graben zwischen der Politik und der Zivilgesellschaft geben. Vielmehr ist am Ende die Politik immer der Spiegel der Zivilgesellschaft. Der „kraftlose Relativismus“ kommt aus den Tiefen der Zivilgesellschaft.
Über das, was der Westen tun sollte, hat die Autorin konkrete und bedenkenswerte
Ansichten. Fundamental ist zunächst die richtige Diagnose des Problems, und diese lautet, dass der Islamismus zum Islam gehört und aus diesem Grund auch von
der Masse der friedlichen Muslime toleriert oder passiv, zuweilen sogar aktiv unterstützt wird. Dann ist aber der Islam das eigentliche Problem, und der Islamismus ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Deswegen genügt es nicht, den Islamismus zu bekämpfen, man muss vielmehr den Islam reformieren. Während der
Westen für die Bekämpfung des Islamismus bei sich und in der muslimischen
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Welt enorme Ressourcen und viele Menschenleben geopfert hat, hat er für die
Reform des Islam nichts getan - im Gegenteil, er hält aus rein opportunistischen
Gründen am Bündnis mit Staaten wie Saudi-Arabien und Katar fest, die ideologisch und finanziell zu den Hauptförderern des Islamismus gehören. Hätte der
Westen nur einen Bruchteil der Ressourcen, die er in die Überwachung und Repression der Islamisten bei sich und in die desaströsen Kriege in der muslimischen
Welt gesteckt hat, für den Schutz und die Förderung muslimischer Reformer eingesetzt, wären wir nach der Überzeugung von Hirsi Ali heute der Lösung der Probleme wesentlich näher.
„Wenn wir die Politik der kulturellen Nichteinmischung weiterbetreiben, werden
wir uns aus der Logik des aktuellen Krieges niemals befreien. Denn mit Luftschlägen, Kampfdrohnen oder sogar mit Bodentruppen allein, lässt sich eine Ideologie
nicht bekämpfen. Wir müssen gegen sie mit - besseren und positiven - Ideen zu
Felde ziehen. Wie im Kalten Krieg müssen wir ihr eine alternative Vision entgegenstellen.“ (Pos. 4002) „Heute stellen viele Dissidenten - ehemalige Muslime
und Reformer - den Islam infrage, werden aber im Westen entweder ignoriert
oder als ‚nicht repräsentativ‘ abgetan - ein schwerer Fehler.“ (Pos. 4035)
Die muslimische Reformation
„Heute tobt innerhalb des Islam ein Krieg zwischen denen, die Reformen verlangen . . . und den anderen, die in die Zeit des Propheten zurückstreben. . . . Sie
kämpfen um die Herzen und Köpfe der weitgehend passiven Mekka-Muslime.“
(Pos. 4097) In diesem Kampf sind die Medina-Muslime zurzeit aus vier Gründen
im Vorteil. Eine grosse Zahl von Mekka-Muslimen wechselt zu den Medina-Muslimen über, während die Reformer um ihr Leben fürchten müssen. Die mediale
Aufmerksamkeit gilt den Medina-Muslimen, während die Reformer unbeachtet
bleiben. Die Medina-Muslime verfügen über enorme Ressourcen, während die
Reformer praktisch mittellos sind. Und die Medina-Muslime geben sich als die
Verteidiger des bisherigen, bekannten und nach der Tradition unveränderbaren
Glaubens, während die Reformer einen neuen, in fundamentalen Punkten von der
Tradition abweichenden Islam wollen.
„Dennoch glaube ich, dass eine muslimische Reformation bevorsteht. Und vielleicht hat sie schon begonnen.“ (Pos. 4107) Für diesen Optimismus trotz allem
führt Hirsi Ali mehrere Gründe an. Der wichtigste ist vielleicht dieser: „Muslime
. . . sind wie alle Menschen: Die meisten wollen für sich und ihre Kinder ein
besseres Leben. Und sie haben zunehmende Gründe, daran zu zweifeln, dass die
Medina-Muslime ihre Wünsche erfüllen können.“ (Pos. 4123) Dazu kommen
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weitere Argumente. Die modernen Medien nützen nicht nur den Extremisten; sie
könnten bei entsprechenden Ressourcen auch die Reformer massgeblich unterstützen. Grosse Hoffnungen setzt Hirsi Ali auf die Frauen, die unter dem traditionellen Islam am meisten zu leiden haben und dies je länger desto besser wissen
und desto weniger hinnehmen. Und die Frauen sind die eine Hälfte der muslimischen Bevölkerung. Wahrscheinlich gäbe es keine andere Massnahme mit so
grosser Wirkung wie die kompromisslose Unterstützung der Frauenemanzipation
in der muslimischen Bevölkerung. Im vorerst gescheiterten arabischen Frühling
sieht die Autorin neben der Hungerrevolte und der Empörung über Korruption
und Repression auch Ansätze einer religiösen Emanzipation, die sich unter anderem darin zeigten, dass die Muslimbrüder auch von der Gesellschaft (und nicht
nur vom Militär) daran gehindert wurden, die Revolution zu stehlen und selbst die
Macht zu übernehmen. Darüber hinaus gibt es nicht nur muslimische Länder, die
den Fortschritt verweigern und frühere Liberalisierungen zurücknehmen, sondern
auch solche die sich, vielleicht zu zaghaft und zu inkonsequent, aber immerhin
modernisieren. Bei alledem werden die Diaspora-Muslime und unter ihnen wiederum vor allem die Frauen eine wichtige Rolle spielen. Hier kommt es darauf an,
die Bildung und Duldung von Paralellgesellschaften konsequent zu bekämpfen
und die Integration in die Mehrheitsgesellschaft ebenso konsequent zu fördern.
Das wird die Radikalisierung einzelner nicht verhindern; aber es wird sie isolieren
und ihre stillschweigende Duldung und Unterstützung vermindern und schliesslich beenden. Hirsi Ali glaubt, dass auch die westliche Mehrheitsgesellschaft nun
langsam einsehen wird, die falsche Diagnose gehabt und die falsche Therapie gewählt zu haben, und dann der islamischen Reformation Schutz und Unterstützung
geben wird.
„Die Morgendämmerung einer muslimischen Reform ist der richtige Augenblick,
um uns daran zu erinnern, dass das Recht, frei und ohne Furcht denken, reden und
schreiben zu können, etwas Heiligeres ist als jede Religion.“ (Pos. 4315)
In einem Anhang stellt die Autorin eine grössere Anzahl von Reformern unter den
Diaspora-Muslimen und in der islamischen Welt sowie in der islamischen Geistlichkeit vor und fordert den Westen auf, sie zu schützen und zu unterstützen.
Schlussbemerkungen
Das Buch von Hirsi Ali kann bei entsprechenden Vorkenntnissen als profunder
Denkanstoss uneingeschränkt empfohlen werden, unabhängig davon zu welchen
Schlüssen der Leser selbst am Ende kommt. Die Autorin verfügt über umfassende
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Kenntnisse des Islam, seiner Geschichte und seiner inneren Auseinandersetzungen, aber auch der europäischen bzw. westlichen Religions- und Geistesgeschichte. Das analytische Niveau ist deutlich höher als in einem grossen Teil der vergleichbaren Literatur, und Reformen werden nicht nur gefordert, sondern sehr klar
spezifiziert und begründet. Der Leser wird in diesem Buch nicht nur, auf die notwendigen Reformen fokussiert, vielem wiederbegegnen, was er aus den übrigen
Büchern dieses Literaturüberblicks bereits kennt, sondern auf die entscheidenden
Argumente der künftigen Auseinandersetzungen vorbereitet. Dass die intellektuelle Auseinandersetzung am Ende wichtiger sein wird als der Terror der einen und
die Angst und Repression der anderen ist Hirsi Alis wichtigste Botschaft; und
diese Botschaft sollte angesichts des eklatanten Misserfolgs der bisherigen Reaktionen auf die islamistische Herausforderung ernst genommen werden. Erst wenn
diese Herausforderung erfolgreich bestanden ist, wird es wieder uneingeschränkt
möglich sein, den spirituellen und kulturellen Reichtum der islamischen Welt so
zu schätzen, wie es zum Beispiel die unvergessene Annemarie Schimmel in ihren
Büchern tun konnte.
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