Bettina Temath Kulturelle Parameter in der Werbung

Werbung
Bettina Temath
Kulturelle Parameter in der Werbung
Bettina Temath
Kulturelle Parameter
in der Werbung
Deutsche und US-amerikanische
Automobilanzeigen im Vergleich
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Zugl. Dissertation Technische Universität Dortmund, 2010
1. Auflage 2011
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Lektorat: Dorothee Koch / Sabine Schöller
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Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-531-17474-7
Danksagung
Mein Dank gilt Prof. Dr. Walter Grünzweig, Lehrstuhl für Amerikanistik an der
TU Dortmund, sowie Prof. Dr. Hartmut Holzmüller, Lehrstuhl für Marketing an
der TU Dortmund, für die Unterstützung und Betreuung meines Promotionsvorhabens.
Ich danke außerdem den vielen Mitarbeitern der Fakultät Kulturwissenschaften an
der TU Dortmund, insbesondere denen des Institutes für Anglistik und Amerikanistik, die mit Anregungen, Kritik und steter Diskussions- und Hilfsbereitschaft zu
dieser Dissertation beigetragen haben.
Der Stiftung der Deutschen Wirtschaft danke ich für die finanzielle und ideelle
Förderung während meiner Promotionszeit.
Meine Eltern, mein Bruder und meine deutschen und amerikanischen Freunde
haben alle auf ihre Weise mitgeholfen, diese Dissertation zu beginnen und zu vollenden. Auch ihnen danke ich herzlich. Ein ganz besonderer Dank geht an Philipp
Radermacher, der mir bei der Fertigstellung mit Rat und Tat unermüdlich zur Seite
stand.
5
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Werbung als visuelles und interkulturelles Phänomen
1.2 Zur kulturwissenschaftlichen Reflexion von Werbung
2 Werbung im interkulturellen und interdisziplinären Kontext
2.1 Kultur als Bedeutungssystem
2.2 Enkodieren/Dekodieren im Werbediskurs
2.2.1 Enkodieren
2.2.2 Dekodieren
2.2.3 Das Publikum als source
2.2.4 Der Text als sinnhafter Diskurs
2.3 Die ökonomische Dimension der Werbung
2.3.1 Status der Werbeindustrie in der BRD und den USA
2.3.2 Ziele der Werbung als Teil des Marketing-Mix
2.3.3 Werbekonzeption
2.4 Werbung, Postmoderne und Globalisierung
2.4.1 Tendenzen der Werbung in postmodernen Konsumgesellschaften
2.4.2 Werbung zwischen Globalisierung und Lokalisierung
2.4.2.1 Konvergenzthese und globale Werbung
2.4.2.2 Zwischen Standardisierung und kultureller Spezifizierung
2.4.2.3 Kulturelle Bilder
3 Methodologische Überlegungen
3.1. Der komparative Ansatz
3.1.1 Anzeigenauswahl
3.1.2 Auto und Autoindustrie in der BRD und den USA
3.1.3 Die diachrone Perspektive
3.2 Methodik der vergleichenden Anzeigenanalyse
3.2.1 Semiotik
3.2.2 Inhaltsanalyse
3.2.3 Anzeigenelemente
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3.2.4 Gestaltungsformen
3.2.5 Analysemodell
4 Anzeigen der Jahre 1980/81 und 2005/06 im interkulturellen
und diachronen Vergleich
4.1 Übergreifende Beobachtungen
4.1.1 Umfang und Struktur der Korpora
4.1.1.1 Fahrzeugtypen
4.1.1.2 Marken und Modelle
4.1.2 Modi der Bild- und Textgestaltung
4.1.2.1 „Rationale“ Repräsentationen im Kontext der Ölkrise 1979
4.1.2.2 Das Vernunft-Emotion-Paradoxon in Anzeigen von 1980/81
4.1.2.3 Emotionalisierung/Visualisierung in Anzeigen von 2005/06
4.1.2.4 Narrativität und Unterhaltsamkeit
4.2 „Rationale“ Argumente
4.2.1 Wirtschaftlichkeit
4.2.2 Technik
4.2.3 Innovation und Fortschritt
4.2.4 Sicherheit
4.2.5 (Funktionales) Design
4.3 Auto(-Fahren) als Triumph
4.3.1 Dominanz im Marktwettbewerb
4.3.2 Gesellschaftliches Prestige
4.3.3 Siegreicher Geschwindigkeitsrausch
4.3.4 Macht und Aggression
4.4 Das Auto zwischen Individualismus und Kollektivität
4.4.1 Automobile Freiheit
4.4.2 Komfort und Privatheit
4.4.3 Freizeitvergnügen und Geselligkeit
4.4.4 Individualität und Popularität
4.4.5 Patriotismus
4.5 Nationen- und Menschenbilder
4.5.1 Nationale und globale Bilder
4.5.2 Menschenbilder
4.5.2.1 Anzahl und Merkmale von Personenabbildungen
4.5.2.2 Alter
4.5.2.3 Schicht
4.5.2.4 Ethnizität
4.5.2.5 Maskulinität
4.5.2.6 Femininität
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228
5 Anzeigen der Jahre 1980/81 und 2005/06 im transkulturellen und
diachronen Vergleich
237
5.1 Umfang und Struktur der Korpora
5.2 Werbestrategien in amerikanischen Anzeigen für deutsche Marken
5.2.1 „Amerikanisierung“ von Modell und Marke
5.2.2 Betonung der deutschen Herkunft
5.2.3 Translokale Gestaltung
5.3 Werbestrategien in deutschen Anzeigen für amerikanische Marken
237
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257
262
6 Resümee und Ausblick
269
7 Literaturverzeichnis
284
8 Tabellarische Übersicht der quantitativen Ergebnisse
305
8.1 Umfang und Struktur der Korpora
8.2 Gestaltungsformate und –modi
8.3 Einzelne Gestaltungsaspekte
8.4 Themenfrequenzen/appeals
8.5 Transkulturelle Strategien
9 Abbildungsverzeichnis
305
305
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9
1
Einleitung
1.1 Werbung als visuelles und interkulturelles Phänomen
Werbung hat in den Informationsgesellschaften der Industrienationen eine unentrinnbare Präsenz erreicht. Dies gilt insbesondere für die USA, deren Werbeausgaben andere Länder bei weitem übertreffen. 1 Auch in Deutschland durchdringt
Werbung mittlerweile alle Lebensbereiche. Hier wie dort konkurrieren täglich Tausende von Logos und Verkaufsbotschaften um die Aufmerksamkeit des Konsumenten.2 Werbung wird bei einem steigenden Medienkonsum – wie bewusst auch
immer – mitrezipiert und folgt den Menschen über internetfähige, mobile Endgeräte auf Schritt und Tritt in eine Alltagswelt, die selbst zunehmend als Werbekulisse
dient: Neben Gebäudewänden, Reklametafeln und Litfaßsäulen hat die Werbung
nun auch Einkaufswagen, WC-Kabinen und sogar Spucktüten im Flugzeug als
Aktionsfelder erobert.
Somit ist Werbung allgegenwärtige mediale Instanz und konstitutiver Teil gesellschaftlicher Realität geworden. Sie ist eng synchronisiert mit geltenden Formen
der Wahrnehmung, der Bewertung und des Verhaltens und fungiert als Seismograph gesellschaftlichen Wandels. Dabei ist sie verstärkt in ihrer Visualität zu betrachten, denn längst haben unterhaltsame Bilder verbale Argumentationen abgelöst. In der Werbung manifestiert sich der zunehmende kulturelle Stellenwert des
Visuellen, der bereits in den 1990er Jahren mit der Proklamation des pictorial turn
aufgegriffen wurde (vgl. Mitchell 1994). Vor diesem Hintergrund gewinnen Untersuchungen zu den kulturellen Implikationen visuell kommunizierender Artefakte
immens an Bedeutung.
Die Amerikastudien, zu denen die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten
will, nahmen die Postulierung der verstärkten Erforschung des Visuellen auf; eine
1
Die Bruttowerbeausgaben in Deutschland betrugen 2007 umgerechnet 24 Milliarden Dollar gegenüber
163 Milliarden Dollar in den USA. Damit sind die USA die führende „Werbenation“, während Deutschland hinter China, Japan, Großbritannien und Brasilien auf dem sechsten Platz liegt (WARC 2007).
2 Kloss (2000: 13) geht davon aus, dass täglich im Durchschnitt 1.200 Logos, Verkaufsbotschaften und
Nutzenversprechen auf einen Deutschen einprasseln. Mit einer durchschnittlich noch höheren Anzahl
wird ein Amerikaner konfrontiert: 3.000 sollen es Schätzungen zufolge sein (Hiebert/Gibbens/Silver
2000: 261). Werden nur „klassische“ Werbeformen (Plakate, Anzeigen, Spots etc.) gezählt, ist die Anzahl natürlich weitaus geringer. Nach Berechnungen des amerikanischen Institutes Media Matters (2007)
konkurrieren täglich etwa 600 dieser Botschaften um die Aufmerksamkeit eines Amerikaners. Erinnert
werden davon nur einige wenige.
11
B. Temath, Kulturelle Parameter in der Werbung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92635-3_1,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
innerdisziplinäre Eigenständigkeit entwickelte diese indes nicht. So formulieren
Astrid Böger und Christof Decker in der Frühjahrsausgabe 2007 der Amerikastudien/American Studies: “the comprehensive and theoretically complex exploration
of American visual culture never managed to create its own subcategory within
American studies” (ebd.: 5). Visuelle Artefakte, die schneller und leichter als verbale Texte Kulturgrenzen überwinden, eigen sich aus ihrer Sicht jedoch in besonderer
Weise, um die wiederholt geforderte 3 stärkere Fokussierung komparativer und
interdisziplinärer Herangehensweisen zu verwirklichen und die US-amerikanische
Kultur in ihrer Beziehung zu anderen Nationen und Kulturen zu analysieren:
The transcultural analysis of iconographies that are related to, or connected with, U.S.American culture in complex and often confusing ways, is actually one of the most pressing
issues for which American studies scholars should find suitable concepts and methodologies.
(7)
Die vergleichende Untersuchung (amerikanischer) visueller Artefakte im Allgemeinen und der amerikanischen Werbung im Besonderen stellt nach wie vor ein Desiderat dar. Erst der Vergleich kann die Einzigartigkeit kultureller Ausdrucksformen
sowie die Komplexität kultureller Interaktion sichtbar machen.
Die vorliegende Arbeit setzt an diesem Punkt an: Sie widmet sich der amerikanischen Werbung als omnipräsentem kulturellen Text aus interdisziplinärer und
interkultureller Perspektive unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bildhaftigkeit.
In der Gegenüberstellung mit deutscher Werbung werden Einblicke in kulturspezifische und kulturübergreifende Formen des (werbe)kommunikativen Austauschs
erarbeitet. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob semiotische Muster sowie die über
sie vermittelten Werte, Einstellungen und Rollenvorstellungen an dominante kulturelle Diskurse und Narrative anknüpfen und in welcher Weise diese rekonstruiert
und umerzählt werden. In welcher Weise können die Anzeigen als Ausdruck ihrer
spezifischen kulturellen und zeitgenössischen Kontexte gelten? Zur Beantwortung
dieser Frage werden deutsche und amerikanische Werbetexte quantitativ und qualitativ analysiert und ihre gesellschaftlichen Umfelder möglichst umfassend erarbeitet. Hierfür ist ein interdisziplinäres, methodisch integratives Vorgehen notwendig,
das vor allem Instrumente und Forschungsergebnisse der Amerikastudien, der
Cultural Studies, der Soziologie und der Marketingwissenschaften berücksichtigt.
Da das Phänomen „Werbung“ zu komplex ist, um in seiner Gesamtheit beobachtet zu werden, wird die Untersuchung auf eine Produktkategorie und ein Medium eingegrenzt. Hierdurch erreichen die Analysen eine größere Tiefe; zugleich
sind ihre Ergebnisse aber nicht per se auf andere Werbeformen übertragbar.
Grundlage des Vergleichs bilden hier Anzeigen aus Publikumszeitschriften mit
3
Vgl. hierzu auch die Argumentation von Neil Campbell und Alasdair Kean in American Cultural Studies
(2008: 3f.).
12
ähnlichen Zielgruppen, sodass eine größtmögliche kulturübergreifende Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet wird. Im Fokus steht dabei die Automobilwerbung, weil das Automobil für die kulturkontrastive Analyse von großem Interesse ist: Sowohl in der deutschen als auch der amerikanischen Gesellschaft ist das
Auto wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens und mit vielschichtigen Bedeutungsdimensionen und Narrativen verknüpft, die nicht zuletzt in der Werbung
(re)produziert werden. Das Inbeziehungsetzen von Gestaltungsformen und Themen der Werbung mit zentralen kulturellen Diskursen, Werten und Normen impliziert daher immer auch die Frage nach der spezifischen Bedeutung von Automobilen in verschiedenen nationalen Werbekontexten. So leistet diese Arbeit vor allem
einen Beitrag zum Verständnis zweier automobiler Kulturen.4 Zurzeit erleben diese
Autokulturen eine tiefgreifende Verunsicherung: Die schwere Absatzkrise, die sich
2008 abzuzeichnen begann, wird sicherlich nicht nur zu einem strukturellen Wandel in der Autoindustrie führen, sondern auch zu einer Veränderung automobiler
Leitbilder. Der Schlussteil dieser Arbeit geht auf die aktuellen, in der Analyse jedoch nicht berücksichtigten Veränderungen ein. Er stellt auf der Basis der Ergebnisse denkbare zukünftige Trends für die kulturelle Kodierung von Automobilen in
der Anzeigenwerbung vor, deren empirische Bestätigung oder Widerlegung Aufgabe weiterer Forschungsarbeiten sein kann.
In der vorliegenden Untersuchung dient die länderübergreifende Dimension
nicht nur der Erweiterung des amerikanistischen Fokus, sondern entspricht auch
der fortschreitenden internationalen Verzahnung von (Automobil-)Märkten, die
durch die aktuelle Autokrise weiter beschleunigt wird und für die Werbung von
großer Relevanz ist. Sie bewegt sich immer mehr in einem Spannungsverhältnis
zwischen dem Globalen und dem Lokalen und muss sich dem kulturellen Umfeld
von Märkten verstärkt zuwenden. Diese Arbeit versteht sich daher auch als kulturell verankerte Ist-Analyse der in den USA und in Deutschland verwendeten Werbestrategien und den sich abzeichnenden Tendenzen, die Grundlage und Anhaltspunkt für eine transnationale Werbeplanung sein können. Hier ermöglicht eine
zusätzliche diachrone Untersuchungsperspektive, die Dynamik von Bedeutungen
und soziokulturellen und ökonomischen Kontexten auch entlang der Zeitachse zu
beleuchten. Aus den ausgewählten Illustrierten werden daher neben Anzeigen der
Jahre 2005/2006, die relativ junge Entwicklungen widerspiegeln, auch Anzeigen
mit in die Analyse einbezogen, die zu Beginn der 80er Jahre erschienen. Es handelt
4 Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass Formen visueller Ästhetik stets nur einen Teil des
heterogenen Prozesses darstellen, den der Begriff Kultur beschreibt (vgl. Kap. 2.1). Die komparative
Perspektive beruht zwar auf der Annahme eines Mindestmaßes an kultureller Kohärenz – ansonsten
wäre der Vergleich unmöglich –, das heißt aber nicht, dass eine bestimmte Anzahl von Texten als
repräsentativer Ausdruck des kollektiven kulturellen Wissens von (nationalen) Gemeinschaften fassbar
wäre. Die Anzeigen sind nicht als Spiegelbild der Kulturen zu konzeptionalisieren, sondern als Ausschnitte aus einem komplexen kulturellen Ganzen, mit dem sie eng verwoben sind.
13
sich hierbei um einen Zeitraum, der den Übergang in eine Phase der beschleunigten Globalisierung markierte (vgl. Müller 2006: 1 f.). So kann im Vergleich der
nationalen Werbesamples einerseits und dem diachronen Vergleich zwischen neueren und älteren Anzeigen andererseits der Frage nachgegangen werden, ob sich die
Formensprache der Werbung seit Anfang der 80er Jahre angeglichen oder kulturübergreifend standardisiert hat, wie es Vertreter der Konvergenzthese 5 damals
prophezeiten.
Die kulturkontrastive Untersuchung deutscher und amerikanischer Werbekommunikation erfordert eine detaillierte Klärung des zu Grunde liegenden Kulturbegriffs sowie die Herleitung eines Kommunikationsmodels, das die Konstruktion von Bedeutung zwischen Sendern, Texten und Empfängern in ihrer Abhängigkeit von verfügbaren kulturellen Codes und Kontexten konzeptionalisiert. Beide
stehen am Anfang des zweiten Kapitels, das sich dem Überblick über relevante
Forschungsliteratur anschließt und kulturwissenschaftliche, medienwissenschaftliche und marketingwissenschaftliche Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand vorstellt und verzahnt. Aufbauend auf der theoretischen Erfassung der Werbung durch ein Kultur- und Kommunikationsmodell wird ihre ökonomische Funktion beleuchtet, die Produktions- und Rezeptionsprozesse maßgeblich strukturiert.
Im Weiteren werden zur Kontextualisierung der diachronen Dimension signifikante soziokulturelle und ökonomische Entwicklungen skizziert, die unter den Generaltiteln der Postmoderne und der Globalisierung subsumiert werden. Von ihnen
wird angenommen, dass sie die Gesellschaften der Industrienationen in den letzten
Jahrzehnten entscheidend geprägt haben und einen Teil des diskursiven Umfelds
bilden, in dem die Werbung operiert und operiert hat.
Es schließen sich in Kapitel 3 methodologische Überlegungen zur Durchführung kulturkontrastiver Untersuchungen an. Die Auswahl von Produkt, Zeitschriften, Untersuchungszeitraum und Analyseinstrumenten wird umfassend dargelegt
und begründet. Als relevante Methoden zur komparativen Anzeigentextanalyse
werden die Semiotik und die Inhaltsanalyse diskutiert und in ein Modell integriert,
das sowohl die Frequenz von Themen und Mustern als auch ihre Bedeutungen
berücksichtigt. Auf die Diskussion wichtiger Elemente und Gestaltungsformen der
Analyseeinheit „Anzeige“ folgt die Operationalisierung des Forschungsdesigns als
ein mehrstufiger Prozess, in dem Gestaltungsformen und Bedeutungsmuster quantitativ erfasst und durch kontinuierliche Gegenüberstellung bestimmten Kategorien
zugewiesen werden.
Im thematisch strukturierten Kapitel 4 werden aufbauend auf dem Vergleich
von Themenfrequenzen in deutschen und amerikanischen Anzeigen der Jahre
5 Mit seinem Aufsatz “The Globalization of Markets” (1983), in dem er die These von einer unausweichlichen Verwestlichung und Homogenisierung der Kulturen aufstellte und globale Standardisierung
als Absatzstrategie der Zukunft postulierte, erreichte insbesondere Harvard-Professor Theodore Levitt
disziplinenübergreifend große Aufmerksamkeit.
14
1980/81 und 2005/06 einzelne Beispiele einer detaillierten semiotischen Analyse
unterzogen, Parallelen und Differenzen soziokulturell kontextualisiert und ihr Bezug zu Schlüsselkonzepten der amerikanischen und deutschen Kultur untersucht.
Der Stellenwert der Untersuchung auf Einzeltextebene lässt sich daran ablesen,
dass mitunter die Häufigkeit eines Themas zwischen deutschen und amerikanischen Korpora kaum variiert, seine visuellen und verbalen Realisationen sich aber
deutlich voneinander unterscheiden. Gleichzeitig werden Kohärenzen und Divergenzen bezüglich der Frequenz und der Darstellungsformen eines Themas in der
diachronen Gegenüberstellung beider Zeiträume aufgezeigt.
Während in Kapitel 4 der Vergleich aus interkultureller Perspektive erfolgt –
es werden deutsche Anzeigen deutscher Hersteller mit amerikanischen Anzeigen
amerikanischer Hersteller kontrastiert – wird in Kapitel 5 diese Perspektive um eine
transkulturelle ergänzt, in der deutsche Anzeigen für amerikanische Modelle und
amerikanische Anzeigen für deutsche Modelle einem Vergleich unterzogen werden.
Hier werden die transkulturellen Strategien der Autoproduzenten analysiert, und es
wird ermittelt, inwiefern sich die jeweils ausländischen Unternehmen den kulturellen Kontexten in Deutschland und den USA anpassen.
Der Schlussteil fasst kulturspezifische und kulturübergreifende diskursive
Formationen neuerer und älterer Anzeigen zusammen und geht der Frage nach, ob
und inwieweit auf der Grundlage des diachronen Vergleichs eine Angleichung der
Themen- und Formengestaltung in der deutschen und der amerikanischen Anzeigenwerbung zu beobachten ist. Zuletzt werden die aktuellen krisenhaften Entwicklungen in der deutschen und amerikanischen Automobilindustrie aufgegriffen. Auf
Basis der Untersuchungsergebnisse werden zukünftige Trends in der Werbung
skizziert und ihre empirische Analyse als Ausblick und relevante Fortsetzung dieses
Forschungsvorhabens vorgestellt.
1.2 Zur kulturwissenschaftlichen Reflexion von Werbung
Das Verhältnis zwischen Werbung, Gesellschaft und Kultur ist etwa seit Mitte des
vorigen Jahrhunderts Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen 6 gewesen, als
deren Ausgangspunkt Marshall McLuhans The Mechanical Bride (1951) gesehen werden kann. In diesem Buch analysiert McLuhan amerikanische Anzeigen der 40er
Jahre und kommt zu dem Schluss, dass Werbung eine totalitäre Kraft sei, die das
öffentliche Bewusstsein in “the helpless state engendered by prolonged mental
rutting” versetze (1951: V). Demnach manipuliert und paralysiert Werbung die
Menschen durch ständige Überreizung. An McLuhans Thesen knüpft in den fol6
Im Folgenden soll insbesondere auf Veröffentlichungen eingegangen werden, die sich auf die deutsche
respektive die amerikanische Werbung in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten beziehen.
15
genden Jahrzehnten eine Flut von Untersuchungen an, in deren Zentrum die Frage
nach den Auswirkungen von Werbung auf Individuen und die Gesamtgesellschaft
steht. Die Gleichsetzung von Werbung mit Manipulation dominiert den Diskurs
(vgl. Packard 1957, Harris/Seldon 1962, Bergler 1965, Presbrey 1968, Key 1972,
Leymore 1975, Goffman 1979, Courtenoy/Whipple 1983, Sinclair 1987). Am radikalsten ist die marxistische Kritik,7 die letztendlich auf die Abschaffung der Werbung beziehungsweise ihrer kapitalistischen Rahmenbedingungen zielt (vgl. Ewen
1976, Williamson 1978, Jhally 1990, Goldman 1992). Aus ihrer Sicht ist Werbung
Pfeiler einer Antikultur des Konsums, die Menschen zu Lakaien der kapitalistischen Klasse degradiert. So schreibt Robert Goldman in Reading Ads Socially: “Its
dissolving influence on culture may be advertising’s most significant and haunting
historical consequence” (1992: 8).
Neben diesem ideologiekritischen Diskurs zeichnen sich seit Mitte der 80er
Jahre Positionen ab, die von einer Überschätzung der manipulativen Kraft der
Werbung sowohl durch Kritiker als auch durch Befürworter ausgehen (vgl. Schudson 1984). Der Historiker Roland Marchand widerspricht in Advertising the American
Dream (1985) – der bisher umfangreichsten Untersuchung der amerikanischen
Werbung der 20er und 30er Jahre – der Idee von einer übermächtigen, direkten
Wirkung der Werbung auf Rezipienten und betrachtet Werbebilder als “broad
frames of reference [that] define the boundaries of public discussion, and determine relevant factors in a situation” (Marchand 1985: XX).
Seit Mitte der 90er Jahre scheint die kulturwissenschaftliche8 Reflexion von
Werbung sich endgültig von monokausalen Wirkungsmodellen abzuwenden, auf
der die Kritik von Werbung als Manipulation basiert. Werbung wird verstärkt als
“powerful social text” gedacht (Danesi 1995: 21), der soziale Realitäten nicht neu
7
Im Zentrum der marxistischen Kritik an der Werbung steht das von Karl Marx im ersten Band des
Kapital (1867) entwickelte Konzept des Warenfetischismus. Verkürzt ausgedrückt meint Marx hiermit
die verfälschende ideologische Gleichsetzung menschlicher Beziehungen mit den in Preisen ausdrückbaren Relationen von Waren untereinander – was wiederum auf die Sichtweise des Menschen als Ware
„Arbeitskraft“ zurückzuführen ist. Die Werbekritik bezieht jedoch den Begriff des „Warenfetischismus“
nicht auf den Warencharakter der Arbeit (beziehungsweise des Menschen), sondern auf die Verlockungen, die jede Konsumware auf potentielle Käufer ausübt, womit die Werbung als maßgebliche Instanz
des Warenfetischismus erscheint (Hellmann/Schrage 2004: 20). Damit steht nicht mehr das verfälschte
„gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst“ (Marx 1962: 86) im Vordergrund, sondern das
verfälschte Verhältnis zu den beworbenen und konsumierten Waren, die durch Werbetechnik subjektiv
bedeutsame Erfüllungen vortäuschen und authentische individuelle und kulturelle Entfaltung untergraben (Hellmann/Schrage 2004: ebd.).
8 Mit dem Adjektiv „kulturwissenschaftlich“ sollen hier ganz allgemein all jene Forschungsarbeiten
belegt werden, die die soziokulturelle Dimension von Werbung fokussieren. In diesem Sinne ist eine
kulturwissenschaftliche Perspektive “a series of questions about what we can say about a variety of areas
(governmental, legal, economic, etc.) if we approach them as practices of meaning”
(Thwaites/Davis/Mules 2005: 1). Eng verbunden, aber keinesfalls deckungsgleich ist diese Herangehensweise mit dem transdisziplinären kulturtheoretischen Ansatz der Cultural Studies, der durch ganz
bestimmte Grundpositionen charakterisiert wird (vgl. Grossberg 1994, Grossberg 1997: 245–271).
16
erschafft, sondern sich an gesellschaftliche Strömungen anhängt, sie für seine Zwecke transformiert und potentiell vitalisiert und verstärkt (Schmidt 1995, Fowles
1996, Myers 1999, Danesi 2002, Berger 2007). Werbung interpretiert und dramatisiert demnach Ideale, Wünsche und Werte im Sinne ihrer absatzwirtschaftlichen
Zielsetzungen. Sie ist konstitutiver Teil der Konstruktion sozio-kultureller Wirklichkeit und zugleich Faktor der Enkulturation:
Der beliebte kultur- und ideologiekritische Vorwurf, Werbung nivelliere, verdumme, trivialisiere, zielt aus konstruktivistischer Sicht daneben. Werbung bekommt nie die Gesellschaft,
die sie haben möchte, wohl aber bekommt jede Gesellschaft die Werbung, die sie haben
möchte – und die sie verdient. (Schmidt 1995: 43)
Wichtiger als die Frage nach dem Effekt von Werbung auf Mensch und Gesellschaft, die zum „Henne-Ei“-Problem geworden ist, ist demnach die Untersuchung
der Werbung als omnipräsente, beobachtbare Manifestation kollektiv geteilter
Bedeutungssysteme – worin sie wiederum eine Grundlage für die Beschreibung
und Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse darstellt – sowie als Indikator soziokulturellen Wandels. Wie eingangs angedeutet, ist dies auch der Ansatz, mit dem
sich die vorliegende Untersuchung der Werbung als relevantem Objekt zur Erforschung und Kontrastierung der deutschen und amerikanischen Kultur nähert.
Dabei wird davon ausgegangen, dass Werbung sich in besonderer Weise als kulturelles Vergleichsobjekt eignet, da sie populäre Werte und Haltungen aufgreifen
muss, um effektiv mit ihren Publika zu kommunizieren.9
Von großer Bedeutung für die vorliegende Arbeit sind semiotische Werbetextanalysen, die verbale und visuelle Strukturen gleichermaßen als kulturell kodierte Zeichenzusammenhänge berücksichtigen. Roland Barthes (1977: 33 ff.) zeigte
bereits in seiner wegweisenden Analyse einer Panzani-Anzeige, wie verbale und
visuelle Teile einer Anzeige verzahnt und kulturell interpretiert werden können. Im
letzten Jahrzehnt ist ein substantieller Bestand an Forschungsliteratur zu verzeichnen, der semiotische Methoden zur Analyse von verbalen und visuellen Medientexten weiterentwickelt und zur Anwendung bringt (Danesi 1995, Roncoroni 1996,
Müller 1999, Danesi 2002, Thwaites/Davis/Mules 2005, Geppert 2006). Eine
Eingrenzung von Werbeanalysen auf eine bestimmte Produktkategorie wird allerdings nur von Roncoroni (1996) durch seine Fokussierung der Zigarettenwerbung
9
So argumentiert Marchand: “It may be possible to argue that ads actually surpass most other recorded
communications as a basis for plausible inference about popular attitudes and values. Among elite
communicators, advertisers have been motivated by a particularly direct and intense need to understand
and communicate effectively with their audiences” (1985: XIX). Allerdings kann die Werbung angesichts der postmodernen Ausdifferenzierung der Gesellschaften (vgl. Kap. 2.4.1) nicht mehr ohne
Weiteres von breitem Konsens und allgemein verbindlichen Symbolwelten ausgehen. Diesen Aspekt
muss auch die Analyse berücksichtigen.
17
unternommen, obgleich die in der Werbung verwendeten semiotischen Strategien
entscheidend von der Art des Werbeobjektes abhängen.
Auf die Automobilwerbung spezialisierte Titel beinhalten meist historische
Überblicke ausgewählter Dekaden des 20. Jahrhunderts und selten detaillierte (Bild)Analysen (vgl. Schmidt 1989, Mende 1991, Stevenson 1995, Kriegeskorte 1994,
Vaillant 1995, Roth 1996, Steinert 2003, Brenn 2008). Wie die kulturanalytische
Werbeforschung im Allgemeinen, sind auch die meisten existierenden Untersuchungen zur Automobilwerbung von einer Abwesenheit kultu rvergleichender
Herangehensweisen gekennzeichnet. Hier ist ein Desiderat festzustellen, das erst in
den letzten Jahren vereinzelt Beachtung gefunden hat. So untersucht Ursula Wrobel (2003) die semiotischen Strategien, mit denen deutsche und amerikanische
Hersteller tabubehaftete Produkte vermarkten, und Mirko Minucci (2008) erarbeitet die historische Entwicklung deutscher und italienischer Autoanzeigen und Plakate. Die kulturübergreifende Betrachtung deutscher und amerikanischer (Automobil-)Werbung setzt hier an und antwortet auf die bereits erwähnte Kritik an den
American Cultural Studies, die amerikanische Kultur zu einseitig zu fokussieren.10
Während der interkulturelle Vergleich von Werbung in den Kulturwissenschaften bisher wenig Beachtung gefunden hat, hat er sich hingegen als Methode in
der internationalen Marketing- und Werbeforschung etabliert. Im Kontext einer
beschleunigten Globalisierung von Unternehmen, einschließlich der Medien- und
Werbeindustrie, haben Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen länderübergreifender Werbekampagnen an Bedeutung gewonnen, zu deren Beantwortung
eine große Anzahl kulturübergreifender Untersuchungen von Werbestilen und
Inhalten anhand von Anzeigen und Spots durchgeführt wurde (vgl. Mueller 1987,
Katz/Lee 1992, Albers 1994, Ahmed 1996, Dallmann 1998, Jones 2000, Lin 2001,
Xue 2005). In den letzten Jahren wurden vermehrt werbliche Internetseiten einem
interkulturellen Vergleich unterzogen (vgl. Hermeking 2005, Okazaki 2006,
Singh/Baack, 2004). Die Studien sind für diese Arbeit interessant, da sie relevante
Ansätze zur Kategorisierung umfangreicher Werbetextkorpora aufzeigen. Allerdings umfassen die Analysen in der Regel mehrere Produktkategorien und beschränken sich auf die Feststellung von Häufigkeitsunterschieden in Bezug auf
bestimmte Charakteristika, ohne dass eine differenzierte Interpretation der quantitativen Ergebnisse erfolgt. Als kulturtheoretischer Ansatz werden häufig sogenannte Kulturstandardtheorien herangezogen, mit deren Typologien quantitative Gemeinsamkeiten und Unterschiede erklärt werden (vgl. Hofstede 1997, Thomas
1996, Trompenaars 1993). Die Fallstricke der Kulturstandards liegen in einer
Übergeneralisierung und Stereotypisierung und sind mit einer dynamischen, prozesshaften Idee von Kultur schwer vereinbar. So liefert die isolierte, quantitative
10
So formulieren Neil Campbell und Alasdair Kean in American Cultural Studies: “A […] major source of
criticism has focused on a tendency in American Studies to examine American culture on its own
without very much attention to cross-cultural comparison” (2008: 3).
18
Beschreibung und Klassifizierung von Kulturen beziehungsweise ihrer Texte keinen Beitrag zu ihrem Verstehen, welches hier interpretativ über die Bedeutungsdimension von Werbetexten innerhalb eines spezifischen kulturellen Kontextes erfolgen soll.
19
2 Werbung im interkulturellen und interdisziplinären
Kontext
2.1 Kultur als Bedeutungssystem
Der Kulturbegriff, der dieser Arbeit zugrunde gelegt wird, ist ein semiotischer im
Sinne der American Cultural Studies11 (vgl. Campbell/Kean 2008), nach dem Kultur die Produktion und den Austausch von Bedeutungen innerhalb gesellschaftlicher Interaktionsprozesse darstellt (Thwaites/Davis/Mules 2005: 1). Kultur wird
prinzipiell als kommunikativ vermittelter Prozess aufgefasst, in dem sich Bedeutungen, Ideologien und Identitäten zwischen Zeichen und Einzelpersonen, Gruppen, Klassen und Institutionen generieren. Diese Vorstellung von Kultur überwindet die Unzulänglichkeiten eines anthropologischen Verständnisses von Kultur als
„Gesamtheit einer Lebensweise“, die Raymond Williams in seinem Buch Culture im
„entscheidenden Fehlen signifikanter relationaler Begriffe“ sieht (1981: 207f.). Die
anthropologische Konzeptionalisierung kann relationale Beziehungen zwischen
kulturellen Prozessen und beispielsweise ökonomischen Faktoren nicht differenziert in den Blick nehmen, weil beide im Begriff der Kultur gleichermaßen aufgehen. Hingegen ermöglicht das Konzept von Kultur als „Bedeutungssystem“, verschiedene gesellschaftliche Bereiche unter dem Aspekt ihrer Bedeutungen zu untersuchen und sie in einen Zusammenhang mit bestimmten Rahmenbedingungen zu
stellen (ebd.). Kulturanalyse meint demnach eher eine bestimmte Untersuchungsperspektive als einen definierten Forschungsgegenstand.
Als Bedeutungssystem basiert Kultur auf kollektiven, symbolischen Orientierungssystemen oder Codes, die den Austausch von Bedeutungen ermöglichen. Sie
leiten sich aus dem sozialen Umfeld ab, in dem Menschen aufwachsen und ihre
Lebenserfahrungen sammeln (Wrobel 2003: 35). Die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gemeinschaft wird nicht ererbt, sondern erfolgt über das Erlernen dieser
Codes, die den im Kulturraum erfahrbaren Phänomenen der Dingwelt Bedeutungen zuweisen. Innerhalb des Codes der Sprache werden zum Beispiel bestimmten
Laut- oder Schriftfolgen Vorstellungen und Sachen zugeordnet. Voraussetzung
11
Die American Cultural Studies können als interdisziplinärer Ansatz zur Erforschung des konfliktären
Prozesses nationalkultureller und historischer Identitätsbildung gefasst werden: “If the problematic
nature of national identity is one major concern which recent inquiry in American Studies has addressed,
a second is the process of interdisciplinary work” (Campbell/Kean 2008: 4).
20
B. Temath, Kulturelle Parameter in der Werbung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92635-3_2,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
hierfür ist die Kenntnis historisch geformter und kollektiv verhandelter Konventionen, die die Relationen zwischen Zeichen und Sachen festlegen. Das Konzept des
durch Konventionen strukturierten Codes ist grundlegend, da es „die kulturelle
Lokalisiertheit von Bedeutung bereits auf der Zeichenebene begründet“ (Hepp
1999: 27). Den Mitgliedern einer Kulturgemeinschaft erscheinen ihre Codes und
somit ihre Interpretation der Wirklichkeit jedoch universell, da sie im Sozialisationsprozess internalisiert werden. Ihre Kulturspezifik wird meist erst in interkulturellen Kontaktsituationen sichtbar, in denen aufgrund nicht kongruenter Codes die
Kommunikation gestört ist (Wrobel 2003: 38).
Codes wie die Sprache spiegeln nicht einfach die kulturelle Realität wider,
sondern tragen zu ihrer Konstituierung bei. Sie dienen als Artikulationsmöglichkeiten, “in terms of which we give form, order, point, and direction to our lives”
(Betsworth 1990: 15). Ein Code ist somit nie in seiner Gesamtheit beobachtbar,
sondern nur auf der Ebene einzelner „Anwendungsbeispiele“. Dieser sichtbare Teil
einer Kultur kann als “assemblage of texts” (Clifford 1988: 41) gedacht werden, die
keineswegs statisch und homogen verknüpft sind, sondern in einem dynamischen
Prozess kollidieren, bestimmte Knotenpunkte bilden, und sich zu dichteren und
dünneren Texturen verweben.
Wie Buchstaben und Laute können auch Bilder, Objekte und Verhaltensweisen innerhalb codierter Zeichensysteme Bedeutungen generieren. Der Begriff
„Text“ umfasst in dieser Arbeit daher nicht nur Geschriebenes oder Gedrucktes,
sondern alle bedeutungsvollen Zeichenkombinationen (Barker/Willis 2008: 11).
Diesem erweiterten Textverständnis zufolge sind zur Ergründung der Komplexität
kultureller Identitäten nicht nur Produkte und Praktiken der vermeintlichen Hochkultur zu analysieren, sondern auch Objekte des Alltags und der Populärkultur. In
letztere Kategorie fallen massenhaft distributierte Automobilanzeigen, die hier als
Artikulationen kulturspezifischer Codes angesehen und interpretiert werden. Auch
das Automobil selbst kann als kultureller Text gelten: Schon auf der Produktionsebene werden beispielsweise durch ein bestimmtes Design Differenzierungen geschaffen, die sowohl in medial vermittelten Diskursen wie der Werbung als auch im
Gebrauch durch einen bestimmten Nutzer bedeutsam werden, und in modifizierter
Form auf die Produktion zurückwirken.12
Ein primärer Modus kultureller Texte ist das Narrativ: “Through narrative,
cultural communities communicate, perpetuate, and develop knowledge about and
attitudes toward life” (Betsworth 1990: 15). Charakteristisch für das Narrativ ist das
12
Texte sind also nicht unabhängig von ihren Produktions- und Aneignungsprozessen zu fassen. Eine
interpretative, kulturtheoretisch orientierte Medienanalyse betrachtet den Text nicht nur in seinen
diskursiven Repräsentationen, sondern fragt, wie er produziert und konsumiert wird, durch welche
Mechanismen diese Prozesse geregelt werden, und wie er zur Konstruktion sozialer Identitäten beiträgt.
Die Produktion und der Austausch von Bedeutungen sind somit als Instanzen eines „Kreislaufs der
Kultur“ zu verstehen (du Gay 1997: 3).
21
zeitliche Moment, das als bedeutungsvolles und strukturierendes Element in ihm
erscheint (Berger 1997: 6). Aber nicht nur der narrative Text selbst verfügt über
eine zeitliche Dimension; er ist Teil eines kontinuierlichen, historisch lokalisierten
Prozesses der Textaneignung und -produktion, in dem sich im Laufe der Zeit die
Geschichte beziehungsweise die Geschichten einer Kultur entfalten. Diese durch
eine unzählige Anzahl von Texten erzeugten Narrative stellen den diskursiven
Rahmen dar, in dem die alltäglich erzählten Geschichten erst sinnvoll werden.
Roger Betsworth prägt hierfür den Begriff des kulturellen Narrativs:
Cultural narratives differ from the ordinary stories told in a culture. […] The cultural narrative establishes the world in which an ordinary story makes sense. […] Thus a cultural narrative is not directly told. Indeed, the culture itself seems to be telling the cultural narratives.
(1990: 15)
Kulturelle Narrative sind nicht einem einzigen Autor zuzuordnen, sondern ergeben
sich aus einem kontinuierlichen diskursiven Zusammenhang, der die historische
Formation kultureller Identität artikuliert. Ein Beispiel für ein kulturelles Narrativ
in den USA ist die immer wieder in verschiedenen Abwandlungen reproduzierte
Erzählung vom Tellerwäscher, der es allein durch Fleiß und Gewitztheit zum Millionär bringt. Über den Kern der Geschichte – die Idee, dass es in den USA jeder
schaffen kann, wenn er nur ausreichend talentiert ist und hart arbeitet – werden
kulturelle Werte wie Fleiß und Autarkie vermittelt sowie das grundsätzliche optimistische Bewusstsein, dass der Reichtum des Landes für alle ausreicht, die sich
anstrengen.
In Bezug auf ihre Funktion sind kulturelle Narrative mit Mythen vergleichbar,
die Roland Barthes in Mythologies als unhinterfragte, selbstverständlich erscheinende
gesellschaftliche Werthaltungen darstellt: “Myth has the task of giving an historical
intention a natural justification, and making contingency appear eternal” (1972:
142). Mythen transportieren Ideologie13, indem sie eine bestimmte Sichtweise der
Welt und ausgewählte Werte und Zustände als universell richtig und erstrebenswert
darstellen. Die (narrative) Konstruktion von Bedeutungen in Werbeanzeigen ist
dementsprechend als Prozess zu analysieren, der in einen diskursiven Zusammenhang kultureller Themen und Narrative eingebettet ist, welcher die Ausdrucks- und
Bedeutungsalternativen der Werbung zu einem bestimmten Grad definiert.
Kulturelle Narrative und Bedeutungsmuster sind wiederum nicht unabhängig
von einem bestimmten sozialen, politischen, historischen oder ökonomischen
Kontext zu betrachten, mit dem sie in dynamischer Interaktion stehen. So wird in
dieser Arbeit gefragt, wie Automobile in der Werbung vor dem Hintergrund spezi13
“The concept of ideology refers to maps of meaning that, while they purport to be universal truths, are
historically specific understandings which obscure and maintain power” (Barker/Willis 2008: 56).
22
fischer zeitgenössischer Diskurse „bedeuten“. Das Konzept des kulturellen Narrativs erweist sich dabei als wichtiges Instrument, um Kohärenzen zwischen Anzeigentexten und anderen kulturellen Texten aufzuzeigen. Allerdings dürfen kulturelle
Narrative nicht in einem essentialistischen Sinn als Definition des kulturellen Charakters aufgefasst werden, denn jedes dominante Narrativ produziert eine subversive Variante (Grünzweig 1996: 16). Insofern ist es von entscheidender Bedeutung,
zu untersuchen, wie eine Kultur „Geschichten, […] also kulturelle Narrative, erzählt und umerzählt“ (Cortiel/Grünzweig 2001: 31, Herv. i. O.). Die Textanalyse
kann und soll nicht dazu dienen, grundlegende kulturelle Selbstbilder, Normen und
Werte von Kulturen typologisch abzuleiten, sondern gerade die Komplexität und
innere Differenzierung kultureller Erfahrung aufzeigen, die wiederum an gesellschaftliche Machtverhältnisse gekoppelt ist. Die American Cultural Studies lehnen
ein Konzept von Kultur als statisches Gebilde von bestimmten Werten und Verhaltensweisen ab; sie zielen im Gegenteil auf die Darstellung der Heterogenität
kultureller Erfahrung (Campbell/Kean 2008: 11f.).
Aus dieser Perspektive gelten Texte weniger als Reflektionen oder Spiegelungen einer Kultur, sondern als Repräsentationen, das heißt unhintergehbare Teile
des heterogenen, diskursiven Prozesses, den der Begriff Kultur beschreibt. Werbeanzeigen sind entsprechend nicht primär bezüglich ihres Grades zu analysieren, mit
dem sie eine statistisch erfassbare gesellschaftliche Realität spiegeln oder verzerren.
Vielmehr sind sie als Bestandteile dieser Realität im Hinblick auf die Prinzipien und
Strategien zu untersuchen, mit denen sie zu ihrer kommunikativen Konstruktion
beitragen.
Der hier angestrebte Vergleich nimmt hypothetisch an, dass Werbestrategien
und -formen kulturspezifische Textformen darstellen. Soziokulturelle Bedingungen
prägen die materielle Erscheinungsform von Gegenständen und die symbolischen
Bedeutungen, die sich mit ihnen verbinden; die Werbung greift sowohl materielle
als auch symbolische Eigenschaften auf und stellt sie in neue Sinnzusammenhänge,
wobei sie bestehende Diskurse und Narrative in einem kulturellen System ihrer
Zielsetzung entsprechend instrumentalisiert und transformiert. Der Gewinn der
Methode des Vergleichs liegt darin, aus einer übergreifenden Perspektive heraus
diese intrakulturellen diskursiven Prozesse verständlich machen zu können.
2.2 Enkodieren/Dekodieren im Werbediskurs
Medientexte, zu denen auch die hier untersuchten Werbeanzeigen zählen, treten
nicht in Isolation auf. Sie sind Elemente eines fortlaufend diskursiven und kommunikativen Prozesses, in dem sich Bedeutungen durch Interaktion von Produzenten, Texten und Rezipienten konstituieren (Hepp 1999: 30). In Bezug auf die Werbung ist dieser Prozess insofern zu spezifizieren, als Produzenten und Rezipienten
23
prinzipiell Anbieter und Nachfrager von Produkten darstellen; es handelt sich also
um einen kommunikativen Vorgang, der in engem Zusammenhang mit Austauschprozessen auf bestimmten Märkten steht. Diese Feststellung scheint banal, ist aber
in der Analyse stets zu berücksichtigen, da der kommerzielle Charakter der Werbung – ihre Absicht, die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen zu steigern – sowohl den Produktions- als auch den Rezeptionsprozess maßgeblich beeinflusst (vgl. Kap. 2.2.1).
Die Kommunikation zwischen Anbietern und Nachfragern erfolgt über technische Medien oder persönliche Ansprache und gleichzeitig über das Produkt
selbst, das durch physisch greifbare Eigenschaften wie Design, Farbe, Geruch und
Geschmack bestimmte Informationen und Bedeutungen vermittelt. Das Autodesign beispielsweise hat im Transaktionsprozess zwischen Käufer und Marke einen
exponierten Stellenwert (Gottschalk 2005: 21). Zu unterscheiden sind grundsätzlich
Formen der Individualkommunikation wie zum Beispiel persönlicher Verkauf oder
Direktwerbung und Formen der Massenkommunikation. Autoanzeigen in Publikumszeitschriften fallen in die letztere Kategorie einer massenhaft distributierten
Form der Marktkommunikation, in der Texte „indirekt mit Hilfe technischer
Verbreitungsmittel (wie zum Beispiel Rundfunk, Zeitungen, etc.) an ein disperses
Publikum einseitig, das heißt ohne Feedback, herangetragen werden“ (Schweiger/Schrattenecker 2005: 7). Ob tatsächlich Kommunikation stattfindet, das heißt,
ob Rezipienten die an sie gerichteten Botschaften wahrnehmen und in der intendierten Weise interpretieren, bleibt in diesem Vorgang offen. Werbung stellt also
nicht die kommunikative Beeinflussung dar, sondern eine „beabsichtigte Beeinflussung von marktrelevanten Einstellungen und Verhaltensweisen ohne formellen
Zwang unter Einsatz von Werbemitteln und bezahlten Medien“ (Janich 2005: 18,
Herv. i. O.).
Der kommunikative Prozess, den die Werbung beabsichtigt, wird in vielen
werbewissenschaftlichen Texten als Transmissionsmodell konzeptionalisiert (vgl.
Schweiger/Schrattenecker 2005, Arens 2006). Dieses Schlagwort subsumiert all
jene Modelle, die Kommunikation als linearen Prozess begreifen, bei dem Botschaften, die gleichsam Bedeutung als statisches Element enthalten, von einem
Sender an einen Empfänger „übertragen“ werden (van Zoonen 1996: 68). Ein
Beispiel hierfür ist das Modell von Harold Laswell, der die Frage-Reihe „Wer sagt
was in welchem Kanal zu wem mit welchen Folgen?“ als Leitfaden für die Kommunikationsforschung postulierte (vgl. Laswell 1948). Die Kritik der Werbung als
Manipulation eines unwissenden Konsumenten (vgl. Kap. 1.2) basiert größtenteils
auf dieser Konzeption und der mit ihr verbundenen Wirkungserwartung. Ein solches, an das Stimulus-Response-Prinzip angelehntes Modell übersieht, dass die
Produktion und Aneignung von Bedeutung einen komplexen, soziokulturell lokalisierten Vorgang darstellt und ist als theoretischer Ausgangspunkt für die kulturvergleichende Analyse semiotischer Strategien in Werbeanzeigen nicht geeignet.
24
Den Transmissionsmodellen steht ein kulturanalytisches Modell gegenüber, das
einer konstruktivistischen Epistemologie verpflichtet ist und den umfassenden
kulturellen Zusammenhang der Medienkommunikation stärker in den Blickpunkt
rückt (Grossberg/Wartella/Whitney 1998: 25). Kommunikation wird nicht als
lineare Übertragung von Informationen gedacht, sondern als „der konfliktäre Prozess der Konstruktion eines geteilten Raums von Bedeutung […] innerhalb dessen
Menschen koexistieren“ (Hepp 1999: 159). Den aus einem solchen Verständnis
resultierenden Analyseansatz exemplifiziert das Encoding/Decoding-Modell von
Stuart Hall, das dieser erstmals 1973 in dem Vortrag “Encoding and Decoding in
the Television Discourse” am Centre for Mass Communication Research der Universität Leicester darlegte. Es greift auf semiotische Überlegungen zurück, indem es
Verstehen und Missverstehen im Kommunikationsprozess vom Umfang der Codes
abhängig macht, die Produzenten und Rezipierende teilen (Hall 1996: 44).14 Hall
erläutert sein Modell am Beispiel des Fernsehens; es lässt sich aber auf mediale
Diskurse im Allgemeinen und den Werbediskurs im Besonderen übertragen. Demnach stellt die medial vermittelte Werbekommunikation einen Prozess dar, in dem
der Werbetext auf nicht hintergehbare Weise zwischen der Enkodierung und der
Dekodierung von Bedeutung lokalisiert ist. Beide Vorgänge werden durch bestimmte Mechanismen geregelt. So ist nach Hall bei einer kulturtheoretisch orientierten Medienanalyse zu berücksichtigen, in welchen Institutionen zu welchen
Rahmenbedingungen und zu welchen Zwecken Produktion und Rezeption stattfinden. Sowohl Medieninstitutionen als auch Rezipierende werden als aktive Teilnehmer des Kommunikationsprozesses aufgefasst, die mithilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Codes Bedeutungen produzieren. Sie sind allerdings nicht
gleichberechtigt: “The consumption or reception […] is thus also itself a moment
of the production process in its larger sense, though the latter is ‘predominant’
because it is the point of departure for the realization of the message” (Hall 1996:
43).
Wenn an Michel Foucaults diskurstheoretische Überlegungen anknüpfend
davon ausgegangen wird, dass bedeutungsvolle Diskurse immer mit Macht verbunden sind – nämlich der Macht, Wissen zu produzieren und zu verbreiten (1992: 58)
–, dann ist festzuhalten, dass die Unternehmen beziehungsweise ihre werbetreibenden Instanzen im Bedeutungsproduktionsprozess mächtiger sind als die Rezipierenden. Sie haben die Möglichkeit, über den Einsatz der Massenmedien für ihre
Darstellungen und Ansichten „Zustimmung zu gewinnen, untergeordnete Interessen einzubeziehen, populär zu werden“ (Hall 2004: 74) und sich soziale Autorität
durch kollektive Zustimmung oder Hegemonie anzueignen. Die Werbung ist ein
14
Das Encoding/Decoding-Modell blieb nicht unkritisiert (vgl. Wren-Lewis 1983, Morley 1992, Pillai
1992), soll hier aber trotzdem Verwendung finden, da es Medientexte, wie sie auch Werbeanzeigen
darstellen, in einen umfassenden soziokulturellen Bezugsrahmen verlagern, ohne dessen Berücksichtigung die hier angestrebte kulturkontrastive Analyse nicht möglich ist.
25
hegemonialer Diskurs, der tendenziell die dominierenden Normen, Werte und
Handlungsweisen einer Gesellschaft reproduziert, damit sie auf breite Zustimmung
hoffen kann. Darstellungen, die Konventionen und Werte untergraben und Tabus
verletzen, können der Werbung zwar das kostbare und knappe Gut der Aufmerksamkeit verschaffen, sind aber auch riskant, weil sie zu Unverständnis und Ablehnung führen können. In Bezug auf Halls Modell wäre in diesem Fall die Äquivalenz
von “meaning structures 1” und “meaning structures 2” (Hall 1996: 43) nicht gegeben, wobei eine vollständige Kongruenz sowieso als Abstraktion gelten muss, da
die kulturellen Wissensvorräte oder Codes zwischen Produzenten und Rezipienten
auch innerhalb eines kulturellen Systems nie identisch sind. Die folgende Abbildung zeigt eine leicht abgeänderte Version von Halls Modell und dient als theoretischer Rahmen für die Analyse von Bedeutungen in der Werbung unter Berücksichtigung spezifischer institutioneller und soziokultureller Kontexte:
Abb. A: Encoding/Decoding-Modell
Programm als
sinnhafter Diskurs
SinnStrukturen 1
Encoding
(Produktion)
Wissensrahmen
ProduktionsVerhältnisse
Technische
Infrastruktur
Quelle: Hall 1996: 43
SinnStrukturen 2
Decoding
(Rezeption)
Wissensrahmen
ProduktionsVerhältnisse
Technische
Infrastruktur
.
.
Im Folgenden werden die verschiedenen Konstituenten und Teilprozesse des Modells im Hinblick auf die Werbekommunikation genauer spezifiziert.
2.2.1 Enkodieren
Der Werbeprozess kann beispielsweise damit beginnen, dass ein Automobilhersteller ein neues Modell einführen und Neugierde und Aufmerksamkeit bei potentiellen Käufern wecken will. Umgesetzt wird dieses Ziel in der Regel nicht vom Unternehmen selbst, sondern von einer dienstleistenden Werbeagentur, die einen
26
visuell und verbal greifbaren Werbeinhalt und eine Mediastrategie entwickelt, die
speziell auf das zu erreichende Ziel, das Produkt, die anvisierte Konsumentengruppe sowie länderspezifische Werberegulationen zugeschnitten sind. Bei der Analyse
von Werbetexten ist es demnach notwendig, zwischen dem eigentlichen Sender (in
der Regel ein oder mehrere Agenturmitarbeiter) und dem Sender zu unterscheiden,
der im Text selbst konstruiert wird. Meist präsentiert sich ein Unternehmen oder
eine Marke als Sender, während die verantwortliche Werbeagentur nicht in Erscheinung tritt.
Im Gegensatz zu textuellen Anhaltspunkten ist Wissen über die Intention, die
einzelne Mitarbeiter, Agenturen oder Unternehmen mit einer Werbeanzeige oder
Kampagne verfolgten, nicht immer verfügbar. Insbesondere die Untersuchung
einer großen Anzahl von Anzeigen, deren Erstellung Jahrzehnte zurückliegt, wirft
den Forscher auf die eigenen Ressourcen zurück. Daher ist es nahe liegend, anstatt
des eigentlichen Senders den Adressanten in den Blick zu nehmen – “the position
[the text] constructs as its source: where it says it is from” (Thwaites/Davis/Mules
2005: 16, Herv. i. O.). Analog dazu wird als Adressat “the position it constructs as
its destination: where it says it is going” verhandelt, also der Ort, den die Werbeanzeige durch verschiedene textuelle Hinweise als Bestimmung vorgibt (ebd.: 17,
Herv. i. O.). Auf diese Weise ist es möglich, textuelle und kontextuelle Strukturen
zu fokussieren, ohne in Spekulationen über mögliche Intentionen und Wirkungen
zu verfallen, die vor allem bei einer diachronen Analyse schwer zu ermitteln sind.
Die Auswahl und Anordnung von Codes, die in Werbeanzeigen die Botschaft
des Adressanten konstituieren, wird maßgeblich von spezifischen ökonomischen
Zielen strukturiert (vgl. Kap. 2.3). So leitet sich aus dem persuasiv-kommerziellen
Charakter der Werbung eine in der Regel positive Überzeichnung des dargestellten
Produktes, seiner potentiellen Nutzer und seines Nutzungskontextes ab. Negative
oder abstoßende Bilder und Schlagzeilen bleiben in der Werbung die Ausnahme,
um eine assoziative Verbindung mit dem Produkt zu vermeiden. Darüber hinaus
wissen Werbetreibende, dass Konsumenten die verkaufsfördernde Intention der
Werbung kennen und ihre Glaubwürdigkeit im Vergleich mit anderen Medientexten gering einstufen (Wehner 1996: 152). Das Suggerieren von Wissenschaftlichkeit
und Informativität, das viele der hier untersuchten Autoanzeigen charakterisiert,
stellt ebenso wie der häufige Appell an tief in der Psyche des Konsumenten lokalisierte Geltungsbedürfnisse eine Strategie dar, mit der das Glaubwürdigkeitsproblem
beantwortet oder umgangen werden soll.
Daneben muss die Gestaltung der Werbung auch auf den Umstand eingehen,
dass sie in der Regel nicht gezielt konsumiert, sondern im Gegenteil zum Beispiel
durch Zapping15 gezielt vermieden wird. Um die Finger der Zapper zu lähmen oder
15
“Zapping is the process of avoiding ads by switching among channels. Zapping has been facilitated by
remote controls and the larger number of channels available, especially to cable subscribers” (Tellis
1998: 122).
27
den fliegenden Blick des Magazinlesers festzuhalten, muss die Werbung zum Beispiel durch den Einsatz von Schlüsselreizen oder ungewöhnliche Gestaltung punkten (vgl. Schmidt 1995: 49).
2.2.2 Dekodieren
Das Dekodieren von Werbeanzeigen kann analog zum Enkodieren als Moment der
Produktion verstanden werden, da dem medialen Diskurs erst in seiner Aneignung
eine spezifische Bedeutung zukommt. Nach Hall kann eine Botschaft erst dann
eine Wirkung haben – bezogen auf die Werbung bestünde diese beispielsweise in
der Verbesserung eines Produktimages oder im Produktkauf –, wenn sie als sinnhaft angeeignet wird (Hall 1996: 43). Der Prozess des Dekodierens wird durch
bestimmte Mechanismen strukturiert, deren Kenntnis für die Produzenten oder
Werbetreibenden von äußerster Wichtigkeit ist, um das Gelingen der Kommunikation sicherzustellen. Insbesondere die kulturellen Wissensvorräte der Rezipierenden, die entlang soziodemographischer und psychographischer Parameter16 variieren können, spielen hier eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus ist, wie bereits
angedeutet, das meist geringe Interesse der Rezipierenden an der Werbung zu
berücksichtigen. Die durchschnittliche Beachtungszeit einer Anzeige beträgt nur
knapp zwei Sekunden, es sei denn, der Konsument sucht gezielt Informationen zu
einem Produkt17 (Kroeber-Riel 1993: 15). Diese Rezeptionsumstände wirken auf
die Produktionspraxis zurück: Werbung wird zunehmend unterhaltsamer und visueller gestaltet, um vom Konsumenten bereitwilliger und schneller wahrgenommen
zu werden.
Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle des Mediums im Rezeptionsprozess.
Marshall McLuhans Formel “The medium is the message” kann hier zu einem
wichtigen analytischen Anhaltspunkt werden, der es ermöglicht, die mit einem
bestimmten Medium verbundenen Rückwirkungen differenziert in den Blick zu
nehmen (vgl. McLuhan 2001). Magazine, Poster, Fernsehspots, Radiospots oder
Internetbanner unterscheiden sich zum Teil erheblich in Bezug auf die Heterogenität ihrer Zielgruppen, die zur Verfügung stehenden gestalterischen Mittel und die
Rezeptionsorte und Kontexte, so dass die Frage nach der Bedeutungs(re)konstruktion in der Werbung immer das gewählte Medium mit berücksichtigen muss.
16
Zu den soziodemographischen Merkmalen gehören äußerlich feststellbare Charakteristika wie Alter,
Geschlecht, Einkommen und Beruf; zu den psychographischen Merkmalen mentale Eigenschaften wie
zum Beispiel Denkweisen, Fühlen und Vorurteile (vgl. Janich 2005: 24).
17 Die Rolle, die ein Produkt zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben des Konsumenten spielt, determiniert sowohl die Bereitschaft, Werbeinformationen aufzunehmen als auch die Interpretation dieser
Informationen.
28
2.2.3 Das Publikum als source
Aufgrund des an die Werbung gerichteten Imperativs, effektiv mit einer definierten
Zielgruppe zu kommunizieren, müssen Werbetreibende eine möglichst große Kongruenz zwischen enkodierten und dekodierten Botschaften anstreben: “the audience is both the ‘source’ and the ‘receiver’ of the television message” (Hall 1996: 42).
Will Werbung ihrer ökonomischen Funktion nachkommen und das Interesse einer
bestimmten Zielgruppe von Konkurrenzprodukten ablenken und auf ein bestimmtes Produkt fokussieren, muss sie sich mit den Codes, die diese Gruppe nutzt,
vertraut machen und Bilder, Ideen und Themen in die Werbebotschaft integrieren,
die auf ihre spezifischen, aktuellen kulturellen Wissensvorräte rekurrieren. Hierzu
gehören auch die Bedeutungen, Erwartungen und Nutzungskontexte, die die anvisierten Rezipienten dem Produkt zuschreiben. Die Ergebnisse der Markt- und
Lebensstilforschung, aber auch tagesaktuelle Ereignisse, Erzeugnisse und Figuren
der Populärkultur sowie kulturelle Artefakte und Symbole im Allgemeinen bieten
reichhaltiges Material, auf dessen Grundlage einem Automobil für eine bestimmte
Zielgruppe neue Bedeutungen verliehen werden können. So dient die Zielgruppe
als Referenz für die Werbung, und die Werbung umgekehrt als Referenz für die
Zielgruppe, wenn sie sinnhaft angeeignet wurde. In diesem Fall bildet die Werbung
mit anderen medialen Repräsentationen ein mythologisches Reservoir, welches
Konsumenten nutzen, um den Rahmen des polysemen Bedeutungsraumes eines
Produktes – zum Beispiel des Automobils – zu definieren. Werbung wird zu einem
wichtigen Bezugspunkt für die Bedeutung von Objekten in der sozialen Welt.
Diese soziokulturelle Dimension eines Objektes hat in der postmodernen
Konsumkultur zunehmend Vorrang vor dem instrumentellen Nutzen einer Sache,
wie Mike Featherstone in Consumer Culture and Postmodernism formuliert: “Consumption must not be understood as the consumption of use-values, a material utility,
but primarily as the consumption of signs” (1994: 85). Dabei sind die in der Werbung vermittelten Objektbedeutungen nicht notwendigerweise in der Eigenart der
Sache motiviert, sondern arbiträr und konstruiert,18 und setzen sich eklektisch, die
Grenzen von Hoch- und Populärkultur, von Kunst und Kommerz, von Vergangenheit und Gegenwart überwindend, aus kulturellen Ressourcen zusammen (vgl.
Jameson 1984).
Da ihr die Aufmerksamkeit eines Betrachters selten mehr als wenige Sekunden zuteil wird, tendiert die Werbung zu stereotypen und vereinfachenden Bedeutungsmustern, die von einer großen Anzahl von Menschen schnell und leicht dekodiert werden können. Sie orientiert sich in der Regel an den etablierten, dominanten und hegemonialen Zeichen- und Wertsystemen innerhalb einer bestimmten
18
So wurden zum Beispiel Marlboro-Zigaretten bis in die 50er-Jahre als „Frauenzigaretten“ vermarktet,
bis aufgrund von Umsatzschwierigkeiten der Imagewechsel hin zum Symbol von rauer Männlichkeit
stattfand (vgl. Savan 1994).
29
kulturellen Gemeinschaft, um möglichst breiten Konsens zu erzielen (Holbrook
1987: 10). Allerdings muss die Werbung, will sie Aufmerksamkeit erreichen und
halten, die bekannten Symbole in neuem Gewand präsentieren. Innerhalb dieses
ständigen Spannungsverhältnisses zwischen Konvention und Kreativität kann
Werbung nicht auf manipulative und subversive Weise soziale Realitäten neu erschaffen, wohl aber bestehende kulturelle Ordnungen verstärken, indem diese dem
Zeitgeist angepasst und wieder in diskursiven Umlauf gebracht werden. Die formale Gestaltung einer Werbeanzeige ist ebenso Ausdruck soziokulturell und historisch
lokalisierter, dominanter Diskurse wie die in ihr repräsentierten Objekte, Menschen
und Zusammenhänge und ihre antizipierten Bedeutungen.
2.2.4 Der Text als sinnhafter Diskurs
Im Mittelpunkt von Halls Modell steht der Medientext, der in der vorliegenden
Untersuchung als gedruckte Werbeanzeige in Erscheinung tritt. Die vorherigen
Ausführungen haben verdeutlicht, dass dem Medientext keine eindeutige Bedeutung zugeschrieben werden kann: Er ist polysem, das heißt er erlaubt unterschiedliche Interpretationen (Hall 1996: 45). Aber Polysemie darf nicht mit Beliebigkeit
verwechselt werden, denn Texte legen durch Struktur und Platzierung im kulturellen Diskurs bestimmte Interpretationen nahe. Die Existenz kollektiv geteilter Codes, die eine Kultur charakterisiert, führt unausweichlich zur Dominanz bestimmter
Auslegungen, auch wenn diese nicht univokal unterstützt werden. Hall betont, dass
die Bedeutungskonstitution innerhalb einer Kultur kein individueller, willkürlicher
Prozess ist, sondern nach bestimmten, kollektiven Mustern verläuft (ebd.). Ziel
einer Analyse von Werbetexten kann es demnach nicht sein, die Bedeutungen in
einer Interpretation zu identifizieren, sondern den Rahmen für mögliche Bedeutungen festzulegen, indem die in ihnen operierenden Codes in ihrem diskursiven Kontext transparent gemacht werden. So sind zum Beispiel Werbeanzeigen des ersten
Untersuchungszeitraumes in der diskursiv strukturierten, kulturellen Auseinandersetzung um die Rolle des Automobils in der Gesellschaft lokalisiert, die durch die
Ölkrisen 1973 und 1979 19 ausgelöst wurde. Die Werbeanzeigen greifen die sich
verstärkende Kritik am Automobil auf und versuchen durch bestimmte Strategien,
19
Im Herbst 1973 begann die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), die Fördermengen zu
drosseln, um politischen Druck auf einige Importeure – insbesondere die USA und ihre Verbündeten –
auszuüben, mit deren Haltung zum Yom-Kippur-Krieg OPEC-Staaten nicht einverstanden waren. Das
Öl verteuerte sich bald um etwa 70 Prozent. Das Ölembargo hatte weitreichende negative Auswirkungen auf die Wirtschaftslage der Industrienationen. 1979 fanden nach der Revolution im Iran und den
mit ihr verbundenen Förderausfällen wieder Preissteigerungen statt. Allerdings waren die Auswirkungen
im Vergleich mit der Krise 1979 in Deutschland und den USA weniger signifikant (Rae 1984: 153).
30
das Automobil weiterhin als Symbol von Freiheit und Selbstbestimmung zu legitimieren.
Da Medientexte wie die Werbung einen omnipräsenten Teil der soziokulturellen Wirklichkeit darstellen, ist eine konzeptuelle Trennung zwischen Medienrealität
und gesellschaftlicher Realität problematisch (Schmidt 1995: 24f.; vgl. Kap. 2.1).
Die kulturelle Signifikanz von Werbeanzeigen und ihrer Analyse liegt darin, dass sie
einen omnipräsenten Teil einer kulturellen Wirklichkeit darstellen, in deren diskursive Netzwerke sie eingebettet ist und die bestimmte Formen der Darstellungen
erst aussprechbar und verstehbar machen. Das Enkodieren und Dekodieren von
Werbeanzeigen stellt entsprechend eine signifikante soziale Praktik dar, die bestimmten Narrativen und den in ihnen vermittelten Werthaltungen neuen Ausdruck verleiht und sie zum Ausgangspunkt weiterer diskursiver Auseinandersetzung macht. Aus dieser Perspektive greift die bisherige Definition von Werbung
(vgl. Kap. 2.2) zu kurz, da sie ihre kulturelle Bedeutungsdimension nicht in den
Blick nimmt. Sie soll hier durch eine kulturanalytisch orientierte Definition erweitert werden:
Advertising is a system of symbols synthesized from the culturally determined ways of
knowing that seeks to establish powerful, persuasive and long lasting moods and motivations
[...] formulating conceptions of a general order of existence [...] and clothing these conceptions with such an aura of factuality that the moods and motivations seem uniquely realistic.
(Sherry 1987: 425)
Die Analyse von Werbeanzeigen muss entsprechend über die Ebene der „favorisierten Lesart“,20 der unkritischen Wiedergabe der Verkaufsbotschaft, hinausgehen
und eine „oppositionelle Lesart“ anstreben, die den Werbetext dekonstruiert und in
seinen gesellschaftlichen Implikationen analysiert (Hepp 1999: 116). So wird in
einer an den Poststrukturalismus angelehnten Herangehensweise die scheinbar
selbstverständliche Stabilität des Textes über die Aufdeckung der in ihn eingeschriebenen Machtverhältnisse hinterfragt: „Dekonstruktives Lesen versucht, verborgene, versteckte Strukturen aufzuspüren, Ordnungs- und Wertsysteme zu zerbrechen, um das, was sie verstecken, zu befreien und transparent zu machen“
(Grünzweig 1996: 9). Konkret bedeutet dies, in einem ersten Schritt zu untersuchen, mit welchen Repräsentationen von Menschen, Objekten und Sachverhalten
Anzeigen für ihre Sache werben, und in einem nächsten Schritt die Frage zu beantworten, an welche kulturellen Kontexte, hegemonialen Diskurse und Narrative
20 Ausgehend von der Polysemie von Medientexten liegt es für Hall nahe, dass es unterschiedliche
Positionen im Prozess des Dekodierens gibt, die er idealtypisch in die dominant-hegemoniale Position
oder favorisierte Lesart, die ausgehandelte Lesart und die oppositionelle Lesart einteilt. Die favorisierte
Lesart zeichnet sich durch die Übernahme der hegemonialen, intendierten Sichtweisen aus, während die
ausgehandelte Lesart die Darstellung des Produzenten akzeptiert, aber zugleich teilweise diese Definition von einem subversiven Standpunkt aus hinterfragt. In der oppositionellen Lesart wird die Botschaft
aus einer dem dominanten Diskurs entgegengesetzten Perspektive dekonstruiert (Hall 1996: 46ff.).
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diese Repräsentationen anknüpfen. Auf diese Weise können die quasi natürlich und
universell erscheinenden Darstellungen der Werbung als Manifestationen bestimmter ökonomischer, soziokultureller und historischer Formationen verstanden werden. Die vergleichende Perspektive kann hierbei helfen, Prozesse der Gewöhnung
an bestimmte Darstellungsformen zu durchbrechen und eine kritische Perspektive
einzunehmen.
2.3 Die ökonomische Dimension der Werbung
2.3.1 Status der Werbeindustrie in der BRD und den USA
Die Werbeindustrie ist sowohl in den USA als auch in Deutschland ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, wobei aufgrund unterschiedlicher Marktgrößen die Bruttowerbe-investitionen in den USA um ein Vielfaches höher liegen als in Deutschland:
sie betrugen 2006 in den USA 149,6 Milliarden Dollar (TNS 2007) gegenüber umgerechnet 20,3 Milliarden Dollar in Deutschland (ZAW 2007).
In beiden Ländern blickt die Werbebranche auf eine lange Geschichte zurück:
Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Karl Benz und Gottlieb Daimler in
Deutschland und Charles und Frank Duryea in den USA die ersten benzinbetriebenen Autos bauten21 (Rae 1984: 11f.), hatte sich eine professionalisierte Werbeindustrie herausgebildet. Durch die Ausprägung der kapitalistischen, industriellen
Massenproduktion war eine bis dato unvorstellbare Auswahl von Gütern für den
durchschnittlich verdienenden Konsumenten erschwinglich geworden. Sinkende
Stückkosten bei steigender Produktion verhießen den Herstellern Gewinnzuwächse, sobald es ihnen gelang, den Absatz anzukurbeln (Kloss 2000: 29).
Zugleich ermöglichten der Ausbau des Verkehrswesens, technische Entwicklungen im Druckwesen, ein höherer Lebensstandard und ein gesteigertes Bildungsniveau die massenhafte Verbreitung von Printmedien, die als Werbeträger dienten.
Im Gegensatz zur deutschen Presse konnte sich die amerikanische frei von Zensur
und Besteuerung entwickeln, und zwischen Werbetreibende und Werbeträger
schoben sich bald die ersten Agenturen, die spezialisiertes Wissen über das zunehmend komplexe Mediensystem, gezielte Werbebuchungen und gestalterische
Dienstleistungen anboten (ebd.). Die 1842 von V.A. Palmer in Philadelphia gegründete Werbeagentur ging als erstes Unternehmen dieser Art in die Geschichte
ein (Leiss/Kline/Jhally 1997: 136). 1917 wurden in den USA bereits 95 Prozent
21
Benz und Daimler stellten 1885 das erste funktionstüchtige Automobil fertig. Auf der Grundlage
eines Artikels über das Benz-Automobil, der im Scientific American erschien, konzipierten und bauten die
Duryea-Brüder 1893 das erste erfolgreiche Automobil auf dem amerikanischen Kontinent (Rae 1984:
11f.).
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aller Werbevorgänge durch Agenturen begleitet, die nicht nur Anzeigenraum vermittelten, sondern auch die kreative Gestaltung der Anzeigen übernahmen (ebd.).
In Deutschland war dagegen das professionelle Werbesystem bis in die 1920er
Jahre durch sogenannte Annoncen-Expeditionen gekennzeichnet, die Anzeigenraum von Verlagshäusern pachteten und vermittelten, während die Gestaltung den
Unternehmen weiterhin überlassen blieb. Der ökonomische Liberalismus der
Weimarer Republik begünstigte jedoch die Adaptierung internationaler Tendenzen
in die deutsche Werbepraxis. Die ersten amerikanischen Tochtergesellschaften
etablierten sich in Berlin, und bereits Ende der 1920er Jahre funktionierten deutsche und amerikanische Werbeagenturen nach dem gleichen Prinzip (Ingenkamp
1996: 221).
Eine zwangsläufige Folge der zunehmenden Produktauswahl und Werbeintensität war die Herausbildung von Markenartikeln (vgl. Kap. 2.3.2). Die Werbung
gab den Produkten Namen und Persönlichkeiten, um sie von Konkurrenzprodukten zu differenzieren (Kloss 2000: 32). Angesichts der Vielzahl gesättigter Märkte
ist Werbung heute mehr den je als Maßnahme zur Markenbildung und -stärkung zu
verstehen. Marken sind mit das größte Kapital von Unternehmen: 2008 wurde der
Wert der Marke Coca-Cola auf etwa 66,6 Milliarden Dollar geschätzt, die damit das
Ranking der weltweit teuersten Marken anführt. Die wertvollsten Automarken sind
Toyota und Mercedes mit 34 respektive 25,5 Milliarden Dollar (Interbrand 2008).
In diesem Kontext kommt dem Markenmanagement, das Werbe- und Kommunikationsmaßnahmen steuert, immer größere Bedeutung zu. Weltweit führende
Agenturnetzwerke präsentieren sich entsprechend als Spezialisten der Markenbildung durch Kommunikation: “To be valued most by those who value brands” ist
zum Beispiel 2008 laut internationaler Homepage die Mission der Agentur Ogilvy
und Mather; „Wir kreieren den Mehr-Wert […] für Marken. Für Kunden. Für
Mitarbeiter“ die der Grey-Deutschland-Gruppe.
Im Laufe der Zeit haben sich Werbeformen, Werbeträger, Zielgruppen, Arbeitsmethoden und Berufsbilder in den Agenturen immer weiter ausdifferenziert.
Werbeagenturen offerieren heute Dienstleistungen, die sich von klassischer Werbung über Public Relations bis hin zu Direktmarketing und Sponsoring erstrecken.
Dabei werden die Zielgruppen dieser Kommunikationsaktivitäten aufgrund der
gesellschaftlichen Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen immer schwerer fassbar (Schmidt 1995: 40; vgl. Kap. 2.4.1). Der Ausdifferenzierung der Zielgruppen entspricht die kontinuierliche Proliferation und Fragmentierung der Medien und Medienmärkte im letzten Jahrhundert. Waren Anfang des 20. Jahrhunderts noch Zeitung, Zeitschriften und Plakate die einzigen Werbeträger, erhielten
sie bereits in den 20er Jahren durch das Radio neue Konkurrenz. Insbesondere in
den USA wurde das Radio zum beliebten Werbemedium, das im Gegensatz zum
staatlich kontrollierten und finanzierten deutschen sehr bald ausschließlich von
diesen Einnahmen lebte. In den 1950er Jahren wurde in den USA das Fernsehen
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