Bettina Temath Kulturelle Parameter in der Werbung Bettina Temath Kulturelle Parameter in der Werbung Deutsche und US-amerikanische Automobilanzeigen im Vergleich Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. Zugl. Dissertation Technische Universität Dortmund, 2010 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17474-7 Danksagung Mein Dank gilt Prof. Dr. Walter Grünzweig, Lehrstuhl für Amerikanistik an der TU Dortmund, sowie Prof. Dr. Hartmut Holzmüller, Lehrstuhl für Marketing an der TU Dortmund, für die Unterstützung und Betreuung meines Promotionsvorhabens. Ich danke außerdem den vielen Mitarbeitern der Fakultät Kulturwissenschaften an der TU Dortmund, insbesondere denen des Institutes für Anglistik und Amerikanistik, die mit Anregungen, Kritik und steter Diskussions- und Hilfsbereitschaft zu dieser Dissertation beigetragen haben. Der Stiftung der Deutschen Wirtschaft danke ich für die finanzielle und ideelle Förderung während meiner Promotionszeit. Meine Eltern, mein Bruder und meine deutschen und amerikanischen Freunde haben alle auf ihre Weise mitgeholfen, diese Dissertation zu beginnen und zu vollenden. Auch ihnen danke ich herzlich. Ein ganz besonderer Dank geht an Philipp Radermacher, der mir bei der Fertigstellung mit Rat und Tat unermüdlich zur Seite stand. 5 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 1.1 Werbung als visuelles und interkulturelles Phänomen 1.2 Zur kulturwissenschaftlichen Reflexion von Werbung 2 Werbung im interkulturellen und interdisziplinären Kontext 2.1 Kultur als Bedeutungssystem 2.2 Enkodieren/Dekodieren im Werbediskurs 2.2.1 Enkodieren 2.2.2 Dekodieren 2.2.3 Das Publikum als source 2.2.4 Der Text als sinnhafter Diskurs 2.3 Die ökonomische Dimension der Werbung 2.3.1 Status der Werbeindustrie in der BRD und den USA 2.3.2 Ziele der Werbung als Teil des Marketing-Mix 2.3.3 Werbekonzeption 2.4 Werbung, Postmoderne und Globalisierung 2.4.1 Tendenzen der Werbung in postmodernen Konsumgesellschaften 2.4.2 Werbung zwischen Globalisierung und Lokalisierung 2.4.2.1 Konvergenzthese und globale Werbung 2.4.2.2 Zwischen Standardisierung und kultureller Spezifizierung 2.4.2.3 Kulturelle Bilder 3 Methodologische Überlegungen 3.1. Der komparative Ansatz 3.1.1 Anzeigenauswahl 3.1.2 Auto und Autoindustrie in der BRD und den USA 3.1.3 Die diachrone Perspektive 3.2 Methodik der vergleichenden Anzeigenanalyse 3.2.1 Semiotik 3.2.2 Inhaltsanalyse 3.2.3 Anzeigenelemente 11 11 15 20 20 23 26 28 29 30 32 32 34 37 39 40 45 49 50 51 55 55 57 59 63 65 66 70 72 7 3.2.4 Gestaltungsformen 3.2.5 Analysemodell 4 Anzeigen der Jahre 1980/81 und 2005/06 im interkulturellen und diachronen Vergleich 4.1 Übergreifende Beobachtungen 4.1.1 Umfang und Struktur der Korpora 4.1.1.1 Fahrzeugtypen 4.1.1.2 Marken und Modelle 4.1.2 Modi der Bild- und Textgestaltung 4.1.2.1 „Rationale“ Repräsentationen im Kontext der Ölkrise 1979 4.1.2.2 Das Vernunft-Emotion-Paradoxon in Anzeigen von 1980/81 4.1.2.3 Emotionalisierung/Visualisierung in Anzeigen von 2005/06 4.1.2.4 Narrativität und Unterhaltsamkeit 4.2 „Rationale“ Argumente 4.2.1 Wirtschaftlichkeit 4.2.2 Technik 4.2.3 Innovation und Fortschritt 4.2.4 Sicherheit 4.2.5 (Funktionales) Design 4.3 Auto(-Fahren) als Triumph 4.3.1 Dominanz im Marktwettbewerb 4.3.2 Gesellschaftliches Prestige 4.3.3 Siegreicher Geschwindigkeitsrausch 4.3.4 Macht und Aggression 4.4 Das Auto zwischen Individualismus und Kollektivität 4.4.1 Automobile Freiheit 4.4.2 Komfort und Privatheit 4.4.3 Freizeitvergnügen und Geselligkeit 4.4.4 Individualität und Popularität 4.4.5 Patriotismus 4.5 Nationen- und Menschenbilder 4.5.1 Nationale und globale Bilder 4.5.2 Menschenbilder 4.5.2.1 Anzahl und Merkmale von Personenabbildungen 4.5.2.2 Alter 4.5.2.3 Schicht 4.5.2.4 Ethnizität 4.5.2.5 Maskulinität 4.5.2.6 Femininität 8 76 78 80 80 80 81 83 86 86 92 95 99 101 102 108 115 120 122 129 130 136 144 150 156 157 171 177 186 195 203 204 214 214 216 217 219 222 228 5 Anzeigen der Jahre 1980/81 und 2005/06 im transkulturellen und diachronen Vergleich 237 5.1 Umfang und Struktur der Korpora 5.2 Werbestrategien in amerikanischen Anzeigen für deutsche Marken 5.2.1 „Amerikanisierung“ von Modell und Marke 5.2.2 Betonung der deutschen Herkunft 5.2.3 Translokale Gestaltung 5.3 Werbestrategien in deutschen Anzeigen für amerikanische Marken 237 238 238 248 257 262 6 Resümee und Ausblick 269 7 Literaturverzeichnis 284 8 Tabellarische Übersicht der quantitativen Ergebnisse 305 8.1 Umfang und Struktur der Korpora 8.2 Gestaltungsformate und –modi 8.3 Einzelne Gestaltungsaspekte 8.4 Themenfrequenzen/appeals 8.5 Transkulturelle Strategien 9 Abbildungsverzeichnis 305 305 306 308 309 310 9 1 Einleitung 1.1 Werbung als visuelles und interkulturelles Phänomen Werbung hat in den Informationsgesellschaften der Industrienationen eine unentrinnbare Präsenz erreicht. Dies gilt insbesondere für die USA, deren Werbeausgaben andere Länder bei weitem übertreffen. 1 Auch in Deutschland durchdringt Werbung mittlerweile alle Lebensbereiche. Hier wie dort konkurrieren täglich Tausende von Logos und Verkaufsbotschaften um die Aufmerksamkeit des Konsumenten.2 Werbung wird bei einem steigenden Medienkonsum – wie bewusst auch immer – mitrezipiert und folgt den Menschen über internetfähige, mobile Endgeräte auf Schritt und Tritt in eine Alltagswelt, die selbst zunehmend als Werbekulisse dient: Neben Gebäudewänden, Reklametafeln und Litfaßsäulen hat die Werbung nun auch Einkaufswagen, WC-Kabinen und sogar Spucktüten im Flugzeug als Aktionsfelder erobert. Somit ist Werbung allgegenwärtige mediale Instanz und konstitutiver Teil gesellschaftlicher Realität geworden. Sie ist eng synchronisiert mit geltenden Formen der Wahrnehmung, der Bewertung und des Verhaltens und fungiert als Seismograph gesellschaftlichen Wandels. Dabei ist sie verstärkt in ihrer Visualität zu betrachten, denn längst haben unterhaltsame Bilder verbale Argumentationen abgelöst. In der Werbung manifestiert sich der zunehmende kulturelle Stellenwert des Visuellen, der bereits in den 1990er Jahren mit der Proklamation des pictorial turn aufgegriffen wurde (vgl. Mitchell 1994). Vor diesem Hintergrund gewinnen Untersuchungen zu den kulturellen Implikationen visuell kommunizierender Artefakte immens an Bedeutung. Die Amerikastudien, zu denen die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten will, nahmen die Postulierung der verstärkten Erforschung des Visuellen auf; eine 1 Die Bruttowerbeausgaben in Deutschland betrugen 2007 umgerechnet 24 Milliarden Dollar gegenüber 163 Milliarden Dollar in den USA. Damit sind die USA die führende „Werbenation“, während Deutschland hinter China, Japan, Großbritannien und Brasilien auf dem sechsten Platz liegt (WARC 2007). 2 Kloss (2000: 13) geht davon aus, dass täglich im Durchschnitt 1.200 Logos, Verkaufsbotschaften und Nutzenversprechen auf einen Deutschen einprasseln. Mit einer durchschnittlich noch höheren Anzahl wird ein Amerikaner konfrontiert: 3.000 sollen es Schätzungen zufolge sein (Hiebert/Gibbens/Silver 2000: 261). Werden nur „klassische“ Werbeformen (Plakate, Anzeigen, Spots etc.) gezählt, ist die Anzahl natürlich weitaus geringer. Nach Berechnungen des amerikanischen Institutes Media Matters (2007) konkurrieren täglich etwa 600 dieser Botschaften um die Aufmerksamkeit eines Amerikaners. Erinnert werden davon nur einige wenige. 11 B. Temath, Kulturelle Parameter in der Werbung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92635-3_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 innerdisziplinäre Eigenständigkeit entwickelte diese indes nicht. So formulieren Astrid Böger und Christof Decker in der Frühjahrsausgabe 2007 der Amerikastudien/American Studies: “the comprehensive and theoretically complex exploration of American visual culture never managed to create its own subcategory within American studies” (ebd.: 5). Visuelle Artefakte, die schneller und leichter als verbale Texte Kulturgrenzen überwinden, eigen sich aus ihrer Sicht jedoch in besonderer Weise, um die wiederholt geforderte 3 stärkere Fokussierung komparativer und interdisziplinärer Herangehensweisen zu verwirklichen und die US-amerikanische Kultur in ihrer Beziehung zu anderen Nationen und Kulturen zu analysieren: The transcultural analysis of iconographies that are related to, or connected with, U.S.American culture in complex and often confusing ways, is actually one of the most pressing issues for which American studies scholars should find suitable concepts and methodologies. (7) Die vergleichende Untersuchung (amerikanischer) visueller Artefakte im Allgemeinen und der amerikanischen Werbung im Besonderen stellt nach wie vor ein Desiderat dar. Erst der Vergleich kann die Einzigartigkeit kultureller Ausdrucksformen sowie die Komplexität kultureller Interaktion sichtbar machen. Die vorliegende Arbeit setzt an diesem Punkt an: Sie widmet sich der amerikanischen Werbung als omnipräsentem kulturellen Text aus interdisziplinärer und interkultureller Perspektive unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bildhaftigkeit. In der Gegenüberstellung mit deutscher Werbung werden Einblicke in kulturspezifische und kulturübergreifende Formen des (werbe)kommunikativen Austauschs erarbeitet. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob semiotische Muster sowie die über sie vermittelten Werte, Einstellungen und Rollenvorstellungen an dominante kulturelle Diskurse und Narrative anknüpfen und in welcher Weise diese rekonstruiert und umerzählt werden. In welcher Weise können die Anzeigen als Ausdruck ihrer spezifischen kulturellen und zeitgenössischen Kontexte gelten? Zur Beantwortung dieser Frage werden deutsche und amerikanische Werbetexte quantitativ und qualitativ analysiert und ihre gesellschaftlichen Umfelder möglichst umfassend erarbeitet. Hierfür ist ein interdisziplinäres, methodisch integratives Vorgehen notwendig, das vor allem Instrumente und Forschungsergebnisse der Amerikastudien, der Cultural Studies, der Soziologie und der Marketingwissenschaften berücksichtigt. Da das Phänomen „Werbung“ zu komplex ist, um in seiner Gesamtheit beobachtet zu werden, wird die Untersuchung auf eine Produktkategorie und ein Medium eingegrenzt. Hierdurch erreichen die Analysen eine größere Tiefe; zugleich sind ihre Ergebnisse aber nicht per se auf andere Werbeformen übertragbar. Grundlage des Vergleichs bilden hier Anzeigen aus Publikumszeitschriften mit 3 Vgl. hierzu auch die Argumentation von Neil Campbell und Alasdair Kean in American Cultural Studies (2008: 3f.). 12 ähnlichen Zielgruppen, sodass eine größtmögliche kulturübergreifende Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet wird. Im Fokus steht dabei die Automobilwerbung, weil das Automobil für die kulturkontrastive Analyse von großem Interesse ist: Sowohl in der deutschen als auch der amerikanischen Gesellschaft ist das Auto wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens und mit vielschichtigen Bedeutungsdimensionen und Narrativen verknüpft, die nicht zuletzt in der Werbung (re)produziert werden. Das Inbeziehungsetzen von Gestaltungsformen und Themen der Werbung mit zentralen kulturellen Diskursen, Werten und Normen impliziert daher immer auch die Frage nach der spezifischen Bedeutung von Automobilen in verschiedenen nationalen Werbekontexten. So leistet diese Arbeit vor allem einen Beitrag zum Verständnis zweier automobiler Kulturen.4 Zurzeit erleben diese Autokulturen eine tiefgreifende Verunsicherung: Die schwere Absatzkrise, die sich 2008 abzuzeichnen begann, wird sicherlich nicht nur zu einem strukturellen Wandel in der Autoindustrie führen, sondern auch zu einer Veränderung automobiler Leitbilder. Der Schlussteil dieser Arbeit geht auf die aktuellen, in der Analyse jedoch nicht berücksichtigten Veränderungen ein. Er stellt auf der Basis der Ergebnisse denkbare zukünftige Trends für die kulturelle Kodierung von Automobilen in der Anzeigenwerbung vor, deren empirische Bestätigung oder Widerlegung Aufgabe weiterer Forschungsarbeiten sein kann. In der vorliegenden Untersuchung dient die länderübergreifende Dimension nicht nur der Erweiterung des amerikanistischen Fokus, sondern entspricht auch der fortschreitenden internationalen Verzahnung von (Automobil-)Märkten, die durch die aktuelle Autokrise weiter beschleunigt wird und für die Werbung von großer Relevanz ist. Sie bewegt sich immer mehr in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Globalen und dem Lokalen und muss sich dem kulturellen Umfeld von Märkten verstärkt zuwenden. Diese Arbeit versteht sich daher auch als kulturell verankerte Ist-Analyse der in den USA und in Deutschland verwendeten Werbestrategien und den sich abzeichnenden Tendenzen, die Grundlage und Anhaltspunkt für eine transnationale Werbeplanung sein können. Hier ermöglicht eine zusätzliche diachrone Untersuchungsperspektive, die Dynamik von Bedeutungen und soziokulturellen und ökonomischen Kontexten auch entlang der Zeitachse zu beleuchten. Aus den ausgewählten Illustrierten werden daher neben Anzeigen der Jahre 2005/2006, die relativ junge Entwicklungen widerspiegeln, auch Anzeigen mit in die Analyse einbezogen, die zu Beginn der 80er Jahre erschienen. Es handelt 4 Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass Formen visueller Ästhetik stets nur einen Teil des heterogenen Prozesses darstellen, den der Begriff Kultur beschreibt (vgl. Kap. 2.1). Die komparative Perspektive beruht zwar auf der Annahme eines Mindestmaßes an kultureller Kohärenz – ansonsten wäre der Vergleich unmöglich –, das heißt aber nicht, dass eine bestimmte Anzahl von Texten als repräsentativer Ausdruck des kollektiven kulturellen Wissens von (nationalen) Gemeinschaften fassbar wäre. Die Anzeigen sind nicht als Spiegelbild der Kulturen zu konzeptionalisieren, sondern als Ausschnitte aus einem komplexen kulturellen Ganzen, mit dem sie eng verwoben sind. 13 sich hierbei um einen Zeitraum, der den Übergang in eine Phase der beschleunigten Globalisierung markierte (vgl. Müller 2006: 1 f.). So kann im Vergleich der nationalen Werbesamples einerseits und dem diachronen Vergleich zwischen neueren und älteren Anzeigen andererseits der Frage nachgegangen werden, ob sich die Formensprache der Werbung seit Anfang der 80er Jahre angeglichen oder kulturübergreifend standardisiert hat, wie es Vertreter der Konvergenzthese 5 damals prophezeiten. Die kulturkontrastive Untersuchung deutscher und amerikanischer Werbekommunikation erfordert eine detaillierte Klärung des zu Grunde liegenden Kulturbegriffs sowie die Herleitung eines Kommunikationsmodels, das die Konstruktion von Bedeutung zwischen Sendern, Texten und Empfängern in ihrer Abhängigkeit von verfügbaren kulturellen Codes und Kontexten konzeptionalisiert. Beide stehen am Anfang des zweiten Kapitels, das sich dem Überblick über relevante Forschungsliteratur anschließt und kulturwissenschaftliche, medienwissenschaftliche und marketingwissenschaftliche Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand vorstellt und verzahnt. Aufbauend auf der theoretischen Erfassung der Werbung durch ein Kultur- und Kommunikationsmodell wird ihre ökonomische Funktion beleuchtet, die Produktions- und Rezeptionsprozesse maßgeblich strukturiert. Im Weiteren werden zur Kontextualisierung der diachronen Dimension signifikante soziokulturelle und ökonomische Entwicklungen skizziert, die unter den Generaltiteln der Postmoderne und der Globalisierung subsumiert werden. Von ihnen wird angenommen, dass sie die Gesellschaften der Industrienationen in den letzten Jahrzehnten entscheidend geprägt haben und einen Teil des diskursiven Umfelds bilden, in dem die Werbung operiert und operiert hat. Es schließen sich in Kapitel 3 methodologische Überlegungen zur Durchführung kulturkontrastiver Untersuchungen an. Die Auswahl von Produkt, Zeitschriften, Untersuchungszeitraum und Analyseinstrumenten wird umfassend dargelegt und begründet. Als relevante Methoden zur komparativen Anzeigentextanalyse werden die Semiotik und die Inhaltsanalyse diskutiert und in ein Modell integriert, das sowohl die Frequenz von Themen und Mustern als auch ihre Bedeutungen berücksichtigt. Auf die Diskussion wichtiger Elemente und Gestaltungsformen der Analyseeinheit „Anzeige“ folgt die Operationalisierung des Forschungsdesigns als ein mehrstufiger Prozess, in dem Gestaltungsformen und Bedeutungsmuster quantitativ erfasst und durch kontinuierliche Gegenüberstellung bestimmten Kategorien zugewiesen werden. Im thematisch strukturierten Kapitel 4 werden aufbauend auf dem Vergleich von Themenfrequenzen in deutschen und amerikanischen Anzeigen der Jahre 5 Mit seinem Aufsatz “The Globalization of Markets” (1983), in dem er die These von einer unausweichlichen Verwestlichung und Homogenisierung der Kulturen aufstellte und globale Standardisierung als Absatzstrategie der Zukunft postulierte, erreichte insbesondere Harvard-Professor Theodore Levitt disziplinenübergreifend große Aufmerksamkeit. 14 1980/81 und 2005/06 einzelne Beispiele einer detaillierten semiotischen Analyse unterzogen, Parallelen und Differenzen soziokulturell kontextualisiert und ihr Bezug zu Schlüsselkonzepten der amerikanischen und deutschen Kultur untersucht. Der Stellenwert der Untersuchung auf Einzeltextebene lässt sich daran ablesen, dass mitunter die Häufigkeit eines Themas zwischen deutschen und amerikanischen Korpora kaum variiert, seine visuellen und verbalen Realisationen sich aber deutlich voneinander unterscheiden. Gleichzeitig werden Kohärenzen und Divergenzen bezüglich der Frequenz und der Darstellungsformen eines Themas in der diachronen Gegenüberstellung beider Zeiträume aufgezeigt. Während in Kapitel 4 der Vergleich aus interkultureller Perspektive erfolgt – es werden deutsche Anzeigen deutscher Hersteller mit amerikanischen Anzeigen amerikanischer Hersteller kontrastiert – wird in Kapitel 5 diese Perspektive um eine transkulturelle ergänzt, in der deutsche Anzeigen für amerikanische Modelle und amerikanische Anzeigen für deutsche Modelle einem Vergleich unterzogen werden. Hier werden die transkulturellen Strategien der Autoproduzenten analysiert, und es wird ermittelt, inwiefern sich die jeweils ausländischen Unternehmen den kulturellen Kontexten in Deutschland und den USA anpassen. Der Schlussteil fasst kulturspezifische und kulturübergreifende diskursive Formationen neuerer und älterer Anzeigen zusammen und geht der Frage nach, ob und inwieweit auf der Grundlage des diachronen Vergleichs eine Angleichung der Themen- und Formengestaltung in der deutschen und der amerikanischen Anzeigenwerbung zu beobachten ist. Zuletzt werden die aktuellen krisenhaften Entwicklungen in der deutschen und amerikanischen Automobilindustrie aufgegriffen. Auf Basis der Untersuchungsergebnisse werden zukünftige Trends in der Werbung skizziert und ihre empirische Analyse als Ausblick und relevante Fortsetzung dieses Forschungsvorhabens vorgestellt. 1.2 Zur kulturwissenschaftlichen Reflexion von Werbung Das Verhältnis zwischen Werbung, Gesellschaft und Kultur ist etwa seit Mitte des vorigen Jahrhunderts Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen 6 gewesen, als deren Ausgangspunkt Marshall McLuhans The Mechanical Bride (1951) gesehen werden kann. In diesem Buch analysiert McLuhan amerikanische Anzeigen der 40er Jahre und kommt zu dem Schluss, dass Werbung eine totalitäre Kraft sei, die das öffentliche Bewusstsein in “the helpless state engendered by prolonged mental rutting” versetze (1951: V). Demnach manipuliert und paralysiert Werbung die Menschen durch ständige Überreizung. An McLuhans Thesen knüpft in den fol6 Im Folgenden soll insbesondere auf Veröffentlichungen eingegangen werden, die sich auf die deutsche respektive die amerikanische Werbung in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten beziehen. 15 genden Jahrzehnten eine Flut von Untersuchungen an, in deren Zentrum die Frage nach den Auswirkungen von Werbung auf Individuen und die Gesamtgesellschaft steht. Die Gleichsetzung von Werbung mit Manipulation dominiert den Diskurs (vgl. Packard 1957, Harris/Seldon 1962, Bergler 1965, Presbrey 1968, Key 1972, Leymore 1975, Goffman 1979, Courtenoy/Whipple 1983, Sinclair 1987). Am radikalsten ist die marxistische Kritik,7 die letztendlich auf die Abschaffung der Werbung beziehungsweise ihrer kapitalistischen Rahmenbedingungen zielt (vgl. Ewen 1976, Williamson 1978, Jhally 1990, Goldman 1992). Aus ihrer Sicht ist Werbung Pfeiler einer Antikultur des Konsums, die Menschen zu Lakaien der kapitalistischen Klasse degradiert. So schreibt Robert Goldman in Reading Ads Socially: “Its dissolving influence on culture may be advertising’s most significant and haunting historical consequence” (1992: 8). Neben diesem ideologiekritischen Diskurs zeichnen sich seit Mitte der 80er Jahre Positionen ab, die von einer Überschätzung der manipulativen Kraft der Werbung sowohl durch Kritiker als auch durch Befürworter ausgehen (vgl. Schudson 1984). Der Historiker Roland Marchand widerspricht in Advertising the American Dream (1985) – der bisher umfangreichsten Untersuchung der amerikanischen Werbung der 20er und 30er Jahre – der Idee von einer übermächtigen, direkten Wirkung der Werbung auf Rezipienten und betrachtet Werbebilder als “broad frames of reference [that] define the boundaries of public discussion, and determine relevant factors in a situation” (Marchand 1985: XX). Seit Mitte der 90er Jahre scheint die kulturwissenschaftliche8 Reflexion von Werbung sich endgültig von monokausalen Wirkungsmodellen abzuwenden, auf der die Kritik von Werbung als Manipulation basiert. Werbung wird verstärkt als “powerful social text” gedacht (Danesi 1995: 21), der soziale Realitäten nicht neu 7 Im Zentrum der marxistischen Kritik an der Werbung steht das von Karl Marx im ersten Band des Kapital (1867) entwickelte Konzept des Warenfetischismus. Verkürzt ausgedrückt meint Marx hiermit die verfälschende ideologische Gleichsetzung menschlicher Beziehungen mit den in Preisen ausdrückbaren Relationen von Waren untereinander – was wiederum auf die Sichtweise des Menschen als Ware „Arbeitskraft“ zurückzuführen ist. Die Werbekritik bezieht jedoch den Begriff des „Warenfetischismus“ nicht auf den Warencharakter der Arbeit (beziehungsweise des Menschen), sondern auf die Verlockungen, die jede Konsumware auf potentielle Käufer ausübt, womit die Werbung als maßgebliche Instanz des Warenfetischismus erscheint (Hellmann/Schrage 2004: 20). Damit steht nicht mehr das verfälschte „gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst“ (Marx 1962: 86) im Vordergrund, sondern das verfälschte Verhältnis zu den beworbenen und konsumierten Waren, die durch Werbetechnik subjektiv bedeutsame Erfüllungen vortäuschen und authentische individuelle und kulturelle Entfaltung untergraben (Hellmann/Schrage 2004: ebd.). 8 Mit dem Adjektiv „kulturwissenschaftlich“ sollen hier ganz allgemein all jene Forschungsarbeiten belegt werden, die die soziokulturelle Dimension von Werbung fokussieren. In diesem Sinne ist eine kulturwissenschaftliche Perspektive “a series of questions about what we can say about a variety of areas (governmental, legal, economic, etc.) if we approach them as practices of meaning” (Thwaites/Davis/Mules 2005: 1). Eng verbunden, aber keinesfalls deckungsgleich ist diese Herangehensweise mit dem transdisziplinären kulturtheoretischen Ansatz der Cultural Studies, der durch ganz bestimmte Grundpositionen charakterisiert wird (vgl. Grossberg 1994, Grossberg 1997: 245–271). 16 erschafft, sondern sich an gesellschaftliche Strömungen anhängt, sie für seine Zwecke transformiert und potentiell vitalisiert und verstärkt (Schmidt 1995, Fowles 1996, Myers 1999, Danesi 2002, Berger 2007). Werbung interpretiert und dramatisiert demnach Ideale, Wünsche und Werte im Sinne ihrer absatzwirtschaftlichen Zielsetzungen. Sie ist konstitutiver Teil der Konstruktion sozio-kultureller Wirklichkeit und zugleich Faktor der Enkulturation: Der beliebte kultur- und ideologiekritische Vorwurf, Werbung nivelliere, verdumme, trivialisiere, zielt aus konstruktivistischer Sicht daneben. Werbung bekommt nie die Gesellschaft, die sie haben möchte, wohl aber bekommt jede Gesellschaft die Werbung, die sie haben möchte – und die sie verdient. (Schmidt 1995: 43) Wichtiger als die Frage nach dem Effekt von Werbung auf Mensch und Gesellschaft, die zum „Henne-Ei“-Problem geworden ist, ist demnach die Untersuchung der Werbung als omnipräsente, beobachtbare Manifestation kollektiv geteilter Bedeutungssysteme – worin sie wiederum eine Grundlage für die Beschreibung und Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse darstellt – sowie als Indikator soziokulturellen Wandels. Wie eingangs angedeutet, ist dies auch der Ansatz, mit dem sich die vorliegende Untersuchung der Werbung als relevantem Objekt zur Erforschung und Kontrastierung der deutschen und amerikanischen Kultur nähert. Dabei wird davon ausgegangen, dass Werbung sich in besonderer Weise als kulturelles Vergleichsobjekt eignet, da sie populäre Werte und Haltungen aufgreifen muss, um effektiv mit ihren Publika zu kommunizieren.9 Von großer Bedeutung für die vorliegende Arbeit sind semiotische Werbetextanalysen, die verbale und visuelle Strukturen gleichermaßen als kulturell kodierte Zeichenzusammenhänge berücksichtigen. Roland Barthes (1977: 33 ff.) zeigte bereits in seiner wegweisenden Analyse einer Panzani-Anzeige, wie verbale und visuelle Teile einer Anzeige verzahnt und kulturell interpretiert werden können. Im letzten Jahrzehnt ist ein substantieller Bestand an Forschungsliteratur zu verzeichnen, der semiotische Methoden zur Analyse von verbalen und visuellen Medientexten weiterentwickelt und zur Anwendung bringt (Danesi 1995, Roncoroni 1996, Müller 1999, Danesi 2002, Thwaites/Davis/Mules 2005, Geppert 2006). Eine Eingrenzung von Werbeanalysen auf eine bestimmte Produktkategorie wird allerdings nur von Roncoroni (1996) durch seine Fokussierung der Zigarettenwerbung 9 So argumentiert Marchand: “It may be possible to argue that ads actually surpass most other recorded communications as a basis for plausible inference about popular attitudes and values. Among elite communicators, advertisers have been motivated by a particularly direct and intense need to understand and communicate effectively with their audiences” (1985: XIX). Allerdings kann die Werbung angesichts der postmodernen Ausdifferenzierung der Gesellschaften (vgl. Kap. 2.4.1) nicht mehr ohne Weiteres von breitem Konsens und allgemein verbindlichen Symbolwelten ausgehen. Diesen Aspekt muss auch die Analyse berücksichtigen. 17 unternommen, obgleich die in der Werbung verwendeten semiotischen Strategien entscheidend von der Art des Werbeobjektes abhängen. Auf die Automobilwerbung spezialisierte Titel beinhalten meist historische Überblicke ausgewählter Dekaden des 20. Jahrhunderts und selten detaillierte (Bild)Analysen (vgl. Schmidt 1989, Mende 1991, Stevenson 1995, Kriegeskorte 1994, Vaillant 1995, Roth 1996, Steinert 2003, Brenn 2008). Wie die kulturanalytische Werbeforschung im Allgemeinen, sind auch die meisten existierenden Untersuchungen zur Automobilwerbung von einer Abwesenheit kultu rvergleichender Herangehensweisen gekennzeichnet. Hier ist ein Desiderat festzustellen, das erst in den letzten Jahren vereinzelt Beachtung gefunden hat. So untersucht Ursula Wrobel (2003) die semiotischen Strategien, mit denen deutsche und amerikanische Hersteller tabubehaftete Produkte vermarkten, und Mirko Minucci (2008) erarbeitet die historische Entwicklung deutscher und italienischer Autoanzeigen und Plakate. Die kulturübergreifende Betrachtung deutscher und amerikanischer (Automobil-)Werbung setzt hier an und antwortet auf die bereits erwähnte Kritik an den American Cultural Studies, die amerikanische Kultur zu einseitig zu fokussieren.10 Während der interkulturelle Vergleich von Werbung in den Kulturwissenschaften bisher wenig Beachtung gefunden hat, hat er sich hingegen als Methode in der internationalen Marketing- und Werbeforschung etabliert. Im Kontext einer beschleunigten Globalisierung von Unternehmen, einschließlich der Medien- und Werbeindustrie, haben Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen länderübergreifender Werbekampagnen an Bedeutung gewonnen, zu deren Beantwortung eine große Anzahl kulturübergreifender Untersuchungen von Werbestilen und Inhalten anhand von Anzeigen und Spots durchgeführt wurde (vgl. Mueller 1987, Katz/Lee 1992, Albers 1994, Ahmed 1996, Dallmann 1998, Jones 2000, Lin 2001, Xue 2005). In den letzten Jahren wurden vermehrt werbliche Internetseiten einem interkulturellen Vergleich unterzogen (vgl. Hermeking 2005, Okazaki 2006, Singh/Baack, 2004). Die Studien sind für diese Arbeit interessant, da sie relevante Ansätze zur Kategorisierung umfangreicher Werbetextkorpora aufzeigen. Allerdings umfassen die Analysen in der Regel mehrere Produktkategorien und beschränken sich auf die Feststellung von Häufigkeitsunterschieden in Bezug auf bestimmte Charakteristika, ohne dass eine differenzierte Interpretation der quantitativen Ergebnisse erfolgt. Als kulturtheoretischer Ansatz werden häufig sogenannte Kulturstandardtheorien herangezogen, mit deren Typologien quantitative Gemeinsamkeiten und Unterschiede erklärt werden (vgl. Hofstede 1997, Thomas 1996, Trompenaars 1993). Die Fallstricke der Kulturstandards liegen in einer Übergeneralisierung und Stereotypisierung und sind mit einer dynamischen, prozesshaften Idee von Kultur schwer vereinbar. So liefert die isolierte, quantitative 10 So formulieren Neil Campbell und Alasdair Kean in American Cultural Studies: “A […] major source of criticism has focused on a tendency in American Studies to examine American culture on its own without very much attention to cross-cultural comparison” (2008: 3). 18 Beschreibung und Klassifizierung von Kulturen beziehungsweise ihrer Texte keinen Beitrag zu ihrem Verstehen, welches hier interpretativ über die Bedeutungsdimension von Werbetexten innerhalb eines spezifischen kulturellen Kontextes erfolgen soll. 19 2 Werbung im interkulturellen und interdisziplinären Kontext 2.1 Kultur als Bedeutungssystem Der Kulturbegriff, der dieser Arbeit zugrunde gelegt wird, ist ein semiotischer im Sinne der American Cultural Studies11 (vgl. Campbell/Kean 2008), nach dem Kultur die Produktion und den Austausch von Bedeutungen innerhalb gesellschaftlicher Interaktionsprozesse darstellt (Thwaites/Davis/Mules 2005: 1). Kultur wird prinzipiell als kommunikativ vermittelter Prozess aufgefasst, in dem sich Bedeutungen, Ideologien und Identitäten zwischen Zeichen und Einzelpersonen, Gruppen, Klassen und Institutionen generieren. Diese Vorstellung von Kultur überwindet die Unzulänglichkeiten eines anthropologischen Verständnisses von Kultur als „Gesamtheit einer Lebensweise“, die Raymond Williams in seinem Buch Culture im „entscheidenden Fehlen signifikanter relationaler Begriffe“ sieht (1981: 207f.). Die anthropologische Konzeptionalisierung kann relationale Beziehungen zwischen kulturellen Prozessen und beispielsweise ökonomischen Faktoren nicht differenziert in den Blick nehmen, weil beide im Begriff der Kultur gleichermaßen aufgehen. Hingegen ermöglicht das Konzept von Kultur als „Bedeutungssystem“, verschiedene gesellschaftliche Bereiche unter dem Aspekt ihrer Bedeutungen zu untersuchen und sie in einen Zusammenhang mit bestimmten Rahmenbedingungen zu stellen (ebd.). Kulturanalyse meint demnach eher eine bestimmte Untersuchungsperspektive als einen definierten Forschungsgegenstand. Als Bedeutungssystem basiert Kultur auf kollektiven, symbolischen Orientierungssystemen oder Codes, die den Austausch von Bedeutungen ermöglichen. Sie leiten sich aus dem sozialen Umfeld ab, in dem Menschen aufwachsen und ihre Lebenserfahrungen sammeln (Wrobel 2003: 35). Die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gemeinschaft wird nicht ererbt, sondern erfolgt über das Erlernen dieser Codes, die den im Kulturraum erfahrbaren Phänomenen der Dingwelt Bedeutungen zuweisen. Innerhalb des Codes der Sprache werden zum Beispiel bestimmten Laut- oder Schriftfolgen Vorstellungen und Sachen zugeordnet. Voraussetzung 11 Die American Cultural Studies können als interdisziplinärer Ansatz zur Erforschung des konfliktären Prozesses nationalkultureller und historischer Identitätsbildung gefasst werden: “If the problematic nature of national identity is one major concern which recent inquiry in American Studies has addressed, a second is the process of interdisciplinary work” (Campbell/Kean 2008: 4). 20 B. Temath, Kulturelle Parameter in der Werbung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92635-3_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 hierfür ist die Kenntnis historisch geformter und kollektiv verhandelter Konventionen, die die Relationen zwischen Zeichen und Sachen festlegen. Das Konzept des durch Konventionen strukturierten Codes ist grundlegend, da es „die kulturelle Lokalisiertheit von Bedeutung bereits auf der Zeichenebene begründet“ (Hepp 1999: 27). Den Mitgliedern einer Kulturgemeinschaft erscheinen ihre Codes und somit ihre Interpretation der Wirklichkeit jedoch universell, da sie im Sozialisationsprozess internalisiert werden. Ihre Kulturspezifik wird meist erst in interkulturellen Kontaktsituationen sichtbar, in denen aufgrund nicht kongruenter Codes die Kommunikation gestört ist (Wrobel 2003: 38). Codes wie die Sprache spiegeln nicht einfach die kulturelle Realität wider, sondern tragen zu ihrer Konstituierung bei. Sie dienen als Artikulationsmöglichkeiten, “in terms of which we give form, order, point, and direction to our lives” (Betsworth 1990: 15). Ein Code ist somit nie in seiner Gesamtheit beobachtbar, sondern nur auf der Ebene einzelner „Anwendungsbeispiele“. Dieser sichtbare Teil einer Kultur kann als “assemblage of texts” (Clifford 1988: 41) gedacht werden, die keineswegs statisch und homogen verknüpft sind, sondern in einem dynamischen Prozess kollidieren, bestimmte Knotenpunkte bilden, und sich zu dichteren und dünneren Texturen verweben. Wie Buchstaben und Laute können auch Bilder, Objekte und Verhaltensweisen innerhalb codierter Zeichensysteme Bedeutungen generieren. Der Begriff „Text“ umfasst in dieser Arbeit daher nicht nur Geschriebenes oder Gedrucktes, sondern alle bedeutungsvollen Zeichenkombinationen (Barker/Willis 2008: 11). Diesem erweiterten Textverständnis zufolge sind zur Ergründung der Komplexität kultureller Identitäten nicht nur Produkte und Praktiken der vermeintlichen Hochkultur zu analysieren, sondern auch Objekte des Alltags und der Populärkultur. In letztere Kategorie fallen massenhaft distributierte Automobilanzeigen, die hier als Artikulationen kulturspezifischer Codes angesehen und interpretiert werden. Auch das Automobil selbst kann als kultureller Text gelten: Schon auf der Produktionsebene werden beispielsweise durch ein bestimmtes Design Differenzierungen geschaffen, die sowohl in medial vermittelten Diskursen wie der Werbung als auch im Gebrauch durch einen bestimmten Nutzer bedeutsam werden, und in modifizierter Form auf die Produktion zurückwirken.12 Ein primärer Modus kultureller Texte ist das Narrativ: “Through narrative, cultural communities communicate, perpetuate, and develop knowledge about and attitudes toward life” (Betsworth 1990: 15). Charakteristisch für das Narrativ ist das 12 Texte sind also nicht unabhängig von ihren Produktions- und Aneignungsprozessen zu fassen. Eine interpretative, kulturtheoretisch orientierte Medienanalyse betrachtet den Text nicht nur in seinen diskursiven Repräsentationen, sondern fragt, wie er produziert und konsumiert wird, durch welche Mechanismen diese Prozesse geregelt werden, und wie er zur Konstruktion sozialer Identitäten beiträgt. Die Produktion und der Austausch von Bedeutungen sind somit als Instanzen eines „Kreislaufs der Kultur“ zu verstehen (du Gay 1997: 3). 21 zeitliche Moment, das als bedeutungsvolles und strukturierendes Element in ihm erscheint (Berger 1997: 6). Aber nicht nur der narrative Text selbst verfügt über eine zeitliche Dimension; er ist Teil eines kontinuierlichen, historisch lokalisierten Prozesses der Textaneignung und -produktion, in dem sich im Laufe der Zeit die Geschichte beziehungsweise die Geschichten einer Kultur entfalten. Diese durch eine unzählige Anzahl von Texten erzeugten Narrative stellen den diskursiven Rahmen dar, in dem die alltäglich erzählten Geschichten erst sinnvoll werden. Roger Betsworth prägt hierfür den Begriff des kulturellen Narrativs: Cultural narratives differ from the ordinary stories told in a culture. […] The cultural narrative establishes the world in which an ordinary story makes sense. […] Thus a cultural narrative is not directly told. Indeed, the culture itself seems to be telling the cultural narratives. (1990: 15) Kulturelle Narrative sind nicht einem einzigen Autor zuzuordnen, sondern ergeben sich aus einem kontinuierlichen diskursiven Zusammenhang, der die historische Formation kultureller Identität artikuliert. Ein Beispiel für ein kulturelles Narrativ in den USA ist die immer wieder in verschiedenen Abwandlungen reproduzierte Erzählung vom Tellerwäscher, der es allein durch Fleiß und Gewitztheit zum Millionär bringt. Über den Kern der Geschichte – die Idee, dass es in den USA jeder schaffen kann, wenn er nur ausreichend talentiert ist und hart arbeitet – werden kulturelle Werte wie Fleiß und Autarkie vermittelt sowie das grundsätzliche optimistische Bewusstsein, dass der Reichtum des Landes für alle ausreicht, die sich anstrengen. In Bezug auf ihre Funktion sind kulturelle Narrative mit Mythen vergleichbar, die Roland Barthes in Mythologies als unhinterfragte, selbstverständlich erscheinende gesellschaftliche Werthaltungen darstellt: “Myth has the task of giving an historical intention a natural justification, and making contingency appear eternal” (1972: 142). Mythen transportieren Ideologie13, indem sie eine bestimmte Sichtweise der Welt und ausgewählte Werte und Zustände als universell richtig und erstrebenswert darstellen. Die (narrative) Konstruktion von Bedeutungen in Werbeanzeigen ist dementsprechend als Prozess zu analysieren, der in einen diskursiven Zusammenhang kultureller Themen und Narrative eingebettet ist, welcher die Ausdrucks- und Bedeutungsalternativen der Werbung zu einem bestimmten Grad definiert. Kulturelle Narrative und Bedeutungsmuster sind wiederum nicht unabhängig von einem bestimmten sozialen, politischen, historischen oder ökonomischen Kontext zu betrachten, mit dem sie in dynamischer Interaktion stehen. So wird in dieser Arbeit gefragt, wie Automobile in der Werbung vor dem Hintergrund spezi13 “The concept of ideology refers to maps of meaning that, while they purport to be universal truths, are historically specific understandings which obscure and maintain power” (Barker/Willis 2008: 56). 22 fischer zeitgenössischer Diskurse „bedeuten“. Das Konzept des kulturellen Narrativs erweist sich dabei als wichtiges Instrument, um Kohärenzen zwischen Anzeigentexten und anderen kulturellen Texten aufzuzeigen. Allerdings dürfen kulturelle Narrative nicht in einem essentialistischen Sinn als Definition des kulturellen Charakters aufgefasst werden, denn jedes dominante Narrativ produziert eine subversive Variante (Grünzweig 1996: 16). Insofern ist es von entscheidender Bedeutung, zu untersuchen, wie eine Kultur „Geschichten, […] also kulturelle Narrative, erzählt und umerzählt“ (Cortiel/Grünzweig 2001: 31, Herv. i. O.). Die Textanalyse kann und soll nicht dazu dienen, grundlegende kulturelle Selbstbilder, Normen und Werte von Kulturen typologisch abzuleiten, sondern gerade die Komplexität und innere Differenzierung kultureller Erfahrung aufzeigen, die wiederum an gesellschaftliche Machtverhältnisse gekoppelt ist. Die American Cultural Studies lehnen ein Konzept von Kultur als statisches Gebilde von bestimmten Werten und Verhaltensweisen ab; sie zielen im Gegenteil auf die Darstellung der Heterogenität kultureller Erfahrung (Campbell/Kean 2008: 11f.). Aus dieser Perspektive gelten Texte weniger als Reflektionen oder Spiegelungen einer Kultur, sondern als Repräsentationen, das heißt unhintergehbare Teile des heterogenen, diskursiven Prozesses, den der Begriff Kultur beschreibt. Werbeanzeigen sind entsprechend nicht primär bezüglich ihres Grades zu analysieren, mit dem sie eine statistisch erfassbare gesellschaftliche Realität spiegeln oder verzerren. Vielmehr sind sie als Bestandteile dieser Realität im Hinblick auf die Prinzipien und Strategien zu untersuchen, mit denen sie zu ihrer kommunikativen Konstruktion beitragen. Der hier angestrebte Vergleich nimmt hypothetisch an, dass Werbestrategien und -formen kulturspezifische Textformen darstellen. Soziokulturelle Bedingungen prägen die materielle Erscheinungsform von Gegenständen und die symbolischen Bedeutungen, die sich mit ihnen verbinden; die Werbung greift sowohl materielle als auch symbolische Eigenschaften auf und stellt sie in neue Sinnzusammenhänge, wobei sie bestehende Diskurse und Narrative in einem kulturellen System ihrer Zielsetzung entsprechend instrumentalisiert und transformiert. Der Gewinn der Methode des Vergleichs liegt darin, aus einer übergreifenden Perspektive heraus diese intrakulturellen diskursiven Prozesse verständlich machen zu können. 2.2 Enkodieren/Dekodieren im Werbediskurs Medientexte, zu denen auch die hier untersuchten Werbeanzeigen zählen, treten nicht in Isolation auf. Sie sind Elemente eines fortlaufend diskursiven und kommunikativen Prozesses, in dem sich Bedeutungen durch Interaktion von Produzenten, Texten und Rezipienten konstituieren (Hepp 1999: 30). In Bezug auf die Werbung ist dieser Prozess insofern zu spezifizieren, als Produzenten und Rezipienten 23 prinzipiell Anbieter und Nachfrager von Produkten darstellen; es handelt sich also um einen kommunikativen Vorgang, der in engem Zusammenhang mit Austauschprozessen auf bestimmten Märkten steht. Diese Feststellung scheint banal, ist aber in der Analyse stets zu berücksichtigen, da der kommerzielle Charakter der Werbung – ihre Absicht, die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen zu steigern – sowohl den Produktions- als auch den Rezeptionsprozess maßgeblich beeinflusst (vgl. Kap. 2.2.1). Die Kommunikation zwischen Anbietern und Nachfragern erfolgt über technische Medien oder persönliche Ansprache und gleichzeitig über das Produkt selbst, das durch physisch greifbare Eigenschaften wie Design, Farbe, Geruch und Geschmack bestimmte Informationen und Bedeutungen vermittelt. Das Autodesign beispielsweise hat im Transaktionsprozess zwischen Käufer und Marke einen exponierten Stellenwert (Gottschalk 2005: 21). Zu unterscheiden sind grundsätzlich Formen der Individualkommunikation wie zum Beispiel persönlicher Verkauf oder Direktwerbung und Formen der Massenkommunikation. Autoanzeigen in Publikumszeitschriften fallen in die letztere Kategorie einer massenhaft distributierten Form der Marktkommunikation, in der Texte „indirekt mit Hilfe technischer Verbreitungsmittel (wie zum Beispiel Rundfunk, Zeitungen, etc.) an ein disperses Publikum einseitig, das heißt ohne Feedback, herangetragen werden“ (Schweiger/Schrattenecker 2005: 7). Ob tatsächlich Kommunikation stattfindet, das heißt, ob Rezipienten die an sie gerichteten Botschaften wahrnehmen und in der intendierten Weise interpretieren, bleibt in diesem Vorgang offen. Werbung stellt also nicht die kommunikative Beeinflussung dar, sondern eine „beabsichtigte Beeinflussung von marktrelevanten Einstellungen und Verhaltensweisen ohne formellen Zwang unter Einsatz von Werbemitteln und bezahlten Medien“ (Janich 2005: 18, Herv. i. O.). Der kommunikative Prozess, den die Werbung beabsichtigt, wird in vielen werbewissenschaftlichen Texten als Transmissionsmodell konzeptionalisiert (vgl. Schweiger/Schrattenecker 2005, Arens 2006). Dieses Schlagwort subsumiert all jene Modelle, die Kommunikation als linearen Prozess begreifen, bei dem Botschaften, die gleichsam Bedeutung als statisches Element enthalten, von einem Sender an einen Empfänger „übertragen“ werden (van Zoonen 1996: 68). Ein Beispiel hierfür ist das Modell von Harold Laswell, der die Frage-Reihe „Wer sagt was in welchem Kanal zu wem mit welchen Folgen?“ als Leitfaden für die Kommunikationsforschung postulierte (vgl. Laswell 1948). Die Kritik der Werbung als Manipulation eines unwissenden Konsumenten (vgl. Kap. 1.2) basiert größtenteils auf dieser Konzeption und der mit ihr verbundenen Wirkungserwartung. Ein solches, an das Stimulus-Response-Prinzip angelehntes Modell übersieht, dass die Produktion und Aneignung von Bedeutung einen komplexen, soziokulturell lokalisierten Vorgang darstellt und ist als theoretischer Ausgangspunkt für die kulturvergleichende Analyse semiotischer Strategien in Werbeanzeigen nicht geeignet. 24 Den Transmissionsmodellen steht ein kulturanalytisches Modell gegenüber, das einer konstruktivistischen Epistemologie verpflichtet ist und den umfassenden kulturellen Zusammenhang der Medienkommunikation stärker in den Blickpunkt rückt (Grossberg/Wartella/Whitney 1998: 25). Kommunikation wird nicht als lineare Übertragung von Informationen gedacht, sondern als „der konfliktäre Prozess der Konstruktion eines geteilten Raums von Bedeutung […] innerhalb dessen Menschen koexistieren“ (Hepp 1999: 159). Den aus einem solchen Verständnis resultierenden Analyseansatz exemplifiziert das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall, das dieser erstmals 1973 in dem Vortrag “Encoding and Decoding in the Television Discourse” am Centre for Mass Communication Research der Universität Leicester darlegte. Es greift auf semiotische Überlegungen zurück, indem es Verstehen und Missverstehen im Kommunikationsprozess vom Umfang der Codes abhängig macht, die Produzenten und Rezipierende teilen (Hall 1996: 44).14 Hall erläutert sein Modell am Beispiel des Fernsehens; es lässt sich aber auf mediale Diskurse im Allgemeinen und den Werbediskurs im Besonderen übertragen. Demnach stellt die medial vermittelte Werbekommunikation einen Prozess dar, in dem der Werbetext auf nicht hintergehbare Weise zwischen der Enkodierung und der Dekodierung von Bedeutung lokalisiert ist. Beide Vorgänge werden durch bestimmte Mechanismen geregelt. So ist nach Hall bei einer kulturtheoretisch orientierten Medienanalyse zu berücksichtigen, in welchen Institutionen zu welchen Rahmenbedingungen und zu welchen Zwecken Produktion und Rezeption stattfinden. Sowohl Medieninstitutionen als auch Rezipierende werden als aktive Teilnehmer des Kommunikationsprozesses aufgefasst, die mithilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Codes Bedeutungen produzieren. Sie sind allerdings nicht gleichberechtigt: “The consumption or reception […] is thus also itself a moment of the production process in its larger sense, though the latter is ‘predominant’ because it is the point of departure for the realization of the message” (Hall 1996: 43). Wenn an Michel Foucaults diskurstheoretische Überlegungen anknüpfend davon ausgegangen wird, dass bedeutungsvolle Diskurse immer mit Macht verbunden sind – nämlich der Macht, Wissen zu produzieren und zu verbreiten (1992: 58) –, dann ist festzuhalten, dass die Unternehmen beziehungsweise ihre werbetreibenden Instanzen im Bedeutungsproduktionsprozess mächtiger sind als die Rezipierenden. Sie haben die Möglichkeit, über den Einsatz der Massenmedien für ihre Darstellungen und Ansichten „Zustimmung zu gewinnen, untergeordnete Interessen einzubeziehen, populär zu werden“ (Hall 2004: 74) und sich soziale Autorität durch kollektive Zustimmung oder Hegemonie anzueignen. Die Werbung ist ein 14 Das Encoding/Decoding-Modell blieb nicht unkritisiert (vgl. Wren-Lewis 1983, Morley 1992, Pillai 1992), soll hier aber trotzdem Verwendung finden, da es Medientexte, wie sie auch Werbeanzeigen darstellen, in einen umfassenden soziokulturellen Bezugsrahmen verlagern, ohne dessen Berücksichtigung die hier angestrebte kulturkontrastive Analyse nicht möglich ist. 25 hegemonialer Diskurs, der tendenziell die dominierenden Normen, Werte und Handlungsweisen einer Gesellschaft reproduziert, damit sie auf breite Zustimmung hoffen kann. Darstellungen, die Konventionen und Werte untergraben und Tabus verletzen, können der Werbung zwar das kostbare und knappe Gut der Aufmerksamkeit verschaffen, sind aber auch riskant, weil sie zu Unverständnis und Ablehnung führen können. In Bezug auf Halls Modell wäre in diesem Fall die Äquivalenz von “meaning structures 1” und “meaning structures 2” (Hall 1996: 43) nicht gegeben, wobei eine vollständige Kongruenz sowieso als Abstraktion gelten muss, da die kulturellen Wissensvorräte oder Codes zwischen Produzenten und Rezipienten auch innerhalb eines kulturellen Systems nie identisch sind. Die folgende Abbildung zeigt eine leicht abgeänderte Version von Halls Modell und dient als theoretischer Rahmen für die Analyse von Bedeutungen in der Werbung unter Berücksichtigung spezifischer institutioneller und soziokultureller Kontexte: Abb. A: Encoding/Decoding-Modell Programm als sinnhafter Diskurs SinnStrukturen 1 Encoding (Produktion) Wissensrahmen ProduktionsVerhältnisse Technische Infrastruktur Quelle: Hall 1996: 43 SinnStrukturen 2 Decoding (Rezeption) Wissensrahmen ProduktionsVerhältnisse Technische Infrastruktur . . Im Folgenden werden die verschiedenen Konstituenten und Teilprozesse des Modells im Hinblick auf die Werbekommunikation genauer spezifiziert. 2.2.1 Enkodieren Der Werbeprozess kann beispielsweise damit beginnen, dass ein Automobilhersteller ein neues Modell einführen und Neugierde und Aufmerksamkeit bei potentiellen Käufern wecken will. Umgesetzt wird dieses Ziel in der Regel nicht vom Unternehmen selbst, sondern von einer dienstleistenden Werbeagentur, die einen 26 visuell und verbal greifbaren Werbeinhalt und eine Mediastrategie entwickelt, die speziell auf das zu erreichende Ziel, das Produkt, die anvisierte Konsumentengruppe sowie länderspezifische Werberegulationen zugeschnitten sind. Bei der Analyse von Werbetexten ist es demnach notwendig, zwischen dem eigentlichen Sender (in der Regel ein oder mehrere Agenturmitarbeiter) und dem Sender zu unterscheiden, der im Text selbst konstruiert wird. Meist präsentiert sich ein Unternehmen oder eine Marke als Sender, während die verantwortliche Werbeagentur nicht in Erscheinung tritt. Im Gegensatz zu textuellen Anhaltspunkten ist Wissen über die Intention, die einzelne Mitarbeiter, Agenturen oder Unternehmen mit einer Werbeanzeige oder Kampagne verfolgten, nicht immer verfügbar. Insbesondere die Untersuchung einer großen Anzahl von Anzeigen, deren Erstellung Jahrzehnte zurückliegt, wirft den Forscher auf die eigenen Ressourcen zurück. Daher ist es nahe liegend, anstatt des eigentlichen Senders den Adressanten in den Blick zu nehmen – “the position [the text] constructs as its source: where it says it is from” (Thwaites/Davis/Mules 2005: 16, Herv. i. O.). Analog dazu wird als Adressat “the position it constructs as its destination: where it says it is going” verhandelt, also der Ort, den die Werbeanzeige durch verschiedene textuelle Hinweise als Bestimmung vorgibt (ebd.: 17, Herv. i. O.). Auf diese Weise ist es möglich, textuelle und kontextuelle Strukturen zu fokussieren, ohne in Spekulationen über mögliche Intentionen und Wirkungen zu verfallen, die vor allem bei einer diachronen Analyse schwer zu ermitteln sind. Die Auswahl und Anordnung von Codes, die in Werbeanzeigen die Botschaft des Adressanten konstituieren, wird maßgeblich von spezifischen ökonomischen Zielen strukturiert (vgl. Kap. 2.3). So leitet sich aus dem persuasiv-kommerziellen Charakter der Werbung eine in der Regel positive Überzeichnung des dargestellten Produktes, seiner potentiellen Nutzer und seines Nutzungskontextes ab. Negative oder abstoßende Bilder und Schlagzeilen bleiben in der Werbung die Ausnahme, um eine assoziative Verbindung mit dem Produkt zu vermeiden. Darüber hinaus wissen Werbetreibende, dass Konsumenten die verkaufsfördernde Intention der Werbung kennen und ihre Glaubwürdigkeit im Vergleich mit anderen Medientexten gering einstufen (Wehner 1996: 152). Das Suggerieren von Wissenschaftlichkeit und Informativität, das viele der hier untersuchten Autoanzeigen charakterisiert, stellt ebenso wie der häufige Appell an tief in der Psyche des Konsumenten lokalisierte Geltungsbedürfnisse eine Strategie dar, mit der das Glaubwürdigkeitsproblem beantwortet oder umgangen werden soll. Daneben muss die Gestaltung der Werbung auch auf den Umstand eingehen, dass sie in der Regel nicht gezielt konsumiert, sondern im Gegenteil zum Beispiel durch Zapping15 gezielt vermieden wird. Um die Finger der Zapper zu lähmen oder 15 “Zapping is the process of avoiding ads by switching among channels. Zapping has been facilitated by remote controls and the larger number of channels available, especially to cable subscribers” (Tellis 1998: 122). 27 den fliegenden Blick des Magazinlesers festzuhalten, muss die Werbung zum Beispiel durch den Einsatz von Schlüsselreizen oder ungewöhnliche Gestaltung punkten (vgl. Schmidt 1995: 49). 2.2.2 Dekodieren Das Dekodieren von Werbeanzeigen kann analog zum Enkodieren als Moment der Produktion verstanden werden, da dem medialen Diskurs erst in seiner Aneignung eine spezifische Bedeutung zukommt. Nach Hall kann eine Botschaft erst dann eine Wirkung haben – bezogen auf die Werbung bestünde diese beispielsweise in der Verbesserung eines Produktimages oder im Produktkauf –, wenn sie als sinnhaft angeeignet wird (Hall 1996: 43). Der Prozess des Dekodierens wird durch bestimmte Mechanismen strukturiert, deren Kenntnis für die Produzenten oder Werbetreibenden von äußerster Wichtigkeit ist, um das Gelingen der Kommunikation sicherzustellen. Insbesondere die kulturellen Wissensvorräte der Rezipierenden, die entlang soziodemographischer und psychographischer Parameter16 variieren können, spielen hier eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus ist, wie bereits angedeutet, das meist geringe Interesse der Rezipierenden an der Werbung zu berücksichtigen. Die durchschnittliche Beachtungszeit einer Anzeige beträgt nur knapp zwei Sekunden, es sei denn, der Konsument sucht gezielt Informationen zu einem Produkt17 (Kroeber-Riel 1993: 15). Diese Rezeptionsumstände wirken auf die Produktionspraxis zurück: Werbung wird zunehmend unterhaltsamer und visueller gestaltet, um vom Konsumenten bereitwilliger und schneller wahrgenommen zu werden. Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle des Mediums im Rezeptionsprozess. Marshall McLuhans Formel “The medium is the message” kann hier zu einem wichtigen analytischen Anhaltspunkt werden, der es ermöglicht, die mit einem bestimmten Medium verbundenen Rückwirkungen differenziert in den Blick zu nehmen (vgl. McLuhan 2001). Magazine, Poster, Fernsehspots, Radiospots oder Internetbanner unterscheiden sich zum Teil erheblich in Bezug auf die Heterogenität ihrer Zielgruppen, die zur Verfügung stehenden gestalterischen Mittel und die Rezeptionsorte und Kontexte, so dass die Frage nach der Bedeutungs(re)konstruktion in der Werbung immer das gewählte Medium mit berücksichtigen muss. 16 Zu den soziodemographischen Merkmalen gehören äußerlich feststellbare Charakteristika wie Alter, Geschlecht, Einkommen und Beruf; zu den psychographischen Merkmalen mentale Eigenschaften wie zum Beispiel Denkweisen, Fühlen und Vorurteile (vgl. Janich 2005: 24). 17 Die Rolle, die ein Produkt zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben des Konsumenten spielt, determiniert sowohl die Bereitschaft, Werbeinformationen aufzunehmen als auch die Interpretation dieser Informationen. 28 2.2.3 Das Publikum als source Aufgrund des an die Werbung gerichteten Imperativs, effektiv mit einer definierten Zielgruppe zu kommunizieren, müssen Werbetreibende eine möglichst große Kongruenz zwischen enkodierten und dekodierten Botschaften anstreben: “the audience is both the ‘source’ and the ‘receiver’ of the television message” (Hall 1996: 42). Will Werbung ihrer ökonomischen Funktion nachkommen und das Interesse einer bestimmten Zielgruppe von Konkurrenzprodukten ablenken und auf ein bestimmtes Produkt fokussieren, muss sie sich mit den Codes, die diese Gruppe nutzt, vertraut machen und Bilder, Ideen und Themen in die Werbebotschaft integrieren, die auf ihre spezifischen, aktuellen kulturellen Wissensvorräte rekurrieren. Hierzu gehören auch die Bedeutungen, Erwartungen und Nutzungskontexte, die die anvisierten Rezipienten dem Produkt zuschreiben. Die Ergebnisse der Markt- und Lebensstilforschung, aber auch tagesaktuelle Ereignisse, Erzeugnisse und Figuren der Populärkultur sowie kulturelle Artefakte und Symbole im Allgemeinen bieten reichhaltiges Material, auf dessen Grundlage einem Automobil für eine bestimmte Zielgruppe neue Bedeutungen verliehen werden können. So dient die Zielgruppe als Referenz für die Werbung, und die Werbung umgekehrt als Referenz für die Zielgruppe, wenn sie sinnhaft angeeignet wurde. In diesem Fall bildet die Werbung mit anderen medialen Repräsentationen ein mythologisches Reservoir, welches Konsumenten nutzen, um den Rahmen des polysemen Bedeutungsraumes eines Produktes – zum Beispiel des Automobils – zu definieren. Werbung wird zu einem wichtigen Bezugspunkt für die Bedeutung von Objekten in der sozialen Welt. Diese soziokulturelle Dimension eines Objektes hat in der postmodernen Konsumkultur zunehmend Vorrang vor dem instrumentellen Nutzen einer Sache, wie Mike Featherstone in Consumer Culture and Postmodernism formuliert: “Consumption must not be understood as the consumption of use-values, a material utility, but primarily as the consumption of signs” (1994: 85). Dabei sind die in der Werbung vermittelten Objektbedeutungen nicht notwendigerweise in der Eigenart der Sache motiviert, sondern arbiträr und konstruiert,18 und setzen sich eklektisch, die Grenzen von Hoch- und Populärkultur, von Kunst und Kommerz, von Vergangenheit und Gegenwart überwindend, aus kulturellen Ressourcen zusammen (vgl. Jameson 1984). Da ihr die Aufmerksamkeit eines Betrachters selten mehr als wenige Sekunden zuteil wird, tendiert die Werbung zu stereotypen und vereinfachenden Bedeutungsmustern, die von einer großen Anzahl von Menschen schnell und leicht dekodiert werden können. Sie orientiert sich in der Regel an den etablierten, dominanten und hegemonialen Zeichen- und Wertsystemen innerhalb einer bestimmten 18 So wurden zum Beispiel Marlboro-Zigaretten bis in die 50er-Jahre als „Frauenzigaretten“ vermarktet, bis aufgrund von Umsatzschwierigkeiten der Imagewechsel hin zum Symbol von rauer Männlichkeit stattfand (vgl. Savan 1994). 29 kulturellen Gemeinschaft, um möglichst breiten Konsens zu erzielen (Holbrook 1987: 10). Allerdings muss die Werbung, will sie Aufmerksamkeit erreichen und halten, die bekannten Symbole in neuem Gewand präsentieren. Innerhalb dieses ständigen Spannungsverhältnisses zwischen Konvention und Kreativität kann Werbung nicht auf manipulative und subversive Weise soziale Realitäten neu erschaffen, wohl aber bestehende kulturelle Ordnungen verstärken, indem diese dem Zeitgeist angepasst und wieder in diskursiven Umlauf gebracht werden. Die formale Gestaltung einer Werbeanzeige ist ebenso Ausdruck soziokulturell und historisch lokalisierter, dominanter Diskurse wie die in ihr repräsentierten Objekte, Menschen und Zusammenhänge und ihre antizipierten Bedeutungen. 2.2.4 Der Text als sinnhafter Diskurs Im Mittelpunkt von Halls Modell steht der Medientext, der in der vorliegenden Untersuchung als gedruckte Werbeanzeige in Erscheinung tritt. Die vorherigen Ausführungen haben verdeutlicht, dass dem Medientext keine eindeutige Bedeutung zugeschrieben werden kann: Er ist polysem, das heißt er erlaubt unterschiedliche Interpretationen (Hall 1996: 45). Aber Polysemie darf nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden, denn Texte legen durch Struktur und Platzierung im kulturellen Diskurs bestimmte Interpretationen nahe. Die Existenz kollektiv geteilter Codes, die eine Kultur charakterisiert, führt unausweichlich zur Dominanz bestimmter Auslegungen, auch wenn diese nicht univokal unterstützt werden. Hall betont, dass die Bedeutungskonstitution innerhalb einer Kultur kein individueller, willkürlicher Prozess ist, sondern nach bestimmten, kollektiven Mustern verläuft (ebd.). Ziel einer Analyse von Werbetexten kann es demnach nicht sein, die Bedeutungen in einer Interpretation zu identifizieren, sondern den Rahmen für mögliche Bedeutungen festzulegen, indem die in ihnen operierenden Codes in ihrem diskursiven Kontext transparent gemacht werden. So sind zum Beispiel Werbeanzeigen des ersten Untersuchungszeitraumes in der diskursiv strukturierten, kulturellen Auseinandersetzung um die Rolle des Automobils in der Gesellschaft lokalisiert, die durch die Ölkrisen 1973 und 1979 19 ausgelöst wurde. Die Werbeanzeigen greifen die sich verstärkende Kritik am Automobil auf und versuchen durch bestimmte Strategien, 19 Im Herbst 1973 begann die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), die Fördermengen zu drosseln, um politischen Druck auf einige Importeure – insbesondere die USA und ihre Verbündeten – auszuüben, mit deren Haltung zum Yom-Kippur-Krieg OPEC-Staaten nicht einverstanden waren. Das Öl verteuerte sich bald um etwa 70 Prozent. Das Ölembargo hatte weitreichende negative Auswirkungen auf die Wirtschaftslage der Industrienationen. 1979 fanden nach der Revolution im Iran und den mit ihr verbundenen Förderausfällen wieder Preissteigerungen statt. Allerdings waren die Auswirkungen im Vergleich mit der Krise 1979 in Deutschland und den USA weniger signifikant (Rae 1984: 153). 30 das Automobil weiterhin als Symbol von Freiheit und Selbstbestimmung zu legitimieren. Da Medientexte wie die Werbung einen omnipräsenten Teil der soziokulturellen Wirklichkeit darstellen, ist eine konzeptuelle Trennung zwischen Medienrealität und gesellschaftlicher Realität problematisch (Schmidt 1995: 24f.; vgl. Kap. 2.1). Die kulturelle Signifikanz von Werbeanzeigen und ihrer Analyse liegt darin, dass sie einen omnipräsenten Teil einer kulturellen Wirklichkeit darstellen, in deren diskursive Netzwerke sie eingebettet ist und die bestimmte Formen der Darstellungen erst aussprechbar und verstehbar machen. Das Enkodieren und Dekodieren von Werbeanzeigen stellt entsprechend eine signifikante soziale Praktik dar, die bestimmten Narrativen und den in ihnen vermittelten Werthaltungen neuen Ausdruck verleiht und sie zum Ausgangspunkt weiterer diskursiver Auseinandersetzung macht. Aus dieser Perspektive greift die bisherige Definition von Werbung (vgl. Kap. 2.2) zu kurz, da sie ihre kulturelle Bedeutungsdimension nicht in den Blick nimmt. Sie soll hier durch eine kulturanalytisch orientierte Definition erweitert werden: Advertising is a system of symbols synthesized from the culturally determined ways of knowing that seeks to establish powerful, persuasive and long lasting moods and motivations [...] formulating conceptions of a general order of existence [...] and clothing these conceptions with such an aura of factuality that the moods and motivations seem uniquely realistic. (Sherry 1987: 425) Die Analyse von Werbeanzeigen muss entsprechend über die Ebene der „favorisierten Lesart“,20 der unkritischen Wiedergabe der Verkaufsbotschaft, hinausgehen und eine „oppositionelle Lesart“ anstreben, die den Werbetext dekonstruiert und in seinen gesellschaftlichen Implikationen analysiert (Hepp 1999: 116). So wird in einer an den Poststrukturalismus angelehnten Herangehensweise die scheinbar selbstverständliche Stabilität des Textes über die Aufdeckung der in ihn eingeschriebenen Machtverhältnisse hinterfragt: „Dekonstruktives Lesen versucht, verborgene, versteckte Strukturen aufzuspüren, Ordnungs- und Wertsysteme zu zerbrechen, um das, was sie verstecken, zu befreien und transparent zu machen“ (Grünzweig 1996: 9). Konkret bedeutet dies, in einem ersten Schritt zu untersuchen, mit welchen Repräsentationen von Menschen, Objekten und Sachverhalten Anzeigen für ihre Sache werben, und in einem nächsten Schritt die Frage zu beantworten, an welche kulturellen Kontexte, hegemonialen Diskurse und Narrative 20 Ausgehend von der Polysemie von Medientexten liegt es für Hall nahe, dass es unterschiedliche Positionen im Prozess des Dekodierens gibt, die er idealtypisch in die dominant-hegemoniale Position oder favorisierte Lesart, die ausgehandelte Lesart und die oppositionelle Lesart einteilt. Die favorisierte Lesart zeichnet sich durch die Übernahme der hegemonialen, intendierten Sichtweisen aus, während die ausgehandelte Lesart die Darstellung des Produzenten akzeptiert, aber zugleich teilweise diese Definition von einem subversiven Standpunkt aus hinterfragt. In der oppositionellen Lesart wird die Botschaft aus einer dem dominanten Diskurs entgegengesetzten Perspektive dekonstruiert (Hall 1996: 46ff.). 31 diese Repräsentationen anknüpfen. Auf diese Weise können die quasi natürlich und universell erscheinenden Darstellungen der Werbung als Manifestationen bestimmter ökonomischer, soziokultureller und historischer Formationen verstanden werden. Die vergleichende Perspektive kann hierbei helfen, Prozesse der Gewöhnung an bestimmte Darstellungsformen zu durchbrechen und eine kritische Perspektive einzunehmen. 2.3 Die ökonomische Dimension der Werbung 2.3.1 Status der Werbeindustrie in der BRD und den USA Die Werbeindustrie ist sowohl in den USA als auch in Deutschland ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, wobei aufgrund unterschiedlicher Marktgrößen die Bruttowerbe-investitionen in den USA um ein Vielfaches höher liegen als in Deutschland: sie betrugen 2006 in den USA 149,6 Milliarden Dollar (TNS 2007) gegenüber umgerechnet 20,3 Milliarden Dollar in Deutschland (ZAW 2007). In beiden Ländern blickt die Werbebranche auf eine lange Geschichte zurück: Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Karl Benz und Gottlieb Daimler in Deutschland und Charles und Frank Duryea in den USA die ersten benzinbetriebenen Autos bauten21 (Rae 1984: 11f.), hatte sich eine professionalisierte Werbeindustrie herausgebildet. Durch die Ausprägung der kapitalistischen, industriellen Massenproduktion war eine bis dato unvorstellbare Auswahl von Gütern für den durchschnittlich verdienenden Konsumenten erschwinglich geworden. Sinkende Stückkosten bei steigender Produktion verhießen den Herstellern Gewinnzuwächse, sobald es ihnen gelang, den Absatz anzukurbeln (Kloss 2000: 29). Zugleich ermöglichten der Ausbau des Verkehrswesens, technische Entwicklungen im Druckwesen, ein höherer Lebensstandard und ein gesteigertes Bildungsniveau die massenhafte Verbreitung von Printmedien, die als Werbeträger dienten. Im Gegensatz zur deutschen Presse konnte sich die amerikanische frei von Zensur und Besteuerung entwickeln, und zwischen Werbetreibende und Werbeträger schoben sich bald die ersten Agenturen, die spezialisiertes Wissen über das zunehmend komplexe Mediensystem, gezielte Werbebuchungen und gestalterische Dienstleistungen anboten (ebd.). Die 1842 von V.A. Palmer in Philadelphia gegründete Werbeagentur ging als erstes Unternehmen dieser Art in die Geschichte ein (Leiss/Kline/Jhally 1997: 136). 1917 wurden in den USA bereits 95 Prozent 21 Benz und Daimler stellten 1885 das erste funktionstüchtige Automobil fertig. Auf der Grundlage eines Artikels über das Benz-Automobil, der im Scientific American erschien, konzipierten und bauten die Duryea-Brüder 1893 das erste erfolgreiche Automobil auf dem amerikanischen Kontinent (Rae 1984: 11f.). 32 aller Werbevorgänge durch Agenturen begleitet, die nicht nur Anzeigenraum vermittelten, sondern auch die kreative Gestaltung der Anzeigen übernahmen (ebd.). In Deutschland war dagegen das professionelle Werbesystem bis in die 1920er Jahre durch sogenannte Annoncen-Expeditionen gekennzeichnet, die Anzeigenraum von Verlagshäusern pachteten und vermittelten, während die Gestaltung den Unternehmen weiterhin überlassen blieb. Der ökonomische Liberalismus der Weimarer Republik begünstigte jedoch die Adaptierung internationaler Tendenzen in die deutsche Werbepraxis. Die ersten amerikanischen Tochtergesellschaften etablierten sich in Berlin, und bereits Ende der 1920er Jahre funktionierten deutsche und amerikanische Werbeagenturen nach dem gleichen Prinzip (Ingenkamp 1996: 221). Eine zwangsläufige Folge der zunehmenden Produktauswahl und Werbeintensität war die Herausbildung von Markenartikeln (vgl. Kap. 2.3.2). Die Werbung gab den Produkten Namen und Persönlichkeiten, um sie von Konkurrenzprodukten zu differenzieren (Kloss 2000: 32). Angesichts der Vielzahl gesättigter Märkte ist Werbung heute mehr den je als Maßnahme zur Markenbildung und -stärkung zu verstehen. Marken sind mit das größte Kapital von Unternehmen: 2008 wurde der Wert der Marke Coca-Cola auf etwa 66,6 Milliarden Dollar geschätzt, die damit das Ranking der weltweit teuersten Marken anführt. Die wertvollsten Automarken sind Toyota und Mercedes mit 34 respektive 25,5 Milliarden Dollar (Interbrand 2008). In diesem Kontext kommt dem Markenmanagement, das Werbe- und Kommunikationsmaßnahmen steuert, immer größere Bedeutung zu. Weltweit führende Agenturnetzwerke präsentieren sich entsprechend als Spezialisten der Markenbildung durch Kommunikation: “To be valued most by those who value brands” ist zum Beispiel 2008 laut internationaler Homepage die Mission der Agentur Ogilvy und Mather; „Wir kreieren den Mehr-Wert […] für Marken. Für Kunden. Für Mitarbeiter“ die der Grey-Deutschland-Gruppe. Im Laufe der Zeit haben sich Werbeformen, Werbeträger, Zielgruppen, Arbeitsmethoden und Berufsbilder in den Agenturen immer weiter ausdifferenziert. Werbeagenturen offerieren heute Dienstleistungen, die sich von klassischer Werbung über Public Relations bis hin zu Direktmarketing und Sponsoring erstrecken. Dabei werden die Zielgruppen dieser Kommunikationsaktivitäten aufgrund der gesellschaftlichen Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen immer schwerer fassbar (Schmidt 1995: 40; vgl. Kap. 2.4.1). Der Ausdifferenzierung der Zielgruppen entspricht die kontinuierliche Proliferation und Fragmentierung der Medien und Medienmärkte im letzten Jahrhundert. Waren Anfang des 20. Jahrhunderts noch Zeitung, Zeitschriften und Plakate die einzigen Werbeträger, erhielten sie bereits in den 20er Jahren durch das Radio neue Konkurrenz. Insbesondere in den USA wurde das Radio zum beliebten Werbemedium, das im Gegensatz zum staatlich kontrollierten und finanzierten deutschen sehr bald ausschließlich von diesen Einnahmen lebte. In den 1950er Jahren wurde in den USA das Fernsehen 33