DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Patienten mit HIV-Infektion erleiden im Verlauf der Erkrankung eine allmählich zunehmende Einschränkung ihrer geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit. Besonders deutlich eingeschränkt ist diese im Endstadium der Krankheit AIDS. Anhand der Stadieneinteilung im Verlauf einer Helga Exner-Freisfeld und Eilke B. Helm HIV-Infektion wird der Grad der Behinderung Wahrscheinlichkeit der zeitliche Ab- schwere opportunistische Infektio(GdB) für die Anwendung lauf der Erkrankung erkennen. nen und seltene Tumoren gekennNach der Infektion und einem zeichnet ist, entspricht dem erstmals des Schwerbehindertenakuten, dem Pfeifferschen Drüsen- 1981 beschriebenen Krankheitsbild Gesetzes aufgezeigt. Das fieber ähnlichen Krankheitsbild ist AIDS. Ziel der Arbeit ist es, zu ei- mit einer unterschiedlich langen LaSchon Patienten im Stadium des tenzzeit zu rechnen, in der der PaLAS können unter verschiedenen ner einheitlichen Bewertient zunächst klinisch völlig gesund Krankheitssymptomen leiden, die tung des Behindertengra- ist. Nach einigen Monaten bis zu ihre Arbeitsfähigkeit ganz erheblich des bei der Anwendung mehreren Jahren kann ein soge- beeinträchtigen. Da die Frage nach des Schwerbehinderten- nanntes Lymphadenopathie-Syn- dem Grad der Behinderung bei (LAS) auftreten, das wiederHIV-Infektionen immer wieder geGesetzes in den Versor- drom um Jahre andauern kann. Die End- stellt wird, haben wir hierfür die Begungsämtern zu kommen. phase der HIV-Infektion, die durch urteilungskriterien ausgearbeitet. HIV-Infektion (AIDS) unter dem Aspekt des SchwerbehindertenGesetzes Einleitung Die Bezeichnung AIDS ist historisch zu sehen. 1981 wurde erstmals bei jungen, bis dahin gesunden, homosexuellen Männern das Auftreten einer Pneumocystis carinii Pneumonie bzw. eines Kaposi Sarkoms (KS) beobachtet, Erkrankungen, die bislang nur bei schweren Immundefekten vorkamen. Da seinerzeit bei allen Patienten ein schwerer T-Zell-Defekt nachgewiesen wurde, erhielt das Krankheitsbild rein deskriptiv die Bezeichnung „acquired immuno deficiency syndrome" = AIDS. Seit der Entdeckung des Erregers, einem Retro-Virus, das zunächst HTLV III/LAV genannt wurde und heute vereinfacht als human immune deficiency virus = HIV, bezeichnet wird, besteht die Möglichkeit, die Infektion durch Nachweis von Antikörpern bei den Betroffenen festzustellen. Durch den Antikörpernachweis läßt sich mit einiger Allgemeine begriffliche und inhaltliche Erklärungen zum SchwerbehindertenGesetz (SchwbG.) Der Begriff der MdE nach dem alten SchwbG. 1974 ist seit Inkrafttreten des ersten Änderungsgesetzes zum SchwbG. vom 1. August 1986 ausnahmslos ersetzt durch den Begriff „Grad der Behinderung" (GdB), (3 b). Der Grad der Behinderung wird als Maß für den Mangel an (3 c) körperlichen, geistigem oder seelischem Vermögen ausgedrückt. Ein konkreter wirtschaftlicher Schaden des Antragstellers kann mit dem Grad der Behinderung nicht ausgeglichen Infektiologie (Leitung: Prof. Dr. med. W. Stille), Zentrum der Inneren Medizin am Klinikum der Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt am Main werden. Es ist für die Anerkennung eines Behinderungsgrades unerheblich , ob und in welchem Umfang der Behinderte ein Einkommen erzielt (GdB hat im Gegensatz zur Rente keine Lohnersatzfunktion). Für den Grad der Behinderung gilt nur die Finalität, nicht die Kausalität. Die Ursache der Behinderung bleibt also unberücksichtigt. Über die generelle Leistungsfähigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, sagt der GdB nichts aus. Definition der Behinderung Behinderung ist die Beeinträchtigung der geschädigten Person in ihrer sozialen Entwicklung und ihre Benachteiligung bei körperlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Aktivitäten, im Vergleich mit einer nichtbehinderten Person. Dieser Zustand darf nicht nur vorübergehend bestehen, sondern er muß ei- Dt. Ärztebl. 84, Heft 15, 9. April 1987 (59) A-989 nen Zeitraum von mehr als sechs Monaten einnehmen. Die ärztliche Begutachtung ist seitens der Versorgungsämter zur Anerkennung notwendig. Der Leistungsberechtigte ist nicht nur passiver Konsument von sozialen Leistungen, sondern er hat am Feststellungs- und Gewährungsverfahren aktiv nach Kräften mitzuwirken. Der Grad der Behinderung wird in Zehnerstufen von 10 bis 100 ausgedrückt, wobei 100 eine komplette Behinderung bedeutet. Der zur Anerkennung führende GdB muß mindestens 50 betragen. Es gibt zwei Arten von Schwerbehindertenausweisen: C) Den grünen Ausweis für eine Behinderung von 50 bis 100, C) Den grün-orangefarbenen Ausweis mit demselben Behinderungsgrad und dem Zusatz G = gehbehindert. Einzelne Vergünstigungen neben denen steuerlicher Art sind als Merkzeichen auf den Schwerbehindertenausweisen aufgeführt (3 c): 1. B = ständige Begleitung ist notwendig 2. G = der Schwerbehinderte ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt (erheblich gehbehindert). 3. aG = der Schwerbehinderte ist außergewöhnlich gehbehindert 4. Bi = der Schwerbehinderte ist blind 5. H = der Schwerbehinderte ist hilflos 6. RF = der Ausweisinhaber erfüllt die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht und für die Gebührenermäßigung beim Fernsprechanschluß. Zum Begriff der Hilflosigkeit Als „hilfslos" ist derjenige anzusehen, der infolge von Gesundheitstörungen nach dem Einkom- menssteuergesetz „nicht nur vorübergehend" für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf. Erklärung: Als gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen wird das Aus- und Ankleiden, Nahrungsaufnahme, Körperpflege sowie das Verrichten der Notdurft bezeichnet. Behinderung bei LAS und AIDS Die gesundheitlichen Störungen bei LAS beziehungsweise AIDS sind mannigfaltig. Die verschiedenen Symptome des LAS und die Tatsache, daß AIDS meistens ein langes Siechtum bedeutet, lassen es sinnvoll erscheinen, den Behinderungsgrad je nach Stadium der Erkrankung aufzuzeichnen. Wenn auch über die rechtlichen und gesundheitspolitischen (5) Konsequenzen der HIV-Infektion noch Uneinigkeit besteht, so soll ungeachtet dessen der Versuch unternommen werden (1, 4, 6), nach der von Brodt et al. vorgestellten Stadieneinteilung den jeweiligen Behinderungsgrad festzusetzen (Tabelle). Gruppe 1 a und 1 b Patienten, die zur Gruppe 1 a gehören, sind gesunde Personen mit einem Risiko für eine HIV-Infektion, die aber zum Zeitpunkt der Untersuchung keine Antikörper haben. Diese Patienten haben keine Behinderung. Personen, die in die Gruppe 1 b eingeordnet wurden, sind infiziert und haben Antikörper gegen HIV. Sie sind aber subjektiv und objektiv gesund; auch hier besteht keine Behinderung. Gruppe 2 a Patienten, die zur Gruppe 2 a gehören, sind infiziert, anti-HIV positiv und leiden bereits an typischen Symptomen eines LAS. Diese Symptome sind: Persistierende Lymph- A-990 (60) Dt. Ärztebl. 84, Heft 15, 9. April 1987 knotenschwellung (älter als drei Monate) an mehreren Körperstellen, Abgeschlagenheit, Nachtschweiß, Fieber beziehungsweise Diarrhoen ohne Erregernachweis und progredienter Gewichtsverlust. Hier sei darauf hingewiesen, daß diese Symptome zunächst nicht zusammen bei einem Patienten vorhanden sein müssen. Sie nehmen im Verlauf der Erkrankung an Intensität und Zahl zu. Zu dem Stadium 2 a gehören bereits Veränderungen der immunologischen Parameter, die aber noch keine lebensbedrohenden Infektionen bedingen. In diesem Stadium der Erkrankung ist noch keine stärkere Behinderung gegeben. Es muß aber durch die allgemeine höhere Morbidität mit erhöhten Ausfallzeiten gerechnet werden. Die Einschätzung des GdB ist hierbei mit ca. 30 anzusetzen. Im Einzelfall kann dieser Grad aber auch deutlich überschritten werden. Hier sei darauf hingewiesen, daß die Übergänge von einem Stadium in das andere bei der HIV-Infektion fließend sind. Gruppe 2 b Patienten, die zur Gruppe 2 b gehören, haben bereits einen schweren Immundefekt. Hier ist eine merkliche Behinderung gegeben, da diese Patienten nahezu andauernd an Infektionen, zum Beispiel einer oralen Candidiasis leiden. Ausdauer, körperliche Kraft und Konzentrationsfähigkeit bei der Arbeit können stark vermindert sein. Im Stadium 2 b beträgt der Behinderungsgrad im Regelfall mindestens 50. Gruppe 3 Bei Patienten mit AIDS, Stadium 3 der HIV-Infektion, sollte von einer Behinderung von 80 bis 100 ausgegangen werden, selbst wenn einige Patienten sich längere Zeit noch relativ wohl fühlen und ihrer Arbeit voll nachgehen können. Die Mehrzahl der Patienten mit AIDS wird allerdings im Verlauf der Erkrankung in zunehmenden Maße pflegebedürftig und benötigt, wenn Tabelle: Stadieneinteilung und Grad der Behinderung bei Personen mit positivem anti-HIV beziehungsweise HIV-Infektionsrisiko Stadium Definition GdB 1a Risikogruppe, gesund anti-HIV negativ keine 1b Risikogruppe, gesund anti-HIV positiv keine 2a LAS-typische klinische Symptome (siehe Text) Immunologie: CD4 + Zellen > 350 anti-HIV positiv 30-50 2b wie 2 a, Immunologie: CD4 + Zellen < 350 — 50, evtl. > 50 3 AIDS (CDC Definition) 80-100 sie nicht im Krankenhaus sind, Hilfe zur Führung des Haushaltes. Hier muß zusätzlich das Merkzeichen „H" auf dem Schwerbehindertenausweis eingetragen werden. Schlußfolgerung Das Schwerbehindertengesetz wurde seinerzeit geschaffen, um Menschen mit Einschränkung ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu erfassen und bei der Lebensführung Hilfestellung zu leisten. Selbst bei ausgeprägter Hilflosigkeit wird aber nur indirekt durch Vergabe von Freifahrscheinen usw. finanzielle Hilfe gewährt. In den ersten Jahren nach dem Krieg war als Kriegsfolge die Zahl der Personen mit Behinderung sehr groß. Mittlerweile sind es überwiegend Menschen mit chronischen Leiden beziehungsweise Unfallfolgen, die unter das Schwerbehinderten-Gesetz fallen. Seit einiger Zeit werden die Versorgungsämter zunehmend mit den Behinderungen im Rahmen der HIVInfektion (LAS/AIDS) konfrontiert. In der vorliegenden Studie wird der Grad der Behinderung, mit dem im Verlauf der HIV-Infektion zu rechnen ist, aufgezeigt. Hierzu ist es notwendig, eine Stadieneinteilung (1) zu etablieren, wobei darauf hingewiesen wird, daß zwischen den einzelnen Stadien fließende Übergänge angenommen werden müssen. Trotzdem ist aber eine Stadieneinteilung, die auf langjährigen (4, 6) Erfahrungen beruht und im wesentlichen mit denen anderer Autoren übereinstimmt, der einzige gangbare Weg, für diese Personengruppe das Schwerbehindertengesetz anzuwenden. Der Arzt, der mit der Feststellung einer Behinderung befaßt ist, muß neben einer genauen Anamnese den psychosozialen Hintergrund der Patienten erfassen. Dies ist besonders wichtig, da ein nicht unerheblicher Teil der Patienten an Komplikationen des zentralen Nervensystems erkrankt und durch die damit bedingten Einschränkungen nicht mehr in der Lage ist, seine Wünsche selbst zu artikulieren oder selbst Hilfe anzufordern. Trotz erheblicher Behinderungen sollte man die Patienten, wenn sie dies selbst wünschen, so lange wie möglich arbeiten lassen. Insofern gibt es keine starren Regeln bei der Festsetzung des Behinderungsgrades. Leider ist mit der Anerkennung des Grades der Behinderung die finanzielle Misere der Patienten nicht behoben. Patienten mit HIV-Infektion verlieren häufig aus Angst der Arbeitskollegen vorzeitig ihren Arbeitsplatz. Außerdem mehren sich die Klagen über Versicherungen und Privatkassen, die ganz offensichtlich bestrebt sind, sich ihrer Pflichten dem Betroffenen gegenüber zu entledigen. Von RVO-Kassen werden die Patienten häufig in eine vorzeitige Berentung hineingedrängt. Mit dem Sozialhilfesatz, der ihnen als einzige finanzielle Hilfe bleibt, ist ein menschenwürdiges Leben und ebenso ein menschenwürdiges Sterben nicht möglich. Die Zuerkennung der Schwerbehinderung kann so in einem bescheidenen Maß eine echte Lebenshilfe sein. Literatur 1• 2• 3• 4• 5• 6• Brodt, H. R.; Helm, E. B.; Werner, A.; Joetten, A., et al.: Spontanverlauf der LAV/ HTLV-III-Infektion. Dtsch. med. Wschr. 31/32 (1986) 1175-1180 Bundesgesundheitsamt: Das erworbene Immundefekt-Syndrom AIDS, Ratschläge an Ärzte. Merkblatt Nr. 43, Dez. 1984 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Schwerbehindertengesetz (SchwbG.): a) Erstfassung von 1974; b) 1. Änderung vom 1. 8. 1986 (GdB); c) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983 Centers for Disease Control: Leads from the MMWR Vo. 35/No. 20 (1986) 19 Eberbach, W.: Rechtsprobleme der HTLVIII-Infektion (AIDS). MedR Springer 1986 Redfield, R. R.; Wright, D. C.; Tramon, E. C: The Walter Reed staging classification for HTLV III/LAV infektion. New Eng. J. Med. 314 (1986) 131 Anschrift für die Verfasser: Dr. med. Helga Exner-Freisfeld Professor Dr. med. Eilke B. Helm Zentrum der Inneren Medizin am Klinikum der Universität Theodor-Stern-Kai 7 6000 Frankfurt am Main 70 Dt. Ärztebl. 84, Heft 15, 9. April 1987 (63) A-993