Konsum II: Einzelhandel und Werbung — Genussmittel und Drogen

Werbung
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U. Pfister: Alltagsgeschichte seit dem späten 19. Jh. (WS 2014/15)
Konsum II: Einzelhandel und Werbung — Genussmittel und Drogen
1. Leitgedanken zu Einzelhandel und Werbung
Mit der Industriellen Revolution u. der Urbanisierung entstand bis ins späte 19. Jh. eine
Konsumgesellschaft, in der breite Bevölkerungsschichten ihren Bedarf nicht mehr durch
in der Hauswirtschaft erzeugten Gütern, sondern durch Marktgüter deckten (vgl. 09.12).
Damit bildete sich eine soziale Distanz zwischen Produktion u. Bedarfsdeckung. Diese
wurde (1) technisch überbrückt durch einen zunehmend leistungsfähigen Einzelhandel.
Ab Mitte 19. Jh. entstanden mit dem Warenhaus, der Konsumgenossenschaft u. der Ladenkette großbetriebliche Formen des Einzelhandels. Um 1900 lag ihr Anteil am Einzelhandelsumsatz noch bei unter 10%, ab den 1960er J. über ½. (2) Kulturell wurde die
Distanz zwischen Produktion u. Konsument(inn)en durch eine Warenkultur überbrückt,
die der Welt handelbarer Waren u. ihrem Erwerb durch Einkaufen (d. h. dem Konsum)
einen Sinn verliehen. Ihre Hauptbestandteile sind die Entstehung der modernen Warenästhetik (Design, Verpackung) u. der Wirtschaftswerbung. Mit der Warenkultur begannen Güter losgelöst von einem Interaktionszusammenhang für sich selber zu bestehen.
2. Die Entstehung von Großbetrieben im Einzelhandel (grundlegend SPIEKERMANN)
a. Traditioneller Einzelhandel. Im 19. Jh. dominierte der sesshafte Kleinhandel zunehmend über den früher weit verbreiteten Hausierhandel. Merkmale: (1) Familienbetrieb,
der v. a. mit Familienmitgliedern, z. T. ergänzt durch wenige Angestellte (Handelsgehilfe, Ladentochter) geführt wurde. Wohnort u. Laden waren oft identisch, die Ausdifferenzierung des Handels aus der Hauswirtschaft (etwa im Sinn einer konsequenten Buchführung) waren selten. Erst unter Druck der Großbetriebe setzte E. 19. Jh. eine Professionalisierung ein. — (2) Verankerung im sozialen Nahbereich. Kleinhändler(innen) waren oft mit ihrer Nachbarschaft eng vernetzt; Läden dienten als Kommunikationsbörsen
insbes. unter Frauen. Der Kaufakt war in ein personales Umfeld eingebettet: Feilschen
u. Kredit waren üblich (u. erforderten entsprechendes Wissen seitens des/r Händlers/in);
Qualität u. Menge wurden meist nach Spezifikation seitens Kunde/in bereitgestellt.
b. Innovationen im großbetrieblichen Einzelhandel 2. H. 19. Jh. (1) Angeschriebener Festpreis. Große engl. Konfektionshäuser gingen in den 1840er J. zum angeschriebenen Festpreis über u. schätzten, dass sich dadurch die Arbeitsleistung ihrer angestellten Verkäufer um bis das 10fache erhöhe. Gründe: kein Zeitverlust für das Feilschen,
keine Erkundigung des/r VerkäuferIn bei Prinzipal oder in Warenbuch erforderlich. —
(2) Keine Kreditgewährung. Rabatte bei Barzahlung betrugen im späten 19. Jh. gut 5%.
Grund: Kosten für Vertragsdurchsetzung (Betreibung etc.) entfallen. — (3) Abgepackte
Standardgüter. Ab späten 1880er J. wurden Kolonialwaren zunehmend in fertigen Verpackungen in einheitlicher Qualität u. Gewicht in Ladenketten vertrieben (z. B. Lipton,
Kaiser’s Kaffee). Rationalisierungseffekte: Endverarbeitung (z. B. Rösten, Mischen)
nach Kundenspezifikation im Laden entfiel, u. große Warenmengen konnten rationell
für den Verkauf vorbereitet werden. — (4) Systematischer Einsatz von Werbung zur
Erzielung großer Umsätze bzw. einer raschen Warenumwälzung. — (5) Großeinkauf,
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möglichst bei Produzenten, dadurch Einfluss auf Preise, z. T. Eindringen in Produktion
(bedeutsam in Konfektion, Lebensmittelherstellung u. -verarbeitung). — (6) Rationeller
Großbetrieb. Innovationen (1), (2) u. (3) waren Voraussetzung für den Einsatz einer
großen Anzahl an wenig qualifizierten Verkäufer(inne)n sowie für eine zuverlässige
betriebliche Rechnungsführung (BENSON 1986). — Gesamtergebnis: Der Kaufakt wurde aus einem personalen Beziehungsnetz herausgehoben u. anonymisiert.
c. Wichtige neue Betriebsformen. (1) Warenhäuser entstanden aus den Konfektionsgeschäften in europ. Hauptstädten u. großen Provinzstädten um Mitte des 19. Jh.;
bahnbrechend waren Gründungen in Paris im 3. V. 19. Jh. Sie entwickelten sich zu
Konsumpalästen (Architektur, Innengestaltung, Warendarbietung; s. u.) u. trugen zur
konsumgerechte Zurichtung von Innenstädten bei (zu Paris s. NORD 1986). — (2) Konsumgenossenschaften (PRINZ 1996). Entstanden 2. V. 19. Jh. aus der Arbeiterbewegung
(GB) bzw. aus der mittelständischen Reformbewegung (D: Schulze-Delitsch 1860er J.).
E. 19. Jh. Übergang zu Großbetrieben durch Zusammenschluss lokaler Genossenschaften in Großstädten, Aufbau von Verarbeitungsbetrieben (insbes. Bäckerei), Gründung
zentraler Großeinkaufsgesellschaften auf nationaler Ebene (GB 1863, D 1893 GEG), die
auch Handelsmarken schufen. Bemühungen um generelle Reform der Lebensführung in
Unterschichten: Abbau von »Schuldenwirtschaft«, rationelle Ernährung. Auf dem Höhepunkt erfassten Mitte 1920er J. Konsumvereine in D ca. 1/5 aller Haushalte.
d. Selbstbedienung setzte sich im Lebensmittelkleinhandel in der BRD erst in den
späten 1950er u. 1960er J. durch (ANDERSEN 1996: 52–74; Ditt in PRINZ 2003). Impliziert diszipliniertes Einkaufen seitens von Konsument(innen) gegenüber scheinbar unmittelbaren Zugangs zu Waren, der dadurch dass Einkauf aus den Blicken von Nachbar(inne) u. Verkäufer(inne)n gelöst wurde. Wirtschaftlichkeit von Unternehmen verbesserte sich dank Reduktion u. Entqualifizierung des Verkaufspersonals sowie neu
möglichen Impulskäufen bei stabilen Verlustraten durch Diebstahl. Bedarf des Abpackens begünstigte die Verbreitung von (beworbenen) Markenartikeln ebenso die Schließung von Kühlketten für Frischwaren. Erfordernis größerer Flächen (»Supermarkt«).
3. Warenkultur: Warenpräsentation — Design — Werbung (REINHARDT 1993;
BORSCHEID/WISCHERMANN 1995)
a. Vorbemerkung. Zeitungsanzeigen existierten zwar schon seit 18. Jh., doch unterschieden sie sich kaum von (»anderen«) Nachrichten. Sesshafte Kleinhändler erwarteten
Kund(inn)en; offene Darbietung oder Aufsuchen von Kund(inn)en galt als verpönt. Ab
ca. Mitte 19. Jh. erfolgte eine Ausdifferenzierung einer eigenständigen Warenkultur:
b. Warenpräsentation. (1) Gewerbeausstellungen. Ab 2. V. 19. Jh. verbreitet Gewerbeausstellungen u. 2. H. 19. Jh. Weltausstellungen (1851 Kristallpalast in London),
die Waren verwendungsfrei inszenierten, dadurch Sinnbezüge herstellten u. eine sozial
generalisierte Warenästhetik schufen (RICHARDS 1990). — (2) Schaufenster verbreiteten
sich ab 1830er/1840er J., unterstützt durch Verbesserungen der Glasherstellung
(großflächige Fenster) u. Gasbeleuchtung, ab 1880er J. elektr. Beleuchtung. Ab
1880er/1890er J. wurden Schaufensterauslagen besonders von Warenhäusern u. Mas-
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senfilialbetrieben, zunehmend stilisiert, Waren inszeniert. Entstehung des Beruf des
Dekorateurs sowie von Fachschulen für Dekoration (in D zuerst in Berlin 1900), Durchführung lokaler Schaufensterwettbewerbe. — (3) Warenauslage. Insbes. in Warenhäusern zunehmende Durchrationalisierung u. Durchgestaltung der Warenpräsentation im
Ladeninneren  »dynamische Museen« (BENSON 1986).
b. Entwicklung distinktiver Zeichen in der Werbung (»Aufmerksamkeitsheischer«).
(1) Anfänge. Seit dem späten 18. Jh. vermehrten sich einfache Techniken der Absetzung
der Anzeige vom redaktionellen Teil, ab 2. V. 19. Jh. Verwendung spezieller Druckstöcke, insbes.
. 1860er–1880er J. war schreierische Werbung verbreitet, wobei jenseits der Betonung von Preis- bzw. Qualitätsführerschaft das Heischen von Aufmerksamkeit um jeden Preis, auch mittels Provokation, angestrebt wurde. — (2) Geschlecht.
Mit verbreitetem Einsatz graphischer Mittel kam E. 19. Jh. die Darstellung von Frauen
in der Werbung auf. Einerseits Modellierung von Geschlechtsrollen der Konsumentinnen, andererseits Blickfang für männliche Konsumenten. — (3) Reflektierte Zeichensprache. Künstlerische Ästhetik (in Kunstplakat, z. T. Illustriertenwerbung) spielte
1890er/1900er Jahre zunächst eine wichtige Rolle. Im Zuge einer allmählichen Professionalisierung der Werbung (Zusammenarbeit von Graphikern, Psychologen, Betriebswirten u. Medienfachleuten in Werbeagenturen) entstand ab den 1920er J. eine wissenschaftlich fundierte, an Werbewirksamkeit orientierte Formensprache (→Marketing). —
(4) Lebensstil. Bildwerbung des frühen 20. Jh. rückte ein Gut oft in den Kontext eines
gehobenen, bürgerlichen Lebensstils. Seit den 1960er J. zunehmend Anschluss an individualisierte Lebensstile (z. B. Tabakwerbung, beginnend mit Marlboro country), d. h.
Warenkultur interagierte mit Konsument(inn)en bezüglich der Ausdifferenzierung u.
Stilisierung individualisierter, auf nicht-alltäglichen Erlebnissen basierten Lebensstilen.
c. Vermehrung der Orte der Werbung. (1) Ausdehnung der Anzeigenwerbung seit
Mitte 19. Jh. Wichtig waren seit dem 4. V. 19. Jh. Illustrierte, die auch graphische/farbige Anzeigen schalten konnten. — (2) Das Plakat. Im 3. V. 19. Jh. Durchsetzung von privaten Verfügungsrechten über Plakatierungsflächen, in D. ab 1855 Litfaßsäulen. 1890er/1900er J. Kunstplakat: Ästhetisierung der Wareninszenierung, wurde bis
1920er J. durch eine der Werbung angepasste, reduzierte Formensprache abgelöst. —
(3) Vervielfältigung der Außenwerbung. Ab ca. 1900 Leuchtreklame, Werbung an Verkehrsträgern (insbes. Straßenbahnen), entlang von Straßen u. Eisenbahnstrecken, Himmelsreklame an Flugzeugen u. Zeppelinen. Die Allgegenwart von Außenwerbung wurde zum Zeichen einer urbanen, modernen, »raschen« Lebenswelt. — (4) Werbung in
neuen Massenmedien. Ab 1920er J. Werbung in Rundfunk u. Film.
d. Markenartikel, Design und Marketing. In D ab 1894 Schutz von Warenbezeichnungen u. Warenverpackungen inkl. Werbung. Seither Nutzung wiedererkennbarer
Schriftzüge u. Ikonen (orientalischer Fürst bei Lipton, Nest bei Nestle), um einem Produkt Identität zu verschaffen. Odolflasche (1895) ist frühes Bsp. eines Verpackungsdesigns. Um 1900 dominierte das Email-Blech die Markenwerbung des Einzelhandels. Ab
1920er J. Entwicklung einer professionellen Marketinglehre als Zweig der Betriebswirtschaftslehre zur umfassenden Gestaltung der Absatzwirtschaft (Planung von Produktde-
sign, Marktforschung, Produktmanagement u. Werbung). In der Konsumgüterindustrie
verbreitet im 3. V. 20. Jh. Einbau in die Unternehmensstruktur (BERGHOFF 2007).
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4. Hinweise zu Genussmitteln und Drogen (BALL 1991; GOODMAN 1993; RENGGLI/TANNER 1994; SPODE 1994; TAPPE 1994)
a. Wichtigste Genussmittel. (1) Bier. Ende 19. Jh. dank Verbreitung von untergärigem
Bier (»Pils«) u. Flaschenbier u. Einkommenssteigerung Verdrängung von Branntwein.
Im frühen 20. Jh. Sättigung u. langfristiger Rückgang des Konsums. — (2) Kaffee entwickelte sich seit 18. Jh. zum wichtigsten Stimulans in D; Sättigung erst E. 20. Jh. —
(3) Tabak. Verbreitung nach 30j. Krieg, 2. H. 19. Jh. Konsumbeschleunigung durch
Zigarette; im 20. Jh. bedeutsam für lebensstilspezifische Warenkulturen.
b. Drogen. 1912 u. 1919/20 internat. Abkommen zur Prohibition von Opium bzw.
Canabis. Ab 1960er J. spielten Erfahrungsdrogen (LSD, Canabis) eine wichtige Rolle
bei der Erschließung alternativer Erfahrungswelten zu einem wohlstandsgesättigten,
aber langweiligen Alltag: Zugleich fungierte Canabis als milieuspezifische Soziabilitätsdroge (joint). Verstärkung der Prohibition (Nixon: war on drugs 1971) traf v. a. marginale Gruppen von Süchtigen; für größere Gruppen von Konsument(inn)en stellt seither gelegentlicher Drogenkonsum sozial nicht sanktionierter Teil ihres Lebensstils dar.
Zitierte Literatur
ANDERSEN (1996) wie 14.10.2014; BENSON (1986) wie 18.11.2014.
BALL, Daniela U.: Kaffee im Spiegel europäischer Trinksitten (Zürich: ..., 1991).
BERGHOFF, Hartmut (Hg.): Marketinggeschichte: die Genese einer modernen Sozialtechnik (Frankfurt: Campus, 2007).
BORSCHEID, Peter und Clemens WISCHERMANN (Hg.): Bilderwelt des Alltags: Werbung
in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts (Stuttgart: Steiner, 1995).
GOODMAN, Jordan (Hg.): Tobacco in history: ... (London: Routledge, 1993).
NORD, Philip G.: Paris shopkeepers and the politics of resentment (Princeton: ..., 1986).
PRINZ, Michael: Brot und Dividende: Konsumvereine in England und Deutschland vor
1914 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1996).
PRINZ, Michael (Hg.): Der lange Weg in den Überfluss: Anfänge und Entwicklung der
Konsumgesellschaft seit der Vormoderne (Paderborn: Schöningh, 2003).
REINHARDT, Dirk: Von der Reklame zum Marketing: Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland (Berlin: Akademie, 1993).
RENGGLI, René und Jakob TANNER: Das Drogenproblem (Berlin: Springer, 1994).
RICHARDS, Thomas: The commodity culture of Victorian England: advertising and
spectacle 1851–1914 (Stanford, CA: Stanford University Press, 1990).
SPIEKERMANN, Uwe: Basis der Konsumgesellschaft: Entstehung und Entwicklung des
modernen Kleinhandels in Deutschland 1850–1914 (München: Beck, 1998).
SPODE, Hasso: Die Macht der Trunkenheit: … (Opladen: Leske und Budrich, 1993).
TAPPE, Heinrich: Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur: … in Deutschland vom
frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg (Stuttgart: Steiner, 1994).
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