Auf dem Weg des Kriegers zum Erfolg

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Peter M. Rütter | Auf dem Weg des Kriegers zum Erfolg?
| Reflexion
Peter M. Rütter
ist als Rechtsanwalt und Diplom-Coach
Leiter des Bereichs Personalstrategie,
-entwicklung und Corporate Affairs bei der
Vivento Customer Services GmbH in Bonn,
einer 100%igen Tochter der Deutschen
Telekom AG. Er ist Inhaber des 5. DAN
und amtierender Vizeweltmeister seiner
Altersklasse der Funakoshi Shotokan
Karate Association sowie Mitglied der
Deutsch-Japanischen Gesellschaft für
Arbeitsrecht e.V.
Kontakt:
E-Mail: [email protected]
Auf dem Weg des Kriegers
zum Erfolg?
Zur Aktualität der japanischen Bushidô-Ethik
für das moderne Management
Die neue Popularität japanischer und chinesischer
Philosophien in Managementkreisen
Die Samurai, der Kriegerstand des alten Japan, sind in den USA
und Westeuropa, aber auch in ihrer Heimat Japan zu Helden
der Popkultur avanciert. Die Hollywood-Ausgabe der Abenteuer des «letzten Samurai» füllte die Kinos. In Japan sind Samurai-Filme seit jeher ein beliebtes Genre. Und selbst die japanische Fußball-Nationalmannschaft macht unter dem Namen «Blue Samurai» Furore.
Nicht nur Anhänger der Schwertkampfkunst sind von der
Samurai-Erzählung fasziniert. Es gibt auch neuere ManagerLiteratur im Überfluss, die sich von den Werten der Samurai
inspirieren lässt. Was dem Interesse westlicher Manager an
der fernen japanischen Vergangenheit solchen Schwung verleiht, ergibt sich schnell, wenn man die einschlägigen Werke
liest. Die Samurai, so erfährt man, lebten nach einer strengen
Ethik, die Mut, Entschlossenheit und Tatkraft mit unbedingter
persönlicher Integrität und Loyalität verband.
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Die kämpferische Note passt zum rauer gewordenen Klima
der globalisierten Wirtschaft, in dem es für viele Unternehmen
um Selbstbehauptung oder Untergang geht. Kein Wunder, dass
die Kriegsmetapher zur Beschreibung der wirtschaftlichen
Lage auch sonst großen Anklang findet. So hat ein Ex-Colonel
der US-Armee ein erfolgreiches Buch geschrieben, in dem er
seine Militärerfahrung für Verteilungskämpfe in der globalen
Wirtschaft nutzbar machen will. In Paris wurde vor kurzem
gar eine «Schule des Wirtschaftskrieges» (École de guerre économique) gegründet.
Die Parallele zum Militär trägt aber noch weiter. Wenn Wirtschaft als eine Form von Krieg verstanden wird, liegt es nahe,
darüber nachzudenken, was aus einem Unternehmen eine
disziplinierte und schlagkräftige Einheit macht. Analog zum
Krieg lässt sich vermuten: Die Mitarbeiter eines Unternehmens
werden nur dann vollen Einsatz zeigen, wenn sie vom Führungsverhalten ihrer Vorgesetzten überzeugt sind. Hier scheint
der Kern der Malaise zu liegen, die eine modern gedeutete
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Samurai-Erzählung heilen soll: Die Führungskräfte in deutschen Unternehmen sind gründlich in Verruf geraten. Berichte über unverhohlene Gier, eine ethisch zumindest zweifelhafte «Selbstbedienungsmentalität» und bisweilen kriminelles
Verhalten lassen sich beinahe täglich den Zeitungen entnehmen. Das gleiche Bild zeigt sich auf der internationalen Ebene:
In den USA kam es im Rahmen des Enron-Skandals zu Bilanzfälschungen und Anlegerbetrug in nie gekanntem Ausmaß.
Ähnlich skrupellos zeigten sich amerikanische Manager bei
der Vertuschung von Liquiditätsproblemen in dem in rasantem Tempo zusammengeschmiedeten Telekom-Giganten
WorldCom und beim hochspekulativen Ausbau von Glasfasernetzen. Nur wenig später erschütterte die Aufdeckung von Bilanzfälschungen in großem Stil beim italienischen ParmalatKonzern die europäische Öffentlichkeit.
Unter dem Schock des Enron-Skandals hat der US-Kongress im Jahr 2002 den Sarbanes-Oxley Act erlassen, der mit
Hilfe strengster Kontrollen kriminellen Machenschaften im
Management von Großunternehmen einen Riegel vorschieben
soll. Verschiedene Staaten Europas versuchen ethisch korrektes Verhalten in Kapitalgesellschaften im Wege der Selbstverpflichtung auf (rechtlich unverbindliche) Corporate Governance-Regeln zu fördern. In beiden Fällen entstehen Anreize
zu ethisch korrektem Verhalten vor allem durch die Aussicht
auf Sanktionen bei Fehlverhalten, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Der Sarbanes-Oxley Act setzt primär auf Strafdrohungen, unverbindliche Corporate Governance-Regeln
dagegen auf negative «peer review» durch Managerkollegen
und Kritik in den Medien.
Die Samurai-Erzählung geht über derartige externe Anreize hinaus, indem sie Werte, die anständiges Verhalten stützen,
internalisiert. Den von ihrem schlechten Image geplagten Managern bietet die Samurai-Erzählung mit dem Bild des unerschrockenen und prinzipiengeleiteten «edlen Ritters» eine
ideale Projektionsfläche. Eine Selbstverpflichtung von Managern auf Samurai-Ideale soll Glaubwürdigkeit und Folgebereitschaft in den eigenen Reihen erzeugen. Und der ausgebrannte, innerlich nicht mehr engagierte Mitarbeiter soll sich
an der todesverachtenden Pflichterfüllung der treuen Vasallen
aufrichten, die ihm in den altjapanischen Texten entgegentritt.
Beschäftigt man sich mit den Lebensbedingungen und den
klassischen Texten der Samurai etwas näher, dann ergibt sich
ein etwas differenzierteres Bild: Die Samurai-Tugenden, von
denen der moderne Manager lernen soll, sind Versatzstücke
einer Ideologie, an die im Ganzen heute nicht mehr ernsthaft
angeknüpft werden kann. Vieles muss abgestreift werden, um
die Samurai-Ethik für ein modernes westliches Publikum
anschlussfähig zu machen. Wie viel das ist, wird erst erkennbar, wenn man sich ernsthaft mit den Quellen beschäftigt und
die großen ethischen Maximen von den endlosen Tötungs- und
Selbsttötungsgeschichten abschichtet, welche sie illustrieren
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sollen (und dabei oft nicht länger akzeptable Motive mitliefern, wie Eifersucht, Rache oder verletzte Ehre). Sofern man
akzeptiert, dass sich nur einzelne Maximen aus den klassischen Samurai-Texten sinnvoll ins 21. Jahrhundert hinüberretten lassen, bleibt ein recht begrenzter Kreis von Grundsätzen übrig, der als Kernbestand einer bushidô-Ethik bezeichnet werden kann. Auf der anderen Seite sind diese Grundsätze
– auch wenn sie in Anknüpfung an alte japanische Traditionen serviert werden – keine Ausprägungen einer spezifisch japanischen Kultur und damit grundsätzlich übertragbar. Wer
das weiß, mag bestimmte Tugenden, die einem Manager im
beginnenden 21. Jahrhundert wohl anstehen, durchaus im Bild
eines idealisierten «Samurai-Kriegers» verdichten. Allerdings
sollte er sich dabei bewusst sein, dass er durch die Anknüpfung an die Samurai-Traditionen auch Assoziationen weckt, die
zu moderner Unternehmensführung wenig passen.
«Den von ihrem schlechten Image
geplagten Managern bietet die SamuraiErzählung mit dem Bild des unerschrockenen und prinzipiengeleiteten ‘edlen
Ritters’ eine ideale Projektionsfläche.»
Die Samurai im historischen Kontext
Der ursprüngliche Sinn des Wortes «Samurai» meint so viel wie
«Diener». Als Samurai galten im frühen Mittelalter zunächst
alle Männer, die in verschiedenen dienenden Funktionen zum
Gefolge regionaler Feudalherren oder des Kaisers gehörten.
Männer, die sich in engerem Sinne als Krieger betätigten, wurden eher als «bushi» bezeichnet; erst Jahrhunderte später wurde der Begriff Samurai synonym mit «Krieger». Gegen Ende des
12. Jahrhunderts etablierten sich die bushi bzw. Samurai als
gegen Aufstieg aus anderen sozialen Gruppen weitgehend
abgeschotteter Kriegerstand. Langsam entstand eine Feudalhierarchie, die einige Ähnlichkeit zur Lehenspyramide im mittelalterlichen Europa aufweist. Wie in Europa standen im Zentrum der Beziehungen die Gefolgschaftspflicht des Vasallen
und die Fürsorgepflicht des Herrn. Die niederen Samurai waren jeweils einem höheren Lehnsherren («daimyô») verpflichtet, dieser wiederum dem «shôgun» als Staatsoberhaupt, der
seine Position als de-facto-Herrscher über ganz Japan erstmals im 13. Jahrhundert etablierte, aber bis ins 17. Jahrhundert nicht unumschränkt behaupten konnte. Seit dem Ende
des 16. Jahrhunderts wurden die an die Samurai vergebenen
Lehen anhand der Ertragskraft ihrer Böden in Reisscheffeln
bewertet. Daran knüpfte zugleich die Rangordnung unter den
Samurai an. Die niederen Samurai trieben die Reisabgaben
bei den Bauern ein.
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Bis ins Spätmittelalter tobten immer wieder Kämpfe zwischen rivalisierenden Provinzherren, die von ihren Privatarmeen bewaffneter Samurais ausgetragen wurden. Erst das Tokugawa-Shogunat (1603 –1867) brachte eine äußerst blutige, allerdings auch langdauernde und flächendeckende Befriedung
des Landes. Die daimyô begannen, zwischen einer höfischen
Existenz in Edo (Tokio) und ihren Lehen auf dem Land zu
pendeln. Die kriegerischen Sitten der Samurai verfeinerten sich
unter dem Einfluss von Hofzeremoniell, Zen-Buddhismus und
Literatur. Die zuvor auf den Schlachtfeldern geübte Schwertkampfkunst geriet zur sorgsam gepflegten Selbstinszenierung.
Es wurde eifersüchtig darüber gewacht, dass niemand außer
den Samurai zwei Schwerter bei sich führen durfte. Samurai, die
sich von Nicht-Samurai in ihrer Ehre verletzt fühlten, waren
berechtigt, den «Angreifer» straflos zu töten. Nicht selten waren Samurai, die einen teuren Lebensstil pflegten, ohne sich
wirtschaftlich zu betätigen, hoch verschuldet bei Kaufleuten.
In dieser Zeit, die durch den Wegfall der ursprünglichen
Funktion der Samurai gekennzeichnet war, schrieben die Klassiker der Samurai-Selbstzeugnisse, nämlich Miyamoto Musashi, Yamamoto Tsunetomo und Daidoji Yuzân, ihre Werke. Sie
waren, wie der Frankfurter Literaturwissenschaftler Gerhard
Bierwirth schreibt, «alle drei herrenlose Samurai und alte Männer, die ihre Texte in der Einsiedelei sozusagen gegen die zeitgenössische Wirklichkeit der Samurai verfassten.» Herrenlose
Samurai waren gegen Ende des Tokugawa-Shogunats eher die
Regel als die Ausnahme.
Dass die soziale Wirklichkeit dem Kriegerstand längst den
Boden entzogen hatte, zeigte sich während der so genannten
Meiji-Restauration, als das neu erstarkte Kaiserhaus das Shogunat abschaffte und eine Modernisierung des Landes einleitete. Viele ehemalige Samurai insbesondere niederen Ranges
fanden nun in der neu aufgebauten Verwaltungsstruktur Verwendung und integrierten sich so in den neuen japanischen
Staat. Gleichzeitig kam es dem Meiji-Regime entgegen, dass
sich Versatzstücke der bushidô-Ethik zur Begründung neuer
Loyalitäten in Bezug auf Kaiserhaus und Nationalstaat verwenden ließen. So konnte der britische Japanologe Basil Chamberlain den auf Loyalität zum Kaiserhaus umgemünzten bushidô bereits 1912 als zielgerichtet eingeführte «neue Religion»
beschreiben, der die Japaner in dem Wissen folgten, dass es
sich um eine Konstruktion handelte. Viele Beobachter führen
noch das Verhalten der japanischen Kamikaze-Flieger im
Zweiten Weltkrieg auf die Opferbereitschaft und todesverachtende Loyalität zurück, die dieser Geisteshaltung entsprang.
Allerdings wurde die bedingungslose Hingabe an die nationalistischen Ziele des Kaiserhauses schon damals nicht mehr
von der breiten Masse der Japaner geteilt.
Die stürmische Nachkriegsentwicklung Japans hat die Samurai-Ethik auf der einen Seite anachronistisch gemacht. Wie
der in Japan lehrende Kulturwissenschaftler Wolfgang Schwent-
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ker schreibt, sieht die große Mehrheit der heutigen Japaner
etwa im «Hagakure» von Yamamoto Tsunetumo eine nur noch
historisch verständliches «Dokument eines bornierten und mittlerweile überholten Militarismus». Auf der anderen Seite liefert die in der westlichen Lesart oft unterbelichtete individualistische und einzelgängerische Dimension der Samurai-Erzählung japanischen Männern nach wie vor ein teils bewundertes, teils ironisch zitiertes Rollenmodell, das mit seinem
utopischen Gehalt dem Mythos des «lonesome cowboy» in
den USA nicht unähnlich ist. Im Bild des Samurai spiegelt sich
eben auch Bewunderung für die Beharrlichkeit, mit der Einzelne ihre Grundsätze in einer feindlichen Umwelt zur Geltung
bringen – auch und gerade wenn sie damit scheitern. Dies ist
neben Spaß am Schwertkampf sicher einer der Gründe für die
fortdauernde Popularität der Samuraifilme. Nicht von ungefähr gehört die Episode der 47 herrenlosen Samurai («rônin»),
die den durch einen Vertreter des hohen Establishments erzwungenen Selbstmord ihres Herren rächen und dafür selbst
in den Tod gehen, zu den noch heute beliebtesten Zitaten der
Samurai-Tradition.
«Die einzelgängerische SamuraiErzählung liefert ein teils bewundertes,
teils ironisch zitiertes Rollenmodell.»
Die klassischen Texte der Samurai-Ethik (bushidô)
Immer wieder wird vor allem ein Text in Anspruch genommen,
um daraus Lehren für die Wirtschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts abzuleiten: das «Hagakure» von Yamamoto Tsunetumo. Inspiration liefern ferner das «Buch der Fünf Ringe» von
Miyamoto Musashi und das «Budôshoshinshû» (Kriegskunst
für Anfänger) von Daidôji Yuzân. Schließlich wird aus dem Werk
«Bushidô» von Inazo Nitobe geschöpft, das eine Art Synthese
der Grundsätze der Samurai-Ethik darstellen will. Grund genug, diese vier Quellen ein bisschen näher zu beleuchten.
Der älteste der vier Texte, das «Buch der Fünf Ringe» aus
dem Jahr 1645, ist trotz einer allgemein-philosophischen Einkleidung zum größten Teil ein Lehrbuch über den Schwertkampf. Minutiöse Details über die zu führenden Schwertstreiche wechseln mit taktischen Überlegungen und Vergleichen
zur Technik anderer Schwertkampfschulen. Musashi ermahnt
den Leser, seinen Gegner genauestens zu studieren und selbst
Kleinigkeiten zu beachten, um dessen Schwächen auszunutzen. Gleichzeitig gilt es, sich eine vollkommene Selbstkontrolle
und innere Balance zu erarbeiten, und dem Tod furchtlos gegenüberzustehen.
Das «Hagakure» (wörtlich: Verborgen hinter den Blättern)
ist eine Sammlung von Aphorismen und Anekdoten des Samurai und späteren Zen-Mönchs Yamamoto Tsunetumo, das am
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Anfang des 18. Jahrhunderts von einem Schreiber aufgezeichnet wurde. Die Aussagen des Werkes sind ausgesprochen heterogen. Geschichtchen ohne besonderen Tiefgang stehen unverbunden neben grundlegenden Maximen für das dem Samurai gemäße Handeln. Apodiktische Sätze ohne jede Erklärung stehen neben detaillierten Benimm- und Verhaltensregeln. Breiter Raum ist Erzählungen über Tötungen und Selbsttötungen («seppuku») aus verletzter Ehre gewidmet. Hält man
sich auf der Suche nach verallgemeinerbaren Ideen an die im
Text verstreuten großen ethischen Maximen, so entsteht aus
der Lektüre des Hagakure in etwa folgendes Bild: Der Samurai
soll seine Sinnerfüllung im loyalen Dienst für seinen Herrn sehen. Er soll den Tod nicht fürchten, sondern ihn aktiv suchen,
wenn er nur so seine Ehre bewahren kann. Er soll seine Entschlüsse gründlich vorbereiten, anderen dabei auch zuhören,
aber die Dinge nicht unnötig kompliziert machen. Alles soll er
vom Ende her denken. Das einmal als richtig Erkannte soll er
ohne Zögern auch gegen Widerstände umsetzen. Von der Möglichkeit des eigenen Todes darf er sich nicht abschrecken lassen.
Ebenfalls im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts erschien das
«Budoshôshinshû» von Daidôji Yuzân, das Verhaltensregeln
für Samurai in allen Lebenslagen bereithält, und deswegen in
der englischen Übersetzung nicht zu Unrecht unter dem Titel
«The Code of the Samurai» veröffentlicht wurde. Gerhard Bierwirth hat auf die verblüffende Parallelität der Gliederung des
«Budôshoshinshû» und der Fibel «Über den Umgang mit Menschen» des Freiherrn Adolph von Knigge hingewiesen: Beide
geben in ganz ähnlicher Weise Ratschläge zur Behandlung bestimmter Charaktere von Menschen und illustrieren den Wert
bestimmter Tugenden. Wie Yamamoto Tsunetumo im «Hagakure» betont auch der Autor des «Budôshoshinshû» gleich zu
Beginn die furchtlose Ausrichtung des Samurai auf den Tod als
charakterbildende Kraft (und erstaunlicherweise auch als Voraussetzung für ein langes Leben, da sie ihn zum Maßhalten
und zur Ernsthaftigkeit anleitet). Der Samurai soll seine technischen Fertigkeiten zu Pferd und am Schwert ständig üben.
Vor allem aber soll er sich so nobel und würdevoll verhalten,
wie es seinem Stand entspricht – also höhere moralische Anforderungen an sich selbst stellen, als es im gemeinen Volk üblich ist. Aus eigenem Antrieb und nicht allein unter dem Druck
sozialer Erwartungen soll er sich korrekt verhalten, hilfsbereit
und loyal sein, und sich von schlechter Gesellschaft fernhalten. Der Lobpreis der Loyalität des Samurai gipfelt bei Yuzân
in der Aussage, dass der Diener nicht sein eigenes Leben lebe,
sondern das seines Herrn.
Das schmale Buch «Bushidô» aus dem Jahr 1899, das Grundsätze der Samurai-Ethik schließlich einem breiten westlichen
Publikum bekannt machte, war das Werk von Inazo Nitobe,
einem zum Christentum konvertierten japanischen Gelehrten und Diplomaten, der den größten Teil seines Lebens in
den USA verbrachte. Im Rückblick auf die prägenden ethischen
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Erfahrungen seiner Jugend in Japan erscheint Nitobe der bushidô als die «Seele Japans», gespeist aus buddhistischen, shintoistischen und konfuzianischen Lehren. Den Stellenwert von
bushidô-Grundsätzen im Japan seiner Zeit vergleicht Nitobe
mit der Bedeutung der ungeschriebenen Verfassung in England.
Hinter dem Oberbegriff bushidô verbergen sich für Nitobe
sieben Kardinaltugenden, deren Zusammenspiel so etwas wie
ein System ethischer Grundsätze hervorbringt: Aufrichtigkeit,
Mut, Güte, Höflichkeit, Wahrhaftigkeit, Ehre und die Pflicht zur
Treue. Auch Nitobe betont, dass es sich bei bushidô zunächst
um eine Sonderethik handelte, welche aus der höheren gesellschaftlichen Stellung der Samurai eine Verpflichtung zu Verhaltensweisen ableitete, die von anderen Menschen so nicht
erwartet werden konnten: Es handelte sich um den «Kodex jener moralischen Grundsätze, welche die Ritter beachten sollen.» Allerdings glaubt er, dass die Grundsätze und Werte der
Samurai im Lauf der Geschichte ihren Weg in die Vorstellungswelt aller Japaner genommen haben. Dabei ist übrigens nicht
zu verkennen, dass die Werte der Samurai in der Lesart von
Nitobe einen Zug ins Zivile bekommen, der in den älteren Texten so noch nicht zu finden ist: Die zuvor noch stark betonte
kämpferische Entschlossenheit und der Wille zur Tat werden
bei Nitobe durch die Verpflichtung zu Güte und Höflichkeit
temperiert; selbst zur Verteidigung von Angriffen auf die Ehre
hält er «unkriegerische und wehrlose Demut» für den höchsten Ausdruck der bushidô-Ethik.
Zu japanisch für uns?
Rechtfertigen die von den Samurai hinterlassenen Zeugnisse
ihre Verwendung als moderne Management-Ratgeber? In welcher Weise kann ein westliches Publikum überhaupt auf sie
aufsetzen? Sicher ist zunächst, dass sie nicht als Geschichtsbuch taugen. Das in den klassischen Texten gezeichnete Leitbild der Samurai hat selbst mit deren Glanzzeit bestenfalls entfernte Ähnlichkeit. Denn die Texte verherrlichen eine Epoche,
die zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift bereits Vergangenheit
war, und sie blenden den Standesdünkel und die Arroganz der
Samurai sowie ihre oftmals rücksichtslose Ausbeutung der
Bauern, denen sie ihre privilegierte Existenz verdankten, aus.
Sie reflektieren noch nicht einmal die historische Tatsache der
zunehmenden «Herrenlosigkeit» von Samurai, sondern halten
sich nostalgisch an einer idealisierten Vasallen- und Herrenordnung fest.
Was die ethische Dimension der Samurai-Tradition angeht,
die so offensichtlich im Westen Anklang findet, stellt sich die
Frage, ob Manager und Angestellte des westlichen Kulturkreises die kulturelle Differenz zu Japan überhaupt überspringen
und sich kulturelle Normen zu eigen machen können, mit denen sie nicht sozialisiert wurden. Nach Inazo Nitobe hat sich
der bushidô – mit oder ohne Samurai – in seinen großen Prinzipien als «Seele Japans» ins kollektive Gedächtnis der Japaner
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eingeschrieben. Diese Einschätzung teilten auch eine Reihe von
ausländischen Beobachtern Japans. Wenn das stimmt, muss
eine Übertragung von bushidô-Grundsätzen auf eine ganz
andere Kultur daran scheitern, dass dieser die historischen Voraussetzungen Japans fehlen. In diesem Sinne hat der Ökonom
Joseph Schumpeter einmal gesagt, der einzige Weg zur Nachahmung der (damals wie heute bewunderten) schwedischen
Volkswirtschaft sei es, die Schweden zu importieren und ihnen
die Leitung der Wirtschaft zu überlassen.
Aber die Leitwerte, die in den klassischen Texten der Samurai aufscheinen, sind von einem ausreichend hohen Abstraktionsgrad und sie sind westlichem Denken alles andere als
fremd. Mut, persönliche Integrität, Tatkraft und Loyalität sind
Werte, auf die kaum ein Unternehmen in seinem Code of Conduct verzichten möchte. Die größte Barriere für eine Übertragung von bushidô-Grundsätzen bildet vielleicht noch die
Furchtlosigkeit im Angesicht des Todes, die den klassischen
Texten als Dreh- und Angelpunkt der Samurai-Ethik vorangestellt wird. Der säkularen westlichen Gesellschaft ist der Sinn
für die ständige Konfrontation mit dem eigenen Tod weitgehend abhanden gekommen. Man überspannt den Bogen der
Interpretation aber wohl nicht, wenn die Metapher der Todesbereitschaft im Sinne einer hohen Risikobereitschaft gedeutet
wird, die den Verlust der beruflichen Stellung, ja sogar das
Karriereende im Fall des Scheiterns mitdenkt und sich dieser
Perspektive bewusst stellt.
Bushidô – eine überzeugende Geschichte?
Die Samurai-Erzählung, wie sie einem in der westlichen Management-Literatur entgegentritt, lässt sich mithin am besten
als eine Projektionsfläche für richtiges ethisches Verhalten verstehen. Inhaltlich kreist sie um die Werte Mut, Entschlossenheit, Tatkraft, persönliche Integrität und Loyalität. Sie will
die Phantasie der Leser anregen, dieses ethische Leitbild personal greifbar zu machen, es an Rollen und Figuren festzumachen. Die Frage ist, ob Unternehmenspraxis im 21. Jahrhundert
an sie anknüpfen kann.
Zumindest eine Parallele fällt sofort ins Auge: Die in der
Samurai-Ethik immer wieder geforderte Loyalität oder Pflicht
zur Treue ist eingebettet in eine streng hierarchische Ordnung.
Allem Bemühen um flache Hierarchien zum Trotz gilt dies
auch für moderne Unternehmen: Vorgesetzter und Untergebener begegnen sich nicht auf gleicher Höhe. Der Vorgesetzte
verlangt Folgebereitschaft und Motivation von seinen Untergebenen, muss aber seinen Führungsanspruch auch den Untergebenen gegenüber legitimieren. Dafür sind persönliche
Integrität und Kompetenz ausschlaggebend, die sich unter anderem an der Tatkraft – oder modern gesprochen an der Zielerreichungs- und Durchsetzungsfähigkeit – des Vorgesetzten
messen lässt. Dass vorbildliches Handeln des Vorgesetzten
und Folgebereitschaft des Untergebenen in einer Wechselbe-
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ziehung stehen, wird in den klassischen Samurai-Texten zwar
nicht ausdrücklich gesagt, aber Vorbildfunktion und Loyalität
werden gleichermaßen stark hervorgehoben, so dass dieser
Schluss zulässig erscheint.
Anschlussfähig ist auch die Darstellung der Samurai-Ethik
als «Weg»: Es wird kein festgefügtes Ziel angestrebt, sondern
eine Haltung propagiert, mit der einer Vielzahl von Situationen begegnet werden soll. Und schließlich passt die Betonung
von Entschlossenheit und Tatkraft als Managertugenden: Gerade in Großunternehmen, die sich in endlosen Abstimmungsprozessen verstricken, ist es sinnvoll, individuelle Handlungsund Entscheidungsspielräume zu wahren und eigenständiges
Handeln zu fördern. Gleichzeitig zeigt die geforderte Loyalität
gegenüber dem Ranghöheren aber auch Grenzen für eigenständiges Handeln auf, die in hierarchischen Strukturen sinnvoll sind, weil sie geordnete Entscheidungen ermöglichen.
«Für kritisches Mitdenken ist
bei einer Ausrichtung an unbedingter
Loyalität wenig Raum.»
Der Übertragbarkeit der Samurai-Ethik auf moderne Unternehmen steht entgegen, dass sie eine personale, dezisionistische (den absoluten Eigenwert der menschlichen Entscheidung
behauptende) und individualistische Ethik ist, die mit hochgradig arbeitsteiligen Organisationen nicht viel anfangen
kann. Sie fordert zur mutigen Tat auf, gibt aber keine Hinweise
darauf, wie ein Einzelner das als richtig Erkannte in einem
Netzwerk von Entscheidungsträgern durchsetzen soll. Mut im
Sinne von Hau-Ruck-Entscheidungen und eigensinnigen Alleingängen tolerieren arbeitsteilige Organisationen nur im Ausnahmefall. Soll sich der einzelne Entscheider auf Diskussionen einlassen, die seine vorgefasste Entscheidung wieder rückgängig machen können? Soll er sich überhaupt auf Diskussionen einlassen oder sollen Konflikte sofort eskalieren? Soll der
Vorgesetzte Auffassungen von Untergebenen anhören und reflektieren, oder soll er nur mit Gleich- und Höherrangigen diskutieren? Jede offen geführte Diskussion bedeutet, anderen
Teilhabe an einer zu treffenden Entscheidung einzuräumen.
Die klassischen Samurai-Texte dagegen ziehen «Augen-zuund-durch»-Entscheidungen vor, die – einmal getroffen – nicht
wieder revidiert, sondern bis zum Ende durchgehalten werden
sollen. Für kritisches Mitdenken ist unter diesen Vorzeichen, und
bei einer Ausrichtung an unbedingter Loyalität, wenig Raum.
Die Konflikte, denen sich die historischen Samurai gegenübersahen, waren von begrenzter Komplexität, in Kampfsituationen durch Fixierung auf den Gegner und im allgemeinen durch Entscheidungen oder Handlungen einer einzelnen
Person zu lösen. Zudem kennen die klassischen Texte keine
Loyalitätskonflikte, da sie von einer ganz und gar personalen
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Ordnung ausgehen, die für den Einzelnen keinen Zweifel zulässt, wem er zu dienen hat. Moderne Unternehmen verlangen aber zu Recht Loyalität zum Unternehmen, nicht zu Personen, und das löst gerade für Personen, die ihr Handeln ethisch reflektieren, Zielkonflikte aus. Soll ein Untergebener, der
ein Handeln seines Chefs im Sinne des Unternehmens für unvertretbar hält, sich dem Chef unterordnen oder im Unternehmensinteresse handeln? Die moderne Unternehmensführung legt zu Recht großen Wert darauf, Mitarbeiter zu schützen, welche die Loyalität zum Unternehmen höher bewerten
als die Loyalität zum Vorgesetzten, und Fehlverhalten melden.
An solchen Beispielen wird deutlich, dass bushidô eine wünschenswerte Haltung umschreibt, zur Lösung von Konflikten
gleichwohl nicht unmittelbar beiträgt.
Wer sich von bushidô-Werten inspirieren lässt, kann aber
lernen, mit Konflikten anders umzugehen. Dabei lässt sich
insbesondere das Gebot, die Dinge vom Ende her zu denken,
auch in einer hochgradig arbeitsteiligen Umwelt nutzbar machen. Wer eine klare Vorstellung davon hat, welche Ziele er auf
lange Sicht erreichen will, verschwendet seine knappe Zeit und
Aufmerksamkeit nicht mit kurzfristiger Betriebsamkeit, und
kann entscheiden, welche Konflikte es sich zu führen lohnt
und welche nicht. Wer Konflikte antizipieren kann, wird frühzeitig versuchen, potenzielle Gegenspieler auf die eigene Seite
zu ziehen und dadurch manche Konflikte geräuschlos vermeiden. Unvermeidbare Konflikte wird er mit Entschiedenheit führen, aber nicht außer Kontrolle geraten lassen, sondern im Blick
auf die langfristigen Ziele auf das Notwendige begrenzen.
Wie aber gelingt es, den eigenen Blick vom hektischen Getriebe des Augenblicks auf fernere Ziele zu lenken? Die klassischen Samurai-Texte lehren, die Beschränkung auf das unmittelbare persönliche Interesse zu überwinden und das eigene Wirken als Dienst am Unternehmen zu verstehen. Wer sich
fragt, was seinem Unternehmen langfristig dient, gewinnt Kraft,
jenseits persönlicher Eitelkeiten für die sachlich gebotenen
Richtungsentscheidungen zu kämpfen. Die Besinnung auf das
Wesentliche kann aber auch Klarheit verschaffen, ob die eigenen Fähigkeiten und Vorstellungen zu der Philosophie und
Kultur des Unternehmens passen, oder ob man letztlich an der
falschen Stelle oder für die falsche Sache kämpft. Denn nur
wer sich die langfristigen Ziele seines Unternehmens zu eigen
machen kann, wird ein erfolgreicher Manager sein können.
Ausblick
Offensichtlich enthält die Samurai-Erzählung wertvolle Anknüpfungspunkte für moderne Unternehmen. Sie stellt die Dinge vom Kopf auf die Füße: Wenn Topmanager sich lieber wegducken als zu ihren Entscheidungen zu stehen, setzt eine individualistische Ethik, welche die Verantwortung des Einzelnen betont, im Grundsatz richtig an. Und wer als Führungskraft Mut und Integrität überzeugend vorlebt, kann auf erhöhte
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Folgebereitschaft hoffen. Zwar gibt die Samurai-Ethik wenige
Hilfestellungen für Situationen, in denen Zielkonflikte zu lösen
und widerstreitende Loyalitäten in Einklang zu bringen sind.
Ihr liegt aber eine ethische Haltung zugrunde, die den Dienst
an langfristig verstandenen Interessen des Unternehmens in
den Mittelpunkt stellt. Wem es gelingt, kurzfristige persönliche Interessen hinter sich zu lassen, der kann das Wesentliche
klarer erkennen und mit größerer Aussicht auf langfristigen
Erfolg handeln.
Wer bushidô propagiert, muss sich aber auch von anderen
daran messen lassen. Die Samurai-Ethik entstand als Sonderethik einer Gruppe, die ihre gesellschaftliche Überlegenheit
durch besonders hohe Anforderungen an sich selbst rechtfertigen wollte. Für denjenigen, der sich auf bushidô beruft, ohne
das damit gegebene Versprechen persönlich integren Verhaltens
einzulösen, kann es sich schnell als Bumerang erweisen.
Literatur
• Bierwirth, G. (2005). Bushido. Der Weg des Kriegers ist
ambivalent, München.
• Chamberlain, B.H. (1971). The Invention of a New Religion, in:
Chamberlain, B.H., Things Japanese, Rutland/Tókyó.
• Daidoji, Y. (1984). Budoshoshinshu. The Warrior´s Primer of Daidoji
Yuzan, Santa Clarita, California.
• Diffenderffer, B. (2007). Samurai Leader. So gewinnen Sie im
Geschäftsleben – mit der Weisheit, der Ehre und Demut des SamuraiKodex, Kulmbach.
• Kubat, H. (2007). Führen wie ein Samurai: Mentale Stärke –
Schlagkraft im Handeln, Zürich.
• Mishima, Y. (1987). Zu einer Ethik der Tat – Einführung in das
„Hagakure“, die Samurai-Ehre des 18. Jahrhunderts, München.
• Miyamoto, M. (1983). Das Buch der fünf Ringe, Düsseldorf.
• Nitobe, I. (2003). Bushido – Die Seele Japans, Frankfurt.
• Pater, R. (1990). Fernöstliche Kampftechniken im modernen
Management, München.
• Rentzsch, H.-P. (2000). Der Samurai-Verkäufer. Die sieben Wege
des Kriegers im gnadenlosen Wettbewerb, Wiesbaden.
• Schwentker, W. (2003). Die Samurai, München.
• Yamamoto, T. (2001). Hagakure. Das Buch des Samurai, Augsburg.
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