Gedanken zu sozialen und ökonomischen Entwicklungen in Japan, die sich von europäischen unterscheiden, Europäer aber verstehen sollten, sofern sie mit Japanern zu tun haben oder Handel treiben. H. D. Laumeyer Das alte Sendai – Gedanken zur Stadtkultur Japans Ich hatte mir schon seit längerem überlegt, meine nunmehr lange zurückliegenden Studien zu einer alten japanischen Stadt, nämlich zu Sendai, neu aufzulegen. Doch nun, vor dem tragischen Hintergrund der unfaßbaren Ereignisse des großen Tohoku-Erdbebens, fühle ich mich in der Tat gedrängt und ich habe auf die Schnelle alles, was ich über die alte Burgstadt der Daimyo-Familie Date in der heutigen Präfektur Miyagi in meinen Unterlagen fand, grob zusammengestellt, um Ihnen heute einige Überlegungen und Gedanken zu präsentieren, die mich plötzlich erneut und intensiv beschäftigen. Diese sollen sich aber nicht in erster Linie auf die Geschichte der Stadt Sendai beschränken, sondern im Gegenteil weit davon abschweifen und Aspekte der sozialen und ökonomischen Entwicklung Japans, nein vielmehr deren Kontinuitäten, in den Vordergrund stellen - und dies im Hinblick auf die sich überschlagenden Ereignisse und die damit verbundene Berichterstattung, die uns derzeit mit Suggestionen zu japanischen Verhaltensformen überhäuft, wie sie aus deutscher Sicht oft zu gern so subjektiv ausgemalt gesehen werden. Vielleicht kann ich so dazu beitragen, jene grob und sogar fahrlässig skizzierten Japan-Schemata zu korrigieren und in ein objektiveres Licht zu rücken. Die Geschichte dieser Stadt des Waldes selbst - des Mori no Myako – des Kyotos des Nordens, ja das wäre wohl ein eigenes, wohl vorzubereitendes und lohnendes Thema für uns alle. Vielleicht anderes Mal, wenn das Bildmaterial ausreicht. Vielmehr möchte ich in diesen Minuten vor jenem Hintergrund der Ereignisse und der zu uns gelangenden medialen Kommentare ganz andere Gedanken aufgreifen, die sich mit historischen Wurzeln der uns immer wieder faszinierenden japanischen Mentalität insbesondere in Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigen sollen, weil diese für uns von zentraler Bedeutung sind und die uns damit sogleich mit dem großen wirtschaftshistorischen Thema Stadt verbinden werden. Denn die alte Stadt Sendai darf als ein wunderbares Beispiel japanischer Stadtideen der vormodernen Zeit gelten. Als eine vorindustrielle Stadt dient sie uns als ein Modell, so daß die Erforschung dieses Modells wie eine Methodik genutzt werden kann, um anhand solch einer Studie einer uns fremden - besser: nicht-europäischen städtischen Lebensweise Grundzüge der japanischen Wirtschafts- und Gesellschaftformen darzustellen, nachzuempfinden, wie sie sich historisch entwickelten und in ihrer Kontinuität heute noch aktuell sein könnten, ja in ihrer Andersartigkeit uns heute noch verblüffen. Denn japanisches Verhalten, und besonders das Wirtschaftsdenken, ist nun einmal in vielem anders und nach wie vor gilt es, diese Andersartigkeit aufzuklären und nach den Gründen ihres Entstehens zu forschen. Unser langjähriges Mitglied Herr Schneider hat kürzlich einen sehr empfindsamen und außerordentlich klugen Vortrag zu den unterschiedlichen Denkmustern gehalten. Ich will diese heute durch Aufzeigen historischer Quellen untermauern - nur ein kurzes Anreißen des Themas, mehr kann es hier nicht sein. Eigentlich würde solch eine Studie ein großes Volumen annehmen. 1 (1)_Die_Große_Karte_von_Japan,_ca._1700. So ist mein Thema zwar ein archaisch-historisches, es liegt 400 Jahre zurück, doch andererseits ist es auch ein höchst aktuelles. Denn Verstehen durch Rückbesinnung auf kulturhistorische Zusammenhänge kann zum Verständnis und damit zu besserem und erfolgreichem Handeln beitragen, also zu mehr interkultureller Kompetenz führen. Ja, es gibt keinen anderen Weg, die Begriffe zu entwirren, wenn wir mit der führenden Wirtschaftsnation Japan auf mancherlei Ebene im Alltag zusammenarbeiten und fair kommunizieren wollen. Dafür bietet sich das historische Studium einer Stadt an, weil hier in urbanem Umfeld, und wirtschaftliches Denken läßt sich nicht von städtischem Denken trennen, ausschließlich über mehrere Jahrhunderte rein nach japanischen Denkmustern gewirtschaftet, empfunden und gedacht wurde. Indem ich Ihnen daher heute Grundzüge zur reinen Stadtidee Japans vorstelle, grenze ich spezifische und nur in Japan entwickelte urbane Formen des Wirtschafts-und Gesellschaftslebens von westlichen Stadtformen ab. So werde ich vielleicht wertneutral Empathie für japanisches Denken erzeugen. Und dabei hoffe ich, die so oft plakativen und eurozentrischen Aussagen, die meist ohne Tatsachenbezug zu den kulturhistorischen Fakten entwickelt wurden, zu enttabuisieren, zu entmystifizieren und somit auf eine verständnisvollere Diskussionsbasis zu stellen. Aber was haben spezifisch japanische Wirtschafts-und Gesellschaftsformen von heute eigentlich noch konkret mit einer alten japanischen Stadt wie Sendai zu tun? – mögen Sie mich fragen. Was sind diese spezifisch japanischen Wirtschaftsmuster überhaupt? Ist es nicht so, daß wir im heutigen Alltag stets und immer wieder mit diesen Japonismen konfrontiert werden und daß wir Schwierigkeiten haben, sie empathisch nachzuvollziehen, wenn wir Japanern begegnen, mit ihnen handeln und als Partner begleiten? Darüber ist in den letzten 150 Jahren viel geschrieben worden. Heute spricht man gern von japanischen Singularitäten in der Wirtschaft und im gesellschaftlichen Bereich, von einer Wirtschaftsmentalität, die man als solche nur in Japan findet - davon, daß westliche Business-und Managementmethoden in Japan nicht greifen würden. Man zitiert die typisch japanische vertikale Struktur in der Makroökonomie, spricht 2 von den gegenseitigen Abhängigkeiten der wie in Ebenen zueinander gelagerten Zuliefer-, der Klein-und Mittelbetriebe, der gegenseitigen Beteiligungsgeflechte, von Doppelstrukturen, der Macht des Großhandels, einer fügenden und elitären Hand der Bürokratie, von Dirigismus, und … und … und. All das sind faszinierende Themen mit großer wirtschaftspolitischer Relevanz im Hinblick auf die Abhängigkeiten, die sich aus der Globalisierung ergaben und im Hinblick auf die führende Bedeutung Japans und anderer wirtschaftsmental ähnlicher großer Industrieländer Ostasiens. Wir erreichen die Schwelle, daß das Weltwachstum sich weitgehend auf diese Region verlagert, daß 50% des Welt-GNP in Ostasien entsteht, und daß sich auch die Forschung zusehends in den ostasiatischen Raum aufmacht. Dabei ist unbestritten, daß insbesondere Werteskalen im inneren und äußeren Bereich von Firmen und unterschiedliche Methoden des Managements für uns kaum verständlich sind, wenn wir uns ganz auf die japanische Ebene begeben. Ja, sehen wir nicht bereits mancherlei Kollisionen unserer einseitig auf shareholder value ausgerichteten monochronen Wertschöpfungsdenkens mit dem vielschichtigen und polychronen Denken Japans und anderer metakonfuzianistisch geprägter Länder, welche flachere und intensivere Kommunikationswege im zwischenmenschlichen Bereich ungleich deutlicher betonen als ihr westliches Gegenstück? Aber woher kommen diese Singularitäten, die so kraftvoll und so authentisch wirken und mit denen wir uns auseinandersetzen sollten und deren Nachempfinden sich für uns so komplex darstellt? Schließlich ist der Erfolg der japanischen Wirtschaft in der Nachkriegszeit, in Boom-aber besonders eben auch in Krisenzeiten, sichtbares Symbol für die inhärente Kraft dieses Wirtschaftsdenkens aus Tradition und intensivster horizontaler Kommunikationswege? Doch was ist das eigentlich? Ist nicht Gruppe eine westlich-erdachte Kategorie? Was wäre das japanische Verständnis für Gruppe? Amerikanische Japanologen wie Edwin O. Reisschauer haben die These formuliert, daß in Japan eigentlich niemals eine Revolution stattgefunden habe, die destruktiv und für immer tradierte Werte in Wirtschaft und Gesellschaft beseitigte - zum Beispiel eine Verwestlichung überkommender Prinzipien: Schicht setzte sich auf Schicht, hielt an Bewährtem fest und inkorporierte das Neue, setzte ebenso auf das Alte, irgendwie austarierend - eine spiralförmige Dynamik mit schnell laufenden Prozessen sowie mit langsameren verhaltenen Phasen - im Gegensatz zu einer linearen Entwicklung in klarer definierbaren Abschnitten, wie wir die Wirtschaftshistorie so gern sehen. Die Ideen des japanischen Feudalismus mit seiner auf persönliche Loyalitäten ausgerichteten Form und seiner Betonung des quasi-familiären Verhältnisses zwischen Lehensgeber und Lehensempfänger dominierten dabei seit Jahrhunderten und gaben dem japanischen Wirtschaftsdenken jene eigentümliche Struktur, die immaterielle Werte über die materiellen stellen will, also eine Art undefinierbarer idealfeudalistischer Ansatz. Das eigentümliche Spannungsverhältnis im Wertschöpfungsprozeß der Wirtschaft zwischen Gewinnanspruch und weniger materiellen Idealismen, also zwischen Wirklichkeit und Utopia, ist vielleicht das entscheidende Kriterium für den Management-Stil a la Japonais und entscheidend für seinen Erfolg. Er gilt mit seiner neokonfuzianistischen, also chinesischen Basis, heute für ganz Ostasien und damit für die dynamischste Region der Welt. Der zweite kluge Satz amerikanischer Japanologen ist der: In der typisch japanischen Stadt, getrennt von ihrem Umland, traten trotz ihrer stringenten standesrechtlichen Trennung Militär und Handelskapital in eine Interessenidentität, ja in eine Symbiose ein und legten die Strukturen für die spätere Zukunft. Wenn wir überlegen, daß aus den idealistisch denkenden Samurai mit ihrem idealistisch-feudalistischen Elitedenken nach der Meiji-Restoration die bürokratischen Eliten Japans hervorgingen, und daß das in Jahrhunderten angehäufte Kapital der Handelshäuser zu Finanzkapital mutierte, sich also die großen Handelshäuser wie die Mitsui, Sumitomo u.a. zu Großbanken mauserten und damit zu den Finanziers Japans entwickelten, dann, ja dann wird dieser Hinweis hoch interessant – lassen sich doch in der Struktur der vorindustriellen Stadt Zwangsläufigkeiten erkennen, die zum Schlüssel für das 3 Verständnis japanischen Wirtschaftens bis in die Moderne führen. Und weiter heißt es: Japan vollzog mit seinen Gesellschaftsformen einen direkten Sprung aus seiner idealistisch-feudalen Gesellschaft heraus in den modernen Kapitalismus, es setzte den Kapitalismus einfach auf diese tradierten Werte und Verhaltensmuster auf … Ein faszinierender Gedanke für alle an Japan Interessierten. Man könnte auch sagen: Es fehlen in der modernen japanischen Wirtschaftsgeschichte viele Dekaden unserer historischen Erfahrung. Westliche Länder hatten bereits Richtungen eines altruistischen Denkens eingeschlagen, denken wir an den Einigungsprozeß Europas, während Japan noch immer in Nationalismen und sogar Autarkiegedanken verhangen bleibt. Aufgabe von Souveränität wie in Europa ist z.Zt. in Japan noch undenkbar, wie in ganz Ostasien. Aber genug der Gesellschaftsphilosophie. Stadtgeschichte bedeutet Geschichte der Menschen. Warum ich auf die Stadtidee Japans in dieser schwierigen Stunde zurückkomme? Es ist mir ein Bedürfnis angesichts der jüngsten Erdbebenkatastrophe gewisse Phrasen und Worthülsen in unserer medialen Berichterstattung aufzugreifen, die sich autorisiert fühlte zum Thema Gruppenmentalität Japans und Wert des Einzelnen in Deutschland kommentieren zu müssen. Das Individuum verberge seine Gefühle in der Masse. Das Schicksal des Einzelnen verstecke sich hinter einem Lächeln. Der Einzelne zähle nicht, vielmehr richte man in diesem Land Japan seine individuellen Entscheidungen an den Interessen der Gruppe aus … das sind eben Japaner, die würden angesichts solcher Katastrophen das eigene Schicksal leichter nehmen als das der Allgemeinheit, eben anders empfinden als wir Europäer, das Gesicht zähle, nicht das Individuum wie bei uns - und ähnliche Oberflächlichkeiten, von Klischees getragen, selbstgerecht, Bestätigung für die eigene Welt suchend, ein völliges Negieren der Inhalte dieser andersartig gelagerten Moral-und Wertvorstellungen Japans, die in der Tat das selbstgerechte Ego wohl weit weniger in den Vordergrund stellt als wir es in Deutschland gewohnt sind. Wenn in der Ferne die Völker aufeinanderschlagen, läßt es sich gar trefflich politisieren … bemerkte schon Goethe süffisant über seine Mitbürger. Aber was soll dieser wertende und zurechtweisende Unterton über das angebliche Versagen einer wie auch immer gelagerten Gruppenmentalität angesichts der unglaublichen Katastrophe? Ist es latenter, ungewollter Rassismus des Alltags, der uns noch immer bestimmt beim Betrachten fremder Kulturen, so auch gegenüber dem Hightech-Land Japan, das verschlossen und rätselhaft zu bleiben hatte, seit den ersten Klischees im 19. Jahrhundert? So wollten es die damals ausgelegten Denkmuster und sie lebten fort, bis heute. Gier nach Sensationen, am besten angesichts hilfloser fremder Exotik ... immer und immer wieder wurden diese Plagiate multipliziert, bis sie ihr sonderbares Eigenleben in uns festsetzten. Und das im Jubiläumsjahr der nun 150 Jahre währenden Freundschaft zwischen beiden Ländern ... hier der moralbeflissene Gutmensch, da der konturlose, ja persönlichkeitslose und fremdbestimmte japanische Massenmensch – heißt unterschwellig die selbstgerechte Botschaft. Das sind Klischees, Plagiate, Bewertungen ohne Befugnis bewerten zu dürfen. Ein deutsches Zeitgeistphänomen. Ein deutsches Zeitgeistproblem. Schon einmal wurde in deutschen Medien in den 90ger Jahren begierig der vermeintliche Mangel an Lebensqualität aufgegriffen: Japaner leben in Kaninchenställen – im Hinblick auf die beengte Wohnweise und die völlig unterschiedlichen Alltagsprioritäten in Tokyo. Aber es ist ja vielmehr der orientierungslose und entwurzelte Massenmensch während der Umbruchphasen des Westens, der immer wieder selbstgerechten Zeitgeist und Vorurteile aus seiner ganz eigenen Sicht erzeugt, die sich auf merkwürdige Weise multiplizieren und in Hysterien enden. Das in einem festen und bewährten Beziehungs-und Kommunikationsumfeld ruhende, weniger nach außen orientierte Individuum sieht sich weit weniger gefährdet gegenüber Massenphänomenen. Seine Werteskalen blieben länger intakt … so ähnlich lehrte uns schon Ortega y Gasset. 4 Ja, Japaner sind gruppenorientiert. Mein Beitrag dient dazu, die historischen Wurzeln des Phänomens aufzuzeichnen, mehr nicht. Ich will wertneutral sein und die falsche Subjektivität vermeiden. Daher das Thema: Die alte Stadt. (2) Honcho_Zukan_Komoku_von_Meister__Ishikawa_Ryusen,_1687 Japan im frühen 16.Jahrhundert: Die Tokugawa manifestieren ihre Macht und teilen das Land in verschiedenste große und kleine Territorien, weisen diese gewissen Samurai-Familien zu, je nach Bedeutung dieser Familien für das Shogunat, alles feinst selektiert nach Reichtum und Macht. 5 (3)_Hirozaki_um_1674 6 (4)_Ein_Ausschnitt_aus_dem_alten_Plan_von_Hirozaki Es soll ein Utopia werden, eine statisch gebaute Weltenordnung (tenka, analog zum chinesischen Denken), die unter dem Himmel alles in feinster Ordnung verstanden wissen will. Zentrum ihrer materiellen Welt, ja ihrer ganzen Weltensicht, ist Edo. Die der Familie verwandten Samurai-Geschlechter erhalten die reichen Kernlande Japans, die Unterlegenen die Randgebiete. Japan wird fast zu einem perfekten Kunstwerk durchorganisiert. Abbildung (1) zeigt eine große Japan-Karte, ca. 1700. Gezeigt werden die Provinzen, Straßen, Raststationen sowie die wirtschaftliche Bedeutung der Territorien nach ihrem Aufkommen in Reis (koku). Abbildung (2): Eine Karte von ganz Japan, mit Angaben zu den Seerouten nach China, sowie Entfernungen. 7 (5)_Morioka_um_1736 Und wie bei Aristoteles ein Stoff erst zu einem Kunstwerk vollendet wird durch seine Form und dieser durch den Geist seiner Erschaffer, so verordnet sich Japan eine exzessive, ja rauschafte Phase eines Burgen-und Städtebaus, wie ihn wohl die gesamte Welt bis dahin noch nicht erlebt hat. China, Korea und Japan vereinigen, ähnlich wie heute, wohl 50% der damaligen globalen Wertschöpfung und die größten Populationen der Welt – es sind also die damals größten Wirtschaftsräume ihrer Zeit. Umso mehr sollte diese städtebauliche Revolution Objekt intensiverer Forschung sein. Die geistige, diese Revolution motivierende Lehre ist die des Konfuzianismus des chinesischen Staatsphilosophen Chu Hsi (jap. Shushigaku), der gerade eine Renaissance erlebt und zur Ideologie der Samurai wird. Er verkündet immaterielle Werte, Loyalität und Pietät, aber vor allem wichtig: Physiokratische Lebensformen, Autarkie und Primat bäuerlicher Tugenden in der Person des werteorientierten Edelmannes. Das ist der Geist, der hinter diesem urbanen Großwerk stand und seinen Erbauern die Hand führte. Damit wird der wehrhafte Landmann, also der Samurai mit seinen ritterlichen Tugenden, endgültig an die Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie katapultiert. Rigoros werden die Samurai von der Landbevölkerung getrennt und mit den Kaufleuten, industriellen Handwerkern, in den neu konzipierten Städten zusammengezogen. Damit entstehen innerhalb einer Dekade Modellstädte im Geiste der Weltensicht eines Samurai – die Jokamachi (eigentl. Städte neben der Burg). 8 (6)_Yonezawa_um_1653 9 (7)_Matsumoto_gegen_Ende_des_17._Jahrhunderts 10 (8)_Nagoya_um_1710 Das machi mutierte im modernen Japanisch zu dem Begriff Stadt. Eigentlich bedeutet das uns allen bekannte machi aber eine festgefügte Gruppe von Menschen mit ähnlicher Erfahrung und mit gleichem Beruf. Üblich ist nur der Begriff Joka, von einer Stadt ist nie die Rede. Das ist eine westliche Sprachverwirrung. Doch dazu später. Das damals konzipierte Netz von großen und kleinen Jokamachi ist noch heute bestimmend für die Verstädterung und das Städtenetz Japans: Wohl 90% aller Städte haben ihre Form in dieser Phase erhalten. Die Jokamachi leben in ihren Grundzügen fort bis in das späte 20.Jahrhundert. Also ein großartiges und wichtiges Thema für die Japanologie. Es sind städtebaulich wunderbare Konstruktionen, diese Jokamachi, brillante Architektur, die damals akzeptierte Gesellschaftsordnung konsequent widerspiegelnd, wie wohl kaum eine jemals im Westen verwirklichte Stadtidee. Um die shiro-Burgen legen sich konzentrisch und rechtwinklig Grachten, die einzelnen Quartiere, je nach Stand und Berufsgruppe trennend, harmonisch und durchdacht. Gassen der Händler sind je nach Produkt aneinandergereiht, als solche unterschieden und erkennbar durch in ihren Breiten unterschiedlichen Gassen. Tempel und Schreine begrenzen die Peripherie. Die Abbildungen (3) bis (10) mögen einen Einblick in das umfangreiche Kartenmaterial geben, das aus der Edozeit erhalten ist. Wir sehen einige schöne Beispiele von JokamachiStadtanlagen. Nachdem sich Japan auf Geheiß des Shogunats mit solch einem Netz von Burgstädten überzogen hat, wurden diese graphisch erfaßt. Große Kunstwerke sind es geworden. Jedes Joka wurde akribisch gemalt. Die phantastischen, oft viele Quadratmeter großen Stadtpläne (ezu), an denen man auch die Phasenverschiebungen gut rekonstruieren kann, befinden sich über das Land verstreut in Museen und Bibliotheken. Sehr selten werden diese Kostbarkeiten ausgerollt und der Öffentlichkeit gezeigt. 11 (9)_Kanazawa_um_ca._1680 12 (10)_Edo_um_ca._1840 13 (11)_Date_Masamune,_1._Daimyo_von_Sendai (12)_Das_Aoba-jo_in_der_Meiji-Zeit 14 (13)_Bürgerhäuser_in_der_Meiji-Zeit (14)_Bürgerhäuser_in_der_Meiji-Zeit (15)_Das_malerische_Straßenbild_blieb_bis_spät_in_das_20._Jahrhundert_erhalten 15 (16)_Der_Shoho-ezu,_Sendais_ältester_Stadtplan,_1644. 16 (17)_Sendai_um_1664,_der_Kambun-ezu So sah sich auch Date Masamune mit der historischen Aufgabe konfrontiert, eine Stadt zu konzipieren, die den Vorstellungen der Zeit genauestens entsprach, eine Modellstadt. 17 (18)_Basho_no_Tsuji,_hier_siedelten_die_Wohlhabenden_-__Brokat-_und_Kimonohändler Masamune war ein bedeutender Daimyo an der Spitze der Sippe der Date, die aus dem Raum Fukushima und Yamagata stammte, ein Haudegen, auf dem linken Auge erblindet. Daher trug er den Beinamen: Dokuganryu – Der Einäugige Drache. Aber ein überaus ehrgeiziger Mann, der es insgeheim immer noch mit den siegreichen Tokugawa aufnehmen wollte. Man sagt, er sei prunksüchtig gewesen (noch heute sagt man im Japanischen: ein Date-otoko für einen leicht hochstaplerischen Mann …). Schon bald wird er eine eigene Gesandtschaft über Mexiko, Spanien bis an den päpstlichen Hof schicken und sich an der Bezeichnung König ergötzen … Abbildung (11) zeigt ein Bildnis des Date Masamune. Die Stadt Sendai und das Reich Masamunes, sein han, sollten zu einem autarken, durchgestylten Eigenterritorium werden, wobei Sendai mit seinen zahlreichen Tempeln, deren Namen und Genealogien aus Kyoto übernommen wurden, als ein zweites Kyoto erdacht wurde. Davon ist leider heute kaum etwas geblieben: Sendai brannte immer wieder total ab, die Burg der Date, das legendäre Aoba-jo, erlosch in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einem Feuersturm. Im Krieg wurde es bombardiert, weil es Hauptquartier einer Armee war und strategisch die heute durch Tsunamis verwüstete Küstenebene von Miyagi beherrschte. Erdbeben taten ein Übriges. 18 (19)_ein_Ausschnitt_mit_den_zentralen_machi 19 (20)_Die_machiGruppen_haben_ihre_feste_Größe_und_belegen_weite_Teile_der_Anlage._Sie_fügen_sich_a lso_nicht_in_das_starre_System_der_rechtwinkligen_Straßenzüge 20 (21)_Angelpunkt_der_Stadtanlage_ist_die_Kreuzung_Basho_no_Tsuji Die Stadt hat sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt, wurde zur Wirtschaftsmetropole des Nordens. Und die alten machi mit ihren einst malerischen Holzhäusern der Gilden und Handwerker und ihrem florierenden Eigenleben wichen erdbebensicheren Stahlkonstruktionen. Den Nimbus mit der Tohoku-Daigaku eine der besten Universitäten Japans zu haben, lebt es weiter. Abbildung (12) bis (15) lassen noch erahnen, wie das alte Sendai noch in der 1. Hälfte des 20 Jahrhunderts ausgesehen hat. Abbildung (16): Der älteste Plan (ezu) von Sendai, um 1644. 21 Abbildung (17): Sendai in der Kambun-Zeit, 1664. Es ist der schönste und am detailliertesten ausgemalte Plan des alten Sendai (in der Bibliothek der Präfektur Miyagi). Ein Joka hat in der Regel zwei Schwerpunkte: Die Burg (shiro) mit seinem Großen Tor (otemon) und in gebührender Distanz der wirtschaftliche Schwerpunkt mit den bedeutendsten machi der Gilden. In der damaligen Zeit waren das die machi der Textil-und kimono-Händler, die sich um die zentrale Kreuzung (das Basho no Tsuji von Sendai) gruppierten, deren wertvolle Bauten leider nicht erhalten sind und nur aufgrund alter Drucke rekonstruiert werden können. Aber die Dokumenten-und Quellenlage ist in Sendai besonders gut und so können wir die einzelnen Phasen wundervoll rekonstruieren. Abbildung (18): Der Holzstich aus der Edozeit läßt das Basho no Tsuji, das Zentrum des alten Sendai, wiederauferstehen. Nun aber zu diesen machi, zu den Gruppen und ihrer inhärenten Kraft, die sogar einem Masamune trotzen kann. Denn die Kraft der japanischen Gruppe sollte unser Thema sein. Wir stoßen bei der Anlage der alten Stadt auf ein großes soziohistorisches Phänomen, das einzigartig ist und in einer westlichen Stadt nicht vorkommt: Die Größe und die Ausdehnung der einzelnen machi, also der wirtschaftlich aktiven Gruppen, paßt nicht in die konsequente Regelmäßigkeit der nach Kyoto-Maßen (ken) und nach Schachbrettmuster abgesteckten Stadtplanung! Mit anderen Worten: Die Gruppe, das machi, ist fest gefügt, es setzt sich aus einer bestimmten Anzahl von Familien zusammen, jedes recht unterschiedlich nach Anzahl der Mitglieder. Es führt ein Eigenleben, ist wirtschaftlich so stark, daß es sich nicht zersplittern läßt, so daß seine Maße mit den Schablonen des Schachbretts übereinstimmen würden. Hat es die Macht zu dieser Beharrlichkeit, weil es unersetzbar und einmalig ist? Machi reiht sich an machi in schöner Reihenfolge, aber die Bezeichnungen entsprechen nicht den Quadraten und Quadranten der Stadtplanung. Die wirtschaftlichen Gruppen, also Händler und Handwerker, behaupten ihr Eigenleben weil sie Eigentum haben, obwohl sie noch nicht einmal 20% der gesamten Bevölkerung des Joka ausmachen. 80% sind belehnte Samurai. Dabei zeigt sich bald, daß die Handelshäuser mächtiger werden als die Handwerksquartiere, indem sie diese vorfinanzieren und so die Produzenten in Auftragsfertigung beschäftigen. Samurai siedeln auf belehnten Grundstücken in identischen großzügigen Häusern mit Gärten (yashiki), wobei die Größe nach dem Dienstgrad variiert. Die Bezeichnung dieser Quartiere ist im Übrigen das uns bekannte cho, niemals machi. Samurai haben aber nur die gegenseitigen feudalistischen Loyalitäten und Diäten wie eine feste Beamtenbesoldung, sie haben kein wirkliches Eigentum. Die Positionierung der einzelnen Lehensgrundstücke erfolgt analog dem familiär-feudalistischen Ansatz der Denkmuster Masamunes. Aus der Distanz zum Aoba-jo läßt sich die Bedeutung der Familie im Gesamtbild ablesen. Tempel und ShintoSchreine liegen strategisch bedeutsam auf den umliegenden Bergen wie in Kyoto, wobei die Tempel mit besonderen Verdiensten um die Date-Familie bevorzugt werden. Die gesamte Stadt ist somit ein Ausdruck einer vorherrschenden Kosmologie, die Sendai als Mittelpunkt eines unabhängigen Territoriums sieht, und somit Spiegelbild der herrschenden Gesellschaftsstruktur ist. Sie ist statisch erdacht, nicht auf Wachstum ausgerichtet, ja die Abgrenzung der einzelnen machi sieht ja kein flächenmäßiges Ausgreifen vor. Das Modell soll ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Wachstum kann also nur innen und innerhalb der Gruppen durch Teilung der Anwesen stattfinden. Wir stehen einem städtebaulichen Utopia gegenüber. Wie alle japanischen Städte ist das Ganze nicht umwallt, wir sehen keinen Marktplatz, kein Rathaus … Abbildung (19), (20), (21): In der Vergrößerung lassen sich die machi-Gruppen erkennen. Die Skizze (20) Das Territorium wird nun ähnlich ausgerichtet und nach feudalistischen Prinzipien geordnet. Auch im wirtschaftlichen Bereich. Viele Namen erlangten bei uns in der jüngsten Berichterstattung traurige Berühmtheit: Kessennuma, Iwanuma, Shiroishi … wichtige Zweigfamilien erhalten Burgen (shiro, yogai), hierarchisch und den Date weniger verbundene 22 Sippen Großhöfe (tate), usw. Das Sendai-Modell mit seinen aneinandergereihten Gruppen wird soweit wie möglich vor diesen Landburgen wiederholt – eine Kulturlandschaft, die ihre feudalistischen Strukturen im wirtschaftlichen Bereich bis in das 20. Jahrhundert bewahren wird. Und ähnliche Utopien finden wir überall in Japan. Also, das auf Statik und Balance bauende Stadtmodell Japans wird schon bald infolge boomender Wirtschaft und Bevölkerungswachstum auf die Probe gestellt. Doch davon später anhand der alten Stadtkarten von Sendai. Aber ist das überhaupt eine Stadt, was wir hier sehen? Eine Stadt in unserem abendländischen Sinne? Das Phänomen Stadt als die dynamischste Form menschlichen Zusammenlebens hat die meisten Philosophen beschäftigt und die Auseinandersetzung mit der Stadt als Lebensform zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Geistesgeschichte. Meisterhaft von Max Weber dargestellt, der in der Typologie der Städte sowie der Weltanschauungen und des Denkens die Ursprünge unterschiedlichster Entwicklungsformen des Wirtschaftens ausmachte (Unternehmertum in der angelsächsischen Welt aufgrund des Puritanismus, der Rheinische Kapitalismus, usw.). Mit der Erfindung der Stadt als Zentrum sich verdichtender Herrschaftsstrukturen bekommt die bisher verhaltene Entwicklung der Zivilisation einen unvergleichlichen booster … das Segelflugzeug erhält plötzlich einen Düsenantrieb, könnte man sagen, in allen Bereichen des materiellen und geistigen Lebens. Zivilisationsgeschichte wird Stadtgeschichte. Ausgehend von den sumerischen Stadtstaaten entwickelt sich unsere mediterran geprägte Stadtidee über die Polis der Griechen, das urbs der Römer mit seiner res publica, über die mittelalterliche Stadt Deutschlands, Englands … über die Renaissance-Städte, die Kommune, zur industriellen Stadt und hin zur städtischen Krise der Gegenwart. Und immer wieder wurden Utopien und Modelle entwickelt zu der idealen Stadtform in Wirtschaft und Gesellschaft, nicht erst seit Platon. Die europäische Stadt hebt sich durch Ummauerung vom Umland ab, sie betont das Elitäre, die wirtschaftliche Zentralmacht, sie entwickelt Eigentum und Privilegien. Architektonische Elemente sind dabei nur von sekundärer Bedeutung, sie dienen als Symbole für die städtischen Hegemonien. Vor allem aber schafft sie das Individuum, die Eigenverantwortlichkeit, und sie schafft Gedankenfreiheit, Selbstbestimmung, Verfassung und Demokratie. Mit der Stadt entstehen immer wieder neue Philosophien quasi wie Motoren des Fortschritts, aber auch der Anarchie. Die Gefahr von Anarchie und Chaos bleibt mit der Stadt als Lebensform verbunden. Man muß ihr begegnen durch ein fein austariertes Verhältnis zwischen princeps und populo sowie den Machteliten, lehrte uns Macchiavelli, um der Unregierbarkeit vorzubeugen. Doch unsere Stadtidee in Europa steht für die freie Stadt, für die Vereinigung ihrer Bewohner, für die Entfaltung der Persönlichkeit. Rhetorik-Schulen in Athen, Rostrum im alten Rom, Speakers Corner … es entfalten sich die uns so geläufigen Charakteristika und Ideale des freien Bürgers, unabhängig von Fürstenherrschaft und Ideologien. Die Stadt erweist sich als die Heimat des Ego. Vor allem aber ist es der Jahrhunderte währende Kampf gegen Fremdbestimmung. Denken wir an die freien Reichsstädte, die Bürgerrevolten gegen Bischofsherrschaft, an die autonomen großartigen Stadtstaaten im Italien der Renaissance. Und am Ende dieser dynamischen und vielschichtigen Entwicklung der europäischen Stadt-Zivilisationsgeschichte stehen wir, wir mit unserer egozentrischen Blickweise, mit unserer Kunst der Rhetorik und Selbstdarstellung und vielen anderen Kriterien, die die Rechte des Individuums betonen und die engere Gruppe vernachlässigen. Ein Japaner sagte mir einmal: Wenn ich mit deutschen Managern zusammen bin, fühle ich mich wie auf einer Autobahn – viele Egos und einer drängelt gegen den anderen, wohl meinend: Bin ich nicht wunderbar … die Autobahn wie ein Catwalk von Selbstdarstellern … Ja, so erklärt man in Japan jüngste Exzesse im sogenannten Corporate Culture in unserer Hemisphäre. Doch ich muß darauf nicht weiter eingehen. 23 Demgegenüber ist das Nicht-Sich-Selbst-Darstellen eher eine japanische Tugend … Mangel an rhetorischer Begabung = schwache Führungsqualitäten heißt es oft zu leicht in deutschjapanischen Ventures. Und zu bequemen Vorurteilen, im Brei der Klischees des 19. Jahrhundert rührend, ist der Weg sodann nicht mehr weit: Scheu vor der Öffentlichkeit, Schweigen, Lächeln seien Zeichen von Verschlagenheit … so muß es wohl sein… Was ist aber die Beziehung dieser Gedanken zu unserem Modell Sendai als eine Form einer Stadt? Welche Ideale sehen wir in diesem Stadtentwurf der japanischen Zivilisation verwirklicht? Es gibt keine Ummauerung, keinen Marktplatz, kein rostrum, kein Rathaus, keinen Bürgermeister, keine Verfassungen. Es wird ähnliches auch niemals geben im Verlaufe der Stadtgeschichte Sendais: Keine echte Evolution hin zu einem freien Stadtbegriff wie wir ihn gern verstehen wollen, zu einer ganzheitlichen Vereinigung seiner wirtschaftlich aktiven Bürger. Von den beamteten Samurai konnte man eine Emanzipation ja kaum erwarten. Mancherlei Kriterien, die uns nach unserem Verständnis und sprachlich mit dem Begriff Stadt verbinden, sind einfach nicht vorhanden. Liegen in dieser Abstinenz von entscheidenden Kriterien, die eine Stadt zu einer Stadt in unserem Sinne machen, die Gründe für die augenscheinlich unterschiedlichen Verhaltensmuster unserer japanischen Freunde in manchen Situationen? Ich glaube ja. Denn die Strukturen der Stadt erweisen sich als die vielleicht nachhaltigsten Kulturträger einer Gesellschaft. Das sind Themen, die zeitlos-aktuell sind, wenn wir unterschiedliche Kulturen, und das sind Stadtkulturen, betrachten. Denn die Stadt steht für den Schwerpunkt einer Kultur – prägte sie doch den Charakter ihrer Kulturträger. Im Falle Sendais müßten wir nach unserer westlichen Stadtdefinition von einer Vielzahl von Städten sprechen. Jedes machi hat ein großartiges Eigenleben als festgefügte Gruppe. Es ist eigenverantwortlich, nach Innen gekehrt. Es grenzt sich ab, es beharrt auf tradierten Privilegien, und es symbiosiert mit den Machteliten, von denen es einzeln angesprochen und dirigiert wird, aber niemals orchestriert als vereinte Gesamtheit aller machi wie eine wirkliche Stadt. Dafür erhält es Gildenmonopole, Handelsrechte. Die Monopole gelten innerhalb der Stadt und auch im Umland. Eigentlich ist es autonom, getragen von Traditionsrechten. Und es lebt in der Vielfalt seiner Einzelcharaktere. Eine japanische Metapher für eine derartig in sich ruhende Gruppe aus Individuen mit spezifischer Aufgabenteilung ist der Vergleich mit dem Fundament einer japanischen Burg: Diese besteht aus einzeln gefertigten Steinen, jeder dieser Steine hat eine ganz bestimmte Funktion für Stabilität und Ästhetik der Gesamtkonstruktion, nur so wird diese Mauer alles überdauern … mag auch der hölzerne Überbau in Feuer und in Jahren vergehen. Im Abendland ist uns eher eine wirkliche Mauer rechteckig behauener Quadern geläufig: Und solche Ziegel sind jederzeit austauschbar – besagt ein japanisch gedachtes Klischee! Optimal trifft es diejenigen, die Auftragsfertigung an die Handwerker vergeben und die Zahlungsbedingungen selbst bestimmen dürfen. Somit entsteht im Laufe der Jahrhunderte das typisch japanische Supremat des Handels-und Finanzkapitals über das Industriekapital. Es wurde erst durch die Krise der Heisei-Zeit erschüttert, Nachwirkungen gibt es noch heute in Form der keiretsu. Die Stadtkulturen, also die Kulturen Europas und Japans, nehmen somit völlig unterschiedliche Verlaufsformen, die die Menschen und ihr Verhalten prägen werden. Hier die das Individuum nach außen betonenden Faktoren, dort der in erster Linie horizontal und intensiv nach innen kommunizierende Japaner. Aber wir sollten uns vor subjektiven Bewertungen hüten – sie sind nicht angebracht und würden die unterschiedlichen Kulturleistungen ignorieren. Und wer vermag schon zu sagen, welcher Denk-und Verhaltensweisen die Zukunft gehört. Ist nicht eine auf Ausgleich bedachte Gesellschaftsform ungleich robuster, wenn sich Krisen zeigen oder gar Katastrophen? Aber noch einmal zu unserem Jokamachi. Interessant wäre es natürlich, die weitere Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte zu betrachten. Anhand des großartigen Karten-und 24 Quellenmaterials in Museen und Ämtern der Stadt Sendai lassen sich einzelne Phasen rekonstruieren. Natürlich ist es die Wirtschaft, die das utopische Stadtmodel ins Wanken bringt. Schon bald werden die immer nur auf ein machi bezogenen Monopole abgeschafft und mit einer Warensteuer ersetzt, welche diejenigen machi erhalten, die in der Anfangsphase das Monopol hatten. Damit entstehen die noch heute für Japan so typische Ladengassen mit ihrer Vielzahl von Warenangeboten, die machinami. Monopolrechte verbleiben in Form von Großhandelsrechten. Wir alle wissen, daß das heutige Japan noch immer von vielschichtigen Großhandelsstufen bestimmt wird, unproduktiv, aber eine uralte Tradition verkörpernd. Aber als Stadtidee erwies sich das Jokamachi aufgrund seiner Gruppenstrukturen als äußerst robust – als Erfolgsstory. Welch anderes Stadtmodell kann auf eine derart lange und ungebrochene Phase zurückschauen? Ja, und gegen Ende der Edozeit: Die machi sind nach Innen gewachsen, die alten Quartiere heillos übervölkert. Aber als solche sind und bleiben sie intakt. Ansätze eines städtischen Proletariats zeigen sich an der Peripherie innerhalb bindungslos gewordener unterer SamuraiChargen (ashigaru). Die eigentlichen Samurai-Quartiere haben sich aufgelöst, Beamte sind eingezogen, das Land wurde staatlich, ging in die Öffentliche Hand und wurde nur zögerlich privatisiert. Die Samurai sind verschwunden, geblieben von der alten Stadt ist bis in die jüngste Zeit nur die Reihe der machi – Symbol für die überkommene und ungebrochene Kraft der Bürger-Gruppen. Stuttgart, im April 2011 25