Das Gedächtnis der Fliegenlarven

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Das Gedächtnis der Fliegenlarven
Lernen und Gedächtnisbildung sind zentrale kognitive Leistungen, die jedem Gedanken,
Sinneseindruck und Verhalten erst einen sinnvollen Kontext geben. Dazu ist das
Zusammenspiel vieler Bereiche und zahlloser Nervenzellen im menschlichen Gehirn nötig,
das in seiner Komplexität nur sehr schwer zu entziffern ist. Dr. Andreas Thum, Neurobiologe
an der Universität Konstanz, nutzt deshalb Drosophila-Fliegenlarven als Modellorganismus
zum Studium grundlegender Prinzipien von Lernen und Gedächtnis. Dank der Simplizität
des Gehirns und neuer Methoden hofft er, bereits in wenigen Jahren einen funktionalen
Gehirnatlas für Drosophila erstellt zu haben und so grundsätzliche Erkenntnisse zu
erlangen, wie ein Gehirn funktioniert.
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Dr. Andreas Thum ist Emmy-Noether-Gruppenleiter an der Universität Konstanz. © Andreas Thum
Drosophila melanogaster ist die uns allen bekannte Taufliege, im Deutschen auch
fälschlicherweise Fruchtfliege genannt, die sich im Haushalt gerade im Sommer schnell bei
nicht mehr ganz frischem Obst tummelt. Neben dieser unrühmlichen Rolle kommt ihr aber
auch besondere Bedeutung als Modellorganismus in der Forschung zu. Drosophila zeichnet
sich durch ihre einfache Zucht, die kurze Generationsdauer, die große Zahl an Nachkommen,
die geringe Anzahl von nur vier Chromosomen und viele leicht erkennbare Mutationen aus.
Dank dieser Vorteile ist und war Drosophila ein bevorzugtes Versuchstier zur Erforschung
klassischer Genetik und Embryonalentwicklung, und die daraus gewonnenen Erkenntnisse
haben unser Verständnis dieser Bereiche entscheidend erweitert.
Doch auch in anderen Forschungsbereichen können die Taufliegen eingesetzt werden. Ihr
verhältnismäßig einfaches Gehirn bietet optimale Voraussetzungen zur Untersuchung
grundlegender Lernprozesse, da diese auch bei den kleinen Fliegen stattfinden, wenn die Tiere
beispielsweise einen bestimmten Duft mit einem positiven Reiz wie Zucker verknüpfen und
infolgedessen als Reaktion auf den Duft ein bestimmtes Verhalten zeigen. Dr. Andreas Thum
von der Universität Konstanz weiß um diese Vorteile und setzt daher Drosophila-Fliegenlarven
zur Erforschung des Nervensystems und von grundlegenden Lern- und Gedächtnisprozessen
ein. „Wir studieren die Larven auf vier verschiedenen Ebenen: Verhalten, neuronales Netzwerk,
molekulare Signalwege und physiologische Prozesse bei der Reizweiterleitung in
Nervenzellen“, zählt Dr. Thum auf.
Larvenhirn als Minimal-Modellsystem
Das Gehirn der Drosophila-Larve umfasst nur ca. 10.000 Nervenzellen, im Gegensatz zu
schätzungsweise über 100 Milliarden Nervenzellen beim Menschen. Dank dieser einigermaßen
überschaubaren Anzahl ist es möglich, einen Gehirnatlas aufzubauen, der die synaptische
Verschaltung jeder einzelnen Nervenzelle markiert, so dass die Identität jeder einzelnen Zelle
im Larvengehirn bekannt ist. „Dadurch können wir bereits in wenigen Jahren verstehen, welche
Nervenzellen im Gehirn ein spezifisches Gedächtnis aufbauen, welche Nervenzellen helfen es
abzuspeichern, wo es abgespeichert wird, und welche Zellen daran beteiligt sind, es in einem
bestimmten Moment wieder abzurufen“, schildert Dr. Thum. Mit den so gewonnenen
Erkenntnissen hofft der Forscher neue Einsichten zu gewinnen, wie ein Gehirn grundsätzlich
funktioniert. „In dieser Zeit und in diesem Umfang ist solch ein Ansatz wahrscheinlich nur bei
der Drosophila-Fliegenlarve möglich“, erläutert er die Vorteile des Modell-Organismus.
Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob und in wieweit die Ergebnisse auf das menschliche
Gehirn übertragbar sind. „Vor ca. zehn Jahren – zu Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeit –
konnte ich diese Frage nur teilweise bejahen und war eher skeptisch. Jedoch zeigen in den
letzten Jahren Studien meines Labors und auch anderer Forscher in diesem Feld, dass es
durchaus bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen menschlichem Lernen und
Gedächtnis und dem "Insektenlernen und Insektengedächtnis" gibt“, erklärt Dr. Thum.
Mehrere Prozesse nutzen vergleichbare neuronale Strukturen, molekulare Signalwege und
Verhaltensmechanismen. So ist beispielsweise die Funktion von Dopamin in den verschiedenen
Organismen viel ähnlicher als bisher gedacht und signalisiert bei Drosophila, wie auch beim
Menschen, sowohl Belohnung als auch Bestrafung.
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Ein einfacher Versuchsaufbau für Verhaltensexperimente mit Drosophila-Larven, in denen Duft-Lernen und
Gedächtnis untersucht wird. © Andreas Thum
Beim Vergleich des neuronalen Systems, welches Düfte wahrnimmt und in das Gehirn leitet,
ergeben sich weitere sehr interessante Ähnlichkeiten. „Die Proteine , welche die Duftstoffe
binden und dadurch das sensorische Neuron der Nase und „Insektennase“ aktivieren, sind aus
der gleichen Familie. Aber auch der Aufbau des Geruchszentrums beim Menschen und der
Drosophila-Larve sind vergleichbar“, verdeutlicht Thum. Doch es gibt auch einen Unterschied,
der das larvale System attraktiv macht. In der Larve gibt es nur 21 Nervenzellen pro
Körperseite, die aus der „Nase“ ins Gehirn projizieren. „Die Larve ist daher ein genetisch
veränderbares Minimalsystem, das dank der vergleichbaren Strukturen und Signalwege auch
für den Menschen repräsentative Ergebnisse liefern kann“, erläutert Thum.
Genetischer Schalter für Nervenzellen
Zusammen mit Forschern des Janelia Farm Research Campus des Howard Hughes Medical
Institute (Washington, USA) arbeitet Dr. Thum gerade an einer neuen genetischen Technik, die
sich 'split-GAL4' nennt. „Sie basiert auf der GAL4/UAS-Technik, welche die zeitlich und räumlich
kontrollierte Expression jedes beliebigen Gens erlaubt“, erklärt Thum. GAL4 ist ein
Transkriptionsfaktor , der für sich allein gesehen keinen Effekt hat, der aber in Zusammenhang
mit einer Zielsequenz (UAS, Upstream Activating Sequence) ein daran angehängtes Zielgen
aktiviert.
Um diese Technik so spezifisch zu machen, dass einzelne Zellen manipuliert werden können,
kombinieren die Forscher verschiedene genetische Konstrukte in der Larve. Durch die
Kopplung von zwei transgenen Drosophila-Linien werden in den Nachkommen nur die Zellen
aktiviert, in denen beide Konstrukte überlappend exprimiert werden. „Durch diese
"intersection" Strategie bekommt man dann im Idealfall eine Überlappung und Spezifität für
nur eine Nervenzelle. Jedoch bedarf es sehr vieler Ansätze, um somit alle ca. 10.000 Zellen des
Larvengehirns einzeln zu markieren“, erläutert Thum das Prinzip der Technik. Dadurch wird es
in Zukunft möglich sein, eine einzige Nervenzelle gezielt während eines Lernexperiments im
Larvengehirn zu manipulieren.
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Das split-GAL4 System von Drosophila. Die Abbildungen oben zeigen einen schematischen Überblick. Das splitSystem kombiniert die Expression von zwei transgenen Linien (gelb und blau). Nur in den Zellen, in denen beide
Expressionen überlappen, werden definierte Zielgene (grün) aktiviert. Ein Beispiel für die larvale Expression in Gehirn
von zwei Linien und ihrer entsprechenden Schnittmenge wird im unteren Bereich gezeigt. Durch die gezielte
Kombination der passenden Expressionsmuster ist es prinzipiell möglich jede einzelne Zelle der nur ca. 10000
Nervenzellen im Larvengehirn einzeln zu manipulieren. © Andreas Thum
Für seine weitere Forschung hat Dr. Thum klare Pläne. „Die große Aufgabe in den nächsten
Jahren wird sein zu verstehen, unter welchen Bedingungen ein bestimmtes Gedächtnis
abgerufen wird und wie diese Information aus dem Gedächtniszentrum zu Neuronen geleitet
wird, die dann letztendlich Muskeln innervieren und ein Verhalten in Gang setzen, dass genau
„richtig“ ist in der entsprechenden Situation“, beschreibt er seine wissenschaftliche
Zielsetzung.
Fachbeitrag
12.08.2013
Bettina Baumann
BioLAGO
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Dr. Andreas Thum
Neuro- und Entwicklungsbiologie
Universität Konstanz
E-Mail: Andreas.Thum(at)uni-konstanz.de
AG Dr. Thum, Neurobiologie Universität Konstanz
Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers
Neurowissenschaften
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